Andrzej Zawada

Das Postdeutsche ‒ Poniemieckość (Wiedergewonnene Gebiete)

Das Postdeutsche ‒ Poniemieckość (Wiedergewonnene Gebiete)


Das Nach- oder Postdeutsche ist eine kulturelle Kategorie, die das polnische kollekti­ve Bewusstsein während einiger Jahrzehnte der zweiten Hälfte des 20. Jhs. mitprägte. Wie andere vergleichbare Begriffe der Alltagskommunikation ist auch poniemieckość ein ebenso unersetzlicher wie unscharfer Begriff. Und auch ein sehr weit gefasster, der einige grundlegende Eigenschaften und Dimensionen in sich trägt. Aufgrund seiner semanti­schen Unschärfe ist poniemieckość auch ein in verschiedenen Kontexten unterschiedlich definierter Begriff, weshalb wir ihm nicht selten in Anführungszeichen begegnen. Für den vorliegenden Text verzichten wir auf die Anführungszeichen, werden aber ihre po­tenzielle Anwesenheit als Marker dieser signifikanten Kontextabhängigkeit immer im Hinterkopf haben.

Im Wörterbuch der polnischen Sprache fehlt das Lemma poniemieckość, aber unter dem Stichwort niemieckość (Deutschtum, das Deutsche) lesen wir unter anderem: „Gesamt­heit der für das Leben und die Kultur des deutschen Volkes charakteristischen Merkma­len und Wesenszügen“ (Szymczak 1979, S. 340). Vom unmittelbaren Vorhandensein eines solcherart definierten Deutschtums im polnischen Kulturraum kann in Bezug auf die sogenannten West- und Nordgebiete im Grunde nur bis 1945 gesprochen werden. Nach dem Ende des Zwei­ten Weltkriegs erhielten die weiter existierenden Elemente der deutschen Zivilisation in diesem Raum in der polnischen Sprache den Namen des Postdeutschen. Man muss daher das Postdeutsche in erster Linie als soziale und kulturelle Folge des Zweiten Welt­kriegs betrachten. In weitaus geringerem Ausmaß ist das Postdeutsche als Erinnerung der preußischen und österreichischen Teilungsgebiete präsent.

Hinsichtlich der sozialen Funktionen des Begriffs des Postdeutschen lassen sich drei Phasen unterscheiden. Die erste Phase ist das Nachkriegspostdeutsche. Die Intensität des Vorkommens der Kategorie des Postdeutschen in der Beschreibung der Wirklichkeit verhält sich umgekehrt proportional zum zeitlichen Abstand des Moments ihrer An­wendung zum Jahr 1945, welches das Ende des unmittelbaren Einflusses des deutschen Elements markiert. Diese in den Jahren 1945‒1989 gebräuchliche Variante lässt sich als erlebtes, aktuelles und funktionales Postdeutsches charakterisieren. Als zweite Phase betrachten wir das Postdeutsche nach 1989, als man einhergehend mit dem Wandel des kollektiven Bewusstseins sowie der politischen Strukturen des polnischen Staates das Postdeutsche zunehmend als historischen und kulturellen Bestandteil des Bilds der Vergangenheit dieser Regionen ansah. In diesem Verständnis des Phänomens des Post­deutschen überwiegt die intellektuelle Erkenntnis das unmittelbare Erleben. Die dritte Phase ist das Postdeutsche am Beginn des 21. Jhs. Es manifestiert sich als kulturelle Er­scheinung mit verwischten Konturen sowie umstrittenen Inhalten und Strukturen und wird in abnehmendem Maße national definiert, sondern zunehmend mit kultureller Vielfalt identifiziert. Der Mythos der Multikulturalität eines Teils der West- und Nord­gebiete, darunter etwa die Städte Wrocław und Gdańsk, erfüllt dabei die Funktion eines Faktors zur Schwächung oder „Aufweichung“ des zumal in der Architektur und der zi­vilisatorischen Prägung des Landschaftsbilds alltäglich wahrnehmbaren Postdeutschen.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa bedeutete das Ende der deutschen Ge­schichte der Westgebiete – der Regionen Niederschlesien, Oppelner Land, Lebuser Land, Pommern sowie Ermland und Masuren – nicht aber das Ende ihrer deutschen Identität. Für den vorliegenden Artikel verzichten wir auf die Verwendung des in der Volksrepublik Polen meistgebräuchlichen und bis heute häufig anzutreffenden Begriff der → Wiedergewonnenen Gebiete. Die politische Färbung dieser Bezeichnung enthält eine ideologische Komponente, welche die beabsichtigte Objektivität dieses Textes kon­terkarieren würde. Das Postdeutsche ist mithin die komplexe und Transformationen unterliegende Gegenwart des Deutschtums – das heißt von „Merkmalen des Lebens und der Kultur des deutschen Volkes“ – im polnischen Nachkriegsleben.

Diese Gegenwart, die man als stetige Erfahrung des Postdeutschen bezeichnen könnte, ist – was ebenfalls angemerkt werden muss – territorial nicht auf die Gebiete beschränkt, die 1945 als West- und Nordgebiete oder, wie schon gesagt, als „Wiedergewonnene Ge­biete“ dem polnischen Staat eingegliedert wurden. Gleichwohl ist sie in diesen Gebieten mit Sicherheit am langlebigsten und vielschichtigsten. Viele Varianten des Postdeut­schen wurden auch Bestandteil der Erfahrung der BewohnerInnen sämtlicher Gebiete der Republik Polen vor 1939, die in den Jahren 1939‒1945 unter NS-Besatzung standen. Unabhängig von der politisch-organisatorischen Struktur dieser Besatzung (Warthegau, Generalgouvernement) manifestierte sich das Postdeutsche im Leben der EinwohnerIn­nen Polens sowohl in seiner materiellen als auch in seiner sozialen (kulturellen) Dimensi­on. Als Beispiel ist vor allem die neue Architektur zu nennen, die das Dritte Reich in die von ihm besetzten Gebiete einführte. Diese Architektur und die mit ihr einhergehende Raumplanung blieben im Stadtbild noch lange nach 1945 erhalten, teilweise bis heute. Es handelte sich überwiegend um Beamtensiedlungen – von der einheimischen Bevölke­rung „Blöcke“ genannt – sowie um provisorische eingeschossige Holzbauten (Baracken), in denen bestimmte Ämter untergebracht wurden, in den zuvor durch Angriffe der Luft­waffe in großem Ausmaß zerstörten Städten. Die Wohnsiedlungen, von denen hier die Rede ist – etwa in Wieluń, dessen Zentrum zu 90 % zerstört wurde – waren gleichsam Zwillinge der deutschen Massenarchitektur der 1930er Jahre, für die einige Siedlungen und Viertel von Wrocław – Księże Małe, Sępolno oder das seit 1945 nicht mehr exis­tierende Wohnviertel an der heutigen Ulica Legnicka – als Beispiel dienen können. Die Baracken, die als von vornherein provisorisch angelegte Objekte aus wenig beständigem Material gebaut wurden (Bretter, Hartfaserplatten, Dachpappe etc.), waren bis zu ihrem Abriss in den 1960er Jahren in Gebrauch. Es wechselten nur die Institutionen, die nach 1945 in ihnen untergebracht wurden.

Die unumkehrbaren urbanistischen Veränderungen polnischer Städte als Resultat des deutschen Handelns während der Besetzung eines signifikanten Teils des Territoriums der Republik Polen beschränkten sich nicht auf die partielle Nutzung des durch die Zerstörung von Gebäuden entstandenen Raums und auf das Beseitigen von Trümmern. Sie bestanden auch in Veränderungen unter anderem infolge der Einrichtung von Ghet­tos für die jüdische Bevölkerung und deren späterer Liquidierung. Sie bedeuteten au­ßerdem das Verschwinden von Synagogen, jüdischen Friedhöfen und der für jüdische Viertel oder die mitunter überwiegend von Juden bewohnten Schtetl im Osten Polens charakteristischen Bebauung aus dem Stadt- und Landschaftsbild. Darüber hinaus ma­nifestierten sie sich in der weniger offensichtlichen – wiewohl nicht weniger deutlichen und als Ausdruck eben des Postdeutschen signifikanten – Nutzung jüdischer Grabsteine für den Bau anderer Objekte, darunter Mauern, Gehwege, Schwimmbäder, Freizeitein­richtungen (wie im schon erwähnten Wieluń) oder Tiergehegen in zoologischen Gärten (etwa in Wrocław).

Im Zusammenhang mit der erneuten Nutzung des materiellen deutschen Erbes außer­halb der Westgebiete muss auch das Phänomen des Plünderns (szaber) erwähnt werden. Die von der ausgesiedelten deutschen Bevölkerung zurückgelassene materielle Habe, vor allem Möbel, wurden in der Anfangszeit vor Ort von den SiedlerInnen aus anderen Regionen Polens übernommen oder ins Landesinnere transportiert, wo man mit ihnen handelte, obwohl derartige Aktivitäten von den Verwaltungsbehörden untersagt worden waren. Dieses Phänomen betraf in einem gewissen Ausmaß auch Ziegelsteine, die aus dem Abriss der zerstörten Bebauung größer Städte stammten. Als legalisierte und durch den neuen Staat organisierte Plünderung ist der Abtransport von Ziegeln aus Wrocław, Szczecin und anderen Orten nach Warschau zum Zweck des schnellen Wiederaufbaus der Hauptstadt einzuordnen.

Warschau ist auch ein Beispiel für eine andere Art von Nachwirkungen des deutschen Kriegshandelns – der völligen oder grundlegenden Umgestaltung des Stadtbildes. Das zweifellos deutlichste Beispiel dafür ist die konsequente, systematische Zerstörung der Stadt nach dem Warschauer Aufstand. Die heutige urbanistische Gestalt der Metropo­le trägt ein wesentliches, wenngleich verborgenes postdeutsches Element in sich. Man könnte es so formulieren, dass das Postdeutsche im wortwörtlichen Sinne das Funda­ment schuf, auf dem die heutige Stadt entstand und sich entwickelt.

Wenn man unter dem Postdeutschen die zivilisatorischen und kulturellen Transforma­tionen versteht, die unmittelbar und mittelbar aus dem Zweiten Weltkrieg resultieren, dann kann man sagen, dass es sich sowohl im Hervorbringen neuer Phänomene als auch in der Zerstörung und dem dauerhaften Verschwinden eines bestimmten Teils und einer bestimmten historischen Dimension der polnischen Zivilisation manifestiert. Demnach wäre angesichts der hier – wenngleich nur stichprobenartig – angeführten Beispiele zu konstatieren, dass das Erscheinungsbild vieler polnischer Städte und Dörfer einen ge­wissen postdeutschen Anteil enthält. Allerdings verwischen im kulturellen Gedächtnis der historischen Gebiete der Republik Polen im Laufe der Zeit das Bewusstsein und die entzifferbaren Spuren dieses postdeutschen Anteils.

Wesentlich komplexer gestaltet sich das Phänomen des Postdeutschen als Bestandteil der Westgebiete und als aktiver Faktor im Prozess der Ausgestaltung der neuen Nach­kriegsidentität dieser Region. Joanna Konopińska, die Verfasserin des 1987 erschiene­nen Erinnerungsbandes Tamten wrocławski rok (Jenes Wrocławer Jahr), die als junge Frau im Juni 1945 nach Wrocław kam, notierte einige Monate nach der Ankunft in ihrem Tagebuch:

Ich sitze am Schreibtisch und schreibe meine Eindrücke nieder, obwohl es sicher­lich besser wäre, mich daranzumachen, die Wohnung in Ordnung zu bringen. Um diese Fremdheit aus dem Haus herauszuputzen und -fegen, das aus allen Ecken hervorblickt. […] Gegenwärtig stoße ich bei jedem Schritt auf Gegenstän­de, die jemand anderem gehören, die von einem anderen Leben zeugen, von dem ich nichts weiß, von Leuten, die dieses Haus gebaut haben, hier lebten und jetzt vielleicht schon nicht mehr am Leben sind. Und wie soll man hier ein neues Le­ben beginnen? Nein, ich bilde mir nicht ein, dass ich irgendwann einmal sagen könnte, das hier ist mein Haus (Thum 2003, S. 253).

Die Erfahrung der kulturellen Fremdheit war ein alltäglicher und zentraler Bestandteil des Lebens der Polen, die sich in den West- und Nordgebieten ansiedelten. Am Be­ginn des Siedlungsprozesses resultierte diese Fremdheit nicht aus dem Postdeutschen, sondern schlicht aus dem Deutschen. Das Deutsche wiederum bedeutete für mehrere Generationen, die gerade das ganze tragische Spektrum der vom Krieg aufgezwungenen Schicksale erlebt hatten, eine zivilisatorische Fremdheit, die zudem stark von negativen Emotionen geprägt war – das Deutsche wurde als Lebenswirklichkeit des Feindes wahr­genommen. Diese psychologische Barriere wurde zusätzlich verstärkt durch das Gefühl des Provisorischen und das Fehlen einer überzeugenden historischen Begründung für die Verschiebung der polnischen Grenzen.

Die negativen Emotionen nahmen mit der Zeit sukzessive ab. Die erste Generation von Polen, die in den Westgebieten geboren wurde, betrachtete das Postdeutsche schon als natürliche Lebensumgebung.

Unsere Eltern und Lehrer sprachen nie mit uns darüber, wer noch vor ein paar Jahren in unseren arg mitgenommenen Häusern gewohnt hatte, was mit ihren Bewohnern geschehen war oder wer unsere Heimatstadt in einen verschlafenen Trümmerhaufen verwandelt hatte. Wir wussten zwar dies und das, denn es war schließlich klar, dass unsere Kinderwaffen „ehemals deutsch“ waren, und „ehe­mals deutsch“ waren auch Bunker, Häuser, Wohnungen, Sofas, Uhren, Vorhän­ge und Spielsachen. […] Wir wurden in ehemals deutschen Betten geboren und wuchsen darin auf, im Schatten massiver hanseatischer Anrichten, mit den Ku­ckucksrufen germanischer Kuckucksuhren […]. Unsere bis zum Gehtnichtmehr gestopften Schulhemden hingen an Kleiderbügeln mit den Namen Steuernagel oder Kranz, unsere kleinen Hände schrieben – wie ich – mit einem Füllfederhal­ter mit der Widmung „Meinem lieben Heinz – zum Geburtstag“ Aufsätze über das piastische Wrocław, drehten an gusseisernen Wasserhähnen mit der Auf­schrift „warm“ oder „kalt“… (Bereś 2011, S. 13).

An die Stelle der zivilisatorischen Fremdheit des von den kollektiv als Deutsche be­trachteten ausgesiedelten BewohnerInnen und deren Lebensraum trat im Bewusstsein der ersten Nachkriegsgeneration die Aura des Geheimnisvollen und mit dieser ein reges Interesse. Die für die Neuankömmlinge verschiedener Generationen charakteristische Haltung, als deren Quintessenz die zitierte Feststellung von Joanna Konopińska gelten kann („ich bilde mir nicht ein, dass ich irgendwann einmal sagen könnte, das hier ist mein Haus“), hielt sich im kollektiven Nachkriegsbewusstsein für mehrere Jahrzehnte, wobei sie mit der Zeit an Schärfe verlor. Trotzdem blieb für die polnische Bevölkerung, die sich nach dem Krieg in den Westgebieten ansiedelte, das Postdeutsche dieser Regi­on der wesentliche Faktor, der es den Menschen erschwerte, Wurzeln zu schlagen. Ein sprechender und keineswegs vereinzelter Beleg für diese Regel ist ein Brief, den ein Leser der Tageszeitung Gazeta Wyborcza im Zusammenhang mit dem Erscheinen von Marek Krajewskis Kriminalroman Festung Breslau an die Redaktion schickte:

Die literarische Idee, die Herr Marek Krajewski in seiner Tetralogie über die Abenteuer des preußischen Polizisten Mock im alten preußisch-kolonialen Bres­lau umgesetzt hat, ist aus Sicht des polnischen Lesers eine schlechte Idee. Ich möchte meinem Schmerz darüber Ausdruck verleihen, dass der Autor uns, den polnischen Einwohnern Wrocławs, eine derart unerfreuliche Enttäuschung be­reitet hat. Denn was ist die Tetralogie des Herrn Marek Krajewski? Auf der de­skriptiven gesellschaftspolitischen Ebene ist sie eine Werbung für die preußische Vergangenheit der urpolnischen Stadt Wrocław. […] Ich möchte feststellen, dass wir andere Erwartungen haben. Und ich möchte den verehrten Herrn Autor dazu ermuntern, sich in der Gestalt der literarischen Narration einmal mit der polnischen Geschichte Wrocławs in der Zeit der preußischen Kolonialherrschaft (1742‒1945) zu beschäftigen (Kryminały Krajewskiego promują pruską przeszłość staropolskiego Wrocławia, Krajewskis Krimis bewerben die preußische Vergangenheit des urpolnischen Wrocław, in: Gazeta Wyborcza vom 6.9.2006).

Der durch die Informationspolitik des polnischen Nachkriegsstaates geschaffene My­thos vom Piastenland, welches dank der historischen Gerechtigkeit zum Mutterland zu­rückgekehrt sei, wurde in weitreichendem Ausmaß von den BewohnerInnen der West­gebiete und vielen Polen aus anderen Teilen des Landes internalisiert. Dieser Prozess wurde durch mehrere Faktoren begünstigt. Der erste Faktor fällt in den Bereich der kollektiven und individuellen Psychologie und besteht im Bedürfnis des Menschen, eine elementare Bindung an seine Umgebung, seinen Wohnort und sein kulturelles Umfeld herzustellen. Das historische Bewusstsein, dass schon die Vorfahren in dieser Umgebung zugegen waren, selbst wenn es nur auf vager Symbolik und Mythologisierung gründe­te, erleichterte das Entstehen einer solchen Bindung. Die angeführte Leserreaktion auf die Tatsache, dass Marek Krajewski die Handlung seiner Romane in der Wirklichkeit vor 1945 ansiedelt, belegt hinreichend die kollektive Übernahme dieser konsequent be­triebenen Geschichtspolitik. Der zweite Faktor resultiert aus dem ersten, das heißt aus eben jener Geschichtspolitik. Der piastische Mythos war das exponierteste Element der systematischen Repolonisierung der Westgebiete, die sowohl auf materieller als auch auf semantischer Ebene vollzogen wurde. Małgorzata Dzieduszycka, eine schon in Wrocław geborene Einwohnerin der Stadt, schreibt in einem Brief an Norman Davies:

Alles, was mich als Kind umgab, war „nachdeutsch“, denn außer ein paar Bildern hatten wir nichts aus Jezupol mitgebracht … […] Alles von besserer Qualität war deutsch: Fahrräder, Kaffeemühlen, Fleischwölfe, Rasenmäher, elektrische Bügel­eisen oder Luxus wie metallene Zigarettenetuis und Keksdosen. Wir hatten ein nachdeutsches Krocketspiel … und ein nachdeutsches Klavier […]. Alles, was seit meiner Kindheit um mich herum war, war ehemals deutsch. […] Auf Schritt und Tritt begegneten einem deutsche Vorkriegsschriftzüge, Geschäftsnamen, Spuren von Reklamen (Davies, Moorhouse 2002, S. 471).

Die Repolonisierungsmaßnahmen hatten das Ziel, den postdeutschen Charakter der lokalen Zivilisation zu beseitigen. Das war eine ebenso vorrangige wie unausführbare Aufgabe. In einem der zahlreichen Schriftstücke des Ministeriums für die Wiederge­wonnenen Gebiete können wir lesen:

Die Aktion zur Repolonisierung der Wiedergewonnenen Gebiete brachte, wie bei Dienst- und Inspektionsreisen von Beamten des Ministeriums festgestellt wurde, nicht überall ausreichende Ergebnisse. Auch Berichte in der regionalen wie der hauptstädtischen Preise weisen des Öfteren auf gewisse Fakten hin, aus denen zu schließen ist, dass die Auslöschung der deutschen Spuren nicht über­all und nicht in vollem Umfang vollendet worden ist[:] „Im Hinblick auf das oben genannte Ziel einer radikalen Beseitigung dieses Zustands ordne ich an, die Kontrolle auf dem entsprechenden Feld in kürzestmöglicher Zeit zu verschärfen und zu verstärken beziehungsweise Aktionen in Gang zu setzen, welche im Ein­zelnen folgendes zu umfassen haben: 1. Verdrängung der deutschen Sprache[,] 2. Beseitigung der verbliebenen deutschen Aufschriften[,] 3. Polonisierung der Vor- und Nachnamen“ (Thum 2003, S. 373).

Im Rahmen dieser breit angelegten „Repolonisierung“ verschwanden auch Objekte mit symbolischer Strahlkraft wie Friedhöfe und Denkmäler aus dem Stadt- und Land­schaftsbild. Durch Kriegshandlungen zerstörte oder beschädigte Kirchen wurden einer systematischen Regothisierung unterzogen, damit sie ihre (mitunter auch nachweisbare „piastische“ Herkunft zur Geltung bringen konnten. Die Rolle dieses letztgenannten Faktors bei der Schwächung des postdeutschen Einflusses, das heißt, die Haltung der katholischen Kirche, war fundamental und signifikant. Die Wortmeldungen der höchs­ten kirchlichen Würdenträger, Deklarationen von grundlegender politischer und gesell­schaftlicher Bedeutung, hatten eine eindeutige Botschaft. So sagte etwa Primas Stefan Wyszyński 1965 in einer Predigt im Wrocławer Dom unter anderem:

Wir lesen […] aus den steinernen Relikten. Das sind in diesen Kathedralen die Zeichen des Jahrtausends. Und diese steinernen Relikte, herrliche Zeichen der Vergangenheit, sagen: Hier waren wir, ja, wir waren hier, und wir sind wieder hier. Wir sind in das väterliche Haus zurückgekehrt … Diese Steine rufen zu uns von den Wänden, diese in der Krypta verbliebenen Gebeine, diese von der Erde geborgenen Überreste sprechen uns in unserer Muttersprache an … Wenn wir diese piastischen Gotteshäuser sehen, wenn wir ihrer Sprache lauschen, wissen wir deshalb, dass das kein deutsches Erbe ist. Das ist die polnische Seele. Sie waren niemals deutsch und sie sind nicht deutsch. Das sind die Spuren unseres königlichen piastischen Stammes. Sie sprechen zum polnischen Volk ohne Kom­mentar. Wir brauchen keine Erläuterungen. Wir verstehen ihre Aussage (Thum 2003, S. 288).

Die Bedeutung des von der Administration der Volksrepublik Polen konsequent pro­pagierten und von der katholischen Kirche beglaubigten „piastischen Mythos“ muss für den Verlauf des Prozesses der „Repolonisierung“, das heißt der Neutralisierung des Postdeutschen, von enormer Relevanz gewesen sein. Ebenso bedeutsam für die Inten­sität und das Tempo dieses Prozesses war der Zustand, in dem die hier angesiedelte polnische Bevölkerung die Westgebiete im Jahr 1945 vorfand, wobei Zustand hier vor allem den Grad der Zerstörung bezeichnet. Als bezeichnend in dieser Hinsicht können die Beobachtungen von Stanisław Bereś gelten, der über die ehemals deutschen Dinge, zwischen denen er aufwuchs, sagt, sie seien „oft beschädigt [gewesen], aber einzigartig, vertraut eben. Oder vielleicht gerade deshalb umso eigener, weil sie beschädigt waren?“ (Bereś 2011, S. 13). Es lohnt sich, diese gleichsam nebenbei hingeworfene Bemerkung ernst zu nehmen. Sie besitzt eine wesentlich weitreichendere Bedeutung und lässt sich auf die gesamte post­deutsche Kulturlandschaft beziehen. Infolge des Kriegs, dem auch zahlreiche zerstöreri­sche Maßnahmen der Nachkriegszeit zuzurechnen sind, übernahm die polnische Bevöl­kerung die Westgebiete in teils ruinösem Zustand, und verschiedentlich verschlimmerte sie diesen Status noch. Dieser Zustand der spezifischen Dekonstruktion des deutschen Zivilisationsraums war der dritte wichtige Faktor, der den polnischen Ankömmlingen die Annahme dieses Raums erleichterte. An die Stelle abgerissener Ruinen und abtrans­portierter Trümmer trat nach und nach eine neue Architektur, deren Disponenten und Urheber – absichtlich oder unbewusst – den Charakter und Stil der Umgebung, die lokale Tradition, die landschaftlichen Bedingungen etc. meist ignorierten. Von Bedeu­tung war dabei nicht zuletzt der ideologische Faktor – die Volksrepublik Polen sollte auch visuell homogen sein. Eine wichtige Rolle spielte darüber hinaus der ökonomische Aspekt. Letztendlich erhielt der Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Gebäude über­wiegend den Charakter des Neubaus, womit das vor allem dem Stadtbild Wrocławs und der übrigen Großstädte der Westgebiete eingeschriebene postdeutsche Element verblass­te, zumal in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten. Stefan Chwin schreibt:

Später räumten die alten deutschen Sachen, die auf wundersame Weise den Stadtbrand überlebt hatten, langsam das Feld. In den alten Mietshäusern ver­schwanden die gedrechselten Fensterrahmen. Ihren Platz übernahmen „funktio­nale“ Fenster, die wie glänzende, aber ausdruckslose Gesichter wirkten. […] Die Keramikkacheln mit den kobaltblauen Mustern, die mit ihrem kalten Glanz die alten Badezimmer schmückten, wurden abgemeißelt, um über der Badewanne Platz für „moderne Keramik“ zu machen […]. Man baute irgendwie, aus irgend­etwas, Hauptsache schnell, um den Leuten ein Dach über dem Kopf zu geben, während zur gleichen Zeit die abgebrannten Deutschen die Pfauenfedern des „Wirtschaftswunders“ aufplusterten (Chwin 2004, S. 82f.).

Dieses Vorgehen stieß nicht auf gesellschaftlichen Widerstand, die neuen BewohnerIn­nen wirkten spontan und eher unreflektiert daran mit. Das Postdeutsche in der Version Preußens und des Dritten Reiches, also jenes, das sie tagtäglich erlebten, war für sie in dieser Zeit besonders schwer zu akzeptieren. Im Band Śląsk. Rzeczywistości wyobrażone (Schlesien. Imaginierte Wirklichkeiten) schreibt Wojciech Kunicki in seinem resümie­renden Essay, dass „die Imaginationen von Śląsk und Schlesien in Polen und in Deutsch­land nach 1945 den Charakter eines semantischen Kampfes zwischen stark symbolisch markierten mentalen Räumen hatten“ (Kunicki 2009, S. 71). Diese Beobachtung kann man auf das gesamte Territorium der Westgebiete übertragen – die nach dem Krieg vollzogene Umgestal­tung ihrer Kulturlandschaft war das Feld dieser semantischen Schlacht. Entscheidungen der politischen Führung wie etwa die Genehmigung zum Wiederaufbau des Breslauer Hauptmarkts in seiner historischen Gestalt gehörten zu den Ausnahmen und mussten gut begründet werden (Thum 2003, S. 211ff.).

Es versteht sich von selbst, dass die Einstellung zum kulturellen Erbe der Westgebiete prozesshaften Charakter hat und sich deshalb im Laufe der Zeit wandelt. Besonders deutlich sichtbar wurde dieser Wandel in den 1990er Jahren, und besonders starken Ausdruck fand er damals in der Literatur, in der Publizistik und in historischen For­schungsarbeiten. Zu den bekanntesten literarischen Beispielen für die Beschreibung des Phänomens der Aneignung und Transformation des lokalen kulturellen Erbes gehört das erzählerische Schaffen von Olga Tokarczuk (u. a. Szafa [Der Schrank, 1997]; Dom dzienny, dom nocny [Taghaus, Nachthaus, 1998]; Gra na wielu bębenkach [Spiel auf vie­len Trommeln, 2002]). Zu den ersten literarischen Werken, die das Thema auf neue und andere Weise gestalten, gehören zweifellos Veröffentlichungen wie Paweł Huelles Roman Weiser Dawidek (1987), Mirosław Spychalskis und Mirosław Jasińskis Erzähl­band Opowieść heroiczna (Eine heroische Erzählung, 1989), Stefan Chwins Roman Ha­nemann (Tod in Danzig, 1995) sowie Andrzej Zawadas Essay Bresław (1996). Unter den literarischen Werken, die später erfolgreich das Thema des Postdeutschen als zentralem Aspekt der Identität der gegenwärtigen BewohnerInnen der nach dem Krieg von polni­schen StaatsbürgerInnen besiedelten Gebiete aufgreifen, sind vor allem zu nennen: Ma­rek Krajewskis Romanzyklus (Śmierć w Breslau [Tod in Breslau, 2000]; Koniec świata w Breslau [Der Kalenderblattmörder, 2003]; Widma w mieście Breslau [Gespenster in Bres­lau, 2005] und Festung Breslau [2006]), Henryk Wanieks Roman Finis Silesiae (2003), Stefan Chwins Roman Złoty pelikan (Der goldene Pelikan, 2003) sowie die Romane von Artur Liskowacki, Włodzimierz Kowalewski und anderen. Die vielschichtige Problema­tik des Postdeutschen, das im Grunde ein Geflecht von komplexen Transformationen des kollektiven Bewusstseins darstellt, war und ist noch immer ein wichtiges themati­sches Motiv in der polnischen Literatur der beiden vergangenen Jahrzehnte.

Gegenwärtig ist das Postdeutsche ein Begriff aus der Vergangenheit. Ein beredter Beleg dafür ist etwa ein im Februar 2013 auf der Internetseite der Gemeinde Gubin erschie­nener Beitrag mit dem Titel „Niemieckie – poniemieckie – nasze“ – relacja z warsztatów historycznych w Starosiedlu („Deutsch – ehemals deutsch – unser“ – Bericht von der Geschichtswerkstatt in Starosiedle). Dort lesen wir unter anderem: „Was heißt eigent­lich ‚ehemals deutsch‘? Diese Frage versuchten Kinder und Jugendliche aus Starosiedle zu beantworten. Leider ist das Wissen der lokalen Bevölkerung und zumal der Jugend über die Geschichte ihrer Region verschwindend gering“ (www.gminagubin.pl/, 11.2.2013). Diese Beobachtung lässt sich mit vielen Beispielen untermauern. Der Verfasser des vorliegenden Textes führte in den Jahren 2012‒2013 eine Umfrage zu diesem Thema durch; befragt wurden Studierende der Hochschule für Sozialpsychologie, die sich für Lehrveranstaltungen mit den Titeln „Die Kulturlandschaft Niederschlesiens“ und „Die Kulturlandschaft Wrocławs“ einge­schrieben hatten. Die entsprechenden Gespräche fanden vor Beginn der Veranstaltun­gen statt. Das Ergebnis war folgendes: Die Vergangenheit der Städte und Ortschaften in den Westgebieten, aus denen die große Mehrheit der befragten Studierenden stammt, ist für sie weder „postdeutsch“ noch besitzt sie Merkmale einer anderen nationalen Iden­tifikation als der polnischen. Letztere ist für sie selbstverständlich und bedarf keiner Reflexion. Allenfalls verwiesen die Befragten auf die Kategorie der Plurikulturalität, die für sie ebenfalls etwas Abstraktes ist und deren Veranschaulichung ihnen Schwierigkeit bereitet. Eine der häufigsten Assoziationen war ein Werbeslogan der Stadt Wrocław – „Stadt der Begegnungen“. Wie es scheint, bleibt das Postdeutsche eine aktive kognitive Kategorie nur für jene Generationen, die durch die alte polnische „Kulturlandschaft“ geprägt wurden, für jene Generationen, die im Alltag regelmäßig mit den Relikten – vor allem architektonischen, technischen, sprachlichen – der von der deutschen Identität geprägten Zivilisation in Berührung kamen.

Im heutigen Sozialleben der Westgebiete finden sich zahlreiche Fälle, die das Verschwin­den der Kategorie des Postdeutschen als kultureller Identifikation der Segmentierung der Vergangenheit belegen. Zu nennen wäre hier etwa die im Jahr 2011 vollzogene Um­benennung der Hala Ludowa (Volkshalle) in Wrocław in Hala Stulecia, was eine exakte Übersetzung des historischen Namens Jahrhunderthalle darstellt. Die Herkunft dieses Namens, die sich auch mit der polnischen Geschichte vom Anfang des 19. Jhs. verbindet (die Niederlage Napoleon Bonapartes und damit das Scheitern der polnischen Hoff­nungen auf Unabhängigkeit), ist im heutigen Bewusstsein der Wrocławer nicht mehr präsent. Ein anderes Beispiel ist der von der Universität Wrocław im Jahr 2012 feierlich begangene 200. Gründungstag der staatlichen preußischen Universität in Breslau. Es ließe sich eine lange Liste weiterer illustrierender Beispiele anführen.

Dieser Prozess ist zweifellos durch die zunehmende zeitliche Distanz bedingt, das heißt durch die natürlichen Transformationen der kollektiven Erinnerung, Veränderungen im Bildungssystem (die Weiterentwicklung der Lehrpläne für die Vermittlung von Ge­schichtswissen und polnischer Sprache) sowie, weiter gefasst, den universellen Prozess des gesellschaftlichen Wandels. Man kann sogar sagen, dass das Postdeutsche als kultu­reller Bestandteil der Gegenwart nicht nur keinen allgemeinen Widerstand mehr auslöst und nicht mehr provoziert, sondern dass seine Besonderheit und sogar seine Fremdheit gesellschaftlich nicht mehr wahrgenommen wird. Am Beginn des 21. Jhs. beobachten wir das Phänomen der Identifikation mit dem Ort, ohne das Bedürfnis, die kulturelle Genealogie dieses Ortes zu bestimmen.

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann

Literatur:

Bereś, Stanisław: Okruchy Atlantydy. Wrocławski riff, Wrocław 2011.

Chwin, Stefan: Kartki z dziennika, Gdańsk 2004.

Davies, Norman; Moorhouse, Roger: Mikrokosmos. Portret miasta środkowoeuropejskiego. Vra­tislawia, Breslau, Wrocław (Übersetzung Andrzej Pawelec), Kraków 2001.

Davies, Norman; Moorhouse, Roger: Die Blume Europas. Breslau, Wrocław, Vratislavia. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt (Übersetzung Thomas Bertram), München 2002.

Kunicki, Wojchiech (Hg.): Śląsk. Rzeczywistości wyobrażone, Poznań 2009.

Szymczak, Mieczysław: Słownik języka polskiego, Warszawa 1979, Bd. 2.

Thum, Gregor: Die fremde Stadt: Breslau 1945, München 2003.

 

Zawada, Andrzej, em. Prof. Dr. habil., verfasste den Beitrag „Das Postdeutsche ‒ Poniemieckość (Wiedergewonnene Gebiete)“. Er war Professor an der Universität Wrocław und arbeitete in den Bereichen Literaturkritik, Literaturtheorie literarische Übersetzungen/ Translationswissenschaft und Kulturwissenschaften.

 

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