Mehr über das Projekt

Seit langem ist bekannt, dass erfolgreiche interkulturelle Kommunikation der Kenntnis der Geschichte, der Mentalität, der kulturellen Normen und Höflichkeitsformen und nicht zuletzt der jeweils spezifischen Codes bedarf. Andernfalls kommt es leicht zu Missverständnissen, Streitigkeiten und sogar Konflikten. ÜbersetzerInnen, JournalistInnen, PolitikerInnen, MigrantInnen und selbst TouristInnen wissen das aus eigener Erfahrung. Räumliche Nähe, kulturelle Affinitäten und historische Bindungen führen dabei nicht zwangsweise zur Kenntnis des Nachbarlandes, was sich insbesondere hinsichtlich des deutsch-polnischen Verhältnisses widerspiegelt: Trotz stetig zunehmender wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Kontakte ist die Kenntnis des jeweiligen Nachbars und Partners nach wie vor ein Desiderat geblieben. Interkulturelle Begegnungen – ob unmittelbar oder aber medial vermittelt – sind jedoch nicht nur Quell von Spannungen und Missverständnissen, sondern bieten auch und vor allem die Chance, die eigene Perspektive zu wechseln, das eigene Wissen zu erweitern und neue Kompetenzen zu erwerben. Solche Begegnungen mit Anderen führen zudem nicht nur zu neuen Erkenntnissen über das „Andere“, sondern auch über das „Eigene“.

Seit mehr als zehn Jahren bemühen wir uns daher an der Universität Wrocław (Breslau) nicht nur unseren Studierenden, einen möglichst umfassenden Überblick über jene Sachverhalte zu bieten, die für das Verständnis des Besonderen deutsch-polnischer Interaktionen entscheidend sind: So haben Izabela Surynt, Justyna Kalicińska, Alfred Gall, Kornelia Kończal und Jacek Grębowiec (sowie Christian Pletzing beratend) in einem zwischen 2010 und 2015 realisierten Projekt der Universitäten Wrocław und Mainz, finanziell unterstützt durch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit (SdpZ), ein zweibändiges, polnischsprachiges Handbuch bzw. Lexikon im ATUT-Verlag nebst einer Website (polska-niemcy-interakcje.pl) herausgegeben. Die dort versammelten Texte befassen sich mit der historischen und gegenwärtigen Dimension der deutsch-polnischen Interaktionen, ihrer gegenseitigen Wahrnehmung und den kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen, die den Charakter und die Intensität des gegenseitigen Interesses beeinflussen. Unsere Hoffnung war es, die wichtigsten deutsch-polnischen Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Parallelen und gegenseitigen Einflüsse zu erfassen. Der Erfolg dieses Projekts und jener des zweibändigen Kompendiums wie auch der Website hat uns dazu veranlasst, diese Inhalte auch dem deutschen Publikum ohne entsprechende Polnischkenntnisse zur Verfügung zu stellen. Für dieses Unterfangen konnte der Harrassowitz-Verlag gewonnen werden, der eine aktualisierte, an das deutsche Lesepublikum angepasste Version als vierbändiges Handbuch veröffentlicht.

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Unser deutschsprachiges Handbuch richtet sich an alle, die sich aus beruflichen oder privaten Gründen für deutsch-polnische oder polnische Themen interessieren: nicht nur Fachleute und Kulturinteressierte, sondern alle, die deutsch-polnische Spannungen und Missverständnisse, Formen der Zusammenarbeit und gegenseitige deutsch-polnische Interaktionen verstehen wollen. Das Bestreben, einen möglichst umfassenden Blick auf die interkulturelle Kommunikation beider Länder zu werfen, machte eine Auswahl notwendig. So sind die Einträge unseres Kompendiums das Ergebnis der gemeinsamen Überlegungen von AutorInnen und HerausgeberInnen im Zuge des polnischsprachigen Vorgängerwerkes. Dabei haben wir uns hinsichtlich der Themenauswahl an drei Kriterien orientiert: (1) Es sollten sowohl jene Themen einbezogen werden, die die polnische Öffentlichkeit nach 1989 intensiv beschäftigt haben, als auch jene, die in den Medien weniger präsent waren. (2) Es sollte versucht werden, nicht in die Falle des akademischen Elfenbeinturms zu tappen, indem wir nicht nur jene Einträge einbezogen haben, die im akademischen Diskurs dominieren, sondern auch Themen aus der Populärkultur und dem Alltagsleben. (3) Ereignisse und Prozesse der letzten 30 Jahre sollten in einem breiteren kulturellen und historischen Kontext präsentiert werden.

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Sämtliche Beiträge beschäftigen sich mit deutsch-polnischen Vergleichen und Transfers, kollektiven Wahrnehmungen und konkreten Interaktionen, Medien und Kommunikationsmitteln, Erfolgen und Misserfolgen, Barrieren und Perspektiven der deutsch-polnischen Kommunikation. Methodisch orientieren sie sich dabei grob an den Konzepten der Rich Points und Hotspots, der Interaktionsanalyse, der Xenologie, des Komparativismus und des Kulturtransfers.

Die Begriffe „Rich Points“, „Hotspots“ und „Keys“ beziehen sich auf Wörter, Phrasen und Verhaltensweisen, die ein starkes kulturelles und damit identitäts- und gruppenbildendes Potenzial haben und die zu Brennpunkten werden, die Kommunikation stören oder sogar verhindern können. Sie sind der Ort, an dem sich kommunikative und kulturelle Unterschiede auftürmen. Sie sind der Schlüssel zum Verständnis einer bestimmten Kultur und Mentalität. Wir haben versucht, die wichtigsten polnischen, deutschen und polnisch- deutschen Phänomene dieser Art zu erfassen.

Die Interaktionsanalyse umfasst zwei Bereiche: (1) Kulturkomparatismus, d.h. der Vergleich kultureller Systeme, um Ähnlichkeiten und Unterschiede in kulturellen Dimensionen und Standards, Kommunikationsstilen und Verhaltensweisen zu erkennen, was die Diagnose und Vorhersage von Kommunikationsproblemen oder sogar Konflikten zwischen Vertretern verschiedener Kulturen ermöglicht, und (2) Interaktionsaktivitäten, d.h. die Analyse der Dynamik und des Verlaufs von Interaktionssituationen. Der erste Bereich betrifft die unterschiedlichen Werte- und Symbolsysteme, die Prozesse der Herausbildung unterschiedlicher kultureller Semantiken, Rituale und Verhaltensmuster, während der zweite Bereich die Dynamik der Bewältigung der Situation einer interkulturellen Begegnung umfasst, d.h. die Einstellungen der Gesprächspartner, ihre Art, Botschaften zu empfangen, ihre Bereitschaft, sich zu verändern und an eine andere Form der Kommunikation anzupassen, sowie die Besonderheiten bestimmter Aktionen und Reaktionen, d.h. Verhaltensweisen, die zur Schaffung eines Raums der Verständigung führen: „Interkultur“, auch „Dritte Kultur“ genannt.

Die Xenologie als die Untersuchung der Wahrnehmung des Anderen, einschließlich der Untersuchung von Stereotypen, offenbart die Beziehung zwischen der Wahrnehmung der Andersartigkeit und dem Selbstbild. Deshalb finden Sie im Handbuch Texte, die sich sowohl mit der Selbst- als auch mit der Fremdwahrnehmung befassen. Viele davon betreffen die sogenannten „Stereotype der langen Dauer“ (nach Hubert Orłowski), also Bilder und Deutungen, die oft seit vielen Jahrhunderten verwurzelt sind und sich trotz wechselnder Umstände durch erstaunliche Stabilität auszeichnen. Die von JournalistInnen und PolitikerInnen, manchmal auch von WissenschaftlerInnen wiederholten Thesen über das Verschwinden negativer und das Aufkommen neuer, positiver deutsch-polnischer Stereotype werden durch verlässliche Analysen nicht bestätigt: Hinter den medial erzeugten Bildern oder politisch korrekten Aussagen verbergen sich meist tiefere Traditionsschichten, und die darin enthaltenen Stereotype sind erstaunlich langlebig.

Einige der Beiträge werden aus einer komparatistischen Perspektive dargestellt, die es ermöglicht, die polnisch-deutschen Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Kultur- und Mediengeschichte, der Politik oder der Wirtschaft zu erfassen. Es ist schwierig, den Verlauf und die Auswirkungen von Konflikten und der deutsch-polnischen Zusammenarbeit in diesen Bereichen zu verstehen, ohne die grundlegenden Fakten zu kennen, die z.B. die Spezifik der polnischen und deutschen politischen Kultur, der Mediensysteme oder der religiösen Strukturen in beiden Gesellschaften bestimmen.

Während Vergleiche uns erlauben, kulturelle Unterschiede und Analogien zu erfassen, insbesondere im Falle von Gesellschaften, die durch eine gemeinsame Geschichte miteinander verflochten sind, ist es notwendig, ihre gegenseitigen Interaktionen durch den Blickwinkel des (inter)kulturellen Transfers zu ergänzen. Nicht selten nimmt die Analyse des Kulturtransfers die Form eines „Nachspürens“ oder der „Suche nach verlorenen Spuren“ an, weil Texte, Artefakte und Praktiken in der Zielkultur so stark adaptiert wurden und in ihr Funktionen erfüllen, die sich so sehr von ihren ursprünglichen unterscheiden, dass das Erkennen ihres ursprünglichen Charakters erhebliche Anstrengungen erfordert.

Dieser methodische „Unterbau“ macht das vorliegende Handbuch nicht nur zu einer interessanten Lektüre für LeserInnen, die sich für deutsch-polnische Themen interessieren, sondern auch für diejenigen, die Interesse an interkultureller Kommunikation im Allgemeinen haben.

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Das vorliegende Handbuch wäre nicht ohne das Engagement vieler Menschen und Institutionen möglich gewesen. Zunächst einmal möchten wir uns bei unseren AutorInnen bedanken. Unter den mehr 70 Mitwirkenden befinden sich Polen, Deutsche und Österreicher, Vertreter verschiedener Disziplinen und Forschungstraditionen, sowohl etablierte WissenschaftlerInnen als auch NachwuchswissenschaftlerInnen. Die am stärksten vertretene Gruppe sind polnische GermanistInnen, allerdings befinden sich unter den AutorInnen auch FilmwissenschaftlerInnen, HistorikerInnen, KulturwissenschaftlerInnen, PolitologInnen, JuristInnen, SoziologInnen und SlawistInnen. Ohne ihre Begeisterung und ihr Engagement wäre dieses Projekt nicht zustande gekommen.

Nicht zuletzt danken wir der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit, dem Institut für Journalismus und soziale Kommunikation der Universität Wrocław, dem Fachgebiet für Angewandte Medienwissenschaften der Brandenburgischen Technischen Universität sowie der Alexander von Humboldt-Stiftung für die personelle und finanzielle Unterstützung.

Wrocław im Dezember 2023 Sylwia Dec-Pustelnik, Peter Klimczak, Arkadiusz Lewicki, Christer Petersen, Izabela Surynt

 

 

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