Alfred Gall

Die „Kresy“ (Osten) in der polnischen Literatur

Die „Kresy“ (Osten) in der polnischen Literatur


Kresy – die Genese des Begriffs

 Der Begriff Kresy im Sinne von „Grenzland“ oder „Grenzmark“ bezeichnete im 17. Jh. die militärische Grenze im Osten der Adelsrepublik Polen-Litauen, aber auch die militärischen Verbände, die am Rande Podoliens und der Ukraine diese Grenze gegen Einfälle von Tataren und Walachen zu verteidigen hatten sowie die Posten zur Übermittlung von Alarmzeichen und Briefen in eben diesem Grenzbereich. Erst später ging man dazu über, diesen Ausdruck auf die Gesamtheit der östlichen Gebiete der alten Adelsrepublik zu beziehen. Im weiteren Sinne – d. h. als Begriff, der sich auf ein ganzes Territorium bezieht – wurde die Bezeichnung von Wincenty Pol in seinem 1855 veröffentlichten Poem Mohort öffentlichkeitswirksam in die polnische Sprache eingeführt. Es war dieses Werk, das die weitere Geschichte des Begriffs bis zum Ende des 19. Jhs. prägte. Im Zeitalter der Teilungen, vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jhs., erhielt das Wort seine heutige geographisch-territoriale Bedeutung. Im Lauf der Zeit erweiterte sich der geographische Raum der Kresy in Richtung Norden und Westen. Nach den Teilungen Polens wurden mit dem Begriff alle Gebiete, die von Russland und Österreich annektiert wurden, bezeichnet. Zugleich wurden ihm neue historiosophische, axiologische und symbolische Bedeutungen beigefügt. Unter diesem Gesichtspunkt handelt es sich bei Kresy um einen Begriff der langen Dauer (Braudel).

Während der gesamten Teilungszeit blieb in der kollektiven polnischen Vorstellung die Idee der Einheit der Kresy mit den polnischen Kerngebieten erhalten. Nach 1918 wurden mit diesem Ausdruck diejenigen Gebiete des alten Polen bezeichnet, die damals zu Russland gehörten. Nach 1945 ging man dazu über, mit ihm die östlichen Gebiete der Zweiten Republik zu benennen, die in die Sowjetunion zwangsintegriert wurden. Das Wort Kresy bezeichnete ab da an die an die Sowjetunion gefallenen östlichen Gebiete der Zweiten Polnischen Republik.

Der Ausdruck ist in seinem heutigen Gebrauch in literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten eher ein Begriffskonglomerat als ein klar umrissener Terminus, weshalb er vielfältige und komplexe Sinnzusammenhänge und mitunter sogar gegensätzliche Anwendungen aufweist. Aus diesem Grund bilden die Kresy in den literatur- oder kulturwissenschaftlichen Studien auch keine analytische Kategorie, sondern eher einen Gegenstand der Untersuchung. Wegen der verschlungenen und sich überlappenden unterschiedlichen sowie vielschichtigen Sinnbezüge, oder auch den bisweilen gegensätzlichen Implikationen, birgt der Begriff Kresy ein erhebliches Konfliktpotenzial, auch und besonders in der interkulturellen Kommunikation. Das hängt zum einen damit zusammen, dass dieser Begriff unscharf und damit wenig präzise ist, weshalb er mitunter von Geschichte abgetrennt über den Phänomenen zu schweben scheint. Zum anderen geht das darauf zurück, dass der Terminus Kresy einen polonozentrischen und kolonisierenden Blick auf die östlichen Gebiete zum Ausdruck bringt, wodurch deren multikultureller Charakter, insbesondere die „Vollwertigkeit“ der ukrainischen, litauischen oder belarussischen Kultur, negiert wird. Daher wird in neueren Narrativen über die Kresy dieser Begriff in Klammern aufgeführt oder ganz verworfen. Das Bewusstsein über die Genese, die Funktion und den polonozentrischen Hintergrund dieses Begriffs führt zunehmend zu dessen Dekonstruktion und zur Suche nach Alternativen wie z. B. pogranicze (Grenzgebiet), die über den Bereich einer nationalen Vereinnahmung dieser Gebiete hinausweisen und deren kulturelle Vielfalt hervorheben. In diesen Alternativen zeigt sich anstelle der Tilgung des Anderen das Streben nach einer offenen Begegnung mit ihm. Die Verabschiedung von Ethnozentrismus geht Hand in Hand mit der Ausarbeitung der Identität der kleinen Vaterländer, der Heimat im Kleinen. Mit diesem Ansatz wird die dominante Rolle des Nationalstaats mit der ihm eigentümlichen kulturellen Semantik unterminiert; lokale bzw. regionale Raumordnungen treten in Erscheinung. Die Literatur erfüllt in Bezug auf den Ausdruck Kresy eine zweifache Funktion. Einerseits kreiert sie den Nationalmythos der Vorstellung einer bedeutungsvollen Mission Polens hinsichtlich der Kresy, indem sie durch Mythologisierung der Landschaft eine überzeitliche Wertordnung herausstreicht oder gar begründet und damit zugleich den Anderen als Feind und Bedrohung der imaginierten nationalen Gemeinschaft ausschließt. Andererseits unterminiert und dekonstruiert gerade die Literatur den Gründungsmythos der Kresy und hebt so die nicht im Nationalen aufgehende Multikulturalität dieser Gebiete ins Bewusstsein.

Mentale Landkarte und imaginierte Gemeinschaft

 Die Vieldeutigkeit des Terminus Kresy ergibt sich aus der komplizierten Geschichte dieses Begriffs. Da heutige Verwendungsweisen dieser Bezeichnung häufig unter dem nicht reflektierten Einfluss der Tradition stehen, lohnt es sich, deren historische Entwicklung in den Blick zu nehmen. Der Begriff Kresy ist eng mit dem Entstehen einer polnischen Identität verknüpft, die auf dem Kampf mit einem äußeren Feind und der Verteidigung eines als Teil der eigenen Kultur behandelten Gebiets gründet. Die literarische Einbildungskraft entwirft eine entsprechende imaginäre Karte, mithin eine mentale Landkarte, welche Grenzen festlegt und damit Identitäten definiert. Die Festsetzung von Grenzen und die Erinnerung an diese bilden ein Schlüsselelement in der Arbeit an der Verteidigung der eigenen Identität. Pieśń o ziemi naszej (Lied über unser Land), entstanden 1835, und Mohort von Wincenty Pol zeigen, dass sowohl das in ihnen dargestellte Polen als auch die Vorstellung des östlichen Grenzgebiets strikt verbunden sind mit dem Streben nach Erhalt der nationalen polnischen Identität der Vorteilungszeit. Dies betrifft auch die damaligen Staatsgrenzen unerachtet der durch die Teilungsmächte oktroyierten Grenzverhältnisse. Der Kampf um die Grenzen tobt also auch in der Imagination: Die imaginierte nationale Gemeinschaft kreiert sich eine entsprechende mentale Landkarte, die gleichzeitig Ausdruck der konstruierten Gruppenidentität ist und deren politisch-territoriale Interessen manifestiert. Grenzland – also Kresy – sind Gebiete der alten Rus, v. a. Ruthenien bzw. die Ukraine. In Pols Rezeption macht sich die Tendenz bemerkbar, dieses Verständnis des Grenzgebiets auf frühere Epochen auszudehnen. In ihr erscheint auch die Idee, dass die Kresy eine jahrhundertealte Wehrgrenze gewesen seien, an der die nationale Identität verteidigt worden sei. Der Ausdruck Kresy umfasst so in anachronistischer Weise auch das Verteidigungssystem an der Ostgrenze aus dem 16. Jh. Die Folge der Zuordnung einer so weit zurückliegenden Vergangenheit zu den Kresy war die Territorialisierung dieses Begriffs, der bald als Synonym für die Ukraine selbst galt, die damit zur subalternen Erweiterung Polens, mithin zum polnischen Grenzsaum reduziert wurde.

Die narrative Konstruktion der Kresy zu vormaligen Gebieten der Adelsrepublik PolenLitauen beginnt in der Romantik und erstreckt sich auf das ganze „lange“ 19. Jh. Dies gilt für beide Teile des Doppeltstaats, also für das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen. In Bezug auf das ehemalige Großfürstentum Litauen kann man nämlich eine vergleichbare Entwicklung der Begriffsverwendung konstatieren, etwa am Beispiel von Obrazy litewskie (Bilder aus Litauen) von Ignacy Chodźko wie auch den deutlich späteren Romanen von Maria Rodziewiczówna oder Józef Weyssenhof. In diesen Texten erscheinen die Kresy als Wachturm, als Grenzposten des Polentums und als belagerte Festung, die es zu verteidigen gilt. Die Zuordnung dieser Gebiete zu den Kresy verbindet sich mit einer polonozentrischen Konzeption von Selbstbehauptung, die sowohl gegen die Teilungsmächte, als auch gegen die nationalen Befreiungsbewegungen anderer Nationen (in diesem Fall die Litauer und Belarussen), aber auch gegen die Deutschen, die auf diesem Gebiet leben, gerichtet ist. Die semantische Reichweite der Bezeichnung Kresy verbindet sich damit mit dem Gefühl, dass die polnische Identität auf diesen Gebieten nach den Teilungen und den beiden gescheiterten Erhebungen (Novemberaufstand 1830/31, Januaraufstand 1863/64) bedroht und damit zum Kampf um die Grenzen sowie die eigene Existenz herausgefordert ist. Schon Włodzimierz Spasowicz hat in seinem Vortrag Wincenty Pol als Dichter (1878) den Adel in den Kresy als Steppenpolizei beschrieben und den Helden Mohort als „letzten Mohikaner der Kresy“ bezeichnet (Spasowicz 1981, S. 215) wodurch eine Analogie zwischen den Polen und den kämpferischen Indianern Nordamerikas hergestellt wurde. Schon damals bildet sich eine weitere, geistige Dimension des Begriffs Kresy heraus. In der polnischen Emigrationskultur, insbesondere im Umkreis der Großen Emigration, wird der Begriff Kresy ganz abstrakt definiert und von konkreten räumlichen Gegebenheiten nahezu vollständig abgekoppelt. Nach Karol Baliński (in einem Brief vom 12.12.1855) entspricht der Kampf um nationale Identität in der Emigration dem Dienst an den „Grenzen [Kresy] des polnischen Geistes“ (Sudolski 2004, S. 572).  Die Kresy wandelten sich also zum Schauplatz eines Kampfs um nationale Identität, der auch in der Emigration ausgetragen wurde. Den geographischen Raum eines solcherart imaginierten Vaterlands bespricht z. B. Józef Bohdan Zaleski in seinem Gedicht Do spółtułaczów (Zu den Mitexilanten), in dem der Dichter die Emigration als „neue polnische Ukraine“ oder gar offen als Kresy bezeichnete (Zaleski 1985, S. 331).  Zaleski erkennt in der Emigration eigentlich den Ort der Konfrontation mit dem Feind, den Standort für die Verteidigung im Kampf um die Freiheit und Unabhängigkeit Polens, wobei er dabei sichtlich an die Idee des Abwehrkampfs an den östlichen Grenzen der alten Adelsrepublik anknüpft. In dieser Hinsicht stellt der Ausdruck Kresy die Grundlage für die Bestimmung der nationalen Identität dar und umreißt gleichzeitig den symbolischen Raum für das Narrativ eines Kampfs mit den Teilungsmächten um die nationale Existenz. Als Konsequenz ergab sich in der Imagination eine Rückkopplung zwischen dem Begriff Vaterland und der Überzeugung, dass die Polen überall um ihre nationale Existenz kämpfen würden, sich also in einem permanenten Belagerungszustand befänden. Eine solch metaphorisches und wertendes Verständnis von Kresy vereint territoriale Dimensionen mit geistigen, indem eine Großerzählung über die nationale Identität fabriziert wird: Die imaginierte Nation, die im räumlichen und geistigen Sinne dieses Begriffs an der Grenzmark (den Kresy) kämpft, ist die im Kampf um die eigene Existenz vereinte Gemeinschaft. Eine solche mentale Landkarte führt, wenn sie sich auf die vormalige Adelsrepublik bezieht, unweigerlich zu einem deformierten Bild der Vergangenheit.

Bemerkenswert ist daneben auch die Tatsache, dass der Begriff Kresy im 19. Jh. auch in Bezug auf Deutschland, den westlichen Nachbarn Polens, Verwendung fand. Er kursierte vor allen Dingen im Zusammenhang mit dem nationalen Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit der Polen im Rahmen des preußischen Staats und später des Deutschen Kaiserreichs. Jan Zachariasiewicz zeigt im Roman Na kresach (Im Grenzland) aus dem Jahr 1860, dass die Kresy nicht nur im Osten, sondern auch im Westen der geteilten Adelsrepublik bestehen. Der Schriftsteller bezieht sich im titelgebenden Grenzland auf die Flüsse, welche die Westgrenze des Landes markieren, also die Warthe und die Netze, und arbeitet heraus, wie an ihrem Ufer die Polen mit den Deutschen in einem Kampf um die eigene Existenz stehen. Der Roman greift weit in die Vergangenheit aus, in Zeiten, als das Heer von Bolesław diese Gebiete für Polen in Besitz nahm, und verkündet die Botschaft, dass die zeitgenössischen Polen sich vor der Wirtschaftsmacht der Deutschen wie auch vor dem Überhandnehmen (wörtlich ist vom Überfluten – poln. zalew – die Rede) von deutschen Siedlern und Großgrundbesitzern auf diesen ursprünglich polnischen Ländern zu verteidigen hätten. In diesem Kontext ist bezeichnend, dass auf dem Helden des Romans Im Grenzland der Fluch seines Großvaters lastet, „dass er keine Ehe eingehen könne, solange er keine erfolgreiche Mission an den Grenzen des Vaterlands erfüllt haben werde“ (Zachariasiewicz 1867, S. 52). Diese Verpflichtung zur Verteidigung der Heimat – vor Hajdamaken, die im Roman vorkommen – bezieht sich nun allerdings auf die westlichen Gebiete. An den Westgrenzen gibt es freilich keine Hajdamaken (d. h. Bauern und Kosaken, die westlich vom Dnepr in der rechtsufrigen Ukraine lebten). Deren Rolle wird in der literarischen Imagination von den Deutschen übernommen, im Roman etwa verkörpert durch den Junker Von der Mark, der eine bis zu den deutschen Ordensrittern zurückreichende Genealogie vorweisen kann. Ein analoges Bild finden wir in der Prosaskizze Na kresach mazurskich (Im masurischen Grenzland, 1876) von Wojciech Kętrzyński, der die Lage der Polen in Ostpreußen beschreibt und sich dabei auf eine vergleichbare kulturelle Semantik der Kresy stützt. Diese Beispiele illustrieren die Übereinstimmung bei der Verwendung des Begriffs Kresy im 19. Jh. zur Bezeichnung für in ihrer territorialen Zugehörigkeit umstrittene Gebiete im Osten und im Westen des geteilten Polens. Der gemeinsame Nenner in dieser Verwendung besteht im Kampf um die polnische Identität an den Grenzen bzw. in den Grenzgebieten – wo auch immer dieser Kampf ausgetragen wird (auch im Exil).

Den Begriff Kresy hat auch der Nobelpreisträger Henryk Sienkiewicz für sein Schreiben genutzt. Zum einen bezeichnete er mit ihm die östlichen Gebiete in der alten Adelsrepublik, zum anderen die unter deutscher Herrschaft stehenden Territorien im Westen. Insbesondere in den Listy z podróży do Ameryki (Briefe von der Reise nach Amerika, 1876–1878) kann man diese Universalisierung des Begriffs Kresy feststellen, und zwar sowohl in zeitlicher als auch in räumlich-geographischer Hinsicht. Sienkiewicz gebraucht nämlich den Begriff Kresy ebenso in Bezug auf den sogenannten „Wilden Westen“, wo sich der Kampf zwischen Zivilisation und dem (angeblich) kulturlosen Nichts abspiele. Ein vergleichbares Beispiel der Begriffsverwendung, die auf dem Gegensatz von Zivilisation und Barbarei beruht, taucht in Sienkiewiczs historischer Romantrilogie auf, vor allem in Ogniem i mieczem (Mit Feuer und Schwert, 1883–1884). Der Autor knüpft deutlich erkennbar an die damals weit verbreitete Überzeugung an, dass die polnische Kultur an den östlichen Grenzen der Adelsrepublik eine kulturstiftende Mission erfüllt und in diesen von Barbarei bedrohten Gebieten die Grundlagen von Zivilisation gelegt habe. Eine besonders markante Verkörperung erhält in Sienkiewiczs Roman diese Kulturträgerschaft des polnischen Adels – der szlachta – im Magnatengeschlecht der Familie Wiśniowiecki:

Es entstanden in der Wüste Einzäunungen, Ansiedelungen, Kolonien, Waldparzellen. Der Boden war ertragsfähig, und der Wohlstand lockte. Aber zur Blüte gelangten diese Ländereien erst, als sie in die Hände der Familie Wiśniowiecki übergingen (Sienkiewicz 1901, S. 39, Übers. A.G.).

 Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jhs. spielen die Kresy eine eminent wichtige Rolle bei der Ethnisierung des Diskurses über Grenzen. Der Begriff bezeichnet dann nicht nur ein konkretes Gebiet, sondern auch die bewegliche Frontlinie im Kampf um die Polonität, und zwar unabhängig davon, ob er sich auf einen Raum bezieht, in dem die Polen in der Gegenwart oder der Vergangenheit (ebenfalls der alten Adelsrepublik) eine ethnische Minderheit darstellten. Eine Zusammenstellung der wichtigsten semantischen Eigenschaften des Begriffs Kresy offenbart also in aller Deutlichkeit, dass im 19. Jh. dieser Ausdruck einen Grundstein im Aufbau der großen Erzählung über die polnische nationale Identität bildete und sich nicht ausschließlich auf im Osten gelegene Gebiete bezog, sondern auch westliches Terrain umfasste. Als Folge der Universalisierung und Metaphorisierung des Begriffs erscheinen solche Grenzgebiete – Kresy – überall dort, wo sich der Kampf um Identität und Kontinuität der Polonität in ihrer nationalen Exklusivität abspielt. In diesem Verständnis verbreitet sich der Ausdruck in der Zeit der Teilungen und geht mit der Überzeugung einher, dass die Substanz der Nation vor allem durch Russifizierung und Germanisierung, aber auch rivalisierende nationale Emanzipationsbewegungen, bedroht sei und der Kontakt mit den Teilungsmächten und deren Kulturen im Wesentlichen als fortwährender Kampf um die polnische Identität verläuft. Unter diesem Gesichtspunkt wird im Diskurs der Kresy nicht so sehr ein bestimmter Raum und dessen Ordnung verhandelt, als vielmehr ein universales Begriffsinstrumentarium für den Kampf um nationale Eigenständigkeit entwickelt. Eine solche Applikation des Begriffs legt von vornherein fest, dass Grenzen eine Front bilden und der Kontakt mit dem Anderen oder mit Alterität stets als Kampf um die eigene Identität angelegt ist. In diesem Kampf wird der Andere als Feind bestimmt und ausgeschlossen. Vor diesem Hintergrund wandeln sich die Kresy, verstanden als Grenzsaum, geradezu in eine Vormauer, in eine Grenzfestung, um. Die Literatur trägt einen erheblichen Anteil an dieser Verhärtung der Grenzverhältnisse und der damit zusammenhängenden Herausbildung einer Abgrenzungsmythologie, die im Streben nach nationaler Selbstbehauptung zum Einsatz gelangt.

In nicht geringerem Ausmaß unterminiert oder destruiert sie aber auch die eingeschliffene kulturelle Semantik betreffend der Ostgrenzen der vormaligen Adelsrepublik. Dies ist vor allem in der nach 1945 entstandenen Literatur der Fall, auch wenn noch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wenigstens bis zu einem gewissen Grad mythenstiftende Traditionen wirksam sind. Das stark ausgeprägte Interesse an den Kresy in der Nachkriegszeit kann mit dem Hinweis auf die territoriale Neuordnung der polnischen Ostgrenzen erklärt werden. Auf der Grundläge von Beschlüssen aus den Jahren 1943 bis 1945 wurden östliche Territorien von Polen abgetrennt und in die Ukrainische, Weißrussische und Litauische Sowjetrepublik integriert. Die auf diesen Gebieten sesshafte polnische Bevölkerung wurde ein Opfer von gewaltsamer Zwangsumsiedlung. Gleichzeitig wurden jedoch Polen östliche Gebiete des früheren Deutschen Reiches zugeschlagen. Der Verlust der Kresy, die erzwungene Umsiedlung und massenhafte Fluchtbewegung der Polen (damals offiziell und euphemistisch als „Repatriierung“ bezeichnet) haben im kulturellen Gedächtnis Spuren hinterlassen, auch in der Literatur. Dies gilt besonders für das Schaffen von Autoren wie Eugeniusz Paukszta (Trud ziemi nowej [Die Arbeit der neuen Erde] 1948, Pogranicze [Grenzland] 1961, Wrastanie [Wurzeln schlagen] 1964, Po burzy jest pogoda [Nach dem Regen scheint die Sonne] 1964), Jan Brzoza (Ziemia [Die Erde] 1956), Henryk Worcell (Najtrudniejszy język świata [Die schwierigste Sprache der Welt] 1965) oder Aleksander Rymkiewicz (Podróż do krainy szczęśliwości [Reise ins Land der Glückseligkeit] 1985). In diesen Werken dominieren zwei Vorstellungen. Die erste ruft das Verlassen eines dem Tod geweihten Landes und das Betreten von „glücklichem, piastischem Boden“, also vertrautem, ewigem polnischen Boden auf – und wirkt so an der Entstehung des Mythos einer Heimkehr in den Schoß der polnischen Geschichte mit. Eine zweite, pessimistische Vorstellung, evoziert vor allem die Erfahrung des Heimatverlusts. Die Bezeichnung Kresy bezieht sich in diesen Texten ausschließlich auf die östlichen Gebiete, die bis zum Krieg zur Zweiten Polnischen Republik gehörten. Dies ändert allerdings nichts daran, dass die Zensur in den ersten Jahren der Volksrepublik Polen das Thema der Kresy marginalisierte und als politisch schädlich stigmatisierte. Erst mit dem Jahr 1956 und dann verstärkt in den 1980er Jahren konnten die Kresy ohne größere Beeinträchtigungen thematisiert werden. Noch in der Volksrepublik entstanden jedenfalls Texte, die der Thematik der Kresy gewidmet waren. Es mag reichen, in diesem Zusammenhang auf das Werk von Tadeusz Konwicki oder Andrzej Kuśniewicz hinzuweisen.

Besonders ertragreich sollte sich der Diskurs über die Kresy in der polnischen Emigration erweisen. Stanisław Vincenz, Jerzy Stempowski, Józef Wittlin, Czesław Miłosz, Józef Mackiewicz, Zygmunt Haupt und Włodzimierz Odojewski, um nur einige der herausragenden Autoren der polnischen Emigrationskultur zu erwähnen, unternahmen den Versuch einer Umwertung der kulturellen Semantik der Kresy und verwiesen in ihren jeweiligen Texten auf die multi- und transkulturellen Dimensionen der östlichen Gebiete Polens, die nach dem Krieg an die Sowjetunion fielen. Jerzy Giedroyc, der Herausgeber der Exilzeitschrift Kultura, drang des Öfteren darauf, das konflikterzeugende und die einzelnen Nationen gegeneinander aufbringende Wort Kresy mit dem neutralen Ausdruck pogranicze zu ersetzen und so dezidiert über ein polonozentrisches Verständnis der betroffenen Regionen hinauszugelangen.

In diesen Texten stößt man aber auch auf bestimmte Motive, die sich aus einem traditionellen Verständnis der Kresy ableiten lassen, vor allem die Erinnerung an ein Land der glücklichen Kindheit. Die idyllische Vorstellung unterliegt in den Werken der genannten Autoren bisweilen jedoch einer tiefgreifenden Umwertung oder gar der Dekonstruktion: Wir betreten den Bereich der idyllischen Landschaft, die aber unterminiert wird, etwa in Dolina Issy (Das Tal der Issa,1955) von Czesław Miłosz. Insbesondere die literarische Auseinandersetzung mit den Kataklysmen, die sich während des Zweiten Weltkriegs ereignen, führt zu einer Demontage der idyllisierenden Betrachtung der Kresy, etwa in den Werken von Józef Mackiewicz oder Włodzimierz Odojewski.

Die spezifischen Rückkopplungseffekte zwischen dem verlorenen Osten (Kresy) und dem „wiedergewonnenen“ Westen üben einen entscheidenden Einfluss auf die Genese einer mentalen Landkarte in der polnischen Nachkriegsliteratur aus. Anstelle einer nationalen Großerzählung entstehen nämlich, beginnend mit der Emigration seit den 1950er und in Polen selbst seit den 1980er Jahren, immer mehr Narrative der sogenannten kleinen Heimat (poln. mała ojczyzna), also Erzählungen regionaler Gemeinschaften und lokale Erinnerungen, etwa bei Jerzy Stempowski, Stanisław Vincenz, Paweł Huelle und Stefan Chwin. Dieses neue Paradigma, das sich gegen die staatlich-national verfasste Großerzählung in ihrer totalisierenden Uniformität richtet, beruht auf Mikroerzählungen oder der Individualisierung von Geschichte, wodurch die konkreten persönlichen Erfahrungen aufgewertet und der staatlich-politischen Allgemeinheit der homogen gefassten Nation gegenübergestellt werden.

Eine der wichtigsten Besonderheiten der polnischen Semantik zu den Kresy ist die in der Literatur modellierte Landschaft. Die Texte zu den Kresy quellen über mit Beschreibungen malerischer Ansichten einer scheinbar nicht von Menschenhand berührten Natur. Man begegnet in ihnen auch oft idyllischen Motiven, romantischen Schlössern oder auch Ruinen, der geöffneten weiten Stelle, dem dichten Wald und dem klaren, blauen Himmel, aber auch einer unheimlich-geheimnisvollen Atmosphäre oder dem Thema des unwiederbringlich verlorenen Paradieses aus der glücklichen Kindheit.

Gleichzeitig macht sich auch eine gegenläufige Tendenz bemerkbar, die das Leiden und die Gewalt hervorhebt, die sich in den Kresy mit den historischen Verwerfungen einstellten. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Kresy die Hölle in der Geschichte. Integraler Bestandteil dieses Begriffs der Kresy ist die chiastische Verschränkung zweier heterogener Bilder: Die Kresy sind Arkadien und Golgotha in einem; ein Land, in dem Milch und Honig fließt, aber auch ein Gebiet, das von Gewalt und Vernichtung gezeichnet ist, mit einem Wort: bloodlands (Snyder). Die Kresy sind also ein Raum, der sowohl fasziniert und eine ungeheure Anziehungskraft ausübt als auch mit seinen Gräueln abschreckt und abstößt.

Die in ein transnationales Grenzgebiet umgedeuteten polnischen Kresy, die mit der Nachkriegsordnung von 1945 (Stichwort Jalta) gleichgesetzt werden, bilden die semantische Matrix für die kleinen Heimaten. Das Leben im Grenzgebiet wird, im Unterschied zum traditionellen Mythos der Kresy, nicht mehr als Idylle wahrgenommen. Das Grenzgebiet wird unter diesem Gesichtspunkt zum Schnittpunkt heterogener Interessen, zum Raum, in dem Eigenes und Anderes in vielfältigen Verflechtungen aufeinanderstoßen und in ihrer dynamischen, nicht immer konfliktfreien Interaktion zur Geltung kommen. Das Grenzgebiet stellt so einen Ort der Überlappung und des Zusammentreffens kultureller Differenzen dar, wird damit aber auch zur Zone des Kampfs um Begrifflichkeiten, Vokabulare und Semantiken. In diesem Kontext wird deutlich erkennbar, wie dieses Verständnis von Grenzgebiet im Unterschied zum polonozentrischen Begriff Kresy all diejenigen strittigen Punkte und offenen Fragen zutage fördert, die im Rahmen des etablierten Diskurses der Kresy marginalisiert oder gar negiert worden sind.

Auch in der deutschen Kultur wurde der Osten lange Zeit als Frontlinie wahrgenommen, an der sich der Kampf um die nationale Existenz abspielt. Eine solche kulturelle Semantik zeichnet sich insbesondere in Bezug auf Ostpreußen ab. Die mentalen Landkarten einer Kultur existieren und entstehen nicht ohne Einfluss anderer Kulturen. Auffällig ist die deutsch-polnische Analogie im Umgang mit Grenzen. Auch in deutschen Diskursen über die nationale Identität spielen Vorstellungen zur Grenze im Osten eine Schlüsselrolle. Der Osten, insbesondere Ostpreußen, wurde als Vorposten und Verteidigungslinie des Deutschtums gegen die Slaven zum Eckpfeiler der nationalen Identität deklariert.

Im 19. Jh. verbreitete sich die Überzeugung, dass der polnische Freiheitskampf und die damit zusammenhängenden Aufstände eine Bedrohung für den preußischen Staat darstellen würden. Zur Verteidigung der preußischen und später reichsdeutschen Positionen auf den Gebieten, die von Slaven oder Balten und Esten bewohnt wurden, berief man sich oftmals auf einen deutschen Gründungsmythos, der davon ausging, dass die deutsche Kultur die Funktion einer Kulturträgerschaft besessen habe. Mit dieser Kulturträgerschaft seien bis dahin angeblich unzivilisierte Gebiete durch Kulturarbeit in den Kreis der europäischen Ordnung integriert worden. Mit dem Postulat der deutschen Stiftung von Zivilisation ging der Anspruch auf politische Herrschaft und den Primat der deutschen Kultur einher. In der deutschen Kultur offenbarte sich also das gleiche Motiv, das auch die polnische Imagination hinsichtlich des Ostens prägte. Beide Male kreist die mentale Landkarte um die jeweils supponierte Kulturträgerschaft. Im Narrativ zu Ostpreußen macht sich auch das Ideologem der belagerten Festung bemerkbar, also das Gefühl, von anderen Kulturen, dem Anderen, bedroht zu sein und sich entsprechend wehren zu müssen. Die Ostgrenze wird damit zur Kampfzone der nationalen Selbstbehauptung, mit der aber oft keineswegs nur defensive und, im Gegenteil, mitunter offen expansionistische Bestrebungen verknüpft sind. Das nationalsozialistische Lebensraumprogramm radikalisierte diese Konstellation im genozidalen Generalplan Ost. Nach 1945 wiederum, nach der Zwangsumsiedlung der Deutschen aus den östlichen Territorien des vormaligen Reichs (→ Vertreibung), stellt man in der Literatur, die von den verlorenen Gebieten handelt, eine gewisse Idealisierung des Ostens fest. Er wird in der Regel als arkadisches Land der Kindheit dargestellt, das die deutschen Flüchtlinge und Zwangsumgesiedelten verlassen mussten. In diesem Bild und vor allem in den Landschaftsschilderungen der ostpreußischen Natur offenbart sich eine spezifische antimoderne Tendenz, die den Osten als von den negativen und widersprüchlichen Folgen der Modernisierung unberührten Flecken Welt glorifiziert. Gleichzeitig gilt es herauszustreichen, dass die bedeutendsten Repräsentanten dieser Literatur sich darüber im Klaren sind, dass diese Gebiete unwiederbringlich verloren sind. Es mag in diesem Zusammenhang reichen, an Heimatmuseum oder So zärtlich war Suleyken (1955) von Siegfried Lenz, Kindheitsmuster (1976) von Christa Wolf, Es war einmal in Masuren (1991) von Wolfgang Koeppen und auch das Werk von Günter Grass oder Johannes Bobrowski zu erinnern. Auch die deutsche Literatur verbreitet den Topos der Kulturträgerschaft. Freilich macht sich nach 1945 ein deutlich erkennbares Streben nach Umwertung der überlieferten Narrative und vorbelasteten nationalistischen Begrifflichkeit bemerkbar, indem man nach einer anderen kulturellen Semantik Ausschau hält, die den Anderen nicht ausblendet oder negiert.

Auch polnische Autoren unternehmen den Versuch einer grundsätzlichen Revision der traditionellen kulturellen Semantik und entwerfen dabei alternative Narrative der Identitätsstiftung bzw. Identitätsdemontage: Stefan Chwin (Der Tod in Danzig, Esther, Der goldene Pelikan), Paweł Huelle (Weiser Dawidek, Castorp), Henryk Waniek (Finis Silesiae) oder Tomasz Różycki (Zwöf Stationen).

Anstelle der Aneignung oder der Tilgung des Anderen geht es nun darum, sich dessen Präsenz und Wirkung ins Bewusstsein zu heben. In den Texten dieser Autoren haben wir es mit einem Verhandeln von Identitäten zu tun, das sich hauptsächlich auf bestimmte Regionen (Śląsk / Schlesien, Mazury /Masuren, Warmia /Ermland, Pomorze/ Pommern) oder vormals deutsche Städte (Szczecin/ Stettin, Olsztyn/Allenstein, Wrocław/Breslau, Gdańsk /Danzig, Gliwice/Gleiwitz) bezieht. Der Raum wird dabei als Palimpsest gelesen, als Textgefüge einer Kultur, das auf die simultane Anwesenheit verschiedener Kulturen verweist und damit eine vielschichtige und transnationale kulturelle Semantik evoziert. Es geht nicht mehr um die Neuauflage eines Narrativs der Wiederaneignung national-homogener Gebiete. Der polnische Piasten-Mythos tritt zusammen mit seiner kommunistischen Instrumentalisierung als permanente Beschwörung des deutschen Erzfeinds in den Hintergrund. In manchen Texten tauchen zwar Bezüge zu den Kresy auf, so wie z. B. in Zwölf Stationen von Tomasz Różycki bei der Gestaltung von Opole und Schlesien, aber sie haben nur noch eine ganz und gar groteske bzw. verfremdende Funktion, auch wenn sie in Różyckis Text den Dreh- und Angelpunkt der Familienerinnerung des Protagonisten, eines Nachkommen von Zwangsumgesiedelten, bilden und dessen Identitätsbestimmung prägen. Durchaus vergleichbar verbindet auch Adam Zagajewski in seinem autobiographischen Essay Zwei Städte die Erinnerung an die in Gleiwitz/Gliwice verbrachte Kindheit mit dem Rückblick auf das Land seiner Vorfahren, Galizien und Lemberg.

In der polnischen Literatur fehlen jedoch Werke, die vergleichbar dezidiert eine Umwertung der kulturellen Semantik zu den Kresy vorantreiben, wie dies die aufgerufenen deutschen Autoren in Bezug auf den „deutschen Osten“ tun. Im Vergleich zur polnischen mentalen Landkarte, die sich auf die vormals deutschen Gebiete im Westen des Landes beziehen und den vielschichtigen, mehrdimensional-transkulturellen Aufbau dieses Raums berücksichtigen, indem ganz deutlich über eine nationale Polonozentrik hinausgegangen wird, fehlt eine in Quantität sowie Intensität vergleichbare analoge Dekonstruktion etablierter Narrative über den vormals polnischen Osten. Hier offenbart sich eine gewisse Parallele zu dem Bild des ehemals deutschen Ostens in der neueren deutschen Literatur, die mit Ausnahme der erwähnten Autoren und Werke auch kaum die Vielgestaltigkeit dieser östlichen Gebiete reflektiert.

Eine Besonderheit des Diskurses über den vormals deutschen bzw. polnischen Osten besteht sowohl in der deutschen als auch in der polnischen Literatur in der gedächtnisstiftenden Funktion dieses Themas. Das kann zwar durchaus mit einer aufklärerischen Enttabuisierung von Themen und lange Zeit beschwiegenen Problemen zusammengehen, läuft aber oft auf eine nostalgische Beschwörung der Vergangenheit hinaus, was die Marginalisierung oder gar Verdrängung des Anderen, zumindest aber die Unkenntnis über den gegenwärtigen Status quo im jeweiligen Osten, zur Folge hat. Ein mitunter erkennbarer Mangel an Interesse in der neuesten deutschen Literatur für die in Gegenwart auf den vormals deutschen Gebieten lebenden Bewohnern ergibt sich aus dem dominierenden narrativen Schema, das sich auf die literarische Rückkehr in die ehemalige Heimstatt der eigenen Vorfahren konzentriert, also in seiner Beschaffenheit vorwiegend auf die Vergangenheit ausgerichtet ist. Das Gleiche gilt grosso modo für die überwiegende Mehrheit der polnischen Texte über die vormaligen Kresy, auch wenn sich diesbezüglich eine Veränderung auf der mentalen Landkarte anzubahnen scheint, die mehr und mehr auch die gegenwärtige Situation aufnimmt und so über die bloße nostalgische Erinnerungsarbeit hinausgelangt. In diesem Zusammenhang sind für die polnische Literatur die Werke von Andrzej Stasiuk oder auch die schon früher erschienenen Texte von Czesław Miłosz zu erwähnen. Während die traditionelle Literatur über die Kresy eine Literatur der Exilanten war, kreisen die Texte heutiger Autoren wie Stefan Chwin oder Paweł Huelle nicht mehr um die erinnernde Vergegenwärtigung alter Traditionen und Bande. Sie handeln im Gegenteil davon, wie neue Verbindungen und Einwurzelungen (im Sinne von Simone Weil) überhaupt erst herzustellen und im Bewusstsein zur Geltung zu bringen sind. Dieses Streben nach Einwurzelung und Aneignung des neuen Raums, der zugleich semantisch neu codiert wird, geht auf einen ganz anderen Zugang als die nostalgische Bindung an die Vergangenheit zurück. Er entspricht der Praxis von Siedlern, die sich an einem neuen Ort mit seiner eigenen Geschichte und Kultur niederlassen, und nicht der Erinnerungsarbeit von Exilanten oder Zwangsumgesiedelten, die ihre verlorene Heimat erinnernd betrauern. Damit wird aber auch die Frage aufgeworfen, ob eine mentale Landkarte entstehen könnte, die entschieden über das Paradigma der nostalgischen Erinnerung mit ihrer Beschwörung der verlorenen Heimstatt hinausführen und den Weg zur Begegnung mit dem Anderen, so wie er jetzt mit seiner jeweiligen Geschichte und Kultur auf eben diesen Gebieten lebt, eröffnen würde.

Die Kresy in der deutsch-polnischen Kommunikation

 Die Vorstellungen über die Kresy und die mit ihnen verbundenen Grenzen auf der mentalen Landkarte bilden einen konstitutiven Bestandteil identitätsstiftender Narrative. Daher berührt jede Diskussion dieser Thematik gleichzeitig auch – zumindest implizit – die Diskurse über kollektive Identitäten. Sowohl in der deutschen als auch in der polnischen Kultur wurde die östliche Grenze jeweils als Frontlinie im Kampf um die nationale Identität begriffen. Dieses Verständnis des Ostens erzeugte das Syndrom der belagerten Festung. Es ist nachvollziehbar, dass unter diesen Voraussetzungen ein Dialog mit dem Nachbarn im jeweiligen Osten eine enorme Anstrengung erfordert und zuerst eingeschliffene Verhaltensmuster aufgebrochen werden müssen. Man sieht sich vor die Notwendigkeit gestellt, eine neue mentale Landkarte zu schaffen bzw. die alte umzuarbeiten. Gleichzeitig müssen auch die etablierten Narrative der Identität und die Semantiken der imaginierten Gemeinschaft erneuert werden. In beiden Literaturen, der deutschen wie der polnischen, haben wir es mit einem ähnlichen Verhältnis gegenüber dem Anderen zu tun, mit der Tendenz nämlich, diesen Anderen zu marginalisieren, auszublenden oder anzueignen. So ist es denn auch der Fall, dass trotz aller kritischer Umwertungen des polonozentrischen Verständnisses der Kresy im Osten die polnische Literatur nach wie vor einen eigenen und angemessenen Zugang zu den Nachbarkulturen im Osten sucht. Deutlich zu erkennen ist, wie die polnische Literatur die polnische „Innenwelt des Denkens“ bzw. „Semiosphäre“ (Lotman) umbaut und auf jeden Fall eine Neubewertung insbesondere im Falle der Grenze zum deutschen Nachbaren anstrebt. Im engen Kontakt mit der deutschen Kultur bemüht sie sich um eine Entschärfung der Hotspots (Agar, Heringer), die sich in den konfligierenden deutschen oder polnischen Erinnerungskulturen abzeichnen. In diesem Sinne stellt sie sich der Aufgabe, über national determinierte Identitätsentwürfe hinauszugelangen und die vielschichtige Heterogenität der deutsch-polnischen Verflechtungen gerade in den Grenzgebieten zwischen Polen und Deutschland in den Blick zu nehmen. So leistet diese Literatur einen Brückenschlag zwischen den beiden Kulturen und entwickelt eine neue Semantik, durch deren Vokabular strittige Fragen aufgegriffen, benannt und in ihrem konflikterzeugenden Potenzial zumindest reduziert werden können. Im Falle der Kresy stellt sich die Situation hingegen anders dar. In der polnischen Literatur dominiert nach wie vor eine gewisse Polonozentrik, die sich insbesondere im Gestus der erinnernden Vergegenwärtigung verlorener ehemaliger Gebiete im Osten bemerkbar macht. Auf einen vergleichbaren Primat der Nostalgie stößt man auch in der deutschen Literatur über die verlorenen Gebiete im Osten. Die aufrichtige Suche nach neuen Narrativen über die beiden unterschiedlichen „Osten“ müsste eine Überwindung eng gefasster nationaler Eindimensionalität anstreben und mit ihrer Erzählung auf der Grundlage einer abgestreiften nationalen Priorisierung anheben. Erst damit wäre der narrative Zugang zu diesem Teil Europas gegen a priori gesetzte oder mitschwingende nationale Vereinnahmungen gefeit.

 

Literatur:

Agar, Michael: The intercultural frame, in: International Journal of Intercultural Relations (1994) 18/2, S. 221–237.

Czaplejewicz, Eugeniusz; Kasperski, Edward (Hg.): Kresy w literaturze, Warszawa 1996.

Hadaczek, Bolesław: Kresy w literaturze polskiej XX wieku, Kraków 2011.

Heringer, Hans Jürgen: Interkulturelle Kommunikation. Grundlagen und Konzepte. Ed. 5, Tübingen 2017.

Jarzębski, Jerzy: Apetyt na przemianę. Notatki o prozie współczesnej, Kraków 1997.

Kolbuszewski, Jacek: Kresy, Wrocław 1999.

Lawaty, Andreas; Orłowski, Hubert (Hg.): Deutsche und Polen. Geschichte – Politik – Kultur, München 2006.

Lotman, Jurij M.: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur, Berlin 2010.

Snyder, Timothy: Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin, London 2010.

Spasowicz, Włodzimierz: Pisma krytycznoliterackie, Warszawa 1981.

Sudolski, Zbigniew: Listy z ziemi naszej. Korespondencja Wincentego Pola z lat 1826–1872, Warszawa 2004.

Surynt, Izabela: Postęp, kultura i kolonializm Polska a niemiecki projekt europejskiego Wschodu w dyskursach publicznych XIX wieku, Wrocław 2006.

Szaruga, Leszek: Dochodzenie do siebie. Wybrane wątki literatury po roku 1989, Sejny 1997.

Tracz, Bogusław (Hg.): Pamięć Kresów – Kresy w Pamięci, Katowice – Gliwice – Warszawa 2019.

Trybuś, Krzysztof; Kałążny, Jerzy; Okulicz-Kozaryn, Radosław (Hg.): Kresy – dekonstrukcja, Warszawa 2007.

Węglicka, Katarzyna: Polskie kresy literackie, Warszawa 2015.

Weil, Simone: L’enracinement. Prélude à une déclaration des devoirs envers l’être humain, Paris 1950.

Zachariasiewicz, Jan.: Na kresach. Powieść z naszych czasów. W trzech częściach, Lipsk 1867.

Zaleski, Józef Bohdan: Wybór poezyj, Wrocław 1985.

 

Gall, Alfred, Prof. Dr., verfasste den Beitrag „Die „Kresy” (Osten) in der polnischen Literatur“. Er ist Professor für westslavische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und wissenschaftlicher Leiter des Mainzer Polonicums. Er arbeitet in den Bereichen Polnische Literatur in vergleichender Perspektive, Romantik, Lagerliteratur, Literatur und ihr Verhältnis zu Philosophie, Postkolonialismus, Literatursoziologie.

 

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