Jacek Grębowiec

Die Rezeption von Inschriften und anderen kleinen Spuren des alten Presslaw/Breslau in Wrocław nach 1945 (Wiedergewonnene Gebiete)

Die Rezeption von Inschriften  und anderen kleinen Spuren des alten Presslaw/Breslau in Wrocław nach 1945 (Wiedergewonnene Gebiete)


Der Bestand an Wrocławer Epigraphen, die sowohl wichtige Dokumente der Stadt­geschichte als auch Texte ihrer Kultur darstellen, ist infolge des Zweiten Weltkriegs und seiner geopolitischen Auswirkungen signifikant geschrumpft. Trotzdem schmü­cken immer noch viele von ihnen den offenen Stadtraum, man findet sie unter anderem an Denkmälern, Fassaden, Haustoren und Kirchenportalen. Die heute noch sichtbaren Beispiele bilden sicher nur einen geringen Prozentsatz der Inschriften im Erscheinungs­bild des habsburgischen Presslaw und des deutschen Breslau, sie sind nichts mehr als Bruchstücke der Vergangenheit, aber trotzdem erweisen sie sich als besonders wichtige „Begegnungsorte“ – von Völkern, Kulturen und ihrer Geschichte –, die nicht nur für RegionalhistorikerInnen von Belang sind, sondern auch für viele heutige BewohnerIn­nen der polnischen Westgebiete, die sich lebhaft für das deutsche Erbe interessieren, das in größerem oder geringerem Ausmaß in den Prozess der Identifikation mit dem be­wohnten Ort einbezogen wird. Einem Ort, dessen historische und einhergehend damit auch touristische Attraktivität durch derartige Spuren der Vergangenheit zusätzlichen Reiz gewinnt.

In der polnischen epigraphischen Forschung des 20. Jhs., darunter die Arbeiten von Jan Harasimowicz, konzentrierte man sich vor allem auf sepulkrale Inschriften, die in spezifischen städtischen Teilräumen – auf Friedhöfen und im Umfeld von Kirchen – präsent sind. Für die Inschriften, die im offenen Stadtraum von Wrocław zu finden und damit Teil der städtischen Ikonosphäre sind, interessierte man sich weniger. Sie weckten sporadisch das Interesse von KunsthistorikerInnen, die sich mit Denkmälern der Renaissance-Architektur beschäftigten, darunter etwa die Bebauung der Ulica Ka­tedralna (Domstraße) oder das Eingangsportal des Rybisch-Hauses. Diese älteste Epi­graphe wurden jedoch entweder im Kontext der Entwicklung des Schrifttums oder als Ergänzung zur Charakteristik der StifterInnen des jeweiligen Objekts gelesen, weniger aber als Zeichen der kulturellen Heterogenität der Stadt und der Region – obwohl wir heute in ihnen Spuren der Begegnungen und Auseinandersetzungen von Völkern, Kon­fessionen und politischen Überzeugungen sehen, Belege für die aus ihnen resultierenden Spannungen, Reibungen und Konflikte. Das in den 1990er Jahren aufgekommene Inte­resse an jeglicher Art von deutschen Relikten in den so genannten → Wiedergewonnenen Gebieten und damit auch in Niederschlesien und Wrocław, führte auch zu größerer Auf­merksamkeit für die mannigfaltigen Epigraphe, und zwar nicht nur die ältesten, welche die Fassaden von Renaissance- und Barockdenkmälern schmücken, sondern auch für die aus dem 19. und 20. Jh. stammenden. Die Motivation für die aufmerksame Per­zeption und Rezeption von Inschriften, für den Austausch von einschlägigem Wissen – sowohl unter ExpertInnen (HistorikerInnen, KunsthistorikerInnen, ArchitektInnen, MuseumsmitarbeiterInnen, JournalistInnen) als auch unter den EinwohnerInnen (ins­besondere HobbyhistorikerInnen, SammlerInnen, aufmerksamen SpaziergängerInnen, BetreiberInnen von Internetforen oder Heimatkundeportalen) – ist in den radikalen Veränderungen zu suchen, die das Jahr 1989 mit sich brachte. Der Systemwechsel und die Neuausrichtung der Außenpolitik nach Westen bewirkte nämlich einen fundamen­talen Wandel der Kontexte, in denen sich die Beziehungen zwischen der polnischen und der deutschen Kultur entwickelten, darunter auch signifikante Veränderungen in der Wahrnehmung des → Postdeutschen, das in den Westgebieten zahlreiche Spuren hinterlassen hat. Ein Effekt dieses Wandels ist vor allem die allgemeine Verbreitung des Bewusstseins für die Tatsache, dass es sich bei dieser Region um ein kulturelles Grenzland handelt, einen spezifischen „Zwischenraum“, der durch die materiellen Hin­terlassenschaften seiner früheren BewohnerInnen vieles über wesentliche Aspekte seiner einstigen Kultur erzählt. Die Perzeption von Epigraphen und anderen kleinen Lebens­spuren der früheren EinwohnerInnen von Wrocław, die unmittelbar nach dem Krieg zerstört oder übersehen wurden, frei von der Last des ideologischen und politischen Drucks der Nachkriegszeit, darunter des Drucks der Repolonisierungspropaganda, er­öffnet heute die Chance, den ihnen innewohnenden dokumentarischen Reichtum zu entdecken. In letzter Konsequenz motiviert sie zur Teilhabe am wissenschaftlichen oder populärwissenschaftlichen Diskurs über das Erbe des kulturellen Grenzlands, der trotz aller früheren Vorbehalte – die insbesondere unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und der Übernahme der Verwaltung der Westgebiete durch Polen in Maßnahmen zur Entfernung aller derartiger Zeichen resultierten – geführt wird. Die erhaltenen alten Inschriften in deutscher oder lateinischer Sprache wurden, auch wenn ihr Bestand ge­schrumpft ist, ab den 1990er Jahren zu einem völlig neuen Feld geschichtlicher Erkun­dungen und Forschungen. Sie trugen nicht nur zur Steigerung der Anziehungskraft des heutigen Wrocław bei, sondern auch zur Entstehung einer Haltung der aktiven Teilhabe an ihrem gegenwärtig in Rekonstruktion befindlichen Erbe.

Nachdem Wrocław 1945 kraft der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz in polnische Hand gekommen war, war es schwer, die Spuren der materiellen Kultur zu erforschen oder ein Interesse für die postdeutschen Relikte zu wecken. Erstens konnte in diesem Fall nicht von einer „natürlichen“ Weitergabe eines Erbes oder einer bestimmten Tradi­tion von Generation zu Generation die Rede sein, sondern sie erfolgte lediglich mittelbar durch die im Stadtbild zurückgelassenen Kulturprodukte der alten Breslauer. Zweitens war das materielle Erbe, das die Belagerung und anschließend die Zeit des Raubes, der Plünderung und der Verwüstung überlebt hatte, infolge dieser nicht rechtzeitig un­terbundenen Erscheinungen stark geschrumpft, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass das Wrocław der Nachkriegszeit nur noch in geringem Maße an das Breslau der Vorkriegszeit erinnerte. Und wenngleich man nicht von einer vollständigen Beseitigung des Bestands historischer und kultureller Relikte sprechen kann – einige überdauerten schließlich, etwa die Umrisse früherer städtebaulicher Entwürfe, die Einteilung in Stadt­viertel, die meisten Verkehrsadern, die Bebauung eines großen Teils der Innenstadt, der nördlichen und östlichen Stadtteile sowie eines Teils der Altstadt, und es gelangen auch der Wiederaufbau von zerstörter Bausubstanz und die Rettung der in den Stein einge­schriebenen Sinngehalte –, so wurde Wrocław nach 1945 doch zu einer anderen Stadt. Die Aussiedlung der Breslauer bedeutete indes die Zerstörung der für die Stadt charak­teristischen Gepflogenheiten, der Sprache, der sozialen und konfessionellen Struktur, des wissenschaftlichen Fundaments und der künstlerischen Atmosphäre – und damit all jener Korrelate der lokalen Kultur, die über das Bild einer Stadt entscheiden, auch über das empirisch zugängliche. Die „Landschaft aus Stein“ (wie Leonardo Benevolo das Stadtbild nennt), das für gewöhnlich die wertvollsten Formen und Werte bewahrt und zahlreiche Aspekte des Lebens der BewohnerInnen prägt, wurde einer ideologischen Umgestaltung unterzogen – erstens, auf der materiellen Ebene, durch den Austausch des alten Netzes von Symbolen durch ein neues, das bis zu einem gewissen Grad den Erwartungen der polnischen SiedlerInnen entsprach; zweitens, auf der mentalen Ebene, durch das Schüren von Vorbehalten und die Schaffung eines stereotypen Modells der Wahrnehmung des symbolischen Stadtraums. Denkmäler sollten auf eine weit zurück­liegende piastische Vergangenheit verweisen. Auf diese Weise begründete man die Miss­billigung vieler potenziell zu rettender, architektonischer und epigraphischer Details, die nicht alt genug waren, als dass man ihnen, und sei es hypothetisch, einen Zusam­menhang mit der polnischen Kultur hätte zusprechen können.

Im Jahr 1945 wurde die historische und kulturelle Kontinuität der Stadt gebrochen, sowohl durch die Zerstörung der meisten Denkmäler als auch durch den fast vollstän­digen Austausch der Bevölkerung. Seit den 1990er Jahren erhalten alle Inschriften oder andere Relikte des alten Breslau den Rang eines Denkmals, sie gewinnen in der Wahr­nehmung mancher StadtbewohnerInnen archäologischen Wert. Selbst wenn sie nicht offiziell unter Denkmalschutz stehen (wie etwa Schilder, Straßennamen, Fabrikinschrif­ten auf gusseisernen Pumpen und Schachtdeckeln von Abwasserkanälen), werden sie respektvoll behandelt, obwohl viele in den Jahren 1945‒1950 in Massenaktionen zur „Beseitigung der Spuren des Deutschtums“ entfernt wurden. Sie fungieren gleichsam als Prothesen des historischen Gedächtnisses, natürlich zusammen mit den zahlreichen Publikationen zur Geschichte der Stadt. Dieses Phänomen bildet eine der wesentlichs­ten Inspirationen für die Erforschung der Ikonosphäre Wrocławs, darunter auch die Erforschung der städtischen Epigraphik. Dort nämlich, wo nicht von einem natürlichen Erbe die Rede sein kann, wo Wissen und Bräuche nicht transgenerational weitergegeben wurden, erfolgt die Vererbung vermittelt durch historische Kulturtexte in der städti­schen Ikonosphäre, die einerseits neu angeeignet und erklärt werden und andererseits den Geschmack prägen und unter den EinwohnerInnen die Überzeugung von der Not­wendigkeit der Identifikation der von ihnen bewohnten Stadt stärken.

Der Wert der Wrocławer Inschriften resultiert natürlich nicht aus ihrer Zahl. Die Men­ge an Inschriften im offenen Stadtraum ist gering, insbesondere dann, wenn wir die spezifisch sepulkralen Texte ausschließen. Die verbleibenden Inschriften sind lediglich „Relikte“ der Vorkriegsikonosphäre. Unter ihnen stechen die wenigen Renaissance- und Barockinschriften an den Fassaden einiger weniger Häuser und an den Sockeln einer nicht größeren Zahl von Denkmälern hervor. Die aus dem 19. und 20. Jh. stammenden Inschriften an Kirchenportalen oder auf Hausschwellen, aber auch Schilder, Firmen­schilder, Chronogramme (schmuckvoll in Stein oder anderem beständigen Material ver­ewigte Daten), Straßennamen und Hausnummern sowie die eine absolute Ausnahme darstellenden Inschriften auf religiösen und patriotischen Denkmälern aus der Zwi­schenkriegszeit ergänzen diesen bescheidenen Bestand an Wrocławer „Altertümern“. Doch trotzdem kann hier immer noch schwer von einer umfassenden Anthologie von Texten gesprochen werden. Es ist immer noch zu wenig Material, als dass man – wie in Forschungen zur römischen oder griechischen Epigraphik – sich mit Statistik oder der Konstruktion einer komplexen einschlägigen Typologie behelfen könnte. Der offene Wrocławer Stadtraum kann in dieser Hinsicht nur mit dem Raum von Städten vergli­chen werden, die infolge von Kriegshandlungen oder politischen Wirren eine ähnliche Verarmung ihrer Ikonosphäre erlebten, aber auch mit Städten, die nach dem Zweiten Weltkrieg – zu Recht oder nicht – anderen Staaten zugeschlagen wurden.

Der Bestand an Wrocławer Inschriften gleicht in fast nichts den reichen Sammlungen der im Stadtbild griechischer, italienischer, aber auch französischer und deutscher Met­ropolen registrierten Inschriften. Die Mehrzahl der europäischen Metropolen durchlief – zumindest in den vergangenen Jahrzehnten – vermutlich auch keinen vergleichbaren gewaltsamen Wandel: die Zerstörung von 65 % der Bebauung, einen fast vollständigen Bevölkerungsaustausch und anschließend einen Wiederaufbau unter gänzlich neuen po­litischen, gesellschaftlichen und kulturellen Vorzeichen. Die im Wrocławer Stadtraum wahrgenommenen lateinisch- und deutschsprachigen Schriftzüge sind für die Mehrheit der heutigen EinwohnerInnen Spuren einer weit zurückliegenden Vergangenheit, einer Vergangenheit, mit der sie in keiner realen Verbindung stehen. Doch nach dem System­wechsel im Jahr 1989, als der in der Nachkriegsgeschichtsschreibung und im offiziellen regionalen Bildungswesen in unterschiedlicher Intensität präsente Repolonisierungs­druck so gut wie ganz verschwand, sehen wir immer häufiger Belege für das Interesse an der Geschichte des habsburgischen Presslaw und des deutschen Breslau. Die Forschun­gen zu den Überbleibseln der einstigen Ikonosphäre der Stadt reihen sich in diese Linie ein; sie fördern Denkmäler zutage, die bislang marginalisiert oder sogar – zumal in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg – bewusst und systematisch zerstört wurden. Sie wirken mit an der Schaffung der erwähnten Prothese des historischen Gedächtnis­ses. Denn dort, wo nicht von unmittelbarem Erbe gesprochen werden kann, zeigen sich stattdessen die Reste der alten Stadtlandlandschaft – materielle Beweise dafür, dass vor seiner degradierenden Metamorphose ein anderes Wrocław existierte. Sie ermöglichen den EinwohnerInnen die Identifikation mit ihrer Stadt. Selbst die geringsten Existenz­spuren gewinnen in diesem Fall eine Bedeutung, die sie unter normalen historischen Umständen nicht besäßen. Die außergewöhnlichen Umstände ihrer Rezeption erhöhen somit den Stellenwert der Inschriften.

Die Begleitumstände der Rezeption von Inschriften im offenen Stadtraum von Wrocław, die nebenbei bemerkt seit den 1990er Jahren immer öfter rekonstruiert, katalogisiert, beschrieben und interpretiert werden, sind heute völlig andere als in der Nachkriegs­zeit. Man muss diese Unterschiede betonen, um den Wandel in der Rezeption dieser postdeutschen Spuren zu verstehen, der sich insbesondere im Laufe der letzten drei Jahrzehnte vollzogen hat. Norman Davies und Roger Moorhouse nennen in ihrem Wrocław-Buch Die Blume Europas das Projekt der Rückkehr der Westgebiete einschließ­lich Niederschlesiens ins sogenannte Mutterland unverblümt ein „Produkt sowjetischer Politik“, das mit den Aspirationen der Polen selbst wenig zu gehabt habe, was selbst­verständlich auch das Verhältnis der neuen EinwohnerInnen Wrocławs zu allen Spuren der Existenz ihrer deutschen VorgängerInnen beeinflusst habe. Davies und Moorhouse schreiben dazu:

Vor der Potsdamer Konferenz hatten sich nicht einmal die prosowjetischen Ele­mente, die Polen führten, offen zu dem Anspruch bekannt, für den Moskau sie insgeheim proben ließ. Wrocławs Anbindungen zum so genannten piastischen Erbe waren bis zum 20. Jahrhundert beinahe vollständig aus dem nationalen Gedächtnis Polens verschwunden. Die Idee, alte deutsche Städte und Provinzen Polen zu übertragen, hätte niemals Wurzeln geschlagen, wenn da nicht die in­tensive sowjetische Propaganda gewesen wäre, zu der die Erkenntnis kam, dass die sowjetische Annexion der östlichen Provinzen Polens nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte (Davies, Moorhouse 2002, S. 512).

Um das Verhältnis der polnischen SiedlerInnen in den Westgebieten zu den vorgefun­denen Kulturzeichen zu formen, bedienten sich die staatlichen Bildungsinstitutionen – sowohl auf lokaler als auch auf zentraler Ebene – eines Repertoires unterschiedlicher Argumente, Tropen und Figuren, welche die Illusion eines natürlichen Anspruchs auf die sogenannten Wiedergewonnenen Gebiete erwecken und die Adressaten zur baldigen Re­polonisierung der Symbollandschaft der neuen Landesteile ermuntern sollten. Die mit­telalterliche Oberhoheit polnischer Herrscher über Schlesien, die piastische Abstammung der dort regierenden Fürsten, das Aufbauschen des Anteils des sogenannten polnischen Elements in der demographischen Struktur der Region vor dem Zweiten Weltkrieg oder die These vom angeblichen wirtschaftlichen Niedergang des deutschen Niederschlesien in den beiden Zwischenkriegsjahrzehnten – diese und andere Argumente sollten die Richtigkeit der internationalen Beschlüsse belegen, in deren Folge unter anderem Nieder­schlesien zu einer Region im Südwesten Polens geworden war. Eine Region, die gleichsam aus historischer Notwendigkeit in Besitz genommen wurde. Wie aber zugleich angemerkt werden muss, war sie in den Augen vieler ZwangsumsiedlerInnen eine eher zweifelhafte Rekompensation für die im Osten verlorengegangenen Gebiete.

Die aus den östlichen Territorien Vorkriegspolens in den Westen zwangsumgesiedelten sogenannten Repatrianten sowie die freiwilligen SiedlerInnen aus Groß- und Zentral­polen wurden in eine unerhört schwierige existenzielle Situation gestellt. Auf der einen Seite bemühte sich das Staatliche Repatriierungsamt (Państwowy Urząd Repatriacyj­ny) darum, den Ankömmlingen Niederschlesien als urpolnisches und den einzig recht­mäßigen BesitzerInnen zurückgegebenes Land zu präsentieren. Auf der anderen Seite weckte es, vermutlich teils unbewusst, in ihnen Ängste, sich in der neuen Umgebung niederzulassen. Die offizielle Propaganda der kommunistischen Regierung Polens tat alles, um die Schuld an den Besatzungstraumata und die daraus resultierenden Mängel und Leiden der Nachkriegszeit ausschließlich dem deutschen Aggressor anzulasten. Das Schüren – selbstverständlich berechtigter – Vorbehalte und Ängste, das in eine langfris­tige antideutsche Propagandakampagne überging, sollte das im Osten erlittene Unrecht aus dem kollektiven Gedächtnis der Polen verdrängen. Im Hinblick auf die Nachkriegs­siedlung in Niederschlesien hatte die Verstärkung der ohnehin riesigen Abneigung der Polen gegen die Deutschen traurige Folgen. Die SiedlerInnen, durch die man nach und nach die autochthone Bevölkerung ersetzte, wurden nämlich zu Opfern einer spezi­fisch schizophrenen Propaganda. Einerseits ermunterte man sie zur Übernahme ehe­mals deutscher Häuser und Bauernhöfe als gerechte Rekompensation und verwies auf die Notwendigkeit, das notwendigerweise entvölkerte Land zu bestellen. Andererseits jedoch kollidierte der Topos des künftigen niederschlesischen Arkadiens, das auf dem brachliegenden Land entstehen sollte, immer wieder mit dem unermüdlich evozierten Motiv der revisionistischen Deutschen, die nur auf eine erneute Grenzverschiebung und die Gelegenheit zur Rückkehr in die frühere Provinz Schlesien lauerten. Auf der ersten Seite des Septemberhefts der Zeitschrift Odra lesen wir 1945 etwa:

Wie vorherzusehen war, hat die heute schon regulär auftretende deutsche Irre­denta auch unsere Westgebiete in den Blick genommen. Sie sieht sie weiterhin als Kampfgebiet und hat nicht aufgehört, sich im deutschen Landesinneren zu sammeln. Für sie handelt es sich schließlich um „ewig deutsche“ Gebiete, ohne die das „große Reich“ nicht existieren kann, einen Schatz, der ihnen unter dem Herzen herausgerissen wurde, tief aus den Eingeweiden (Boronowski 1945, S. 1).

Dieses Motiv, das bis zu einem gewissen Grad den revisionistischen Hoffnungen der Anführer verschiedener deutscher politischer Formationen in allen Besatzungszonen entsprach (entsprechende Tendenzen manifestierten sich auch in den frühesten Nach­kriegsäußerungen ostdeutscher Amtsträger, etwa bei Wilhelm Pieck), konnte in an­tideutscher rhetorischer Verpackung Ängste schüren und zur Verfestigung des Mythos von den zurückkehrenden Deutschen beitragen. Vor diesem Hintergrund formte sich nach 1945 auch das Verhältnis der Polen zu der in Niederschlesien vorgefundenen Kul­turlandschaft – Architekturdenkmälern, Friedhöfen, Denkmälern, Inschriften. Es gab allerdings keine einheitliche Haltung. Die Intellektuellen hatten einen anderen Zugang zu den Hinterlassenschaften der Ausgesiedelten als die einfachen SiedlerInnen – Hand­werkerInnen, ArbeiterInnen oder Bauern und Bäuerinnen –, die die Mühe der Resti­tution des sozialen Lebens in den Städten und Dörfern der Region auf sich nahmen. Prägende Faktoren für das Verhältnis zum kulturellen Erbe Niederschlesiens waren ganz sicher die politische Überzeugung, der Grad der Zustimmung zur sich gerade heraus­bildenden neuen Nachkriegswirklichkeit, die Art und Qualität der schulischen oder beruflichen Bildung sowie die Erfahrungen der Besatzungszeit. Gleichwohl dominierten in der Wahrnehmung der Kulturlandschaft Niederschlesiens Abneigung oder gar Feind­seligkeit – die sich in der Zerstörung oder umgehenden „Repolonisierung“ bestimmter Denkmäler manifestierten – sowie das tiefe Gefühl des Provisorischen. Letzteres führte in zahlreichen Fällen zu Vernachlässigung und Zerstörung, weil jegliche Investitionen von materiellen Mitteln oder Arbeitskraft in die von den Vorbewohnern zurückgelasse­nen Häuser und Höfe unsicher oder unangebracht schien. Der bindende Charakter des Potsdamer Abkommens war den SiedlerInnen – insbesondere den ungebildeten – nicht klar. Sie empfanden die Fremdheit der materiellen Kultur dieser Region oft doppelt, ganz zu schweigen von der Fremdheit der Landschaft, seltener hingegen des Klimas (obwohl auch dessen Eigenschaften mitunter dämonisiert wurden).

Die Effekte dieser Abneigung gegen jegliche „Spuren des Deutschtums“ waren natürlich unterschiedlicher Art. Manche schienen ein Ausdruck des Zweifels hinsichtlich der Mög­lichkeit einer schnellen Vereinigung der Westgebiete mit Polen – entgegen den offiziell verkündeten Propagandalosungen und entgegen bestimmten administrativen Beschlüs­sen (wie etwa der Schaffung eines Ministeriums für die Wiedergewonnenen Gebiete, das in den Jahren 1945‒1949 unter der Leitung von Władysław Gomułka existierte). Im Alltag der Menschen war der erste Effekt das Phänomen des (spontanen) Plünderns, das recht häufig weniger der Befriedigung der Bedürfnisse der in die ehemals deutschen Häuser einziehenden SiedlerInnen diente (tatsächlich gab es verschiedene Lücken in der Ausstattung ihrer in den Westgebieten ankommenden Familien) als vielmehr dem Erringen wertvoller „Beute“, die als spezifische Rekompensation für Kriegsverluste ins „alte Polen“ gebracht wurde oder für den Schwarzmarkthandel auf den nächstgelegenen „Schaberplätzen“ bestimmt war. Mit der Ausbeutung des in den sogenannten Wiederge­wonnenen Gebieten zurückgelassenen Vermögens hatte natürlich die Rote Armee ange­fangen, die das Territorium als Kriegsbeute betrachtete. Man hätte denken können, die­se Praxis wäre mit der Übernahme der Gebiete durch die polnische Verwaltung und ihre Unterstellung unter polnische Jurisdiktion eingestellt worden, doch selbst auf staatlicher Ebene gab es noch in den 1950er Jahren deutliche Anzeichen dafür, dass die angeglie­derten Regionen mehr als stiefmütterlich behandelt wurden. Die Zentralregierung der Volksrepublik Polen betrachtete beispielsweise die Hauptstadt von Niederschlesien als unerschöpfliches Reservoir von Ziegelsteinen, die aus dem Abriss von Häusern stamm­ten. Gemäß einer Verordnung des Ministerrats sollte Wrocław allein im Jahr 1951 stolze 220 Millionen Ziegel für den Wiederaufbau des „alten Polen“ liefern; im Jahr darauf lag die Zahl geringfügig niedriger, nämlich bei 200 Millionen Steinen (Basista 2001, S. 161). Die Menge der in Wrocław, der größten Stadt der Westgebiete, gewonnenen Baumaterialien überstieg um ein Vielfaches die Lieferungen aus anderen Großstädten im Westen. Viele Stadtviertel, deren Wiederaufbau hätte gelingen können, waren dadurch zum Abriss verurteilt, was die Stadtlandschaft im Westen und Süden Wrocław zu einer der traurigsten nicht nur in Polen, sondern in ganz Europa machte. Sinnbildlich für die Arroganz der damaligen Staatsführung, der entgegen aller Beteuerungen am Wiederaufbau Wrocławs nicht gele­gen war, ist die 1949 erfolgte Ablösung des Wrocławer Direktoriums für Wiederaufbau (Wrocławska Dyrekcja Odbudowy) durch die Städtischen Abbruch-Betriebe (Miejskie Przedsiębiorstwo Rozbiórkowe). Norman Davies und Roger Moorhouse schreiben dazu treffend:

Im Jahr 1949 wurde das „Direktorium für Städtischen Wiederaufbau“ (DOM) geschlossen und durch die „Städtischen Abbruch-Betriebe“ (MPR) ersetzt. Den Direktoren des DOM, die man nach Nowa Huta schickte, wurde vorgeworfen, privates Unternehmertum und den Wiederaufbau von Kirchen begünstigt zu haben. Denn die Absicht war, unbeschädigte Ziegelsteine für den Wiederaufbau Warschaus zu sammeln. Das Ziel der Aktion waren nicht die Schutthaufen, son­dern die Gebäude, die unversehrt überdauert hatten und die ansonsten hätten instand gesetzt werden können. Wrocław sollte also nicht wieder aufgebaut, son­dern weiter abgerissen werden. Diese barbarischen Methoden deckten sich mit der Besessenheit der Partei, die letzten Spuren deutscher Kultur zu vernichten. So wurde zum Beispiel 1949 der aus der Renaissance stammende Własta-Torbogen in der Nähe des Salzmarktes wegen seiner Ziegel abgerissen. Bald darauf folgte das großartige Hauptpostamt, zusammen mit Hunderten moderner Villen in den äußeren Vorstädten (Davies, Moorhouse 2002, S. 564).

Für die Zerstörung Wrocławs machte man freilich allein die Deutschen verantwortlich. Man verwies auf die „fanatische“ und „irrationale“ Verteidigung der Festung Breslau und suggerierte gar, die Deutschen hätten primär nicht gegen die Rote Armee kämp­fen, sondern die Stadt bewusst in Schutt und Asche legen wollen (Daleszak 1970, S. 9). Die Ursache sol­cher Äußerungen, die nicht nur Wrocław, sondern auch andere Gegenden betrafen, die nicht allein unter den Kriegswirren, sondern auch unter Nachlässigkeit und falschen Entscheidungen der Verwaltung litten, lag – wie Dariusz Niedźwiedzki schreibt – „im Wunsch, die Arbeit der Siedler wertzuschätzen. Zu zeigen, dass die Polen, die dieses Land aus Trümmern wiederaufbauten, den Namen guter Eigentümer und Hausherren verdienten. Auf diese Weise wurde die Nachkriegswirklichkeit den westlichen Alliierten dargestellt, bei denen 1945 Zweifel hinsichtlich der Angliederung der ostdeutschen Ge­biete an Polen aufkamen“ (Niedźwiedzki 2000, S. 83f.).

Es mangelt natürlich nicht an Beispielen für Verhaltensweisen und Entscheidungen, die aus der Überzeugung von der Notwendigkeit einer schnellen Integration der soge­nannten Wiedergewonnenen Gebiete mit Polen resultierten sowie – im Gegensatz zu den oben angeführten Beispielen – aus der zügigen Verwirklichung dieser Überzeugung etwa dadurch, dass man diese Gebiete als polnischen Kulturraum markierte. Für die materielle Kultur Niederschlesiens und alle Arten von „Spuren des Deutschtums“ be­deutete dies allerdings fast dasselbe wie im Fall der räuberischen Ausbeutung – Zerstö­rung oder bestenfalls „Repolonisierung“. Unter anderem in der zeitgenössischen Presse finden sich Belege für die Exorzisierung der Kulturlandschaft Niederschlesiens durch die Beseitigung der prägenden deutschen Elemente. Eine Autorin der Zeitschrift Odra berichtet 1946 von einem Besuch in Szklarska Poręba:

Der deutsche Geist hat diese Gegend gleichwohl nicht ganz verlassen. In der Ar­chitektur mancher Häuser, zumal in jenen „anrührenden Details“, Andenken und sentenzhaften Inschriften konzentriert sich seine ganze Hässlichkeit. Die neuen Eigentümerinnen modeln sie im Allgemeinen schnell nach unserem Geschmack um. Am schnellsten und gründlichsten tun das die Dorffrauen, die ganze Sta­pel von „Tiroler“ Figuren, Herzen mit Schriftzügen, deutsche Illustrationen und bisweilen auch Bücher vernichten. Und das alles mit Leidenschaft: „Damit bloß keine Spur bleibt von diesen“ [… hier folgt gewöhnlich eine nicht druckreife Be­zeichnung]! Trotz alledem fliegt nachts der germanische Geist heimlich über den Häusern ‒ wie eine Fledermaus. Und erst die Pfadfinder treiben ihn erfolgreich aus, die, wie niemand sonst, mit ihren Liedern, Wanderungen und polnischen Namen für jedes Tal und jeden Gipfel dieses Land in Besitz genommen haben (Strzeszewska-Bieńkowska 1946, S. 6).

Die Austreibung des bösen – weil deutschen – Geistes aus der Landschaft Niederschle­siens erfolgte, ähnlich wie die räuberische Ausbeutung dieser Gebiete, auf zwei Wei­sen: eine institutionalisierte und eine spontane. Im ersten Fall gingen ihr diverse „Repolonisierungs“-Programme voran. Unmittelbar nach dem Krieg standen während der ersten wissenschaftlichen Tagungen, aber auch in der Presse die abwägenden Argumen­te von KunsthistorikerInnen und ArchitektInnen, welche die wertvollsten deutschen Kulturdenkmäler in Schutz nahmen, gegen die radikalen Thesen der vom Gedanken an die Tilgung aller „Spuren des Deutschtums“ besessenen IdeologInnen. Im Protokoll der ersten Nachkriegskonferenz der KunsthistorikerInnen unter Schirmherrschaft des Obersten Denkmalschützers (Konserwator Generalny) finden sich die Warnung vor den Ideen zur „Repolonisierung“ der Denkmäler der Westgebiete sowie die Versicherung, dass „die Schlüsselpositionen der europäischen Kunst in den gewonnenen Gebieten mit Respekt behandelt werden“ (Gieysztor 1946, S. 131). Eryk Skowron warnte 1946 den Schlesischen Kulturrat (Śląska Rada Kultury) vor einer übereilten „Entdeutschung“ der Region. In einem Arti­kel, dem gleichwohl die Überzeugung vom ewig polnischen Charakter der Westgebiete zugrunde lag, schrieb er:

Die Entdeutschung Schlesiens muss den historischen Gegebenheiten Rechnung tragen. Es darf nicht vergessen werden, dass etwas, was über Jahrhunderte ge­wachsen ist, nicht in einem Augenblick geändert werden kann. Umso mehr dür­fen nicht aus chauvinistischem Nationalismus Werte von universell menschli­cher Bedeutung vernichtet werden, nur weil sie den Anschein oder gar deutliche Spuren von deutschem Einfluss tragen (Skowron 1946, S. 3).

Im Streit um die Gestalt der Kulturlandschaft Niederschlesiens sowie um das erforderli­che Ausmaß und die Intensität der Maßnahmen zur „Repolonisierung“ gewannen aller­dings die IdeologInnen die Oberhand. Und sie waren es auch, die bei den Maßnahmen zur Aneignung der kulturell fremden Landschaft der Region den Ton angaben.

Zu den radikalsten Manifestationen der „Repolonisierungs“-Haltung gehört das von Zdzisław Hierowski verfasste Kulturprogramm für die Wiedergewonnenen Gebiete (Pro­gram kulturalny dla Ziem Odzyskanych). Der Literaturwissenschaftler formulierte darin folgenden Auftrag:

Wichtig ist dabei, dass der angekommene Pole nicht die deutschen, äußeren Merkmale dieser Kultur als seine eigenen übernimmt. Im Gegenteil, wir müssen Anstrengungen unternehmen, um der materiellen Kultur dieser Gebiete in Klei­dung, Brauchtum, Wohnungseinrichtung und Lebensweise sichtbare polnische Merkmale zu verleihen (Hierowski 1945, S. 1).

Die Umsetzung derartiger Forderungen, die als Legitimation für die zügige Verwüstung von allem ehemals Deutschen dienten, trug mit dazu bei, dass die Städte und Dörfer Niederschlesiens unwiederbringlich einen großen Teil ihrer ästhetischen und histori­schen Werte verloren – sowohl die kleinen, mit der Folklore der Region verbundenen, als auch die von universellem Wert, die Teil des europäischen Kulturerbes waren. Die „Restitution“ polnischer Elemente anstelle der „Spuren des Deutschtums“ konnte ins­besondere in Niederschlesien und in Wrocław nicht gelingen, weil hier von einer Kon­tinuität des kulturellen Erbes keine Rede sein konnte. Das Polentum dieser Gebiete war in den Tiefen der Geschichte versunken. Man tastete sich gleichsam an seine Wie­derbelebung heran, indem man zunächst vor allem die ältesten Denkmäler mittelalter­licher – und mithin, wie man damals dachte, polnischer – Provenienz rekonstruierte. Man re-gothisierte Kirchen und befreite sie vom „deutschen Barock“ als vermeintlich charakteristischer Manifestation der Germanisierung (Kaliski 1946, S. 8) oder zerstörte durchaus rettbare Bauten aus dem 19. und 20. Jh. wegen ihrer neoklassizistischen Monumentalität und des „gleichgeschalteten“ Rhythmus sich wiederholender Details, der radikale „Repolo­nisatoren“ wie Michał Ptic-Borkowski an „marschierende Soldaten“ erinnerte (Ptic-Borkowski 1946, S. 4). Dieser Vergleich sollte bei den polnischen LeserInnen seiner Artikel sicher entsprechend trau­matische Assoziationen wecken.

Weil sie eine Verwendung des sprachlichen Kodes und somit eines repräsentativen Kul­turzeichens darstellten, gehörten Inschriften zu den am raschesten beseitigten „Spuren des Deutschtums“. Opfer waren u. a. zahlreiche Wrocławer Epitaphe und Gedenksteine, etwa an den Kirchen St. Nikolai und St. Vincenz, die sentenzhafte Epigraphik am Ge­bäude des heutigen Instituts für Architektur der Technischen Hochschule Wrocław (Po­litechnika Wrocławska, ehemals Baugewerksschule) oder die stilisierten Schriftzüge an öffentlichen Institutionen und Schulen, etwa am Gebäude des Instituts für Pädagogik und Psychologie (Instytut Pedagogiki i Psychologii, ehemals Elisabeth-Gymnasium), die heute nur noch rudimentär erhalten sind. Ebenfalls machte man sich an die Auf­lösung von Friedhöfen, wobei sich diese Maßnahmen hinzogen, weshalb die letzten Überreste von Grabstätten erst in den 1980er Jahren beseitigt wurden. Ab August 1945 erhielten überdies Straßen und Plätze polnische Namen. Dieser zweifellos notwendige Prozess liefert bis heute Anlass für zahlreiche Debatten und Konflikte. Nach Auffassung von Gregor Thum handelte sich bei manchen Initiativen der Wrocławer Kommission für Namensänderungen (Komisja do Zmian Nazw) um eine Art Exorzismus. Wenn ein alter Name unbedingt verlangte, aus der Stadtlandschaft entfernt zu werden, dann suchte man nach einem tiefer motivierten polnischen Substitut – gestützt auf eine exak­te Analyse des deutschen Toponyms. Der Name einer Straße oder eines Platzes konnte nur durch einen Namen von gleichem Rang ersetzt werden, der in vielen Fällen überdies mit dem alten durch chronologische Nähe verbunden war:

Aus der Kaiserbrücke und der Kaiserstraße wurden im Gedenken an die Schlacht von Grunwald 1410, in der ein polnisch-litauisches Heer den Deutschen Ritter­orden vernichtend geschlagen hatte und die im 19. Jahrhundert zu einem der wichtigsten Gedächtnisorte der polnischen Nationalgeschichte geworden war, Grunwaldbrücke und Grunwaldplatz. Die Straße der SA wurde zur Straße der Schlesischen Aufständischen in Erinnerung an die Kämpfe um Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg. Gegen Bismarck, der in Polen vor allem als Initiator der Germanisierungspolitik galt, wurde Bolesław Chrobry aufgeboten – das he­rausragende Symbol polnischer Rechte auf die Territorien an Oder und Ostsee. Tauentzienplatz und -straße zu Ehren des preußischen Generals Friedrich Bogis­law von Tauentzien (1760‒1824) wurden zu Kościuszko-Platz und -straße nach dem legendären polnischen Feldherrn und Zeitgenossen Tauentziens, General Tadeusz Kościuszko (1746‒1817). Der preußische Generalfeldmarschall und Heeresreformer August von Gneisenau (1760‒1831) wurde durch den polnischen General und Militärtheoretiker Józef Bem (1794‒1850) ersetzt. Auf Gebhardt L. Blücher (1742‒1819) folgte Józef A. Poniatowski (1763‒1813). Beide hatten sich in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 gegenübergestanden – Poniatowski auf Seiten Napoleons, Blücher auf Seiten seiner Gegner, der eine führte die polni­sche Armee, der andere die preußisch-russische „Schlesische Armee“, und beide wurden 1813 für ihre militärischen Verdienste in den Marschallsrang erhoben (Thum 2003, S. 298f.).

In den Fußstapfen der offiziellen Kampagnen entstanden zahlreiche private Initiativen, die Niederschlesien seinen vermeintlich polnischen Charakter zurückgeben wollten. Viele SiedlerInnen wurden gleichsam spontan vom „Repolonisierungs“-Enthusiasmus gepackt, und es ist unstrittig, dass mitunter sie es waren (und nicht staatliche Stellen), die bei der Beseitigung von deutschen Relikten in den Westgebieten vorangingen. Ein Leser der Tageszeitung Słowo Polskie aus Kłodzko meldete sich diesbezüglich sogar mit einem Leserbrief zu Wort:

Vor einigen Tagen habe ich in Słowo Polskie die Erwähnung der deutschen In­schrift „Mariannenbad“ am städtischen Schwimmbad gelesen. In diesem Zu­sammenhang möchte ich die Redaktion über eine von mir begonnene Aktion zur Liquidierung deutscher Schriftzüge auf dem Stadtgebiet von Kłodzko informie­ren. […] Im Laufe von drei Jahren habe ich mehr als 100 Schriftzüge entfernt, und als Beitrag zum Tag der Arbeit werde ich bis zum 1. Mai dieses Jahres weite­re 50 Schriftzüge entfernen. Ich rufe die Jugend von Kłodzko auf, eine ähnliche Aktion zu starten.

Allerdings hat die Sache auch ihre Tücken, was ein Problem für die staatlichen Ämter und Institutionen darstellt. Der Leser fährt nämlich fort: „Ich bitte aber darum, die Verwaltungen von Gebäuden und Geschäften anzuprangern, die noch deutsche Schrift­züge dulden, denn ich bin nicht berechtigt, diese Schriftzüge von Büros, Fabriken usw. zu entfernen.“ Im Anschluss an den Leserbrief präsentiert die Redaktion den Lesern eine Zusammenfassung der Liste der von Herrn Janusz Krasnopolski „angeprangerten“ Betriebe mitsamt dem Inhalt der inkriminierten Schriftzüge und ihrer Lokalisierung (Vivat Sequens!, in: Słowo Polskie vom 05.05.1949).

Wenn wir von der „Repolonisierung“ Niederschlesiens nach dem Krieg und vom „Exorzisieren“ seines symbolischen Raums sprechen, dürfen wir nicht vergessen, dass die neu­en EinwohnerInnen der Region sich damals in einer überaus schwierigen existenziellen Situation befanden. Einerseits hatten sie Häuser, Bauernhöfe, Land, Geschäfte, Got­teshäuser und öffentliche Gebäude nicht auf natürliche Weise geerbt. Andererseits hielt man sie dazu an, sich zu benehmen, als sei Niederschlesien eine Tabula rasa, ein von den deutschen VorbesitzerInnen vernachlässigter Ort, der auf Bewirtschaftung wartete. Die­ser Propaganda widersprachen die schönen Kirchen oder ihre majestätischen Ruinen, die charakteristischen schlesischen Denkmäler lokaler Helden und Heiliger, die schönen Schilder mit fremd klingenden Namen, die alten Friedhöfe und sogar die Ausstattung der Häuser und alle Hinterlassenschaften, die an die generationenlange tägliche Exis­tenz und intensive Arbeit der ausgesiedelten NiederschlesierInnen erinnerten. Das Feh­len von kultureller Kontinuität, Tradition und zusammen mit der materiellen Kultur übermittelten Werten verhinderte viele Jahre lang (und wer weiß, vielleicht mehr noch als die offizielle Propaganda und die Kriegszerstörungen) die Bewahrung wenigstens von Surrogaten der kulturellen Spezifik Niederschlesiens – etwa in architektonischen Details, in der religiösen und sepulkralen Kunst oder in der Epigraphik. Dort, wo es wie etwa im Oppelner Land der autochthonen Bevölkerung gelang, zu bleiben, verän­derte sich die Kulturlandschaft in geringerem Maße. Mehr noch, die Autochthonen versuchten, diejenigen Elemente der Ikonosphäre ihrer Siedlungen zu bewahren, die aus ideologischen und politischen Gründen verschwinden mussten, die beseitigten Symbole wiederum versuchten sie zu rekonstruieren, als es in Polen zur demokratischen Systemtransformation kam. Ermöglicht wurde dies durch das kollektive Gedächtnis sowie durch die (wenngleich nicht offene) Pflege lokaler und familiärer Traditionen. In Nie­derschlesien suchte man derartige Beispiele vergebens, weshalb zahlreiche Denkmäler der Vergangenheit, die in ähnlicher Form in ganz Schlesien zu finden sind, wie auch alte Inschriften in der Umgebung von Wrocław in unvergleichlich schlechterem Zustand sind als in der Gegend um Opole, wo etwa fünfzig von zweihundert Obelisken erhalten blieben, die an die aus Schlesien stammenden Wehrmachtsgefallenen des Ersten Welt­kriegs erinnern.

Heute suchen viele EinwohnerInnen Wrocławs und Niederschlesiens mit demselben Eifer nach alten deutschen Details und Schriftzügen, mit dem ihre Vorfahren sie einst beseitigten. Die Medien interessieren sich für sie, bei Renovierungen werden sie liebe­voll restauriert. So rekonstruierte man in Wrocław am früheren Warenhaus Gebrüder Barasch (heute Feniks) in der Ulica Szewska den schmuckvollen Schriftzug „Erbaut 1903/1904“ – gemäß der alten ikonographischen Überlieferung eingefasst in einen stil­vollen Zierrahmen. Den Erker des Gebäudes in der Ulica Oławska, das bis vor kurzem das Kaufhaus Łada beherbergte, ziert inzwischen wieder die historische Inschrift: „Al­ter Weinstock 1377‒1908“. Das auf den ersten Blick trivial scheinende Detail verweist auf Inhalte, die für die Erforschung des Lebens der einstigen Breslauer durchaus rele­vant sind. „Alter Weinstock“ ist nämlich der Name eines der beliebtesten und edels­ten Wrocławer Trünke, den dieser, wie seine Produzenten versichern, von einer alten Schenke übernahm. Der Schriftzug am Gebäude in der Ulica Oławska bezieht sich auf eine den heutigen StadtbewohnerInnen fremde Tradition, die gleichwohl aber zweifellos Aufmerksamkeit verdient. Die Kunst der Produktion von Breslauer Schnäpsen, Likören und Kognaks wird nämlich von den Nürnberger ErbInnen der hiesigen Brenner fort­geführt, die besonderes Gewicht auf die mehr als vierhundert Jahre alte Tradition der Spirituosenherstellung legen.

Es gibt zahlreiche weitere Beispiele für das Bemühen um das Sichtbarmachen alter deut­scher Denkmäler und Inschriften im offenen Wrocławer Stadtraum. Mit Unterstüt­zung der Straßen- und Verkehrsverwaltung (Zarząd Dróg i Komunikacji) sowie des Woiwodschaftsdenkmalschützers (Wojewódzki Konserwator Zabytków) versuchen die BewohnerInnen einzelner Viertel, die verbliebenen deutschen Relikte, darunter epi­graphische Denkmäler, vor der Zerstörung zu retten. In Kooperation der Wrocławer Kommunalverwaltung, des Kanzleramts der Bundesrepublik Deutschland sowie der Rektoren der Universitäten Marburg und Wrocław konnte die Renaissancefassade des Rybisch-Hauses restauriert werden. Großen Respekt unter den EinwohnerInnen der Siedlung Kozanów genießt das einzige erhaltene Grabmal des ehemaligen Kommunal­friedhofs mit einer Engelsfigur und der frappierenden Inschrift: „Auch der Schmerz ist Gottes Bote“. Die Bürger des Randbezirks Rędzin bewerkstelligten hingegen die Re­konstruktion eines Obelisken mit einer ausführlichen Inschrift zur Erinnerung an deut­sche Gefallene des Ersten Weltkriegs. Wichtige Ereignisse in der jüngeren Geschichte Wrocławs waren die Enthüllungen zweier rekonstruierter Denkmäler: im Jahr 2007 des mit einer von Theodor von Gosen geschaffenen Christus-Figur gekrönten Obelisken zum Gedenken an die im Ersten Weltkrieg gefallenen Schüler des St.-Matthias-Gymna­siums (ihre Namen finden sich an den Seitenwänden des Obelisken, die Frontwand trägt die Inschrift: „Frei wollen wir das Vaterland wiedersehn oder frei zu den glücklichen Vätern gehn“ – ein Vers aus einem Gedicht Karl Theodor Körners; neben der Inschrift finden sich ein Kreuz und ein sechszackiger Stern – das Wappen des Ritterordens der Kreuzherren mit dem Roten Stern, auf deren Besitz das Gymnasium errichtet worden war) sowie des am 30. Oktober 2008 enthüllten Monuments zur Erinnerung an die EinwohnerInnen des alten Breslau, des sogenannten Denkmals des Gemeinsamen Ge­denkens (Pomnik Wspólnej Pamięci) auf dem Terrain des Park Grabiszyński (vor dem Krieg ein Friedhof). Eine Allee führt zu ihm hin, auf dem Eingangstor aus Granitstein steht der lateinische Name des Denkmals: „Monumentum Memoriae Communis“. Das an eine Mauer erinnernde Denkmal wurde ebenfalls aus Granit gefertigt, es besteht aus zweiunddreißig Platten mit unregelmäßigem Abschluss. Ergänzt wird das Ganze durch einige erhaltene Grabplatten, die einst in Mirków bei Wrocław lagerten und von der Stadt zurückgekauft wurden, um ihnen ihren symbolischen Rang sowie teils auch ihre primäre sepulkrale Funktion wiederzugeben. Die vier Teile des Denkmals entspre­chen den vier Kategorien von Friedhöfen ihm alten Breslau: katholische, evangelische, kommunale und jüdische. Zum Denkmal gehört auch eine waagerechte Platte mit einer Liste aller nach 1945 liquidierten Friedhöfe in Wrocław. Schließlich entstehen Internet­portale, die teils oder komplett den Relikten der früheren Ikonosphäre der Stadt und der Region gewidmet sind (Ein umfangreiches Internetportal zu Niederschlesien findet sich unter  https://polska-org.pl/ mit einer eigenen Rubrik zu Niederschlesien; früherer Name https://polska-org.pl/). Dieses Phänomen, das zweifellos unerklärlich ist, wenn man die vor dreißig, vierzig und mehr als fünfzig Jahren vorherrschenden Denkmuster anlegt oder wenn man der fast während des gesamten Bestehens der Volksrepublik Polen be­triebenen Propaganda folgt, erscheint heute völlig natürlich. Nur selten leben hingegen die alten „repolonisatorischen“ Affekte wieder auf. Züge einer Rückwendung zu einem solchen Denken trug etwa 2007 die auf private Initiative erfolgte Errichtung eines Rei­terdenkmals für Bolesław Chrobry an der Stelle, an der bis 1945 ein Reiterdenkmal des deutschen Kaisers Wilhelms I. stand. Dieses Denkmal war am 21. Oktober 1945 im Rahmen einer von lokalen Vertretern der Polnischen Sozialistischen Partei (Polska Partia Socjalistyczna) organisierten Manifestation vom Sockel gerissen worden – ein symbolischer Akt, der das Ende des preußischen und deutschen Abschnitts in der Ge­schichte der Stadt unterstreichen sollte.

Initiativen wie die Errichtung des Bolesław-Chrobry-Denkmals an einem von deutscher Erinnerung und Geschichte gesättigten Ort stehen zweifellos im Gegensatz zum heute in Wrocław vorherrschenden Zugang zur Frage der deutsch-polnischen Kommunika­tion, zur Offenheit in der Darstellung der komplexen Stadt- und Regionalgeschichte sowie zum Bewusstsein für die heiklen Punkte in den deutschen und polnischen Erzäh­lungen über die Stadt, welches der Stadtrat von Wrocław, das universitäre Milieu oder die SammlerInnen von Wrocławer „Antiquitäten“ erkennen lassen.

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann

Literatur:

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Gieysztor, Aleksander: Protokół z Ogólnopolskiej Konferencji Historyków Sztuki w Krakowie 29 VIII–1 IX 1945 r., in: Biuletyn Historii Sztuki i Kultury (1946), Jg. 8, Nr. 1/2.

Grębowiec, Jacek: Inskrypcje w przestrzeni otwartej Wrocław na tle jego ikonosfery (do 1945 r.), Wrocław 2008.

Hierowski, Zdzisław: Program kulturalny dla Ziem Odzyskanych, in: Odra (1945), Katowice, Nr. 7.

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Ptic-Borkowski, Michał: Polityka w architekturze, in: Skarpa Warszawska (1946), Nr. 7.

Skowron, Eryk: Dla Rady przestrogi i rady, in: Odra (1946), Katowice–Wrocław–Szczecin, Nr. 16.

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Thum, Gregor: Die fremde Stadt: Breslau 1945, München 2003.

 

Grębowiec, Jacek, Dr. habil., verfasste die Beiträge „Wiedergewonnene Gebiete“ und „Die Rezeption von Inschriften und anderen kleinen Spuren des alten Presslaw/Breslau in Wrocław nach 1945 (Wiedergewonnene Gebiete)“. Er ist Professor an der Universität Wrocław und arbeitet in den Bereichen Rhetorik, Pragmalinguistik und Kulturwissenschaften.

 

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