Jerzy Kałążny

Spektakuläre historische Ereignisse in der deutschen und polnischen Erinnerungskultur

Spektakuläre historische Ereignisse in der deutschen und polnischen Erinnerungskultur


Die Geschichte Europas ist in hohem Maße eine Geschichte von Konflikten, infolge derer Völker die Grenzen ihrer Territorien bestimmten und, durch die Erinnerung an große Siege (oder große Niederlagen), ein Gefühl der Gemeinschaft und des Andersseins entwickelten (→ Erinnerungskulturen). Schlachten nehmen auch im nationalen Imagi­narium der Polen und Deutschen einen besonderen Platz ein. In der Rangliste der fünf historischen Ereignisse, die – zur Zeit der Teilungen – das Geschichtsbewusstsein der Polen und das Gefühl der nationalen Identität am stärksten prägten, nehmen Schlachten die Plätze zwei bis vier ein: die Schlacht zwischen dem polnischen Königreich und dem Deutschen Orden bei Grunwald (15.7.1410; → Kreuzritter), die Schlacht bei Racławice (4.3.1794) und die Schlacht am Kahlenberg (12.9.1683). Als das wichtigste Ereignis der polnischen Geschichte gilt im 19. Jh. – wie Witold Molik feststellt (Molik 1998, S. 297) – die Verfassung vom 3. Mai (1791), während die Piasten-Legende (9. Jh.) an fünfter Stelle rangiert. Da­gegen belegen im deutschen Ranking der fünf bedeutendsten historischen Ereignisse, die zwischen den Napoleonischen Kriegen und der deutschen Einigung 1871 den größ­ten Einfluss auf die Herausbildung einer nationalen deutschen Identität hatten (die Liste basiert auf den um 1871 veröffentlichten Schulbüchern), die Schlacht im Teutoburger Wald (bei der 9 n. Chr. mehrere römische Legionen in einen Hinterhalt gelockt und von den germanischen Stämmen, die der Cherusker-Fürst Arminius anführte, vernichtend geschlagen wurden) den ersten und die Völkerschlacht bei Leipzig (16.–19.10.1813) den vierten Platz. Die übrigen Ereignisse sind der Tod Kaiser Barbarossas (1190), Martin Lu­thers Aufkündigung des Gehorsams gegenüber dem Papst (1520) und die Proklamation des Zweiten Deutschen Kaiserreichs in Versailles (1871), (Flacke 1998, S. 101. Schlachten-Rankings erfreuen sich seit jeher großer Beliebtheit, auch unter HistorikerInnen. Ein Beispiel ist William Weirs Publikation, in der die Schlacht bei Grunwald unter den fünfzig Schlachten, die „die Welt veränderten“, erst den 37. Platz einnimmt und die Schlacht im Teutoburger Wald nicht einmal berücksichtigt wird. Der Autor erwähnt sie lediglich im Zusammenhang mit anderen Ranglisten, die diese Schlacht enthalten: „Die Schlacht im Teutoburger Wald mag deutsche und englische Historiker mit einem diffusen, warmen Gefühl für ihre Vorfahren erfüllen, doch sie spielte keine entscheidende Rolle.“, Weir 2002, S. 377).

Auf beiden Listen veranschaulicht jeweils eins der Ereignisse – die Schlacht im Teuto­burger Wald und die Schlacht bei Grunwald – den Entstehungsprozess eines politischen Mythos, eines emotional gefärbten, sinnstiftenden Narrativs vergangener Ereignisse, das dazu dient, das Gefühl kollektiver (auch nationaler) Identität zu schaffen. Obwohl die Schlacht im Teutoburger Wald und die Schlacht bei Grunwald unmittelbar nichts miteinander zu tun haben (zwischen ihnen liegen schließlich fast 1.500 Jahre!), ist ihnen gemein, dass sie (vor allem im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jhs.) für ideologi­sche Zwecke ausgenutzt wurden. Der grundlegende Unterschied zwischen den beiden Ereignissen besteht darin, dass die Schlacht bei Grunwald uns auf die Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen verweist, während die Schlacht im Teutoburger Wald „eindimensional“ ist, lediglich innerdeutsche Angelegenheiten betrifft.

Geburt eines Mythos

Die Schlacht im Teutoburger Wald zählte in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. zu den Schlüsselereignissen, die als „zentrale[r] Gründungsmythos des ersten deutschen Nationalstaates“ das Geschichtsbewusstsein der Deutschen prägten (Doyé 2001, S. 599). In Polen dagegen hat­te kein historisches Ereignis (vielleicht mit Ausnahme der Verfassung vom 3. Mai) im 19. und frühen 20. Jh. eine ähnliche Wirkkraft auf das nationale Bewusstsein der Polen wie die Schlacht bei Grunwald. Die Erinnerung an sie ist für Generationen von Polen „eine Schule des nationalen Egoismus“ (Adam Krzemiński) und hatte auch Einfluss auf die Herausbildung eines litauischen Nationalbewusstseins (und in gewissem Maße hat sie diesen Einfluss noch immer).

Nationale Mythen, der Stoff, aus dem kollektive Gedächtnisse bestehen, werden mit Hilfe unterschiedlicher Medien erinnert. Die wichtigsten Träger nationaler Narrative waren im 19. Jh. die Werke von Malern und Schriftstellern wie Francisco de Goya, Gustav Doré, Jan Matejko, Anton Werner, Ilja Repin, Henryk Sienkiewicz, Lew Tolstoi und Victor Hugo. Sie schufen eindringliche Visualisierungen und Beschreibungen historischer Ereignisse und prägten dauerhaft die Vorstellungen der Gemeinschaften, an die diese Werke adressiert waren. Dieses Monopol hatte lange Zeit Bestand, ähnlich wie der intersemiotische Mechanismus der historischen Überlieferung. Dieser beruhte darauf, dass historische Quellen MalerInnen und SchriftstellerInnen Material lieferten und ihre Werke – kommentiert, zitiert und reproduziert – Eingang in die Schulbü­cher (→ Geschichtslehrbücher) fanden. Mythen fanden Ausdruck in Denkmälern und → Museen und in neueren Zeiten im → Film und im Internet, mit seiner Vielzahl an Geschichtsportalen und Websites zu alternativgeschichtlichen Themen, seinen Online- Spielen mit historischen Motiven etc.

Schlacht im Teutoburger Wald

Die Grundlage für spätere Darstellungen der Schlacht im Teutoburger Wald waren Ta­citus Annalen. Tacitus’ Bezeichnung des Cherusker-Fürsten als „Befreier Germaniens“ und Ulrich von Huttens Arminius, ein Dialog, den der deutsche Humanist unter dem Einfluss der wiederentdeckten und 1515 veröffentlichten Annalen schrieb, machten aus dem germanischen Anführer eine „rhetorische Wunderwaffe“ (Veronika Deinbeck). Fünf Jahrhunderte lang dienten beide Werke dem Kampf um Einheit, Freiheit und deutsche Identität sowohl gegen reale als auch imaginäre Feinde. Huttens Arminius – der tugendhafte und mutige Kämpfer für die Freiheit – wurde im 16. Jh. in Her­mann (Heer-mann) umbenannt. Im Laufe der Zeit wurde Arminius alias Hermann zu einem Symbol und Vorbild der nationalstaatlichen Bestrebungen der Deutschen; den Höhepunkt seiner Beliebtheit erlangte er im frühen 19. Jh. und zur Zeit der Gründung des Zweiten Deutschen Kaiserreiches. Seit Hutten erscheinen in den Darstellungen des Arminius/Hermann Motive wie Freiheit, Einheit, Kontinuität der eigenen Geschich­te, klares Feindbild, hervorgehobene Stellung des Anführers, Betonung der nationalen Tat, Sakralisierung des preußisch-protestantischen Volkes und Treue zu den deutschen Werten. Deutlich zu erkennen ist zudem die Tendenz – insbesondere in den letzten Jahrzehnten des 19. Jhs. –, die Person des Arminius mit einer Reihe von Tugenden und Vorzügen auszustatten, die eindeutig mit dem Bürgertum assoziiert werden (Doyé 2001, S. 587–602).

Tacitus’ Darstellung machte aus Arminius eine Figur, die sich als literarische Vorlage eig­nete. Aus Sicht des Chronisten war der Germane die Antithese des römischen Heerführers Publius Quinctilius Varus, eine Figur „aus Fleisch und Blut“, deren ruhmreiches und zu­gleich tragisches Leben ein fertiges Schema für ein Heldenepos bildete. Die Person des Ar­minius/Hermann „überdeckte“ im deutschen kollektiven Bewusstsein die Schlacht, die in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung traditionell als Arminiusschlacht oder Her­mannsschlacht (manchmal aber auch, gemäß der antiken Tradition, als Varusschlacht) bezeichnet wird. Der Sieg im Teutoburger Wald wird zumeist als das Werk eines Men­schen dargestellt, was das Hermannsdenkmal bei Detmold eindrücklich veranschaulicht. Die einsame Figur von gigantischer Größe und die Inschrift auf dem erhobenen Schwert („deutsche Einigkeit meine Stärke, meine Stärke Deutschlands Macht“) sind beredtes Zeugnis der ideologischen Botschaft, das deutsche Volk mit einer konkreten historischen Persönlichkeit gleichzusetzen, was im 19. Jh. in Europa gängige Praxis war.

Das Denkmal des Cherusker-Fürsten war im 19. Jh. ein Ort, an dem zu wichtigen nationalen Gedenktagen Feiern abgehalten wurden: zu den Jahrestagen der Völkerschlacht bei Leipzig und der Schlacht von Sedan. In den 1870er Jahren symbolisierte die Triade „Teutoburger Wald – Leipzig – Sedan“ das deutsche Streben nach Einheit und Souverä­nität, die es sich gegen die „Fremden“ – die mit den Franzosen gleichgesetzt wurden – zu erkämpfen galt. Nicht zufällig zeigt Hermann mit dem Schwert nach Westen, also in Richtung Frankreich (Der zum Arminius/Hermann-Mythos komplementäre politische Mythos auf französischer Seite ist der Vercingetorix-Mythos, vgl. Tacke 1995). Mit der Zeit wandelten sich die Gedenkfeierlichkeiten in Det­mold von einem nationalen Fest im liberalen Vormärz-Geist (Zeitraum zwischen der Julirevolution von 1830 und der Märzrevolution von 1848) zu einer monarchistischen Feier (in den frühen 1870er Jahren) und schließlich zu einer Demonstration der nationa­len Einheit am Vorabend des Ersten Weltkrieges: „Stand Hermann vor 1819 vorbildhaft für die Hoffnung auf die nationale Einheit, so wurde er nach 1871 zur Symbolfigur für die realisierte Einheit“ (Flacke 1998, S. 105).

Der Arminius/Hermann-Mythos als politischer Gründungsmythos war im 19. Jh. in der Massenkultur tief verwurzelt. Die Detmolder Feiern im Zusammenhang mit der Enthüllung des Hermannsdenkmals 1875 hatten auch eine kommerzielle Komponente. Während der Feierlichkeiten wurden eine Vielzahl von Lebensmitteln und Artikeln ver­kauft, die einen direkten Bezug zum Hauptprotagonisten der Veranstaltung hatten: u. a. „Hermann-Bier“, „Hermannbraten“, „Hermannbitter“, sogar „Hermann-Regenschirm­chen“. Das verstärkte öffentliche Interesse an der Person des Cherusker-Fürsten rund um die Gedenkfeiern 1909 wurde auch von Herstellern von Zahnpasta, Schokolade, Zigaretten usw. ausgenutzt, die ihren Erzeugnissen Sammelbilder mit Schlachtenszenen oder dem Hermannsdenkmal beilegten (Migdalski/Mellies 2012, S. 110f.). All dies trug dazu bei, dass die Schlacht und deren Hauptprotagonisten im kulturellen Gedächtnis präsent waren, Gleiches galt für Unterhaltungsromane und Flugschriften, die in den 1870er Jahren massenhaft Verbrei­tung fanden. Der Kult um Arminius/Hermann erreichte damals seinen Höhepunkt, und der Germanenfürst war als Feind Roms für Bismarck in seiner Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche (Kulturkampf) eine nützliche politische Waffe. Arminius/ Hermann eignete sich jedoch nicht als Vorbild für einen starken Herrscher, der ein Ga­rant der nationalen Einheit ist und gemeinsame Ziele vorgibt (schließlich wurde er von den eigenen Verwandten ermordet). In dieser Rolle wurde er durch Kaiser Wilhelm II. ersetzt. Die letzte große Manifestation des Arminius/Hermann-Kults fand 1925 statt. Mit dem seinerzeit organisierten „Hermannslauf“ nach Detmold versuchte man, den germanischen Heerführer als Schöpfer der deutschen Einheit zu inszenieren (Der Hermannslauf wird bis heute als ein Volkslauf veranstaltet. Die Organisatoren dieses Breitensportereignisses lassen seine Geschichte jedoch erst mit dem Jahr 1972 beginnen. Siehe www.hermannslauf.de).

Trotz sinkender Popularität wurde der Arminius/Hermann-Mythos von unterschied­lichen politischen Kreisen ausgenutzt, zum Beispiel von der der völkischen Ideologie nahestehenden Deutschen Turnerschaft, nach deren Interpretation die siegreiche Varusschlacht eine „Verunreinigung des germanischen Blutes“ verhinderte und der Rom zugeschriebenen „Verderbnis der Sitten“ Einhalt gebot. Dieses Motiv, ähnlich wie die Assoziation des Arminius/Hermann mit Antisemitismus, wurde sowohl in der Wei­marer Republik als auch im Dritten Reich von der Propaganda ausgeschlachtet. Das Spezifische der Gedenkfeiern im Kaiserreich und in der Weimarer Republik war, dass sie einen ausgrenzenden Charakter hatten (Katholiken, Sozialdemokraten, Sozialisten). Auch in der Weimarer Republik war der Arminius/Hermann-Mythos in heftige po­litische Auseinandersetzungen verstrickt. Die extreme Rechte stellte eine Parallele her zwischen der Legende von der Ermordung des Arminius/Hermann durch Verwandte und der „Dolchstoßlegende“ – laut derer die mangelnde Unterstützung der deutschen Armee seitens der Zivilbevölkerung zur Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg geführt hatte. Berühmte Politiker wie Gustav Stresemann, Alfred Hugenberg und Adolf Hitler pilgerten nach Detmold. Zudem gab es eine regelrechte Schwemme populärwis­senschaftlicher Literatur, die der Schlacht und ihren Helden gewidmet war. Während des Dritten Reiches wurde Hermanns militärischer Erfolg propagandistisch instru­mentalisiert, seiner Person gegenüber blieben die Nationalsozialisten jedoch reserviert, womöglich wegen des allzu „bürgerlichen“ Charakters des Germanenfürsten sowie in Anbetracht der Tatsache, dass der Feind von damals nun ein Verbündeter Deutschlands war. Darüber hinaus sollte das deutsche Volk auch in der mythischen Dimension nur einen Führer haben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Arminius/Hermann, Symbol des Widerstandes gegen eine fremde Zivilisation und mit antifranzösischen Konnotationen behaftet, zu einem problematischen Erbe für die nach Westintegration strebende Bundesrepublik Deutschland. Das Detmolder Denkmal war bis in die späten 1950er Jahre Schauplatz von Versammlungen, die von nationalistischen Gruppierungen und Vertriebenenver­bänden unter Losungen wie „Freiheit“ und „Einheit“ organisiert wurden. In den 1960er Jahren wurde das Gedenken an die Schlacht im Teutoburger Wald in Westdeutschland vollständig entpolitisiert, was durch den Geschichtsunterricht in der Schule zusätzlich befördert wurde. In den westdeutschen Geschichtsschulbüchern wurde die Bedeutung der Schlacht für die deutsche Geschichte deutlich relativiert. In der DDR dagegen ver­suchte man, den Konflikt zwischen Germanen und Römern im Geiste des Historischen Materialismus zu interpretieren und betrachtete den Sieg Ersterer als Beweis für die Überlegenheit einer Gesellschaft mit vermeintlich kommunismusähnlichen Eigentums­verhältnissen über einen imperialistischen Sklavenhalterstaat (Doyé 2001, S. 587–602).

Im Laufe der Zeit wurde das in der Nähe von Detmold vermutete Schlachtfeld (nach archäologischen Erkenntnissen fand die Schlacht in der Nähe der Ortschaft Kalkriese unweit von Osnabrück statt) zu einer Touristenattraktion und zu einem wichtigen Ort für die Identität und den Fremdenverkehr der Region Westfalen-Lippe, während die mythische Gestalt des Arminius/Hermann sich in Tourismus- und Werbegadgets ver­wandelte, denen man in Kontexten begegnete, die nichts mit patriotischen Feierlichkei­ten zu tun hatten. So wurde die Figur des Arminius 1999 von einer lokalen Brauerei im Rahmen einer Werbekampagne in ein gigantisches Fußballtrikot gehüllt, und Touris­ten, die Detmold besuchen, können sich mit einem „Thusnelda-Bier“ (nach Hermanns mythischer Geliebten benannt) und einem „Harten Hermann“ (einer Salami) stärken. Die im Jahr 2000 anlässlich des 125. Jahrestages der Einweihung des Denkmals von der „Jungen Linke“ aufgestellte Forderung, das Hermannsdenkmal in die Luft zu sprengen und ein für alle Mal mit seinem Mythos aufzuräumen, ist eher als Provokation denn als reale Bedrohung zu verstehen.

Das Gedenken an die Schlacht lebte für kurze Zeit im Zusammenhang mit dem 2000. Jahrestag der Schlacht auf. Die aus diesem Anlass an drei Orten (Detmold, Kal­kriese sowie Haltern, wo im 19. Jh. die Überreste eines Römerlagers entdeckt wurden) gezeigten Sonderausstellungen besuchten fast 45.000 Menschen. Zahlreiche Publikatio­nen über diesen politischen Gründungsmythos erschienen in auflagenstarken und mei­nungsbildenden Presseerzeugnissen. Darunter befanden sich auch Texte, die versuchten, diesen Mythos wiederzubeleben – so zum Beispiel ein Artikel mit dem bezeichnenden Titel Der Ursprung der Deutschen. 2000 Jahre Varusschlacht, oder wie wir wurden, was wir sind, der am 2.3.2009 im Nachrichtenmagazin Focus erschien. Mehrheitlich herrschte jedoch ein eher kritischer Ton – wie zum Beispiel in dem Artikel Wie die Deutschen die Varusschlacht zurechtbogen in der Tageszeitung Die Welt vom 14.1.2009. Zeichen von Nationalstolz und „gesteigertem“ Patriotismus ließen sich in Internetforen beobachten, in denen unter anderem die Meinung geäußert wurde, die Germanen hätten auf die eine oder andere Weise die halbe Welt erobert, während die Römer heute nur noch in der katholischen Kirche Rückhalt fänden. An den Gedenkfeiern zum 2000. Jahrestag – während derer jegliches patriotisches Pathos sorgfältig vermieden wurde – nahmen viele prominente deutsche PolitikerInnen teil, u. a. Bundeskanzlerin Angela Merkel, der damalige Präsident des Europäischen Parlaments Hans-Gert Pöttering sowie die Minis­terpräsidenten Jürgen Rüttgers und Christian Wulff. Ihre Reden hatten einen starken europäischen Akzent. Pöttering, der sich auf die Geschichte und die historische Vorstel­lung von der Schlacht im Teutoburger Wald bezog, behauptete, dass die Schlacht deut­lich zeige, welche Bedeutung die Europäische Union für eine friedliche Zukunft Euro­pas habe. Kanzlerin Merkel wiederum, die von den weitreichenden Folgen der Schlacht sprach, hob hervor, dass das Erreichte nur aufgrund der europäischen Verwurzelung Deutschlands erreicht werden konnte: „Die Ausstellung geht der Frage nach, warum bei den Germanen, die eigentlich die Sieger waren, keine Ruhe einkehrte, warum sie wei­terhin permanent Krieg führten. […] Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, dass wir heute glücklicherweise in einer friedlichen Zeit leben. Allerdings haben wir das als Germanen eben auch nicht aus eigener Kraft geschafft, sondern es hat des europäischen Gedankens bedurft“ (Merkel 2009, S. 3).

Schlacht bei Grunwald

Die Darstellung der Schlacht bei Grunwald in Jan Długosz’ Chronik war für spätere Interpretationen von entscheidender Bedeutung. Und dies, obwohl die Annalen meh­rere Jahrzehnte nach Grunwald entstanden und ihre Glaubwürdigkeit von Anfang an fragwürdig war. Die Schlacht hatte drei Hauptprotagonisten, von denen zwei – je nach (nationaler) Perspektive – den Sieg für sich beanspruchen konnten. Es handelte sich dabei um den polnischen König Władysław Jagiełło und den litauischen Großfürsten Witold/Vytautas von Litauen. Der Verlierer dagegen war, ungeachtet aller Divergen­zen zwischen dem polnischen und dem litauischen kollektiven Gedächtnis, immer der gleiche: der Hochmeister des Deutschen Ordens Ulrich von Jungingen. Die polnische Interpretation dieses Ereignisses spiegelt die Figurenanordnung des 1910 in Krakau ent­hüllten Grunwald-Denkmals wider. Dessen Dominante bildet die mächtige, zu Pferd sitzende Figur König Jagiełłos. Großfürst Vytautas blickt, auf sein Schwert gestützt, auf den zu seinen Füßen liegenden Hochmeister von Jungingen herunter.

Obwohl die Schlacht bei Grunwald in der polnischen Erinnerungskultur nicht so stark „personifiziert“ wurde wie die Schlacht im Teutoburger Wald im deutschen Gedächtnis, waren die historischen Persönlichkeiten von Jagiełło und Vytautas schillernd genug, um als Heldenerzählungen auch für ein breiteres Publikum interessant zu sein. Nach dem Verlust ihres Staates brauchten die Polen eine Geschichte, die positive, Trost spendende Vorbilder lieferte. Ein derart aufbauendes Ereignis war die Schlacht bei Grunwald, die im 19. Jh. immer stärker in den Fokus von HistorikerInnen rückte und gleichzeitig Gegenstand populärwissenschaftlicher und publizistischer Darstellungen wurde sowie – was ebenso wichtig war – literarische Werke und Gemälde inspirierte. Eine wichtige Rolle bei der Popularisierung Grunwalds spielte die 1855 in Lemberg veröffentlichte Monografie Jadwiga i Jagiełło. 13741413 [Jadwiga und Jagiełło. 1374–1413] des be­rühmten Historikers Karol Szajnocha. Die Kombination aus akribisch recherchierten Fakten und einer attraktiven erzählerischen Form bewirkte, dass diese „historische Er­zählung“ (als die das Werk im Untertitel bezeichnet wurde) sich bei den Lesern gro­ßer Beliebtheit erfreute und zugleich zu einer Wissensquelle und Inspiration für viele SchriftstellerInnen und MalerInnen wurde. Auf Szajnocha berief man sich in unzähli­gen Presseartikeln und Feiertagsreden.

Im 19. Jh. stellten viele polnische Maler, u. a. Wojciech Kossak und Wojciech Gerson, Szenen aus dem Leben des Deutschen Ordens auf ihren Gemälden dar. Keines von ihnen reichte jedoch an die Wucht und symbolische Ausdruckskraft von Jan Matejkos Schlacht bei Grunwald heran. Das 1878 fertiggestellte Gemälde wurde im kulturellen Gedächtnis der Polen schnell heimisch und drückte ihm seinen Stempel auf, so dass Matejkos Vor­stellung von der Schlacht bis heute mit dem Ereignis selbst gleichgesetzt wird (Matejkos Gemälde und seiner Interpretation war die Freiluftausstellung Die Macht des Symbols [Potęga symbolu] gewidmet, die die Galerie des Nationalen Kulturzentrums Kordegarda anlässlich des 610. Jahrestages der Schlacht bei Grunwald vom 15.–31.7.2020 zeigte). Dieses Bild war gleichsam eine symbolische Antwort auf den raschen Machtzuwachs Preußens nach der Gründung des Zweiten Deutschen Kaiserreichs. Matejkos Gemälde, Długosz’ ins Polnische übersetzte Chronik und Szajnochas Werk lieferten Henryk Sienkiewicz das nötige Material. Sein historischer Roman Die Kreuzritter [Krzyżacy] wurde kurz nach seinem Erscheinen in Buchform im Jahre 1900 in allen drei polnischen Teilungsgebie­ten zu einem Bestseller sowie zu einem kanonischen Werk der polnischen patriotischen Literatur.

Keine künstlerische Darstellung der Schlacht im Teutoburger Wald hatte einen ähnli­chen Einfluss auf das kulturelle Gedächtnis der Deutschen wie die Werke von Matejko und Sienkiewicz auf das polnische (Der Gerechtigkeit halber sei erwähnt, dass Sienkiewicz’ Vision der polnischen Geschichte bei Historikern (u. a. Olgierd Górka), Schriftstellern (u. a. Bolesław Prus und Witold Gombrowicz) und Politikern auch auf Kritik stieß. Der berühmte Erbauer des Hafens in Gdynia Eugeniusz Kwiatkowski schrieb 1931, dass die Polen ihr historisches Wissen zu sehr aus Sienkiewicz’ Werk beziehenstatt aus historischen Quellen: „Auf diese Weise wurde der Wunsch zwangsläufig Wirklichkeit, und die Wahrheit durch eine didaktische Legende ersetzt“, zitiert nach Mikołajczak 2010, S. 213). Weder Die Hermannsschlacht des Historienmalers Friedrich Gunkel (1864), das gleichnamige Drama von Heinrich von Kleist noch die Unterhaltungs- oder Schulliteratur konnten die Vorstellungskraft der Deutschen voll­ständig und dauerhaft fesseln. Dies lässt sich womöglich damit erklären, dass für die Deutschen im 19. Jh. der Geschichtsunterricht das wichtigste Instrument zur Herausbil­dung eines nationalen Bewusstseins und einer nationalen Identität war, während in Po­len zur Zeit der Teilungen die Literatur und die Kunst diese Rolle übernehmen mussten.

Die Verschärfung der Germanisierungspolitik im preußischen Teilungsgebiet zu Beginn des 20. Jhs. verstärkte die politische Bedeutung und Symbolik der Schlacht bei Grun­wald. Den Aufruf Kaisers Wilhelm II. in seiner Rede am 3. Juni 1902 in Marienburg, das Slawentum zu zerstören, beantwortete die polnische Seite mit den Gedenkfeiern zum 492. Jahrestag der Schlacht bei Grunwald. Im Zeitraum zwischen 1902 und 1910, in den auch der 500. Jahrestag der Schlacht fiel, nahm die Grunwald-Problematik die Aufmerksamkeit der polnischen Öffentlichkeit ständig gefangen. Das vom weltberühm­ten Pianisten Ignacy Jan Paderewski gestiftete und vom Bildhauer Antoni Wiwulski ge­schaffene Grunwalddenkmal, dessen Enthüllung am 15. Juli 1910 in Krakau den Höhe­punkt der Gedenkfeiern bildete, ist – auch wenn dies nicht intendiert war – das Pendant zum Hermannsdenkmal, das die Idee eines vereinten Deutschen Reiches symbolisierte. Ignacy Jan Paderewski erinnerte sich an dieses Ereignis und seine Ansprache wie folgt: „Dies war, ohne jede Übertreibung, ein Ereignis von ungeheurer Bedeutung – gleichsam das Zeichen, dass wir Polen angesichts eines nahenden Krieges zusammenhalten sollten, eine Einheit bilden. Eine einfache Sache, darüber habe ich in meiner Rede nicht gespro­chen, doch in der Inschrift des Denkmals finden sich folgende Worte: »Den Urahnen zum Ruhme, den Brüdern zum Mute«“ (Paderewski 1986, S. 454). Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde das Denkmal von den deutschen Besatzern zerstört. Noch im Januar 1945 beschloss man, es wiederaufzubauen, doch erst 1972 wurde das Komitee zum Wiederaufbau des Grunwalddenkmals gegründet und der bekannte Bildhauer Marian Konieczny mit der Rekonstruktion beauftragt. Nach seiner Renovierung wurde das Denkmal 2010 erneut feierlich enthüllt.

Der Grunwald-Mythos war in Polen einen Großteil des 20. Jhs. lebendig. Dies ist zu ei­nem erheblichen Maße das Verdienst der Politiker, die die Erinnerung an die gewonnene Schlacht benutzten, um den angeschlagenen nationalen Geist zu stärken und vor den kriegerischen Gelüsten des ewigen Feindes zu warnen, dessen Symbol der deutsche Or­densritter war. In der Zwischenkriegszeit gab es so etwas wie einen Denkmalkrieg. Als Reaktion auf das 1927 eingeweihte deutsche Denkmal der Schlacht bei Tannenberg (Frithjof Benjamin Schenk erzählt die Geschichte eines Propagandatricks: Mit dem Sieg, den deutsche Truppen 1914 bei Tannenberg über die russische Armee davontrugen, wurde die Erinnerungan die Schlacht von 1410 (Tannenberg/Grunwald) aus dem deutschen kollektiven Gedächtnis verdrängt; vgl. Schenk 2009, S. 438–454), das ein Zeichen des Sieges und zugleich eine Warnung an die Adresse Polens war, wurde 1931 auf Initiative des Großmachtideologen Rowmund Piłsudski in Uzdowo (Usdau) – der dem Schlachtfeld von Grunwald nächstgelegenen polnischen Ortschaft – ein Denk­mal enthüllt, das an den Sieg über den Deutschen Orden erinnert. Auch die Litauer nutzten die Erinnerung an Grunwald, um die eigene nationale Identität zu stärken. Das 1930 in Kaunas errichtete und nach der Wiedererlangung der litauischen Unab­hängigkeit renovierte Denkmal des Großfürsten Vytautas/Witold zeigt die litauische Interpretation des Ereignisses: Vytautas’ Gestalt überragt auf einem hohen Sockel vier symbolische Figuren: einen Russen, einen Polen, einen Tataren und einen Ordensritter. Die Inschrift verkündet, dass das Denkmal dem „Begründer litauischer Größe“ zu sei­nem 500. Todestag (1430–1930) gewidmet sei.

Je mehr sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen in den späten 1930er Jahren verschlechterten, desto intensiver wurde die Grunwald-Symbolik in Polen für nationale und politische Zwecke bemüht. Die 1939 im polnischen Pavillon auf der Welt­ausstellung in New York ausgestellten Repliken der in der Schlacht bei Grunwald er­oberten Standarten und das Denkmal des triumphierenden Jagiełło mit zwei über dem Kopf gekreuzten Schwertern (nach dem Krieg fand es einen festen Platz im New Yorker Central Park) riefen wütende deutsche Reaktionen hervor. Auch die Litauer griffen auf die Symbolik Grunwalds zurück und platzierten ein Denkmal des Großfürsten Vytau­tas vor ihren Pavillon (Ekdahl 1997).

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden der Mythos und die Symbolik von Grunwald von den kommunistischen Machthabern für Propagandazwecke ausgenutzt, und die Form und der Inhalt der Jubiläumsfeiern am Ort der Schlacht spiegelten den aktuellen Zu­stand der Beziehungen zwischen der Polnischen Volksrepublik und der Bundesrepublik Deutschland wider. In den Richtlinien des ZK-Sekretariats der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei von 1957 für die Organisation des 550. Jahrestages der Schlacht 1960 wurde der „uralte“ polnische Charakter der → Wiedergewonnenen Gebiete („Westli­chen und Nördlichen Gebiete“) hervorgehoben, wie auch die Fähigkeit der Volksrepub­lik Polen und anderer Ostblockstaaten, den „traditionellen“ deutschen → Drang nach Osten aufzuhalten, die „traditionelle“ und „uralte“ Freundschaft mit den benachbarten „Brüdervölkern“ und die Notwendigkeit, die Schlacht als Symbol und Vorbild für die Einheit und den gemeinsamen Kampf gegen den Feind darzustellen.

Die Machthaber nutzten den Grunwald-Mythos auch in der innenpolitischen Auseinandersetzung. Die Kommunisten stilisierten sich als Hüter der Geschichte und der Tradition sowie als Verteidiger der polnischen Staatsraison im Kampf gegen die ewige germanische Bedrohung. Die weiteren Etappen dieses Kampfes waren Cedynia/Zehden (972), Grunwald (1410) und Berlin (1945); die Teilnahme der Smolensker Regimenter an der Schlacht bei Grunwald nahm die 1943 bei Lenino besiegelte polnisch-sowjetische Waffenbruderschaft im Zweiten Weltkrieg voraus. Derartige historische Assoziationen wurden auf unterschiedliche Weise hergestellt: Wehrpflichtige wurden während der Grunwald-Gedenkfeiern vereidigt; eine der höchsten militärischen Auszeichnungen in der Volksrepublik Polen war das Grunwald-Kreuz; auf dem 50-Zloty-Geldschein von 1975 wurde das Grunwald-Kreuz mit dem Porträt von General Karol Świerczewski verbunden (Vgl. Leszkowicz 2019).

Nicht minder sorgfältig wurde eine „Galerie der größten Schurken“ der ordensritterlich-preußisch-westdeutschen Bedrohung aufgestellt: vom Hochmeister von Jungingen, Bis­marck und Hitler bis zu den in der Volksrepublik Polen besonders verhassten westdeut­schen Vertriebenenfunktionären Herbert Hupka und Herbert Czaja. Zu einem Symbol für die vermeintliche Kontinuität des deutschen Expansionismus und Revanchismus wurde in der Propaganda der Volksrepublik Polen Bundeskanzler Konrad Adenauer im weißen Mantel des Deutschen Ordens. Ebendieses Motiv wurde während des Kriegs­rechts (1981–1983) auf Plakaten verwendet, auf denen Adenauer neben dem als Cowboy verkleideten damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan zu sehen war.

Seinen Höhepunkt erreichte der Grunwald-Mythos 1960 im Zusammenhang mit den Gedenkfeiern zum 550. Jahrestag der Schlacht und der Enthüllung des neuen Denk­mals. Die Feierlichkeiten dienten dazu, Unterstützung für die Politik der Partei und der Regierung, die Einheit des Volkes und Entschlossenheit in der Frage der polnischen Westgrenze zu demonstrieren. Ungeheurer Beliebtheit erfreute sich damals Aleksander Fords Verfilmung des Romans Die Kreuzritter von Henryk Sienkiewicz. Der → Film wurde zum erfolgreichsten polnischen Kinofilm aller Zeiten, keine spätere Produktion reichte auch nur annähernd an dessen Zuschauerzahlen heran: rund 32 Millionen KinobesucherInnen (Polen hatte in den 1960er Jahren etwa 30 Millionen Einwohner). Dieser ausgezeichnete und für die damalige Zeit innovative Film vermittelte äußerst suggestiv die politisch erwünschte Geschichtsvision, und beim Erzeugen der „richtigen“ Assoziationen halfen propagandistische Akzente: die prominente Rolle der Smolensker Regimenter; Jungingens Kampfrede, in der er verkündet, ein Sieg sichere dem Chris­tentum Tausende Jahre Herrschaft im Osten; Ordensritter mit zum Römischen Gruß erhobenen Armen. Gleichzeitig brachte das Jahr 1960 neue Impulse für die seit Mit­te des 19. Jhs. betriebene Grundwald-Forschung polnischer HistorikerInnen. Die zum 550. Jahrestag der Schlacht herausgegebene und mehrfach neu aufgelegte monumentale Monografie Der Große Krieg mit dem Deutschritterorden14091411 von Stefan Maria Kuczyński (Kuczyński 1960) war jahrelang das Standardwerk der polnischen Grunwald-Geschichtsschreibung und wurde mit der Zeit zu einem zentralen Bezugspunkt, nicht nur für polnische ForscherInnen.

Die politischen Veränderungen, im Zusammenhang mit der Normalisierung der Bezie­hungen zur Bundesrepublik Deutschland, den Polen gewährten Krediten und dem Ge­nerationswechsel, bewirkten, dass der Grunwald-Mythos in den 1970er Jahren als Pro­pagandainstrument an Bedeutung verlor. Dies hieß jedoch nicht, dass das symbolische Potential der Schlacht vollständig ausgeschöpft worden war. Während des Kriegsrechts (1981–1983) versuchte man es wiederzubeleben – allerdings ohne größeren Erfolg. So entstand in den 1980er Jahren die Patriotische Vereinigung Grunwald“ [Zjednoczenie Patriotyczne „Grunwald“], in der national-kommunistische Parteifunktionäre mit anti­semitischen Ansichten eine politische Heimat fanden. Die „Grunwald“-Mitglieder ver­suchten, die Schlacht als einen Kampf des Slawentums mit dem germanischen Besatzer darzustellen, der seine Fortsetzung in der Einnahme Berlins 1945 fand. „Es gab zwei Grunwalds“, behauptete der Filmregisseur und Mitbegründer der Patriotischen Vereini­gung Bohdan Poręba, „einmal 1410 und einmal 1945. […] es ging um eine starke Königsmacht, um die Vereinigung der Slawen […] und das sprach die Einbildungskraft an“ (Zitat nach Gasztold-Seń 2012, S. 70).

Grunwald-Motive wurden auch in den 2000er Jahren politisch genutzt. Aufsehener­regende Beispiele lieferte der Wahlkampf zu den polnischen Präsidentschaftswahlen 2005. In einem als Happening inszenierten Wahlkampfspot des für seine fremden­feindlichen und antisemitischen Ansichten bekannten Präsidentschaftskandidaten Le­szek Bubel fährt ein bärtiger Ordensritter in einem Mercedes vor einer Burgeinfahrt vor und versucht, die polnischen Wächter am Tor zu bestechen, ihm die Burg samt der Prinzessin zu übergeben. Der als polnischer Ritter verkleidete Kandidat Bubel zieht sein Schwert und besiegt nach kurzem Kampf den feindlichen „deutschen Fremden“. Im Weiteren ist vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder und seiner treuen Gehil­fin Erika Steinbach als unermüdliche Förderer und Organisatoren des uralten deutschen „Drangs nach Osten“ die Rede (https://www.youtube.com/watch?v=boN467WGS9A, 15.10.2020). Auf das kulturelle Gedächtnis der Polen berief sich auch ein Kandidat ganz anderen Kalibers: seinen siegreichen Wahlkampf 2005 startete Lech Kaczyński vor Matejkos Schlacht bei Grunwald.

Auch heute noch begegnet man gelegentlich autoironischen Anspielungen auf die Schlacht bei Grunwald, so zum Beispiel in einem Mem, das das Chaos und die Streit­sucht der politischen Szene auf die Schippe nimmt. Ein Ordensritter blickt nachdenk­lich auf das Schlachtengetümmel in der Ferne, aus dem eine polnische Flagge ragt, und sagt zu seinem Gefährten: „Ich glaube, sie haben ohne uns angefangen …“.

Das Interesse an der Schlacht von Grunwald lebte erneut 2010 zu den 600-Jahrfeiern auf (Dieser Jahrestag wurde begleitet von einer Vielzahl historisch-kultureller Veranstaltungen und Publikationen). Hochrangige polnische PolitikerInnen und Gäste hielten auf dem Schlachtfeld von Grunwald Reden, durch die sich – ähnlich wie ein Jahr zuvor bei den Gedenkfeiern in Detmold – das Thema „Europa“ wie ein roter Faden zog. Präsident Bronisław Komo­rowski bezeichnete die Schlacht von 1410 als einen Wendepunkt in der Geschichte des Kontinents auf seinem Weg, die Vielfalt der Völker Europas und deren Recht auf Selbst­bestimmung anzuerkennen. Jerzy Buzek, der damalige Präsident des Europäischen Par­laments, erinnerte daran, dass der 600. Jahrestag der Schlacht von Grunwald mit dem 30. Jahrestag der Gründung der Gewerkschaft „Solidarność“ zusammenfiel, und zog folgende Parallele zwischen beiden Ereignissen: „[…] Menschen aus diesem Teil Europas haben sich [bei Grunwald – Anm. d. Ü.] für eine Zivilisation der Solidarität, für Freiheit und Menschenwürde, Vernunft und Toleranz stark gemacht. […] Völker und Nationen dieses Teils Europas haben im ‚Herbst der Völker‘ die Landkarte Europas und unsere gemeinsame europäische Geschichte ähnlich beeinflusst wie die Schlacht bei Grunwald vor 600 Jahren. Geschichte hat ihre Kontinuität“ (Zitiert nach Leszkowicz 2010).

Der Hochmeister des Deutschen Ordens, Bischof Bruno Platter, äußerte sich zufrieden darüber, dass die bewaffnete Auseinandersetzung dem Dialog und der friedlichen Ko­existenz Platz mache und dass die Feierlichkeiten, an denen er das Vergnügen habe, teil­nehmen zu dürfen, im Gegensatz zu der 500-Jahrfeier 1910 von gegenseitigem Respekt, Freundschaft und der Hoffnung auf eine gemeinsame europäische Zukunft geprägt sei­en. In der Rede des Hochmeisters kam auch das Motiv der Sühne vor. Er betonte, dass die preußische Hohenzollern-Dynastie sich das Erbe des Ordens angeeignet und es im Kampf mit dem Polentum missbraucht habe, wogegen der Orden nicht die Kraft gehabt habe, sich zur Wehr zu setzen. Während der Grunwald-Feierlichkeiten sprach auch die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaitė, die die Bedeutung der Zusammenarbeit her­vorhob und daran erinnerte, dass im Wort Grunwald „die Freiheits- und Unabhängig­keitshoffnungen der Litauer kodiert sind“ (Vgl.https://wiadomosci.wp.pl/komorowski-pod-grunwaldem-pamietny-smak-zwyciestwa-6031703225823873a, 15.10.2020). Dass die Schlacht bei Grunwald in Litauen immer noch einen wichtigen Platz in der dortigen Geschichtspolitik einnimmt, davon zeugt der 2013 produzierte Dokumentarfilm 1410. Das bekannte unbekannte Grunwald [1410. Žinomas nežinomas Žalgiris]. Alexander Matonis, der Regisseur des Filmes, hat­te sich zum Ziel gesetzt, Mythen zu revidieren, die – aus litauischer Sicht – die Rolle des Großfürsten Vytautas und der litauischen Truppen in der Schlacht bei Žalgiris (der litauische Name für Grunwald) verfälschten, sowie die neuesten wissenschaftlichen Er­kenntnisse zu diesem Thema darzustellen (Vgl. https://www.facebook.com/profile.php?id=100064303020283, 15.10.2020).

Die Grunwald-Jahrestage werden weiterhin ausgenutzt in der polnischen Geschichts-und Außenpolitik, die sich auf die Beziehungen zu den unmittelbaren Nachbarn kon­zentriert. An der staatlichen Zeremonie auf dem Schlachtfeld von Grunwald am 15. Juli 2020 (eine Rekonstruktion der Schlacht fand aus epidemiologischen Gründen nicht statt) nahmen die höchsten Staatsvertreter Polens und Litauens teil: die Präsidenten An­drzej Duda und Gitanas Nausėda sowie die Premierminister Mateusz Morawiecki und Saulius Skvernelis. Der derzeitige Hochmeister des Ordens der Brüder vom Deutschen Hospital Sankt Mariens in Jerusalem (des Deutschen Ordens) Pater Frank Bayard war ebenfalls anwesend. In ihren Reden betonten die polnischen und litauischen Politiker die guten Beziehungen zwischen ihren Ländern, die Bedeutung der Schlacht als ein Ereignis, das die Grundlage für die polnisch-litauische Union bildete, und die Veran­kerung beider Staaten in der Europäischen Union und der NATO. Zu guter Letzt ent­hüllten sie einen Gedenkstein zur Erinnerung an die Teilnahme der litauischen Truppen an der Schlacht, ein Geschenk des litauischen Volkes an das polnische Volk. Die zwei­sprachige – auf Litauisch und Polnisch verfasste – Inschrift unter dem Pahonja-Wappen lautet: „Vom litauischen Volk für den gemeinsamen Sieg“ (Vgl. https://dzieje.pl/wiadomosci/prezydenci-polski-i-litwy-mamy-wspolna-historie-wspolnie-bu-dujemy-przyszlosc, 15.10.2020).

Die in der Vergangenheit intensiv genutzte begriffliche Gleichsetzung „Ordensritter = Deutscher“ (und umgekehrt) funktioniert im Jahr 2020 nicht mehr, sie tritt im öffentlichen Raum nicht in Erscheinung und ist höchstens noch Element der politischen Folklore. In rechten und nationalistischen Kreisen wurde die Figur des „bösen Deut­schen“, mit der in der polnischen Gesellschaft Ängste und fremdenfeindliche Stimmun­gen geschürt wurden, nach 2015 durch die Figur des „islamischen Migranten“ und die „LGBT-Ideologie“ ersetzt. Ergänzt werden diese durch kleinere Feindbilder, bestimmte Berufsgruppen, denen man – wenn es das politische Interesse der Regierenden erfor­dert – auch gemeinsame Machenschaften mit Deutschland und dem deutschen Kapital unterstellen kann.

Grunwald als politischer Mythos spielt heute keine Rolle mehr, und die Schlacht selbst verblasst immer mehr im polnischen kollektiven Gedächtnis. Die Erinnerung wird kurzzeitig durch die historische Nachstellung der Schlacht wiederbelebt, die seit 1992 alljährlich auf dem Schlachtfeld bei Grunwald stattfindet. Seit 1998 wird sie von einem Mittelalterfest begleitet, das BesucherInnen aus ganz Europa und den USA anzieht. Bei der bisher größten Nachstellung der Schlacht im Jahr 2010 nahmen 2.000 „Bewaffne­te“ teil, und 6.000 DarstellerInnen in den Ritterlagern sorgten für die entsprechende Atmosphäre. Die Reenactment-Bewegung fügt sich hervorragend ein in das geschichts­politische Konzept der jetzt in Polen Regierenden. In dem derzeit entstehenden ganz­jährigen Museum der Schlacht bei Grunwald ist daher auch Platz für die historischen Rekonstrukteure vorgesehen, die mit ihren Aktivitäten das Schlachtfeld von Grunwald zu einem touristisch noch attraktiveren Ort machen und zugleich ihren Beitrag zum patriotischen Bildungsprogramm leisten. Die Erinnerung an Grunwald in Richtung Massenkultur zu verschieben, wird von einem breiten Publikum akzeptiert, das jedes Jahr nach Grunwald pilgert, um die Nachstellung der Schlacht mitzuerleben. 2010 wa­ren es etwa 150.000 Menschen – im Schnitt sind es rund 100.000 (https://grunwald1410.pl/, 9.2.2013).

Zusammenfassung

Das Hermannsdenkmal bei Detmold und das Denkmal auf dem Schlachtfeld von Grunwald sind heute Touristenattraktionen, die an den Jahrestagen in größerer Anzahl als sonst TouristInnen anlocken, die neugierig sind auf das speziell vorbereitete Pro­gramm (historische Nachstellungen, Sonderausstellungen, Gadgets und diverse Events). Diese Akzentverschiebung hin zur Popkultur liegt darin begründet, dass sich die my­then- und nationenbildende Energie der Ereignisse, an die die beiden Denkmäler erin­nern, erschöpft hat. Die Schlachten fungieren nicht mehr als nationale Gründungs- und politische Mythen. Daran ändern auch die offiziellen Gedenkfeiern unter Teilnahme höchster staatlicher WürdenträgerInnen nichts, die aus Anlass mehr oder minder runder Jahrestage, wie im Falle der erwähnten Feiern in Kalkriese (2009) und bei Grunwald (2010), organisiert werden. In den europäischen Gedanken eingebettet sind auch die zeitgenössischen Reflexionen der HistorikerInnen, PublizistInnen und PolitikerInnen über die langfristigen Folgen beider Schlachten für Deutschland, Polen und Europa.

Eine der strittigsten Fragen in den Diskussionen polnischer und (west)deutscher Histo­rikerInnen über die Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen war die Rolle des Deutschen Ordens. Die bis heute existierende Gemeinsame Deutsch-Polnische Schul­buchkommission (→ Zusammenarbeit polnischer und westdeutscher Historiker) fasste die unterschiedlichen Sichtweisen, die noch in den 1970er und 1980er Jahren in der deut­schen und polnischen Geschichtsschreibung existierten, kurz und bündig zusammen und versah sie mit Empfehlungen, wie diese überwunden werden könnten. Dabei stellte die Kommission fest: „[In] polnischen Schulbüchern wird vor allem die weltlich-staat­liche und militärisch-expansive Rolle des Ordens hervorgehoben, in den westdeutschen hingegen seine zivilisatorische Rolle und missionarische Aufgabe“ (Czubiński/Kulak 1986, S. 21). Der mit der Zeit erreichte Kompromiss, die zivilisatorische Funktion des Ordens in Mitteleuropa aufzu­werten und gleichzeitig anzuerkennen, dass der Orden eine expansive Eroberungspolitik verfolgte, scheint langsam auch das Bild des Deutschen Ordens im polnischen kulturel­len Gedächtnis zu verändern.

Die Grunwald-Symbolik ist nur noch in sehr geringem Maße in der polnischen Massen­kultur präsent, man trifft sie hin und wieder noch in Kabarettsketchen, in der Werbung und in der Boulevardpresse an. Besonders gerne greift man bei Sportveranstaltungen auf sie zurück, wenn deutsche und polnische Sportler gegeneinander antreten. Gelegent­lich erschallt in polnischen Fußballstadien von den Tribünen der Ruf, den Deutschen ein „zweites Grunwald“ zu bereiten (Dies ist im Übrigen nicht das einzige Element des polnischen Geschichtsgedächtnisses, das Eingang in die Fan-Subkultur gefunden hat. Ein viel häufigeres Motiv ist die „Verteidigung Tschenstochaus“, die immer dann beschworen wird, wenn die polnische Nationalmannschaft sich in den letzten Spielminuten im eigenen Strafraum verbarrikadiert und den Spielstand über die Zeit zu retten versucht – und damit die Fans in den Wahnsinn treibt), und in den Boulevardzeitungen werden deutsche Fußballspieler in Ordensmäntel gehüllt – so geschehen mit Michael Ballack während der Europameisterschaft 2008. Bei diesen Gelegenheiten erhebt sich der Geist Grun­walds über das Spielfeld, ähnlich wie der Geist der Hussaria in die polnischen Volley­ballfans fährt, die mit angeklebten Husaren-Flügeln zur Anfeuerung ihrer Mannschaft ein Lied hinschmettern, das aus der Verfilmung von Henryk Sienkiewicz’ Roman Mit Feuer und Schwert [Ogniem i mieczem] stammt.

Aus dem Polnischen von Andreas Volk

Literatur:

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Ekdahl, Sven: Die Grundwald-Denkmäler in Polen. Politischer Kontext und nationale Funktion, in: Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte (1997), Nr. 6/1.

Flacke, Monika: Deutschland. Die Begründung der Nation aus der Krise, in: Mythen der Nationen: ein europäisches Panorama. Begleitband zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums vom 20. März 1998 bis 9. Juni 1998, hg. von Monika Flacke, Berlin 1998.

François, Etienne; Schulze, Hagen: Das emotionale Fundament der Nationen, in: Mythen der Nationen: ein europäisches Panorama. Begleitband zur Ausstellung des Deutschen Histori­schen Museums vom 20. März 1998 bis 9. Juni 1998, hg. von Monika Flacke, Berlin 1998.

Gasztold-Seń, Przemysław: Koncesjonowany nacjonalizm. Zjednoczenie Patriotyczne Grunwald 1980–1990, Warszawa 2012.

Kuczyński, Stefan Maria: Wielka Wojna z Zakonem Krzyżackim w latach 1409–1411, Warszawa 1960.

Leszkowicz, Tomasz: „W społeczeństwo polskim do dziś żywe są tradycje Grunwaldu.“ O bi­twie w PRL, 2019, histmag.org/w-spoleczenstwie-zywe-sa-tradycje-Grunwaldu.-O-bitwie-w- PRL-4444, [ abgerufen am 13.4.2021].

Leszkowicz, Tomasz: „Zwycięstwo ma smak niezwykły“. Co smacznego jest w Grunwaldzie?, 2010, „Zwycięstwo ma smak niezwykły”. Co smacznego jest w Grunwaldzie? [felieton] | Portal historyczny Histmag.org - historia dla każdego![abegrufen am 15.10.2020].

Merkel, Angela: Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zur Eröffnung der Ausstellung „Imperium, Konflikt, Mythos. 2000 Jahre Varusschlacht am 15. Mai 2009 in Kalkriese, in: Bulletin der Bundesregierung, Nr. 58–3 (15.5.2009), 58-3-bkin-data.pdf (bundesregierung.de)[abgerufen am 14.4.2021].

Migdalski, Paweł; Mellies, Dirk: Schlacht im Teutoburger Wald und Schlacht bei Cedynia. Schlachten als nationale Gründungsmythen, in: Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, hg. von Robert Traba und Hans-Henning Hahn, Bd. 3, Paderborn 2012.

Mikołajczak, Witold: Grunwald 1410. Bitwa, która przeszła do legendy, Zakrzewo 2010.

Molik, Witold: Polen. „Noch ist Polen nicht verloren“, in: Mythen der Nationen: ein europäisches Panorama. Begleitband zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums vom 20. März 1998 bis 9. Juni 1998, hg. von Monika Flacke, Berlin 1998.

Paderewski, Ignacy Jan: Pamiętniki, spisała Mary Lawton, übers. aus dem Englischen von Wanda Lisowska und Teresa Mogilnicka. Kraków 1986.

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Kałążny, Jerzy, Prof. Dr. habil, verfasste verfasste die Beiträge „Spektakuläre historische Ereignisse im deutschen und polnischen kollektiven Gedächtnis“ und „Deutsche und polnische Romantik im Vergleich“. Er ist Professor an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań und arbeitet in den Bereichen Deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft, Erinnerungskulturen und Erzählforschung.

 

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