Maren Röger
Flucht und Vertreibung in deutschen und polnischen Medien
Einleitung
Zu Zeiten des Kalten Krieges war der öffentliche Umgang mit dem historischen Ereignis Flucht und Vertreibung der Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen höchst unterschiedlich: Während sich in der BRD eine reichhaltige und heterogene Gedenkkultur entwickelte, die von der Politik, den Vertriebenenorganisationen und den Medien ausgestaltet wurde und verschiedene Phasen der Intensität erlebte, wurde in der DDR und in der VR Polen dem Thema der Zwangsaussiedlung selektiv und in ideologisierter Form öffentlich gedacht. Die Deutungen des Ereignisses und die Ansichten über den passenden Umgang damit wichen auf den beiden Seiten des Eisernen Vorhangs deutlich voneinander ab, so dass in der Konsequenz die bi- und multilateralen Debatten über den Vertreibungskomplex höchst kontrovers geführt wurden. Bestandteil der Auseinandersetzungen waren auch begriffliche Fragen, da die im Deutschen gängigen und problematischen Sammelbegriffe „Flucht und Vertreibung“ bzw. „Vertreibung“ in Polen euphemistischen, den Zwangscharakter der Ausreise verschleiernden Termini gegenüberstanden. Erst mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Regime in der VR Polen und der DDR eröffnete sich nach 1989/1990 die Möglichkeit, das historische Ereignis jenseits ideologischer Sprachregelungen aufzugreifen, was den Weg zum deutsch-polnischen Austausch über die unterschiedlichen Geschichtsbilder der Zwangsmigration ebnete. Tatsächlich ist das Thema Flucht und Vertreibung seit dem Umbruch in der deutschen und der polnischen Öffentlichkeit sehr präsent. In Polen nahmen sich Politiker-, Schriftsteller- (z.B. Stefan Chwin, Paweł Huelle, Olga Tokarczuk) und HistorikerInnen in den 1990er Jahren verstärkt des Themas an. Gesellschaftliche Auseinandersetzungen begannen bereits in den 1980er Jahren, vor allem auf der Ebene lokaler und regionaler Initiativen.
Auch im wiedervereinigten Deutschland kam die Vertreibungsthematik ab Ende der 1990er Jahre wieder verstärkt auf die politische Agenda. Zwar war das historische Ereignis der Flucht und Vertreibung in der gesamten Nachkriegszeit wichtiger Bestandteil bundesrepublikanischer Selbstverständigungsdebatten über den Zweiten Weltkrieg, die einen Höhepunkt in der intensiven Debatte um die Ostverträge der sozialliberalen Koalition Anfang der 1970er Jahre erlebten. Doch in der Folge war das Thema aus dem Fokus des öffentlichen Interesses gerückt. In der DDR war die öffentliche Thematisierung ungleich eingeschränkter: Nur unter bestimmten Vorzeichen konnte der Umsiedlung – so der offizielle Terminus – gedacht werden. Ende der 1990er Jahre gab es in der Bundesrepublik dann auf partei- und verbandspolitischer Ebene zahlreiche Initiativen, die sich an die Klientel der (organisierten) Vertriebenen richteten. Ab den 2000er Jahren entdeckten dann die bundesrepublikanischen Medien das Thema für sich (wieder). Das Schicksal der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen erreichte im Anschluss an die Novelle Im Krebsgang des deutschen Autoren Günter Grass, die den Untergang des Schiffes Wilhelm Gustloff thematisierte, nahezu Omnipräsenz in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit. Damit fügte sich die Debatte in jüngere deutsche erinnerungskulturelle Diskurse um die Deutschen als Opfer des Krieges ein, die sich bis dahin vor allem an der Erinnerung an den alliierten Bombenkrieg festmachten. Bezüglich der adäquaten Erinnerung an die Zwangsmigration der Deutschen kam es sowohl in Deutschland als auch in Polen zu unterschiedlichen Zeitpunkten nach den politischen Umbrüchen zu innergesellschaftlichen Kontroversen, die sich im Zuge des deutschen Vertreibungsopferbooms auch zu bilateralen Differenzen ausweiteten. Kristallisationspunkt der zunehmend erhitzten deutsch-polnischen Debatten wurde das Gedenkprojekt Zentrum gegen Vertreibungen des Bundes der Vertriebenen, dessen Parallelität mit Eigentumsrückforderungen deutscher Vertriebener in Polen für besondere Brisanz sorgte. Bei einer Umfrage unter der polnischen Bevölkerung vom Mai 2008 rangierten diese zwei Aspekte des Vertreibungskomplexes – Eigentumsrückforderungen und Vertreibungsdiskurs – dann auch unter den drei wichtigsten deutsch-polnischen Konfliktfeldern (CBOS, Centrum Badania Opinii Społecznej, 2008).
Die Rolle der Massenmedien ist ein zentraler Aspekt der jeweiligen nationalen → Erinnerungskulturen und der bilateralen Geschichtsdebatten. Zahlreiche Beispiele verweisen aber auf den großen Einfluss der Medien auf die Erinnerung an und in den erinnerungspolitischen Kontroversen um die Vertreibung der Deutschen nach 1989. So konnten beispielsweise jüngere TV-Dokumentationen und Spielfilme über die Zwangsmigration der Deutschen enorme Einschaltquoten verzeichnen: Über dreizehn Millionen BundesbürgerInnen sahen den 2007 von den Fernsehsendern arte und ARD gesendeten Spielfilm Die Flucht; jeweils um die fünf Millionen ZuschauerInnen verfolgten eine mehrteilige TV-Dokumentation aus der ZDF-Zeitgeschichtsredaktion im Jahr 2001. Dass massenmediale Erzählungen große Relevanz für das öffentliche Geschichtsbild haben, wird im Falle des jüngeren bundesrepublikanischen Vertreibungsdiskurses durch eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach bestätigt: So kristallisierte sich in einer Befragung im Vorfeld der Ausstellung Flucht, Vertreibung, Integration im Bonner Haus der Geschichte nicht nur heraus, dass einige TV-Dokumentationen für viele Befragte die bekanntesten kulturellen Bearbeitungen des Vertreibungsthemas waren. Auch gaben sie den ersten Impuls zur Beschäftigung mit Flucht und Vertreibung. Als ebenso wichtigen Erinnerungsauslöser führten zahlreiche Interviewte den Roman Im Krebsgang von Günter Grass und die vierteilige Serie zum Vertreibungskomplex des Nachrichtenmagazins Spiegel an. Diese Ergebnisse entsprechen denen anderer Studien, die die Bedeutung von Medien für Geschichtsbilder betonen: Tagespresse und TV-Dokumentationen sind die wesentlichen historischen Informationsquellen – von Spielfilmen mit historischen Stoffen ganz zu schweigen, die in letzter Zeit regelmäßig Zuschauerrekorde brechen. Daher werden Massenmedien sogar von Schulbuchforschern als historische Leitmedien der Gegenwart dargestellt, deren Bedeutung für die Gedenkkultur die von Schulbüchern oder auch die des Fachdiskurses bei weitem übertrifft.
Auch in den innerstaatlichen, bi- und multinationalen Vertreibungskontroversen spielten Massenmedien eine wichtige Rolle. Denn gerade für geschichtspolitische Debatten gilt, dass sie stets in einem engen Geflecht von „Politik, Publizistik, Wissenschaft und öffentlicher Meinung“ stattfinden (Wolfrum 1999, S. 58), wie es der Historiker Edgar Wolfrum formulierte. Massenmedien sind für (Geschichts-)PolitikerInnen nicht nur zentrale Bühne, da in heutigen Gesellschaften Öffentlichkeit ohne sie nicht mehr zu denken ist, sondern auch Orientierungsinstanz und Informationsquelle.
Verflochtene Debatten bis 1989
Der öffentliche Umgang mit der Zwangsaussiedlung der Deutschen in BRD, DDR und VRP entwickelte sich nach 1945 in Verflechtung miteinander. Nicht nur ostdeutsche Akteure konnten erfolgreich die westdeutsche Thematisierung beeinflussen, auch polnische und westdeutsche Erinnerungskultur interagierten. Der Historiker Hans-Jürgen Bömelburg vertritt deshalb die These, dass die polnische Erinnerungskultur hinsichtlich der Vertreibung der Deutschen vor und nach 1989 ohne Blick auf die Verschränkung mit der westdeutschen nicht verstanden werden könne. Dabei sieht er eine deutliche Asymmetrie: „Der polnische Vertreibungsdiskurs ist wiederholt seit Ende der 1940er Jahre von den Diskussionen über die Vertreibung beim größeren westlichen Nachbarn abhängig“ (Bömelburg 2005, S. 35). Und in der Tat sind einige polnische Entwicklungen in Reaktion auf westdeutsche entstanden, wie Włodzimierz Borodziej hinsichtlich der Begrifflichkeiten für die Zwangsaussiedlung der Deutschen konstatiert: Die polnische Begriffsgeschichte habe sich, so Borodziej, „als Reflex und Reaktion auf die deutsche entwickelt“ (Borodziej 2006, S. 88). Mit dem Terministreit war auch eng die Frage nach der Verantwortung verknüpft: Dominierte in Polen das „Potsdamer Modell“, wonach alle Verantwortung den Alliierten zugeschoben wurde, so vertraten die rechten Kreise in der BRD gar die These, die Vertreibung der Deutschen sei ein Genozidversuch durch die Polen gewesen.
Antagonistisch entwickelten sich bis 1989 auch die Opferzahlenangaben: Das sozialistische Polen berechnete auf der einen Seite die Opferzahlen von Flucht und Vertreibung der Deutschen absichtlich niedrig, auf der anderen Seite wurden in der Bundesrepublik aus politischen Gründen ungenaue und damit zu hohe Zahlen angegeben. Bis 1989 hatten sich in den einzelnen Ländern also Muster hinsichtlich des Umgangs mit der Thematik etabliert, die Konfliktpotenzial für die Zeit nach der Aufhebung der politischen Zwänge boten. Wie sich die medienöffentlichen Erzählungen der Zwangsmigration der Deutschen in den genannten zentralen Punkten änderten, wird im Folgenden darzustellen sein.
Begriffe
Während in Polen zu sozialistischer Zeit euphemistische Begriffe wie „Transfer“ (transfer), „Umsiedlung“ (przesiedlenie), „Ausreise“ (wyjazd), „Abfluss“ (odpływ) oder auch „Emigration“ (emigracja) dominierten, die den Zwangscharakter und die (Mit-)Verantwortung der Polen größtenteils bzw. ganz verschleierten, bevorzugte man in der Bundesrepublik die Termini „Flucht und Vertreibung“ bzw. nur „Vertreibung“, wobei mit dem Begriff „Vertreibung“ der dramatischste aller möglichen Termini zur Kennzeichnung der Zwangsmigration der Deutschen favorisiert wurde. Der im Deutschen vielgebrauchte Begriff „Vertreibung“ wurde wiederum „in Volkspolen […] als ein antipolnisches Konstrukt des Kalten Krieges verstanden und ausschließlich polemisch gebraucht“ (Borodziej 2006, S. 90). Man hatte es bis 1989/1990 nicht nur mit getrennten, sondern auch kontrastiven Begriffsverwendungen zu tun. Polnische und deutsche HistorikerInnen erzielten, nicht zuletzt durch die Kooperation in bilateralen Forschungsprojekten, nach dem Umbruch von 1989/1990 rasch eine Annäherung hinsichtlich der Begriffsverwendung, was aber nicht ungebrochen in die breite Öffentlichkeit diffundierte.
In der deutschen Medienöffentlichkeit wurde auch nach 1990, nachdem die DDR mit ihren eigenen – ideologisch verordneten – Begriffstraditionen hinzugekommen war, an den althergebrachten bundesrepublikanischen Termini festgehalten. Es muss als wichtiges Ergebnis herausgestellt werden, dass sich der Sammelbegriff „Flucht und Vertreibung“ in der medialen Verwendung genauso durch- und festgesetzt hat, wie der Historiker Wolfgang Jacobmeyer es im Jahr 2004 für deutsche Schulbücher konstatierte (Jacobmeyer 2004, S. 93). Sowohl in den Pressemedien als auch in den TV-Beiträgen war dies nach der gängigste Terminus. Bei TV-Beiträgen zum Themenkomplex zeigte sich, dass beide Einzelbegriffe des gängigen Doppelbegriffs „Flucht und Vertreibung“ inzwischen synonym verwendet wurden. Weitere Beispiele deuten auf eine gewisse terminologische Entschärfung hin: Wurde in der früheren bundesrepublikanischen Sprachverwendung – falls die kürzeste Version zur Bezeichnung des Ereignisses gewünscht war – überwiegend auf den Begriff „Vertreibung“ zurückgegriffen und damit aus allen Phasen der Zwangsmigration der Deutschen die brutalste Phase ausgewählt, um den Gesamtvorgang zu bezeichnen, so wurde in den 2000er Jahren auch der Begriff „Flucht“ für den Gesamtvorgang synonym verwendet.
Trotz beginnender Differenzierungen blieb der Doppelterminus „Flucht und Vertreibung“ der dominante Begriff für die Zwangsaussiedlung der Deutschen im medienöffentlichen Sprachgebrauch. Insgesamt reflektierten die Medien wenig über die verwendeten Begrifflichkeiten. So resümierte das deutsche Geschichtsfernsehen in seinen Beiträgen zum Vertreibungskomplex die Begriffsdebatte nicht, was ein Ergebnis des Historikers Frank Bösch bestätigt, der konstatierte, dass in Geschichtsdokumentationen Fachtermini selten geklärt werden. Die Persistenz in der Begriffsverwendung von „Flucht und Vertreibung“ bedeutet auch, dass sich weder der Terminus der „Zwangsmigration“ noch die Klassifizierung der Zwangsmigration der Deutschen als „ethnische Säuberung“, wie sie von der Fachwissenschaft in den letzten Jahren teils vorgenommen wurde, in der Medienöffentlichkeit begrifflich durchsetzen konnte.
In der polnischen Medienöffentlichkeit ließ sich nach dem politischen und pressesystemischen Umbruch eine deutliche Pluralisierung in der Begriffsverwendung beobachten. Euphemistische Begriffe fanden sich nur in der ersten Phase der Transformation noch in einigen polnischen Printmedien. Anfang der 1990er Jahre wurde auch der Terminus „Vertreibung“ bzw. „Vertriebene“ häufig noch in Anführungszeichen geschrieben, um die Distanz zur deutschen Begriffsverwendung und zum Opferanspruch der deutschen Vertriebenen zu verdeutlichen. Im Zuge der ersten polnischen Vertreibungsdebatte in den 1990er Jahren, in der die Frage der adäquaten Begrifflichkeiten für die Zwangsumsiedlung der Deutschen zentral erörtert wurde, verloren zahlreiche Medienmacher die Distanz zu dem Vertreibungsbegriff, der zu Zeiten des Kalten Krieges als „moralischer Kampfbegriff“ diente bzw. verstanden wurde. Nun tauchte der Begriff ernst gemeint in Sendungstiteln des polnischen Fernsehens auf und in den Berichten der Qualitätszeitungen Gazeta Wyborcza und Rzeczpospolita, die die erste polnische Vertreibungsdebatte – zusammen mit Polityka – trugen. Spätestens ab der zweiten polnischen Vertreibungsdebatte ab 2003 ließ sich dann eine gegenläufige Entwicklung beobachten. Im polnischen TV beispielsweise erschien der Begriff „Vertreibung“ nach 2003 nur noch einmal im Titel einer Sendung – und zwar über die Zwangsumsiedlungen der Polen durch die Deutschen während der Okkupation. Auch nahmen distanzierte Verwendungen des Begriffs wieder zu und die Anführungszeichen kamen wieder häufiger zum Einsatz. Die vor 1989 sehr verbreiteten Bezeichnungen Umsiedlung und Aussiedlung wurden wieder verstärkt verwendet. Trotz des skizzierten Diskurswandels kehrten Termini, die gänzlich den Zwangscharakter verschleiern wie Ausreise, Emigration oder Abfluss, nicht vollständig in die Mediendebatte zurück. Während die beiden Boulevardzeitungen Fakt und Super Express sich durchgängig sprachlicher und argumentativer Exkulpationsstrategien bedienten, sobald sie über den Vertreibungskomplex berichteten, bewahrten die Qualitätszeitungen auch nach der polnischen Reaktion auf den deutschen Vertreibungsopferboom eine begriffliche Pluralität.
„Es begann in Ostpreußen“ – Die historischen Narrative der Zwangsmigration"
In Polen und Deutschland wird die Zwangsmigration der Deutschen nicht nur unterschiedlich bezeichnet, sondern das Ereignis auch verschieden erzählt. Der Historiker Jacobmeyer kam im Jahr 2004 mit Blick auf die Darstellung der Zwangsmigration der Deutschen in deutschen und polnischen Geschichtsbüchern deshalb sogar zum Befund: „Das hat insgesamt zur Folge, dass die Darstellungen beider Seiten nicht diffundieren, sich nicht über dem einen Ereignis annähern, sondern dass sie auseinander treten, weil es kein gemeinsames Zentralereignis gibt“ (Jacobmeyer 2004, S. 93).
Bei der Untersuchung der ereignisgeschichtlichen Rahmungen ist zuerst festzuhalten, dass sich die unterschiedlichen Massenmedien an Wieder- und Neurahmungen in unterschiedlichem Ausmaß beteiligten. Bei den Printmedien lief die Rahmung hauptsächlich über die verwendeten Begrifflichkeiten, da sie – überwiegend der tagespolitischen Aktualität verpflichtet – selten Grundsatzartikel über ein historisches Ereignis publizierten. Dies gilt für die Bundesrepublik stärker als für Polen, wo das historische Ereignis nach 1989 grundlegend aufgearbeitet werden musste und dementsprechend gerade in den 1990er Jahren Presseartikel mit Basisinformationen über die Zwangsmigration der Deutschen publiziert wurden. In den überregionalen deutschen Pressemedien schlug sich hingegen nicht nieder, dass DDR-BürgerInnen als LeserInnen hinzukamen, die sich „Geschichtsunterricht“ über die Vertreibungen jenseits von alten Sprachregelungen hätten wünschen können. Erst mit dem Aufkommen der Tabuthese sahen einige deutsche Pressemedien den Bedarf nach grundsätzlicher Aufklärung über das historische Ereignis gegeben und publizierten Artikelserien, so zum Beispiel der Spiegel und die Bild-Zeitung.
Sowohl im Spiegel als auch in Bild wurde die Vertreibung so erzählt, dass sie mit dem Vormarsch der Roten Armee begann. Das war die dominante erste Rahmung in den deutschen Printmedien. Viel deutlicher als in der deutschen Presse, wo diese erste Rahmung hauptsächlich über den weiter verwendeten Terminus „Flucht und Vertreibung“ aufgerufen wurde, zeigte sich die Persistenz der Erzählung in TV-Dokumentationen und Spielfilmen. Sowohl die 5-teilige Dokumentation Die große Flucht des ZDF als auch die ARD-Produktion Die Vertriebenen – Hitlers letzte Opfer setzten mit dem Vormarsch der Roten Armee ein, nicht nur in der Eröffnung des ersten Teils, sondern auch im Trailer, der jeder Folge vorgeschaltet wurde. So kam in der Anmoderation der ARD-Serie der deutsche Vernichtungskrieg im Osten nicht vor. Und auch in der ersten Folge der ZDF-Serie Die große Flucht lautete einer der ersten Sätzen wortwörtlich: „Es begann in Ostpreußen“ (Anja Greulich, Christian Dieck, Der große Treck – Kampf um Ostpreußen (Guido Knopp – Die große Flucht, 1), in: ZDF erstausgestrahlt am 20.11.2001, 20.15‒21.00 Uhr.). Auch kleinere deutsche Dokumentationen ließen die Geschichte der Zwangsmigration mit diesem Ereignis beginnen. Die Spurensuch-Dokumentationen wiederum begannen mit der Flucht und Vertreibung der Deutschen. So hieß es in der Dokumentation von Klaus Bednarz aus dem Jahr 1994: „Jede Geschichte Ostpreußens, die heute erzählt wird, beginnt mit Flucht und Vertreibung der Deutschen im Winter 1944/45“ (Klaus Bednarz, Reise durch Ostpreußen, Teil 1: Ermland und Masuren, in: ARD erstausgestrahlt am 28.12.1994, 21.40‒22.25 Uhr.). Und diese begann im deutschen „Master-Narrativ“ mit dem Vormarsch der Sowjetarmee. Während die Erstrahmung hauptsächlich über den Vormarsch der Roten Armee funktionierte, wurden in einem zweiten Zugriff die Zwangsaussiedlung der Deutschen und der deutsche Vernichtungskrieg im Osten inklusive der Verbrechen an den Zivilbevölkerungen zusammengeführt. Bei der Mehrheit der (audiovisuellen) Medienveröffentlichungen fand sich zu einem relativ frühen Zeitpunkt der Verweis auf die deutsche Schuld am Krieg und den begangenen Verbrechen. Die Kausalitäten wurden aber zumeist in relativer Kürze hergestellt. So hieß es in der ZDF-Serie eingangs lapidar: „Der Hass, der sich in Ostpreußen entlädt, ist von Hitler gesät worden. […] Ursache und Wirkung“ (Greulich, Dieck 2001).
Dabei scheint die Kürze der Verweise weniger auf einen omnipräsenten Geschichtsrevisionismus zurückzuführen zu sein, wie in der polnischen Debatte teilweise behauptet wurde, sondern darauf, dass die Medienmacher die Aufarbeitung der NS-Verbrechen für weit fortgeschritten erachteten, da die NS-Verbrechen an anderer Stelle bereits ausführlich behandelt worden waren – teilweise von den eigenen Redaktionen. So fokussierte beispielsweise die ZDF-Geschichtsredaktion während der 1990er Jahre das NS-System mit Hitlers Kriegen und Helfern, Anfang der 2000er Jahre dann den Holocaust, weshalb der ZDF-Haushistoriker Guido Knopp in einem Interview 2008 auch kundtat: „Serien zu den Nazis mache ich nicht mehr“ (Sven Felix Kellerhof: „Serien zu den Nazis mache ich nicht mehr“. Interview mit Guido Knopp, in: Welt vom 29.01.2008, S. 29). Bei den Medienmachern kann eher eine organisatorische Logik vermutet werden, die zur Trennung der weiterhin en masse produzierten Erzählungen über die deutschen Verbrechen von den Erzählungen der Verbrechen an Deutschen führte. Die schnelle Abhandlung des deutschen Angriffskriegs und der deutschen Verbrechen in der medialen Narration der Zwangsmigration der Deutschen ist aber erinnerungskulturell nicht unproblematisch: Durch diese „organisatorische Trennung“ blenden die Erzählungen von der Flucht und der Vertreibung nämlich den deutschen Vernichtungskrieg im Osten und dessen Auftakt im Polenfeldzug 1939 auf eine gewisse Art und Weise aus (Böhler 2006). Denn schließlich setzt die Logik der Trennung voraus, dass „Serien zu den Nazis“ und Serien über die Zwangsmigration der Deutschen das gleiche Zielpublikum haben. Es ist bei dem dominanten „Strickmuster“ der Dokumentationen eine Frage des Vorwissens, ob die Rezipienten die Flucht der Deutschen ab 1944 in die Geschichte des Zweiten Weltkriegs angemessen einzuordnen wissen.
Die zentralen Erklärungsmuster in den deutschen Medien: Hitler und Rache
Ein erster wichtiger Punkt ist die auffällige Hitlerzentrierung in vielen (TV-)Erklärungen für die Zwangsmigration der Deutschen. Diese hatten HistorikerInnen bislang hauptsächlich für andere Knopp-Produkte wie Holokaust bemängelt. Für die Vertreibungsdokumentationen war die sprachliche Trennung des für den Krieg verantwortlichen Führers bzw. der Nazis vom Volk auch jenseits der ZDF-Produktionen zu beobachten, wobei aber nicht alle TV-Beiträge das deutsche Volk komplett von der Mitverantwortung freisprachen. Interessant ist hier der Unterschied zwischen Dokumentationen und Spielfilmen: Während Erstere sehr stark personalisierten, um nicht zu sagen häufig Hitler-fixiert argumentierten, sprachen die gesendeten Spielfilme zum Thema die Verstrickung der deutschen Bevölkerung deutlicher an. So betonte die Protagonistin aus Die Flucht ganz zu Beginn des erfolgreichen Spielfilms, dass es sich um unseren Krieg – und nicht etwa Hitlers Krieg allein – gehandelt habe, und zudem bekannte sich der Film in den ersten 20 Minuten auch entschieden zu den Verbrechen der Wehrmacht. In den historischen Erklärungen unterschieden die Spielfilme also nicht so deutlich zwischen dem (vermeintlich unschuldigen) Volk und dem Führer, wie dies die Geschichtsdokumentationen taten, bei denen man aufgrund des Genres eigentlich einen deutlicheren Bezug zum neuesten Forschungsstand, der diese Trennung zurückweist, vermuten sollte. Allerdings vollzogen die Spielfilme des Samples Die Flucht und Die Gustloff diese Spaltung auf einer anderen Ebene: So waren die Protagonisten und Identifikationsfiguren für das Publikum allesamt keine NSDAP-Funktionäre oder Sympathisanten der Partei, sondern zeichneten sich durch Distanz zum Regime aus.
Ein zweiter auffälliger Aspekt ist, dass die Rache der besiegten Russen, Polen und Tschechen als Hauptmotiv für die Zwangsaussiedlung der Deutschen genannt wurde. In diversen deutschen TV-Geschichtserzählungen wurde dieses Erklärungsmuster bemüht, wobei es hier zu einer deutlichen Vereinfachung kam. Zwar spielten Rachegelüste bei den Übergriffen gegen die deutsche Zivilbevölkerung durchaus eine Rolle, der gesamte Prozess der Vertreibung war aber politisch geplant und international sanktioniert. Während in den polnischen Mediendarstellungen der Zwangsaussiedlung das Potsdamer Abkommen eine zentrale Rolle spielte – was verdeutlicht, wie wichtig im polnischen Diskurs der Verweis auf die alliierte Hauptverantwortung für das historische Ereignis ist –, wurden diese Zusammenhänge in deutschen Medienveröffentlichungen im Großteil der Fälle deutlich kürzer dargestellt. Auch strategische politische Überlegungen der osteuropäischen Staaten, die in der Forschung heute unter dem Begriff des ethnic engineering verhandelt werden (Bspw. Brandes 2001), wurden höchstens in Verweisen behandelt. Nach der Rezeption der Geschichtssendungen kann beim Zuschauer leicht der Eindruck verbleiben, dass Rache das dominante Motiv gewesen sei.
Des Weiteren wurde deutlich, dass die deutschen Massenmedien die Phasen der Flucht, der wilden Vertreibung und der geordneten Umsiedlung aus den unterschiedlichen Gebieten durch die Wiederholung der dominanten Rahmung immer wieder zu einem Großereignis zusammenschweißten. Die Kontextualisierung über das Ergebnis, den Heimatverlust, blieb dominant. Als eine problematische Implikation davon ist die mangelnde Differenzierung zwischen den einzelnen osteuropäischen Akteuren zu nennen: Wenn die Massenvergewaltigungen durch die Rotarmisten, die Versenkung der Gustloff und die schwierige Flucht über das zugefrorene Haff „in denselben Erinnerungstopf geworfen“ werden wie die Zwangsaussiedlungen aus Pommern, Schlesien oder Böhmen, droht für den osteuropaunkundigen Medienrezipienten ein gänzlich undifferenziertes Bild „der Vertreiber“ zu entstehen. Schließlich sind die mental maps vieler (West-)Deutscher hinsichtlich Osteuropas aufgrund der jahrzehntelangen Homogenisierung des Feindbilds vom Ostblock noch sehr undifferenziert (Rosengren 2002, S. 58).
Die polnische Erzählung: 1939 und das Jahrhundert der Vertreibungen
Die deutsche Geschichtserzählung von Flucht und Vertreibung ist in den polnischen Medien unvorstellbar: Ohne zuerst über den deutschen Überfall und die Verbrechen an der polnischen Zivilbevölkerung, darunter Vertreibungen, Deportationen und Morde, zu sprechen, wurde das Thema der Vertreibung der Deutschen im polnischen Geschichtsfernsehen nicht begonnen. Beispielhaft lässt sich dies an einer frühen polnischen Dokumentation über einen Teilaspekt der Zwangsaussiedlung der Deutschen, den Untergang des Flüchtlingsschiffs Wilhelm Gustloff, zeigen: Dieser 1994 produzierte Film setzte mit der Bombardierung Polens im Jahr 1939 ein (Iwona Bartolewska, Wilhelm Gustloff, TVP 2 ausgestrahlt u. a. am 31.05.1995, 20.00‒20.45 Uhr.). Über das Leid der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen wurde also erst berichtet, nachdem über den deutschen Angriffskrieg gegen Polen und die polnischen Opfer in der Zivilbevölkerung gesprochen worden war. Diese Erzählung ist dabei nichts TV-Typisches: Bei zahlreichen Presseartikeln ist die Betonung der richtigen Chronologie zu finden. In den wenigen Artikeln, die beispielsweise Wprost Anfang der 1990er Jahre über die Zwangsmigration der Deutschen publiziert, bemühten sich die Autoren stets auf die richtige Chronologie hinzuweisen. So stellte beispielsweise der Journalist Jerzy Przyłucki in einem Artikel über das Lager Łambinowice, das von Sommer 1945 bis Herbst 1946 als Internierungslager für Deutsche im Rahmen der Vertreibung diente, klar, dass diese Phase nur ein „Splitter“ – so die Überschrift – der geschichtlichen Wahrheit war, da während des Zweiten Weltkriegs die Deutschen im Ort, damals Lamsdorf genannt, eines der größten Gefangenenlager betrieben hatten. Diese Phase stellte er ganz an den Beginn seines Artikels, als er eingangs einen nichtchronologischen Durchgang durch die Lagergeschichte unternahm. Damit wurde auch im Textaufbau, auf symbolischer Ebene, die richtige Reihenfolge hergestellt (Jerzy Przyłucki, Zadra, in: Wprost, Nr. 3 vom 21.01.1990, S. 14‒15). Gemeint ist damit das zeitliche Primat, das in polnischer Lesart auch ein kausales ist: Die Vertreibung der Deutschen und ihre zeitweise Internierung in diesem Kontext erscheint ausschließlich als Reaktion auf die Verbrechen NS-Deutschlands im deutschen Diskurs. Dass ordnungspolitische Überlegungen im Sinne eines ethnic engineering auch für die polnische Exilregierung eine Rolle spielten, bleibt in diesem Argumentationsmuster unberücksichtigt.
Die wichtigste zeitliche Rahmung funktioniert über das Jahr 1939, über den deutschen Überfall auf Polen, mit der das Primat der deutschen Schuld betont wird. Dies deckt sich mit dem Ergebnis Jacobmeyers, der für die polnischen Schulbücher auch das Jahr 1939 als wichtigsten Bezugspunkt sah (Jacobmeyer 2004, S. 92). Wie wichtig diese Rahmung für eine polnische Erzählung der Zwangsmigration der Deutschen ist, zeigten auch Debatten um alternative Erzählungen, wie sie unter anderem in Polityka erprobt wurden. Als Podlasek 1995 ihren mehrseitigen Artikel über die Vertreibung der Deutschen im Blatt publizierte, hatte der Chef des Geschichts-Ressorts nach eigenen Angaben große Bedenken, ob dies ohne die Kontextualisierung in die deutsche Besatzungszeit und deutsche Verbrechen gedruckt werden sollte (So die Aussage des damaligen Chefs des Geschichts-Ressorts der Polityka, Marian Turski, abgedruckt in Polak, Niemiec – dwa bratanki?, in: Polityka, Nr. 23 vom 10.06.1995, S. 24.). Und die ersten Vorstöße Adam Krzemińskis, die Vertreibung der Deutschen in ein „Jahrhundert der Vertreibungen“, also eine allgemeine Geschichte der Zwangsmigrationen als politisches Mittel, zu kontextualisieren, stießen auf Widerspruch bei den LeserInnen (Adam Krzemiński, Wiek wypędzonych, in: Polityka, Nr. 46 vom 18.11.1995, S. 68‒72. Bei dem Essay handelte es sich um die Titelgeschichte der Polityka. Vgl. weiter Józef Smiłanski, Leserbrief, in: Polityka, Nr. 2 vom 13.01.1996, S. 36).
Trotz der Widerstände entwickelte sich die Einordnung in eine Geschichte der Zwangsmigrationen zum zweiten zentralen Narrativ in Polen nach 1989. So war beispielsweise der erste Faktenartikel über die Zwangsaussiedlung der Deutschen in Wprost auf der Grundlage eines Erinnerungswettbewerbs mit wissenschaftlicher Begleitung entstanden, der verschiedene Vertreibungen der Jahre 1939‒1960 in den Blick nahm. Beide Rahmungen konnten im polnischen Diskurs zunehmend auch kombiniert auftreten, wie dies bei der Dokumentation Die Vertreibung der Feinde der Fall war. In den ersten drei Minuten der Dokumentation, die die Zwangsaussiedlung der Deutschen zum zentralen Thema hatte, wurde das Ereignis durch den Kommentar breit eingeordnet: Bei bewaffneten Konflikten leide stets die Zivilbevölkerung, werde verbannt, vertrieben – so der erste Satz der Dokumentation. Danach nannte der Kommentar unter anderem die Vertreibungen zwischen Pakistan und Indien, die Deportationen unter Stalin, von denen auch die Polen schmerzlich betroffen gewesen seien, und die NS-Deportationspolitik. Bei deren Ausmaßen und polnischen Opfern verblieb die Dokumentation etwas länger, bis schließlich mit Verweis auf aktuelle Vertreibungen in Ruanda und Jugoslawien resümiert wurde, dass jeder größere bewaffnete Konflikt mit Zwangsumsiedlungen ende. Dann erst kam die Überleitung zur Vertreibung der Deutschen, dem eigentlichen Thema der Dokumentation: „Auch wir Polen haben uns mit der Umsiedlung der Deutschen nach Ende des Zweiten Weltkriegs an solchen Zwangsaussiedlungen beteiligt.“ Die ersten drei Minuten der knapp 20-minütigen Dokumentation wurden hier auf diese Rahmung verwendet. Durch die Einordnung wurden zum einen Normalität und Historizität von Zwangsmigrationsprozessen impliziert und zum anderen das Primat der deutschen Schuld durch die längeren Ausführungen zur deutschen Umsiedlungspolitik betont.
Zahlenspiele – Zahlenkämpfe: Betroffenen- und Todesopferangaben
Weder bei den Begrifflichkeiten noch bei den Zahlenangaben für die Opfer der Zwangsaussiedlung der Deutschen kamen polnische und westdeutsche Erinnerungsakteure bis 1989 überein. Westdeutsche Rechnungen wurden von Polen als überhöht zurückgewiesen, während es in der polnischen Volksrepublik wiederum der offiziellen Geschichtspolitik entsprach, das Ausmaß der deutschen Todesfälle, beispielsweise in den Internierungslagern während der Zwangsaussiedlung, zu verharmlosen. Die deutschen und tschechischen Geschichtswissenschaften haben sich nach dem politischen Umbruch in Ostmitteleuropa, der den Zugang zu einigen Quellenbeständen überhaupt erstmals ermöglichte, der Bezifferungen des Ereignisses erneut angenommen. Dabei konnte die deutsch-tschechische Historikerkommission relativ präzise Todesopferzahlen für die sudetendeutschen Gebiete vorlegen, während für die polnischen Gebiete auch nach neueren Forschungsarbeiten nur eine summarische Rechnung von 400.000 deutschen Opfern von Flucht und Vertreibung existiert. Als plausibelste Schätzung, auf die sich deutsche und polnische Experten geeinigt haben, gilt, dass von den 3,5 Millionen Menschen, die aus diesen Gebieten flüchteten bzw. vertrieben wurden, 200.000 bei den Deportationen in die Sowjetunion umkamen, 40.000 in sowjetischen Lagern starben, 60.000 in polnischen Lagern zu Tode kamen und 120.000 verschiedenen Gewalttaten, vor allem von Sowjetsoldaten, zum Opfer fielen (Borodziej, Lemberg 2000‒2004, S. 8). In beiden Fällen mussten ältere deutsche Zahlen, die maßgeblich auf der Schieder-Dokumentation beruhten, entschieden nach unten korrigiert werden (Friedrich 2007, S. 189). Auf die Geschichte der westdeutschen Vertreibungsopferzahlen und den erinnerungspolitischen Zweck ihrer Überhöhung sind die Historiker Ingo Haar und Klaus-Peter Friedrich in kenntnisreichen Aufsätzen eingegangen (Haar 2007, Friedrich 2007). Von Seiten der Wissenschaft wurden sowohl die Angabe von zwei Millionen Vertreibungsopfern insgesamt korrigiert als auch die Ziffern für den deutsch-polnischen Aspekt der Rechnung berichtigt. Damit wurde einer der zentralen bilateralen Konfliktherde hinsichtlich des Vertreibungskomplexes entschärft – so könnte zumindest vermutet werden. Tatsächlich bemängelten aber Haar und Friedrich bereits, dass die Forschungsergebnisse in der Bundesrepublik über den engen Kreis der Experten hinaus nicht rezipiert würden. Angesichts dieser Befunde erscheint es umso interessanter, wie mit den Zahlen der Vertreibung in den einzelnen Massenmedien der Bundesrepublik umgegangen wurde: Welches Bewusstsein für die mit Opferzahlen stets verknüpften erinnerungspolitischen Legitimierungsstrategien lassen sich beobachten? Können über die vorgenommenen Bezifferungen von Betroffenen und Todesopfern geschichtspolitische Positionierungen nachvollzogen werden? Für die polnischen Medien lässt sich im Umkehrschluss die Frage stellen, ob die deutsche Zahlenverwendung Gegenstand von misstrauischer Beobachtung ist. Zudem interessiert, wie diese mit den dokumentierten Opfern umgehen: Finden sich Exkulpationsstrategien und werden Zahlenangaben angezweifelt?
Der „Zahlensalat“ in den deutschen Printmedien: Betroffenenzahlen
Hinsichtlich der Opferzahlenverwendung in den deutschen Medien lassen sich widersprüchliche Beobachtungen für die Jahre 1989 bis 2008 machen. Ein erster wichtiger Befund hinsichtlich der deutschen Pressemedien ist, dass die Zahlenangaben von Betroffenen und Opfern in nur wenigen Beiträgen zum Thema wiederholt wurden. Was mit der zumeist in Pressemedien verwendeten Formel „Flucht und Vertreibung“ gemeint war, wurde bei Leser und Leserin als bekannt vorausgesetzt und dementsprechend auch kein Geschichtsunterricht, der Fakten wieder aufgreift oder korrigiert, gegeben. So kam die Wochenzeitung Zeit in ihrer Berichterstattung über den Vertreibungskomplex zumeist ohne Bezifferungen der insgesamt Betroffenen und der Todesopfer aus. Auch der Spiegel, die FAZ, die SZ, die taz und die Bild-Zeitung wiederholten nicht stets die – vermeintlich gesicherten – Fakten der Zwangsmigration der Deutschen. Am häufigsten bemühten jedoch die FAZ-JournalistInnen die Gesamtzahl der Vertriebenen, was darauf hindeutet, dass die Erinnerung an das Ausmaß bewusst wachgehalten wurde. Wenn Betroffenenzahlen überhaupt genannt wurden, wichen die Angaben der deutschen Pressemedien stark voneinander ab, wobei Differenzen weniger zwischen den einzelnen Pressetiteln als vor allem innerhalb der einzelnen Publikationen zu beobachten waren. Am konstantesten waren die FAZ-JournalistInnen, die alle Flüchtlinge und Vertriebenen zumeist auf 15 Millionen bezifferten, womit eine sehr hohe Angabe gewählt wurde. Während in der Forschung überwiegend mit der Zahl von 12 Millionen Umgesiedelten gearbeitet wird bzw. seltener maximal von 14 Millionen Betroffenen gesprochen wird, rechnet hauptsächlich der BdV mit 15 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen. Die FAZ verwendete im Großteil der Fälle diese sehr hohe Ziffer, womit man sich erinnerungspolitisch auf der Seite des Verbands positionierte. Jenseits der redaktionellen Beiträge verbreiteten Hupka und Steinbach diese Größenordnung in Leserbriefen und Gastbeiträgen in der FAZ. Über den BdV kam diese Zahl auch in andere Medien, entweder ebenfalls durch Gastbeiträge bzw. Leserbriefe oder durch die Wiedergabe von Reden der BdV-Vertreter. Wenn die SZ-Redakteure (oder auch die der taz) Steinbachs Geschichtsinterpretationen zitierten, kamen die 15 Millionen – und die überhöhte Todesopferzahl, wie noch zu zeigen sein wird – ebenfalls ins Blatt. Dabei wurden die Angaben des BdV in solchen Artikeln, die häufig von den Nachrichtenagenturen stammten, selten kritisch hinterfragt. Welche absurden Züge der unkritische Abdruck von Betroffenenzahlen annehmen kann, zeigte sich an einer Veranstaltungsankündigung in der SZ. An 18 Millionen (!) Vertriebene würde in einer Vortragsreihe erinnert, so im kurzen Text, der mit großer Wahrscheinlichkeit eine übernommene Pressemitteilung war. In der SZ war also einmal von 18 Millionen Betroffenen in Übernahme einer PR-Mitteilung die Rede, öfter wurde von 15 Millionen in Anschluss an BdV-Veröffentlichungen gesprochen. Aber auch 12 Millionen oder 10 Millionen Betroffene wurden in zahlreichen Artikeln angeführt. Ein ähnlich kreativer Spielraum für Zahlenangaben zeigte sich seit 1989 bei der Bild-Zeitung und dem Spiegel: Zwischen 8,5 Millionen (1990) und 15 Millionen (1995 und 2003) schwankte beispielsweise die Bild-Zeitung; der Spiegel bot zwischen 9,5 Millionen (1995) und über 14 Millionen (2002), um jeweils nur die Extreme zu nennen.
Auffällig war die Verabsolutierung der mehr als leicht abweichenden Zahlenangaben. Fast nie wurde verdeutlicht, auf welcher historischen Rechnung – sprich, welche Jahre und Gebiete einbezogen wurden – die jeweiligen Angaben beruhten. Nur in raren Ausnahmen problematisierten die Journalisten die Ziffern. Zumeist präsentierten sie selbst in der Forschung unübliche (Dezimal-)Zahlen – 8,5 Millionen, 9,5 Millionen, 11,7 Millionen, 12,5 Millionen – als unumstößliche Fakten. Zahlenangaben unter 10 Millionen waren insgesamt selten; wenn von den 12 Millionen abgewichen wurde, dann nach oben. Der Spiegel arbeitete ab 2002 zunehmend mit der Zahl von 14 Millionen Betroffenen, auch in der Bild-Zeitung war dies die bevorzugte Angabe. Für diese höhere Zahl gibt es auch wissenschaftliche VertreterInnen, wenngleich der Forschungskonsens bei 12 Millionen liegt. Aber auch völlig krude und überhöhte Rechnungen fanden sich in der deutschen Presse: Unter Einbezug der Spätaussiedler – einer der wenigen Fälle, in dem die Rechnung offengelegt wurde – meinte ein Focus-Journalist, dass 19 Millionen Menschen von Flucht und Vertreibung betroffen gewesen seien.
Fünf Punkte sind hier festzuhalten: Erstens kam der Großteil der Artikel ohne konkrete Zahlenangaben aus, was bedeutet, dass die Ereignisgeschichte als gesichert und bekannt vorausgesetzt wurde. Zweitens kann nur bei der FAZ-Redaktion eine erinnerungspolitische Positionierung über die Zahlenangaben nachvollzogen werden, da sie konstant am oberen Ende des Spektrums blieb. Drittens ließ sich, wenn überhaupt Zahlenangaben gemacht wurden, eine auffällige Inkonstanz und dementsprechend eine relative Willkür in den Bezifferungen vieler Pressetitel zeigen: Von 8,5 bis 19 Millionen reichte die gefundene Spannbreite in allen Pressetiteln. Viertens ging damit einher, dass die Zahlenangaben nicht explizit hinterfragt wurden. Die sehr abweichenden Bezifferungen wurden jeweils als unumstößliches Faktum präsentiert. Fünftens wurde deutlich, dass die Zahl von 12 Millionen, die überwiegend in der neueren Forschung angegeben wird, alles andere als Konsens in der bundesrepublikanischen Medienöffentlichkeit war.
Pauschalisierende Todesopferangaben in den deutschen Medien
Bei der Bezifferung der Todesopfer ließen sich ähnliche Beobachtungen machen. Im Großteil des pressemedialen Sprechens über Flucht und Vertreibung fehlten die Todesopferzahlen. Auch TV-Beiträge zur Vertreibung der Deutschen gaben keine Zahlen an und überließen somit vieles der Fantasie oder Recherchebereitschaft der Rezipienten. Falls Todesopferzahlen überhaupt genannt wurden, gingen die JournalistInnen ähnlich grob wie bei der Gesamtzahl der Betroffenen vor: Die Zahl wurde lediglich angegeben und damit als unumstößliche Tatsache eingeführt – erst ab Anfang der 2000er Jahre fand sich in einigen Medien eine erste Differenzierung der Zahlen, worauf später noch zurückzukommen sein wird. Im Großteil der Fälle, die eine Gesamtopferzahl nannten, war dies die überhöhte und pauschalisierende Angabe von zwei Millionen Toten.
Welch große Rolle der BdV in der Verteidigung der Opferzahlen innehatte, lässt sich an einem Leserbrief Herbert Hupkas, damals Vizepräsident des BdV, in der FAZ zeigen. Darin rückte er den Historiker Wolfgang Benz, der in einem Beitrag von den nach unten korrigierten Vertreibungsopferzahlen berichtete (Wolfgang Benz, Der Strom schien nicht zu versiegen, in: FAZ, Nr. 82 vom 6.04.1996, S. 10), in die Nähe von Auschwitz-Leugnern. Zu den revidierten Opferzahlen bemerkte Hupka in der FAZ: „Dazu gehört auch das Zahlenspiel, wenn gesagt wird, daß doch nur ein Viertel der bis jetzt stets genannten Zahlen von über zwei Millionen Deutschen jüngst errechnet worden sei. Wer erinnert sich da nicht der „Auschwitz-Lüge“? Wir sollten endlich aufhören, Unmenschlichkeiten dadurch zu simplifizieren, indem wir an Zahlen herumdoktern“ (Herbert Hupka, Leserbrief, in: FAZ, Nr. 86 vom 12.04.1996, S. 10.).
Dies zeigt auch, wie stark der BdV in seiner Rhetorik die Vertreibung der Deutschen in die Nähe des Holocaust zu rücken versuchte und mit welchen Argumentationsmustern für den Verband unangenehme Forschungsergebnisse diskreditiert wurden. Überzogene Opferzahlen fanden sich sowohl in Leserbriefen, worauf der Historiker Hans Lemberg 2004 bereits hinwies (Lemberg 2004, S. 522), als auch im redaktionellen Teil. Eine Unterscheidung der Todesursachen der zwei Millionen suchte man bei den meisten Angaben vergeblich. Wie viele der zwei Millionen Kriegstoten „die Opfer von Bombenangriffen, Evakuierungen oder freundlichen wie feindlichen Feuers“ und wie viele davon „Vertreibungstote[n], die Opfer ethnischer Säuberung waren“ (Haar 2007, S. 37), blieb so im Großteil der Fälle der Fantasie des Lesers bzw. Zuschauers überlassen. Klagen über die überhöhte Opferzahlenverwendung deutscher – auch nicht-nationalistischer – Zeitungen, wie sie der tschechische Historiker Křen im Jahr 1997 vorgebracht hatte (Křen 1997, S. 17), haben sich also auch im neuen Jahrtausend nicht erledigt, wenngleich seit Anfang der 2000er Jahre erste Differenzierungen hinsichtlich der Gesamtopferzahlen zu beobachten waren.
Aber auch absurd hohe Todesopferzahlen wurden publiziert. So behauptete der CSU-Politiker Gauweiler zum 50. Jahrestag des Kriegsendes, dass von vermeintlich 15 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen 3 Millionen zu Tode gekommen seien (Peter Gauweiler, 8. Mai: Feiern bei gebrochenem Herzen, in: Bild vom 8.04.1995, S. 2). In einem weiteren Beitrag in Bild anlässlich der deutsch-polnischen Vertreibungskontroverse im Jahr 2003 sprach Gauweiler noch einmal von „drei Millionen Ermordeten bzw. qualvoll Gestorbenen“, wobei nur noch 12 Millionen Betroffene genannt wurden (Peter Gauweiler, 8. Mai: Feiern bei gebrochenem Herzen, in: Bild vom 8.04.1995, S. 2). Am ersten Beitrag kann exemplarisch verdeutlicht werden, was die Verwendung von überhöhten Opferzahlen geschichtspolitisch bedeuten kann. Gauweiler verwendete in dem Artikel neben überhöhten Zahlen den Terminus „ethnische Säuberung“, welcher ein Synonym zu „Zwangsmigration“, aber auch „Genozid“ sein kann. Wer der Vertreibung der Deutschen nun aber einen Genozidcharakter unterstellt, kann dies nur auf der Grundlage überhöhter Opferzahlen tun. Denn maximal 180.000 von Polen getötete Deutsche (60.000 in polnischen Lagern, 120.000 bei Gewaltakten in Nachkriegspolen, die aber wohl überwiegend Sowjetsoldaten zu verantworten haben) zeugen nicht von einer Vernichtungsabsicht gegen das ganze deutsche Volk. So zynisch diese Rechnungen klingen mögen, so wichtig sind sie, um die geschichtspolitischen Absichten derart überhöhter Rechnungen aufzuzeigen.
Konstant unsensibel wurde mit den unterschiedlichen Todesursachen und den entsprechenden Verantwortlichen umgegangen, was verdeutlicht, dass aus der deutschen Opferperspektive gedacht wurde. Die Frage, wann Deutsche zu Opfern wurden, dominierte über feinere Fragestellungen, wie sie und wessen Opfer sie wurden. Für die bilateralen Debatten ist dies verheerend. Wiederum Ingo Haar brachte die Problematik in Bezug auf das deutsch-polnische Verhältnis auf den Punkt: „Flucht und Vertreibung sind zwar, wie bekannt, ineinander übergegangen, aber der polnischen Seite historiographisch einseitig die Verluste aus den von Nationalsozialisten teilweise gewaltsam, aber viel zu spät in Gang gesetzten und mitunter auch tragisch endenden Fluchtbewegungen anzulasten, ist eine Zumutung, die noch heute das deutsch-polnische Verhältnis belastet“ (Haar 2007, S. 278).
Zahlenangaben im polnischen Mediendiskurs
Nun mag mit Guido Knopp angeführt werden, dass ein TV- oder Pressebeitrag in Quantität und Qualität keine geschichtswissenschaftliche Doktorarbeit ist, die in den Fußnoten unterschiedliche Zahlenausdeutungen erläutern kann (Nikolaus von Festenberg, Wolfgang Höbel, „Die Botschaft muß ankommen“. Interview mit Guido Knopp, in: Der Spiegel, Nr. 19 vom 4.05.1998, S. 60). Dass aber ein Medienbeitrag zu einem historischen Thema dennoch gewisse Ambivalenzen transportieren kann, zeigte der Umgang der polnischen Medien mit den Vertreibungszahlen: Wurden in Deutschland keine oder zumeist überhöhte und pauschalisierende Opferzahlen angegeben, problematisierten die polnischen Medien die Zahlenangaben und die -verwendung wesentlich häufiger. Wenn von der Gesamtzahl der deutschen Betroffenen gesprochen wurde, die zumeist gemäß des jüngeren Forschungskonsens auf 12 Millionen beziffert wurde, drückten die JournalistInnen mit der Formulierung „nach deutschen Angaben“ stets eine gewisse Distanz aus. Auch die Gesamtzahl der Todesopfer wurde distanziert referiert: Die pauschalisierende Opferzahl von zwei Millionen kolportierten Presse- oder TV-JournalistInnen nie, ohne darauf hinzuweisen, dass dies deutsche Zahlen seien. Als einzige Ausnahme ist der Artikel Podlaseks in Polityka zu nennen, in dem sie die deutsche Perspektive der Vertreibungsdokumentation auf die Vertreibung wiedergab und dabei auch hohe Zahlen – 15 Millionen Betroffene, 2 Millionen Todesopfer – übernahm.
Nicht hinterfragt wurde aber im ganzen Untersuchungszeitraum die Zahl, die im polnischen Diskurs über den Vertreibungskomplex eine viel größere Rolle spielte als die Gesamtzahl von 12 Millionen Betroffenen: die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den polnischen Gebieten. Entsprechend den Forschungsergebnissen wurden hier 3,5 Millionen Betroffene kolportiert. Auch hier zeigt sich erneut der Rahmungsunterschied zwischen dem deutschen und dem polnischen Erinnerungsdiskurs: Während die polnische Debatte sich auf diesen Ausschnitt von Flucht und Vertreibung kaprizierte, der die nationale polnische Geschichte betraf und dementsprechend die Gesamtzahl der betroffenen Deutschen nur peripher interessierte, diskutierte man in Deutschland den deutsch-polnisch(-sowjetischen) Aspekt des Vertreibungskomplexes nicht getrennt. Im Falle der Tschechoslowakei war dies anders, auch was die Betroffenenzahlen anging. Hier bezifferte man in den zahlreichen deutschen Beiträgen zum deutsch-tschechischen Vertreibungsdiskurs, die während des gesamten Untersuchungszeitraums, vor allem aber Mitte der 1990er Jahre erschienen, die Betroffenenzahl mit drei Millionen ausgesiedelten Sudetendeutschen konkret (Vgl. beispielhaft Mit Blut geschrieben, in: Der Spiegel, Nr. 22 vom 29.05.1995, S. 26‒29, hier S. 28). Den deutsch-polnischen Aspekt lösten die deutschen Journalisten in der Debatte nicht heraus, auch weil die Ereignisgeschichte ungleich vielschichtiger war: Während im Falle der Sudetendeutschen tschechoslowakische StaatsbürgerInnen vertrieben wurden, überlagerten sich im deutsch-polnischen Fall Flucht, wilde Vertreibung und Zwangsaussiedlung, für die die NS-Verwaltung, die Sowjetarmee und die polnische Verwaltung wechselnde, sich teils überlagernde Verantwortung trugen. Im polnischen (medien)öffentlichen Diskurs wurde wiederum wiederholt die Forderung vertreten, dass in Deutschland differenziertere Opferzahlen verwendet werden sollten, so wie es jüngere deutsche Historiker wie Haar gefordert hatten.
Um die 3,5 Millionen Betroffenen gab es keine Auseinandersetzungen in der polnischen Medienöffentlichkeit. Auch an den im Laufe der 1990er Jahre konkretisierten Schätzungen über die gesamten Todesopfer im polnischen Gebiet deutelte man nicht herum: Die Zahl von 400.000 zu Tode Gekommenen wurde in zahlreichen Artikeln sachlich wiedergegeben. Kristallisationspunkt der polnischen Opferzahlendebatte waren die Internierungslager während der Zwangsaussiedlung, die hohe Sterberaten aufwiesen. Insgesamt kann gesagt werden, dass die im Rahmen der Arbeit untersuchten Medien mit der polnischen Verantwortung für die Todesopfer in den Lagern sehr sachlich umgingen. Sowohl die Pressetitel als auch das Fernsehen trugen zur Aufklärung „weißer Flecken“ des Geschichtsbewusstseins bei. Abwehrreflexe waren lediglich noch Anfang der 1990er Jahre zu finden, danach war die Übernahme der Verantwortung durchgängig üblich. Hier lässt sich die These formulieren, dass es im polnischen Diskurs leichter fiel, konkrete Taten, wie sie in Lagern unter polnischer Kontrolle verübt wurden, als polnische Schuld zu akzeptieren, als für den schwammigen Gesamtprozess der Flucht, wilden Vertreibung und Zwangsumsiedlung einzustehen, da dort Doppel- bzw. Dreifachverantwortlichkeiten griffen. Nach dem Umbruch wurden über einige Jahre hinweg deutsche Rechnungen nur distanziert wiedergegeben oder mit polnischen konfrontiert, um die Differenz der Perspektiven zu verdeutlichen. Empörung über deutsche Rechnungen publizierten die Pressetitel erst im Zuge der ZgV-Kontroverse. Im Verlauf der verschärften Vertreibungskontroverse zwischen Polen und Deutschland wurden die überhöhten Zahlenangaben des Nachbarn zunehmend zum Beleg für den dort beobachteten Geschichtsrevisionismus, so zum Beispiel in einigen TV-Sendungen zum Thema.
Neue gemeinsame Erzählungen der Zwangsmigration(en)
Nach dem politischen Umbruch 1989/1990 änderten sich viele Versatzstücke der tradierten polnischen sowie west- und ostdeutschen Erzählungen der Zwangsmigration der Deutschen. Die größte Wandlung der deutschen und polnischen Vertreibungserzählungen war eine Parallelisierung der Zwangsaussiedlungserfahrungen von Polen und Deutschen im und in Folge des Zweiten Weltkriegs. Die polnische akademische Debatte fasste Mitte der 1990er Jahre den Vertreibungskomplex ins Auge, was in eine begrenzte mediale Öffentlichkeit, zumindest der Qualitätsmedien, diffundierte. Über die Parallelität der Vertreibungsschicksale konnte „Empathie mit den Deutschen, die bislang – nicht nur aufgrund erfolgreicher sozialistischer Geschichtspolitik, sondern aufgrund der lebensweltlichen Erfahrungen der älteren Generation – vor allem als Täter wahrgenommen worden waren“, in der polnischen Gesellschaft aufgebaut werden, wie die Historikerin Claudia Kraft zutreffend beschreibt (Kraft 2006, S. 109‒110).
Das deutsche und ostpolnische Vertreibungsschicksal als verbindender Gemeinplatz
im Mediendiskurs der BRD
In der Bundesrepublik erschienen Mitte der 1990er Jahre erste TV-Beiträge und vor allem Presseartikel, in denen das Schicksal der ostpolnischen Vertriebenen – die über lange Zeit in der Bundesrepublik nicht als solche wahrgenommen wurden – aufgerollt und mit dem Schicksal der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten verglichen wurde. Ab Ende der 1990er Jahre wurde eine Parallelisierung der deutschen und polnischen Vertreibungsschicksale im deutschen Fernsehen sehr populär. Begegnungen deutscher Vertriebener mit polnischen BewohnerInnen ihrer ehemaligen Häuser rückten ins Zentrum der dokumentarfilmischen Aufmerksamkeit, vor allem der Spurensuch-Dokumentationen. In den meisten porträtierten Fällen handelte es sich bei den „polnischen NachmieterInnen“ selbst um Vertriebene aus den polnischen Ostgebieten. Das Schicksal der Ostpolen wurde somit für die deutschen TV-ZuschauerInnen aufgerollt. Zentrales Element war die Ähnlichkeit von deutschen und polnischen Vertreibungserfahrungen, insbesondere der Verlust- und Sehnsuchtsgefühle, die die Betroffenen noch Jahrzehnte später sichtlich umtrieben. Auch in anderen Formaten, wie neueren Geschichtsdokumentationen und Doku-Dramen, waren die polnischen Vertriebenen die mit Abstand größte „andere“ Opfergruppe, die neben den deutschen Vertriebenen zu Wort kam. Und auch hier war die zentrale Botschaft, dass deutsche und polnische Vertriebene wechselseitig den Schmerz verstünden und sich in der Erfahrung nahe seien (Zum Einsatz der ZeitzeugInnen vgl. Röger 2011/12). Die Parallelisierung des Vertreibungsschicksals von ostpolnischen und deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen wurde auch bei den Medienrezipienten gut angenommen. So wiesen deutsche LeserInnen in ihren Zuschriften nicht selten auf das doppelte Vertreibungsschicksal hin, das „uns Polen und Deutsche neben vielem anderen verbindet“ (Hans-Ulrich Borchert, Leserbrief, in: Die Zeit, Nr. 39 vom 21.09.2006, S. 24).
Während das gemeinsame ostdeutsch-ostpolnische Vertreibungsschicksal in den untersuchten deutschen audiovisuellen Mediendarstellungen der Vertreibung inzwischen nahezu zum Gemeinplatz geronnen war, spielten die Vertreibungen der Polen unter der NS-Besatzung oder andere deutsche Verbrechen während der Besatzungszeit eine eher marginale Rolle. Wenige Stimmen wiesen in der deutschen Debatte darauf hin, dass diese Gleichung nicht aufgeht. Warnungen, wie sie der Historiker Andreas Kossert, der sich ansonsten für eine verstärkte Erinnerung an deutsche Vertreibungsopfer einsetzte, vorbrachte – „Deutsche und polnische Vertriebene einfach als Opfer totalitärer Regime gleichzusetzen, wäre fatal“ (Andreas Kossert, Noch ist Polen nicht verstanden, in: Die Zeit, Nr. 37 vom 4.09.2003, S. 20) –, blieben die Ausnahme. Vielmehr fügte sich die egalisierende Vertreibungsopferkonstruktion in eine allgemeine Entwicklung, Deutsche ebenso als Kriegsopfer zu sehen wie andere Nationen und darüber teilweise Täter-Opfer-Differenzen für zweitrangig zu erklären.
Kongruenzen und Differenzen der polnischen Erzählungen
In Reaktion auf den deutschen Vertreibungsopferboom und auf die Gleichsetzung der deutschen und ostpolnischen Vertreibungsopfer betonten einige Akteure in Politik und Medien die polnischen NS-Vertreibungsopfer. Dennoch blieben Erzählungen des parallelen deutschen und ostpolnischen Vertreibungsschicksals im polnischen Mediendiskurs sehr präsent. So entstanden in Polen neben den schon seit den frühen 1990er Jahren erscheinenden Presseartikeln auch Fernsehbeiträge, die deutsche und polnische Vertriebene zusammenbrachten.
Eine ideologisch wichtige Rolle für die gemeinsame Vertreibungsopfererzählung in Polen spielt dabei die Renaissance von Totalitarismustheorien, die in vielen ehemals kommunistischen Ländern nach dem Zusammenbruch des Ostblocks beobachtet werden konnte. Auch in Polen erfreute sie sich als Erklärungsmuster großer Beliebtheit. Wie sich dies auf die Interpretation der Vertreibung der Deutschen und der Polen auswirkte, lässt sich beispielhaft an der Verfilmung des Romans Unkenrufe von Günter Grass zeigen. Der polnische Regisseur Robert Gliński nahm in dem 2005 produzierten Film mehrere dementsprechende Neuakzentuierungen des literarischen Stoffes vor. Unter anderem erfolgen Rückblenden in die Kindheit der Protagonisten, beide Vertriebene, er aus Danzig, sie aus Vilnius. So wird der deutsche Alexander bei der Hitlerjugend gezeigt; die Polin Aleksandra bei Veranstaltungen des Związek Młodzieży Polskiej [Vereinigte Polnische Jugend], der sozialistischen Jugendorganisation in der Volksrepublik. In der farblichen Gestaltung sind die Rückblicke identisch; teilweise sind sie sogar analog aufgebaut: Zuerst sammelte Aleksandra im Kreise der sozialistischen Jugendorganisation auf einem Feld Schädlinge; danach sah man Alexander mit der Hitlerjugend Kartoffelkäfer auflesen. Beide Szenen wurden schließlich zusammengeführt und Aleksandra und Alexander, die Vereinigte Polnische Jugend und die Hitlerjugend, bewegten sich aufeinander zu – die Visualisierung einer totalitarismustheoretischen Geschichtsinterpretation. Vergleicht man nun zudem die beiden Versionen der Filmplakate, wurde der hohe Stellenwert dieses Elements für die polnische Version ein weiteres Mal deutlich. Die Sozialisationen in totalitären Regimes wurden in der polnischen Version herausgestellt, indem verschwommene Bilder von Aleksandra und Alexander im Kindes- und somit Indoktrinierungsalter hinter einer Aufnahme von den beiden als erwachsenem Liebespaar montiert wurden. Das deutsche Plakat zeigte hingegen ein relativ beliebiges Motiv aus dem Film, beide als Erwachsene in einer Rikscha sitzend.
Das Versöhnungsnarrativ
Ein wichtiges neues Element der Vertreibungserzählungen in Polen und Deutschland, das sich nach 1989 beobachten ließ, ist die deutsch-polnische Versöhnung: Als Feststellung, als Wunsch oder als Forderung kam der Begriff in zahlreichen Medienveröffentlichungen vor. Deutlicher als in den Pressemedien ließ sich das in den TV-Beiträgen beobachten, die fast schon stereotyp mit Versöhnungsbotschaften bzw. -appellen endeten – und zwar in Deutschland und in Polen. So schloss ein Dokumentarfilm über den schlesischen Teil der Vertreibungsgeschichte mit der deutsch- und polnischsprachigen Gedenksteinsetzung im Internierungslager Łambinowice, was als gutes Zeichen für die bereits vollzogene und noch kommende Versöhnung gewertet wurde. Und so endete jeder der fünf Teile der ZDF-Großdokumentation mit einem Versöhnungsappell, zumeist des Kommentators oder aber eines prominenten Zeitzeugen. Auch lokale Produktionen schlossen mit Plädoyers für die deutsch-polnische Versöhnung, teils sehr pathetisch vorgetragen. Insbesondere die Spurensuch-Dokumentationen, die deutsche und polnische Vertriebene zusammenbringen, machten die Versöhnungsbotschaft deutlich. Bei Durchsicht des Materialkorpus scheint es fast so, als ob der Großteil der schlesischen und ostpreußischen Städtchen vor der Kamera schon versöhnt worden sei.
Versöhnungsplädoyers fanden sich auch am Ende von polnischen TV-Beiträgen, sei es in Dokumentationen wie Vertreibung der Feinde oder in Diskussionsrunden über polnisch-deutsche Konfliktfelder, darunter die Vertreibungserinnerung, wie in der Sendung Debata. Sowohl in Deutschland als auch in Polen ist demnach nicht nur eine Verständigung mit den Nachbarstaaten über das Vertreibungsgeschehen erwünscht, sondern auch die Versöhnung mit den ehemaligen Feinden politischer Konsens, der in zahlreichen TV-Beiträgen stets wiederholt wurde. Dies ist eine deutliche Veränderung im Vergleich zur antipolnischen Rhetorik, die zu Zeiten des Kalten Krieges in der BRD im Zusammenhang mit der Umsiedlung zu finden war. Vor allem aber ist es ein deutlicher Kontrast zur antideutschen Gesellschaftseinstellung, die in der VR Polen breiter Konsens war und sich auch im polnischen → Filmschaffen vor 1989 deutlich niederschlug: Laut dem polnischen Historiker Eugeniusz Cezary Król hatte ein Viertel aller produzierten Filme ein deutsches Motiv, wovon wiederum 80 Prozent aus Themen des Zweiten Weltkriegs bestanden (Król 2001). Der polnische Film vor 1989 verstärkte Feindbilder der Deutschen, weshalb der bekundete Versöhnungswunsch in den polnischen TV-Beiträgen zur Zwangsmigration nach 1989 den gesellschaftlichen Wandel auch so deutlich illustriert.
Wie häufig die Rede von der Versöhnung aber in Deutschland und Polen eine hohle Phrase blieb, zeigte sich nicht nur im geschichtspolitischen Streit um das Zentrum, sondern auch in den TV-Beiträgen selbst. Gänzlich unversöhnliche Haltungen von ZeitzeugInnen oder DiskutantInnen wurden am Schluss ebenso mit einer „Versöhnungsklausel“ versehen wie Dokumentationen, in denen tatsächlich eine deutsch-polnische Annäherung zu beobachten war. Nachdem in der polnischen TV-Sendung Debatte aufgrund der kontroversen Meinungen zwischen den Beteiligten und der Befragung einer von deutschen Eigentumsrückforderungen betroffenen Polin die antideutschen Emotionen hochkochten, appellierte der Moderator Durczok – der diese Emotionen zunächst entscheidend geschürt hatte – am Ende an die gute Nachbarschaft und den versöhnenden Dialog. Dies wirkte ähnlich deplatziert und nahezu sarkastisch wie die Kommentare deutscher DokumentarfilmerInnen, die antipolnische Äußerungen deutscher HeimwehtouristInnen mit Versöhnungsrhetorik zu kaschieren versuchten. In der Wochenzeitung Die Zeit wurde das Verhalten sogenannter SehnsuchtstouristInnen einmal folgendermaßen karikiert: „Deutsche Touristen stolpern durch das Dorf wie Kriegsberichterstatter über ein verlassenes Schlachtfeld. ‚Hier war ein großer Pferdestall. Und das war das Haus. Bloß war das damals schöner. Heute ist ja alles vergammelt. Deprimierend!‘“ (Robin Detie, Gräber auf Gräben, in: Die Zeit, Nr. 53 vom 25.12.1992, S. 50). Damit ließen sich einige Szenen früher Spurensuch-Dokumentationen auch treffend beschreiben. Tatsächlich passten einige Aussagen der interviewten Deutschen nicht immer zur Botschaft der Spurensuch-Filme, die verkündeten, dass deutsche und polnische Vertriebene wechselseitig den Schmerz verstünden, sich in der Erfahrung nahe seien. Vielmehr wurden oft harmonisierende Interpretationen bemüht, wo Verständigungsdifferenzen sowie deutliche antipolnische Einstellungen, die der Ethnologe Lehmann in seiner in den 1980er Jahren durchgeführten Interviewstudie beobachtete (Lehmann 1991, S. 110), offensichtlich wurden. Auch in polnischen Produktionen waren trotz Versöhnungsrhetorik Ressentiments zu beobachten, wobei das bereits zitierte Beispiel aus der Sendung über das Lager Potulice das deutlichste Exempel ist: Von einem Reporter herausgefordert, zeigte sich hinter dem versöhnlichen Schein („So viele Jahre nach dem Krieg …“) eine unversöhnliche Haltung einer Zeitzeugin. Eigentlich, so die Frau in ihrer Erregung, sei es nämlich so schlimm nicht gewesen, dass die Deutschen mal erfahren hätten, wie es im Lager ist.
Dass der von Klaus Bachmann geprägte Begriff des „Versöhnungskitsches“ bei der Rezeption von TV-Dokumentationen zum Vertreibungskomplex oft so zutreffend erscheint, liegt nicht nur an der Diskrepanz zwischen tatsächlich vorgefundenen Haltungen und gewünschter Botschaft, sondern auch an der ästhetischen Gestaltung der Versöhnungsplädoyers. So erklang am Ende der ZDF-Serien zu jedem Versöhnungsappell dezente Streichermusik und idyllische Landschaftsaufnahmen – wogende Weizenfelder, saftige Wiesen und grüne Wälder – wurden gezeigt. Auch polnische Beiträge, wie Jacek Knopps Ballade vom Heimathaus, griffen auf derartige Romantisierungsstrategien zurück, indem entsprechende Musik eingesetzt und/oder Sequenzen in schwarz-weiß eingeblendet wurden.
Resümee
Für die deutschen und polnischen Erinnerungskulturen bezüglich der Zwangsmigration lassen sich zwei grundsätzliche Beobachtungen festhalten: Erstens waren die national dominanten Erinnerungsmuster nach 1989 geprägt durch den öffentlichen Umgang mit der Umsiedlung der Deutschen bis zu den politischen Umbrüchen, wobei sich insbesondere im deutschen Diskurs Beharrungskräfte der BRD-Narrative und sogar bis heute andauernde Präfigurationen durch in der NS-Zeit entstandene Narrative zeigten. Zweitens entwickelten sich die Geschichtsbilder in wechselseitiger bilateraler Verflechtung, wenngleich die polnischen Diskurse über Flucht, Vertreibung und Umsiedlung deutlicher auf die bundesrepublikanische Debatte reagierten als vice versa. Im deutschen Erinnerungsdiskurs erwiesen sich die bis 1989 herausgebildeten Redepraxen als erstaunlich beharrlich. Sprachregelungen der DDR wurden in die überregionale Mediensprache nicht integriert. Vielmehr blieb der Terminus „Flucht und Vertreibung“ – der auch stets ein bestimmtes Narrativ des Ereignisses transportierte – dominant. Auch an der überhöhten und undifferenzierten Todesopferzahl von zwei Millionen Menschen hielten die deutschen Medienredaktionen grosso modo fest – teils aus geschichtspolitischen Gründen, größtenteils aber mangels Recherchen, wobei die Ungenauigkeit und anscheinende Unbedarftheit im Umgang mit Betroffenen- und Todesopferzahlen frappierend war.
Auch hinsichtlich der Narrative blieben die dominanten Rahmungen bestehen, die im deutschen wie im polnischen Fall aus der Sicht der jeweiligen sprachnationalen Gruppe vorgenommen wurden – trotz des Falls des „Eisernen Vorhangs“, der EU-Erweiterung und der zunehmenden politischen und gesellschaftlichen Kooperation. In Polen begannen die Erzählungen stets im Jahr 1939, womit die Chronologie und Kausalität der historischen Ereignisse betont wurde, indessen in der Bundesrepublik die Erzählungen überwiegend mit dem Vormarsch der Roten Armee und damit mit dem Zeitpunkt einsetzten, als der Krieg sich gegen die Deutschen wendete. Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten mit seinen verheerenden Gewaltexzessen gegenüber den Zivilbevölkerungen wurde im deutschen Geschichtsfernsehen zumeist erst in einem zweiten Zugriff in die Erzählung über Flucht und Vertreibung der Deutschen integriert.
Dieses Narrativ von Flucht und Vertreibung hat seinen Ursprung in der NS-Durchhaltepropaganda, die den Vormarsch der sowjetischen Soldaten als neues Kapitel zeigte, dessen Zusammenhang mit dem deutschen Vernichtungskrieg ausgeklammert wurde. Bis heute wirken Versatzstücke der NS-Diktion im Vertreibungsdiskurs nach, darunter in der Rede von den barbarischen sowjetischen Soldaten. Zudem war in dieser Erzählung von Flucht und Vertreibung, die mit dem Vormarsch der Roten Armee beginnt, von Beginn an eine Opfererzählung angelegt. Kategorien der Täterschaft kamen in der NS-Propaganda in Bezug auf die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen natürlich nicht vor, und auch in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft wurde die Täter-Opfer-Ambivalenz dieser Gruppe nicht berücksichtigt – im Gegenteil: In der Frühphase wurden die Opfer und das Leiden der Vertriebenen vielmehr zur Aufrechnung mit den Opfern der Shoa missbraucht, in den 1960er und 1970er Jahren, in der schrittweisen Fokussierung auf deutsche Taten, verloren diese Opfererzählungen an Bedeutung.
Die erneute Zuwendung zur Geschichte von Flucht und Vertreibung seit 2002 führte in den meisten Fällen dann auch zu einer Vitalisierung deutscher Opfernarrative, da tradierte dichotome erinnerungskulturelle Denkmuster die Vermittlung von Täter-Opfer- Ambivalenzen weiterhin zu verhindern scheinen. Zu den Elementen einer deutschen Opfererzählung der Vertreibung gehörte die egalisierende Konstruktion von deutschen und polnischen Vertreibungsopfern. Diese fügte sich in eine allgemeine Entwicklung ein, Deutschland ebenso wie andere Nationen als Kriegsopfer zu sehen und darüber teilweise Täter-Opfer-Differenzen für zweitrangig zu erklären. Zudem zeigte sich – gerade im Vergleich zu Polen –, wie wichtig die in Mutter-Kind- Bildern angelegte Opferdeutung für den deutschen Diskurs war. Zahlreiche Bücher und Zeitschriftenausgaben hatten Motive von Mutter und Kind, die kulturgeschichtlich als Inbegriff der Unschuld gelten, prominent auf dem Cover. Einige Zeitzeugen-Erzählungen und die Art und Weise ihrer unkritischen Präsentation in Geschichtsdokumentationen beförderten ebenfalls ein Narrativ von deutschen Opfern. Insbesondere die Erzählungen von brutalen Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten – ein die Opfer oft bis heute traumatisierendes Erlebnis – spielten eine besondere Rolle, die aber nur mangelhaft in die Geschichte (sexueller) Gewalt von Seiten der deutschen Armee und der paramilitärischen deutschen Organisationen, insbesondere im Verlauf des Vernichtungskriegs im Osten, kontextualisiert wurden.
Auch wenn Opfer-Täter-Ambivalenzen kaum berücksichtigt wurden und vielmals ein Opfernarrativ in der Erzählung der Vertreibung dominierte, ist die Singularität des Holocausts im bundesrepublikanischen Diskurs seit 1989 betont und die Zwangsmigration der Deutschen – außer von einigen Betroffenen und der geschichtspolitischen Rechten – inhaltlich nicht auf dieselbe Stufe gestellt worden.
In Polen traten die im Sozialismus geprägten Erzählmuster der Zwangsmigration in den 1990er Jahren in den Hintergrund. Nach Jahrzehnten der vorgegebenen Meinungen über den Bund der Vertriebenen, den Terminus „Vertreibung“, die Verantwortlichkeiten und den Ablauf der Zwangsmigration, sozusagen über das historische Ereignis als solches, kam es schließlich zu einer Öffnung bei diesem Thema. Das neue Interesse an der Aussiedlung der Deutschen wurde getragen durch HistorikerInnen und WissenschaftlerInnen benachbarter Disziplinen sowie von einigen Medienredaktionen. Die Polityka-Redaktion gehörte mit ihren zahlreichen Beiträgen zum Vertreibungskomplex zu den wichtigsten Wegbereitern der ersten polnischen Vertreibungsdebatte, die Mitte der 1990er Jahre stattfand. Daneben kam der Redaktion von Tygodnik Powszechny eine Vorreiterrolle zu; die Tageszeitungen Rzeczpospolita und Gazeta Wyborcza gestalteten dann ab 1995 maßgeblich die erste polnische Vertreibungsdebatte mit.
Neben diesen Akteuren, die sich an der Auseinandersetzung mit dem Vertreibungskomplex beteiligten, sind Graswurzelinitiativen zu nennen, die sich der lokalen Geschichte in den ehemals deutschen Gebieten und somit auch der Geschichte der Vertreibung der Deutschen multiperspektivisch annahmen. Stichproben bei den TVP-Regionalsendern in den ehemaligen deutschen Gebieten deuteten darauf hin, dass diese sich ebenfalls stärker als das überregionale Fernsehen um den Vertreibungskomplex kümmerten.
Die erinnerungskulturelle Öffnung in den 1990er Jahren zeigte sich vor allem bei den Aspekten, die im Mittelpunkt der sozialistischen Propaganda standen, darunter der BdV und der Begriff „Vertreibung“. Während in der Bundesrepublik bis Ende der 1990er Jahre eine Abwehrhaltung gegenüber dem BdV in vielen Medien dominierte, die sich in Wort und Bild ausdrückte, verhielt es sich in Polen genau umgekehrt. Dort wurde in den 1990er Jahren teilweise der Versuch gemacht, einen neuen Blick auf den Verband zu werfen. In der ZgV-Kontroverse kam es dann jedoch zu einer massiven Rückkehr des textuell und visuell getragenen Feindbilds vom revisionistischen Vertriebenenfunktionär. Kulturell verankerte Stereotype wurden durch die Medienberichterstattung revitalisiert. Ein ähnliches Muster findet sich im Umgang mit dem Vertreibungsterminus: In den 1990er Jahren benutzten viele polnische JournalistInnen den Begriff neutral, um ihn in der Ablehnung des deutschen Vertreibungsdiskurses erneut als fragwürdig zu befinden.
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Röger, Maren, Prof. Dr., verfasste den Beitrag „Flucht und Vertreibung in deutschen und polnischen Medien“. Sie ist Professorin für Geschichte des östlichen Europa/Ostmitteleuropa an der Universität Leipzig und Direktorin des Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO). Sie arbeitet in den Bereichen Geschichte und Nachgeschichte der Zwangsmigrationen im östlichen Europa, der Gewaltgeschichte und der Geschichte von Medien und Kommunikation.