Jędrzej Morawiecki
Von Briefen und Krallen – Die besondere Rolle der römisch-katholischen Kirche in den deutsch-polnischen Beziehungen 1945‒2022 und ihr Beitrag zur Versöhnung
„Ich bin im Katholizismus groß geworden, das ist meine Welt; seine Anspielungen, Metaphern und Zeichen verstehe ich schneller als das, was ich später gelernt habe“, erklärte Adam Szostkiewicz, Publizist der Wochenzeitung Polityka, ehemaliger Mitarbeiter des Tygodnik Powszechny, Übersetzer der Bücher von Carlos Castaneda und Autor des Essays Erzählung über Buddha und über das, was die Menschen des Westens im Buddhismus suchen (Opowieść o Buddzie i o tym, czego w buddyzmie szukają ludzie Zachodu), (Szostkiewicz 2012, S. 12). Im selben Gespräch zog Szostkiewicz einen Vergleich, der hilft, die Besonderheit des polnischen Katholizismus besser zu verstehen:
Als ich Thailand besuchte, war alles so, wie es sein sollte: Ich besichtigte Tempel und sprach mit Mönchen. Trotzdem waren diese Begegnungen nicht mit dem vergleichbar, was ich bei den Osterfeierlichkeiten in Kalwaria Zebrzydowska erlebte. Ich war Teil der Menge, wir kreuzigten Jesus. Ich dachte: „Jesses Maria, was tue ich hier nur? Es stimmt also doch, ich stecke mitten im antisemitischen Volkskatholizismus fest.“ Und dennoch hat mich dieses Schauspiel viel stärker bewegt als die Reise ins buddhistische Mekka. Mit dieser volkstümlichen Welt kann ich emotional kommunizieren, mit dem schlafenden Buddha nicht. […] Es ist der Katholizismus, der mich berührt, auch im negativen Sinne (Ebd.).
Diese Äußerung zeigt sehr treffend den religiösen Charakter der polnischen Identität, auf den sich konservative Kreise in der Regel berufen und von dem sich Liberale und Linke distanzieren beziehungsweise den diese umzuwandeln suchen, wobei ihr Bezugspunkt jedoch immer die römisch-katholische Kirche bleibt.
Um die Schlüsselrolle polnischer religiöser Institutionen in den Beziehungen zu Deutschland in der Nachkriegszeit und der Gegenwart zu verstehen, muss man auch den früheren Kontext des 19. Jhs. berücksichtigen: die damalige Verflechtung der katholischen Identität mit dem nationalen Befreiungskampf (daher die im polnischen Katholizismus bis heute lebendigen messianischen und militaristischen Motive), die äußerst ausgeprägte, spezifisch polnische Romantik (→ Romantik), das andere Verständnis des Positivismus in Polen, mit dem bis heute nicht abschließend diskutierten Motiv der nicht gelernten Lektion der Aufklärung, und schließlich die starken klerikalen, aber auch antiklerikalen Traditionen in der polnischen Kultur. Diese Bezüge funktionieren als Oppositionen: Modernität/Europäischsein versus Sarmatismus/Tradition/Wirheit, wobei auch die außerreligiösen Narrative ihren konfessionellen Charakter stets behalten. In diesem Zusammenhang ist auch die Säkularisierung zu sehen, die normativ verstanden und positiv oder negativ bewertet wird, je nach weltanschaulicher Position, die wiederum in Bezug auf die oben genannten Polarisierungen definiert wird. Während Weltlichkeit ein neutraler Begriff ist, wird Laizität mit konkreten weltanschaulichen Projekten assoziiert und in der Regel in einen postulativen Kontext gestellt (eine „laizisierte“ gesellschaftliche Wirklichkeit kann eine Utopie sein – ein Ziel, das wir anstreben, um eine freie, moderne Welt zu schaffen – oder eine Anti-Utopie, eine Warnung, eine Anomie, eine degenerierte, seelenlose Welt ohne Wurzeln und moralische Grundsätze).
Laizität wurde bis dahin oft als ein Phänomen verstanden, das die römisch-katholische Kirche in Polen vor dem Zweiten Weltkrieg auf „den schwindenden Einfluss religiöser Werte auf die Gesellschaft und das Individuum, die immer ausschließlicher von irdischen Werten geprägt werden“, reduzierte (Rostkowski 1997, S. 277). Entsprechend diesem Verständnis des öffentlichen Raumes stellte das Episkopat am 27. Juli 1920 Polen unter den Schutz der Muttergottes. Selbst katholische WissenschaftlerInnen räumen ein, dass die am 17. März 1921 verabschiedete Märzverfassung sich durch eine „moderate Privilegierung der katholischen Religion“ auszeichnete, obgleich Forderungen der nationalen Rechten, „die katholische Religion zur Staatsreligion zu erklären“, entschärft wurden (Rostkowski 1997, S. 280). Diese Privilegierung wurde durch das im August 1925 in Kraft getretene Konkordat mit dem Vatikan bestätigt, wonach der Religionsunterricht an den Schulen, mit Ausnahme der Hochschulen, zum staatlich finanzierten Pflichtfach wurde, wobei die LehrerInnen von Ordinarien ernannt wurden und der kirchlichen Kontrolle unterlagen – auch „hinsichtlich ihrer moralischen Integrität“ (Rostkowski 1997, S. 280). Gemäß der Verordnung des Ministeriums für Religiöse Angelegenheiten und Öffentliches Schulwesen vom 9. Dezember 1926 „wurden die religiösen Praktiken der Schuljugend als integraler Bestandteil des Unterrichts und der Erziehung“ anerkannt. Von diesem Zeitpunkt an waren das gemeinsame Gebet vor und nach dem Unterricht, der gemeinsame Besuch der Messe am Sonntag, Exerzitien und dreimal im Jahr die gemeinsame Teilnahme an der Beichte und der Kommunion Pflicht. Den Lehrkräften oblag es, die Religionsausübung zu kontrollieren, einerlei, welcher Konfession sie selbst angehörten. 1936 erließ Minister Wojciech Świętosławski die Empfehlungen über die Korrelation zwischen dem Fachunterricht und der Lehre der römisch-katholischen Religion.
Berücksichtigt man diesen Kontext, wird deutlich, dass die in der römisch-katholischen Kirche in Polen nach 1945 stattfindenden Veränderungen nicht nur auf die geopolitische Lage des Landes, das in die Einflusssphäre der UdSSR geriet, zurückzuführen sind, sondern auch mit dem Kompetenzgerangel der einzelnen Institutionen im öffentlichen Raum in der Vorkriegszeit zu tun hatten. In diesem Zusammenhang sollten auch die Versöhnungs- und Dialoginitiativen Erwähnung finden, die im Nachkriegspolen außerhalb des Mainstreams staatlicher Politik entstanden und parallel voneinander ergriffen wurden: zum einen von den polnischen Kirchenoberen (die spektakulärste Äußerung war der → Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder 1965) und zum anderen von den liberalen katholischen Laien (wobei der Begriff ‚Liberalität‘ hier ausschließlich im innerkirchlichen Vergleich gebraucht wird und sich nicht auf die äußere, säkulare Wirklichkeit bezieht – und schon gar nicht auf moralische Normen). Die katholischen Laien bemühten sich, eine alternative Kultur zu schaffen, die auf den Werten des Humanitarismus gründete, wobei man auf Modelle des französischen Universalismus zurückgriff, die bereits vor dem Krieg entwickelt worden waren und durch neopositivistische Aktivitäten weitergeführt wurden. All dies geschah in einer defizitären Demokratie, in der antikommunistische Katholiken auch radikalere publizistische und politische Aktivitäten durchführten, immer jedoch versuchten, im öffentlichen Raum zu funktionieren, „ohne gegen diverse Tabus zu verstoßen“ (Żakowski 1990, S. 113).
Dennoch fällt es schwer, im ersten Nachkriegsjahrzehnt von einer besonderen (von der staatlichen Linie abweichenden) Rolle der religiösen Institutionen in den deutsch-polnischen Beziehungen zu sprechen. Allerdings traten in ebendieser Zeit die dialogbereiten römisch-katholischen Laieneliten auf den Plan, die nach 1956 einen derart wichtigen Part beim Versuch spielen sollten, einen deutsch-polnischen Dialog zu initiieren und zu führen, der weit über den Rahmen des traditionellen kirchlichen Diskurses hinausging. Zu den polnischen Realien nach 1945 gehörte, dass die gesellschaftlichen Institutionen – angesichts der Herausbildung eines kommunistischen Regimes und der Konsolidierung der Volksherrschaft – ihre Positionen aushandelten und die Zentren des öffentlichen Lebens, die sich noch unsicher waren ob der zu erwartenden Änderungen und des Ausmaßes der Repressionen, die in den einzelnen Ostblockländern unterschiedlich stark ausfielen, Verteidigungsstrategien entwickelten. Diese Neuordnung, der Versuch, die eigene Position zu bestimmen und neue Bezugsgruppen zu definieren, ging mit einer dramatischen Umgestaltung der religiösen Landkarte Polens einher, wo die römisch-katholische Kirche nach dem Krieg ihre mehrheitliche, dominierende Stellung in der polnischen Kultur festigte und ihre privilegierte Position auch zahlenmäßig ausbaute (Laut Adam Chruszczewski gehörten dem Jüdischen Religionsverband (Żydowski Związek Religijny) vor dem Krieg 800 Gemeinden mit 1.600 Rabbinern und Hilfsrabbinern an; die jüdische Bevölkerung zählte 3,3 Millionen Menschen – 10 % der polnischen Gesamtbevölkerung und 27 % der städtischen Bevölkerung. Gleichzeitig stellte die jüdische Bevölkerung etwa die Hälfte der polnischen Opfer des Zweiten Weltkrieges). Charakteristisch für Polen waren die eher schwach ausgeprägten Laizisierungs- und Säkularisierungstendenzen, sowohl solche, die aus den kulturellen Gegebenheiten der Vorkriegszeit resultierten, als auch die systembedingte von oben angeordnete Zwangssäkularisierung (forced secularization), deren Ausmaß unvergleichlich geringer war als in den meisten anderen Ländern des kommunistischen Blocks.
Nach 1945 war die Abrechnung mit dem Faschismus und der nationalsozialistischen Besatzung eine der treibenden Kräfte für den Aufbau einer neuen nationalen Identität. Anna Wolff-Powęska behauptet gar, dass „in diesem historischen Augenblick für das Verhältnis zum deutschen Volk, das Polen und Europa ein derart tragisches Schicksal bereitet hatte, weder politische, soziale noch religiöse Unterschiede eine Rolle spielten. Die Haltung der katholischen Eliten gegenüber den Deutschen bildete hier keine Ausnahme“ (Wolff-Powęska 2004, S. 178).Dies hatte mit dem Ausmaß der nationalsozialistischen Repressionen zu tun, die sowohl individuell als auch systematisch gegen kirchliche Institutionen gerichtet waren (die Liquidierung von Priestern als Angehörige der gesellschaftlichen Elite). So bestand der römisch-katholische Klerus in Polen vor dem Krieg aus „etwa 10.400 Diözesan- und etwa 1.800 Ordenspriestern. […] Den Tod erlitten 5 Bischöfe, 1.934 Priester, 575 Ordensbrüder und 289 Ordensschwestern. Im ‚Warthegau‘ blieben von 1.700 Kirchen und Kapellen etwa 60 offen, und von 2.400 Priestern übten etwa 60 ihr Amt weiter aus. 1.746 Priester und Nonnen wurden ins KZ Dachau deportiert, 860 kamen dort ums Leben“ (Chruszczewski 1993, S. 62). Auch die geopolitische Lage Polens im sowjetischen Einflussbereich verstärkte die antideutsche Rhetorik, die mit der offiziellen Propagandapolitik der UdSSR im Einklang stand, gleichzeitig aber die Tragödie des stalinistischen Totalitarismus ausblendete. In diesem Sinne – zum einen aufgrund des gesellschaftlichen Bedürfnisses, die Tragödie des Krieges zu rationalisieren, zum anderen von oben provoziert – wurde die jüngste Geschichte aufgewertet, wobei man sich der Kategorie von Gut und Böse bediente (diese Tendenz war noch nicht unmittelbarer Bestandteil der seit zwei Jahrzehnten in der UdSSR entwickelten Poetik des Sozrealismus, samt seiner Kriegsvariante. 1949, als der Sozrealismus in Polen zur offiziellen Doktrin ernannt wurde, schwächte sich die antideutsche Rhetorik im Vergleich zu den ersten Nachkriegsjahren ab), (Siehe Morawiecki 2012b).
In den katholischen Zeitschriften, von denen es 1947 in Polen etwa dreißig gab, überwogen Texte, in denen, laut Wolff-Powęska,
die Überzeugung von der Kollektivschuld des deutschen Volkes vorherrschte, untermauert durch den Glauben an dessen unabänderlichen Charakter. Verbreitet war die Ansicht, dass „der Furor teutonicus das deutsche Volk seit Jahrhunderten begleitete, und der Zeitraum von 1939–45 galt als Beweis, dass dieser nicht nachgelassen, sondern im Gegenteil sich in jüngster Zeit noch verstärkt hatte“ [Tygodnik Powszechny vom 6.5.1945, JM]. Die Überzeugung, dass „weder das Wissen noch die schöpferischen Kräfte des deutschen Volkes im Dienst des Guten, sondern vielmehr im Dienst der Heimtücke und des Vernichtungswillens standen“, wurde von der Überlegung begleitet, dass die Wurzel des „verbrecherischen Charakters“ der Deutschen ihr Heidentum war (Wolff-Powęska 2004, S. 179).
Die These vom Heidentum wurde gern herangezogen und erfreute sich großer gesellschaftlicher Akzeptanz, da sie eine einfache Polarisierung ermöglichte: „der gute katholische Pole – der böse heidnische (sprich protestantische) Deutsche“ (→ katholischer Pole und deutscher Protestant). Dementsprechend assoziierte Kardinal August Hlond den Nationalsozialismus mit dem Atheismus und den Krieg mit dem Kampf gegen Gott und das Christentum (in späteren Zeiten zeichnete die römisch-katholische Kirche Polens ein ähnliches Bild von den Kommunisten, und in konservativeren Kreisen wurde vor einem säkularisierten, ins Heidentum zurückfallenden, nicht näher konkretisierten „Westeuropa“ jenseits der Oder sowie vor Frankreich gewarnt; in der ersten Hälfte der 2000er Jahre begann in Predigten das Motiv „der gottlosen Großen Französischen Revolution“ aufzutauchen, in der zweiten Dekade des 21. Jhs. dystopische Bilder von einer „islamischen Flut“, „muslimischen Plage“ und von der „Gender-Ideologie“, „LGBT-Lobby“ und „LGBT-Offensive“). Die Geistlichen wurden zu antideutschen Predigten ermuntert – auch von der weltlichen Macht. Dies galt auch für die im Nachkriegspolen verbliebenen Priester deutscher Nationalität (Vgl. Pięciak 2000).
Der allgemeine, auf Vergeltung sinnende Tenor wurde nur vereinzelt von Stimmen durchbrochen, die vor Rache warnten. Paweł Jasienica erinnerte daran, dass es „die Pflicht eines Christen [sei], die neuen Generationen von Polen im Geist der Vergebung zu erziehen“ (Jasienica 1946). Nach 1948, nach der Gründung der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, PZPR), die als Beginn der kommunistischen Diktatur betrachtet wird, sowie nach der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik 1949 wurde die deutsche Thematik zurückgedrängt – auch in kirchlichen Kreisen. In den folgenden Jahren kam es zu einer Repressionswelle gegen die Kirche: zur Verhaftung von Geistlichen, zur Entfernung an der Katholischen Universität Lublin (Katolicki Uniwersytet Lubelski, KUL) lehrender Priester (deren Fakultät für Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften 1949 aufgelöst wurde), zur staatlichen Übernahme und kostenlosen Nutzung kirchlicher und klösterlicher Krankenhäuser, zu den Anfängen der „Priester-Patrioten“-Bewegung, zur Einsetzung einer staatlichen Zwangsverwaltung bei der Caritas 1950, zur Gründung des Amtes für Religiöse Angelegenheiten (Urząd do Spraw Wyznań) am 18. Juni 1951, zur Schließung der bischöflichen Knabenseminare 1952, zur Auflösung der Wochenzeitung Tygodnik Powszechny im März 1953 (die ab 1956 wieder erschien), zum Dekret des Staatsrates über die „Einrichtung, Besetzung und Abschaffung kirchlicher Ämter“ vom 9. Februar 1953 (die Ausübung dieser Ämter setzte die Ablegung eines Treueeides auf die Volksrepublik Polen voraus), zur Verhaftung von Primas Stefan Wyszyński am 25. September 1953, zur Verurteilung des katholischen Bischofs Czesław Kaczmarek zu einer Gefängnisstrafe von zwölf Jahren wegen staatsfeindlicher Aktivitäten. (Zur gleichen Zeit wurde in der orthodoxen Kirche der Metropolit Dionizy Waledyński seines Amtes enthoben. Die orthodoxe Kirche in Polen wandte sich an das Patriarchat von Moskau und der ganzen Rus, um einen neuen Autokephalie-Akt zu erwirken, der den 1924 vom Patriarchat in Konstantinopel erlassenen Akt aufhob). 1953 leistete der polnische Episkopat unter Leitung von Bischof Michał Klepacz vor dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Józef Cyrankiewicz den Treueeid auf die Volksrepublik Polen.
Erst nach dem Ausbruch sozialer Unruhen in Poznań am 28. Juni 1956 (eine der Forderungen der ArbeiterInnen war die Freilassung von Primas Stefan Wyszyński, die am 28. Oktober erfüllt wurde) und der Einberufung des Achten Plenums des ZK der PZPR am 19. Oktober desselben Jahres kam es zum „Tauwetter“ und zur Aufhebung des Dekrets vom 9. Februar 1953 über die Besetzung von Kirchenämtern. In den Schulen wurde der Religionsunterricht eingeführt. Am Heiligabend 1956 übertrug der Polnische Rundfunk eine Ansprache des Primas von Polen und eine Mitternachtsmesse.
Westdeutschland hüllte sich zu dieser Zeit in Schweigen. Das Wirtschaftswunder dämpfte die Sehnsucht nach dem Wirtschaftsboom der 1930er Jahre, gleichzeitig wurde eine „Kultur der Scham“ gepflegt, die eine ganze Generation erfasste. Wobei häufig die Ansicht vertreten wird, dass die ahistorische Zeit des Schweigens eine unerlässliche Phase der Vergangenheitsbewältigung war. Hermann Lübbe nannte es das kommunikative Beschweigen: „[M]an schwieg, obwohl man genau wusste, warum man schwieg“ (Nach Wóycicki 2004, S. 69). Erst in den 1960er und 1970er Jahren fand der Übergang zu einer Kultur der Schuld und der Gewissensreifung statt. Einer Kultur, deren Fundamente nicht nur die elitären Ansichten der Frankfurter Schule bildeten (das vom deutschen Philosophen Theodor W. Adorno, einem der Begründer der Frankfurter Schule, beschriebene Auschwitz-Syndrom), deren gesellschaftliche Wirkmächtigkeit erst durch die Studentenrevolte von 1968 sichtbar wurde, sondern auch Ereignisse wie die Veröffentlichung von Karl Dietrich Brachers Studie Der Zerfall der Weimarer Republik 1955, die der NS-Forschung eine neue Richtung gab (Bracher untersucht darin detailliert Hitlers Herrschaftssystem und stellt, entgegen der damals verbreiteten stereotypen Vorstellung, unter anderem fest, „dass Hitler Anarchie und Chaos stiftete, was dem Ziel diente, seine Macht zu festigen“ (Wóycicki 2004, S. 80), die Uraufführung von Friedrich Dürrenmatts Besuch der alten Dame (1956), die Gründung der Zentralen Stelle für die Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg (1958), die Publikation von Günter Grass’ Blechtrommel (1959) und schließlich der Eichmann-Prozess, der von 1960‒1962 ein zentrales Thema der öffentlichen Diskussion in der BRD war.
In Polen kam es mit der Tauwetter-Periode unter Gomułka zu einer Wende in der Diskussion über die gegenseitigen Beziehungen (die manchmal auch als Entdeckung des „anderen Deutschlands“ bezeichnet wird), als liberale katholische Laienkreise eine – rückblickend – kaum zu überschätzende gegenkulturelle Rolle zu spielen begannen, indem sie einen überaus progressiven Versöhnungsdiskurs initiierten, der sowohl für die Kirche selbst als auch für alternative gesellschaftliche und staatliche Projekte belebend wirkte. Nach dem Polnischen Oktober 1956 wurde das Milieu der Wochenzeitung Tygodnik Powszechny (die seit 1945 existierte) und der ebenfalls liberal-katholischen Monatszeitschrift Znak (die ein Jahr später gegründet wurde) durch den Warschauer Klub der Katholischen Intelligenz (Klub Inteligencji Katolickiej; KIK) verstärkt, der eine Sonderstellung einnahm: Der Klub war einerseits unabhängiger von der katholischen Kirche, was sich in der ab 1958 herausgegebenen Monatszeitschrift Więź manifestierte, andererseits ging KIK aus der staatsnahen PAX-Bewegung hervor. Am 8. Juni 1955 verbot der Vatikan die Lektüre der PAX-Wochenzeitung Dziś i Jutro; in der zweiten Jahreshälfte nahmen allerdings 4.700 Priester und 2.400 katholische Laien an den PAX-Woiwodschaftsversammlungen teil (Nach Chruszczewski 1993, S. 68). Die versöhnliche Haltung der oppositionellen katholischen Znak-Elite wurde durch die Neuausrichtung des Mediendiskurses in der Tauwetter-Periode begünstigt (eine neue gesellschaftliche Dynamik, eine Liberalisierung des öffentlichen Lebens); das Phänomen Znak wurde jedoch zumeist mit dem gesellschaftlichen Milieu erklärt, aus dem die Gruppe stammte. Anna Wolff-Powęska vertritt die Ansicht, „das Besondere des gesellschaftlichen Umfeldes von Znak im Vergleich zum allgemeinen Geist des polnischen Katholizismus, mit seinem missionarischen Ethos und seiner mangelnden Toleranz, bestand vor allem darin, dass es sich hierbei um das Vorkriegsmilieu der Vereinigung der Katholischen Akademischen Jugend ‚Odrodzenie‘ (Stowarzyszenie Katolickiej Młodzieży Akademickiej ‚Odrodzenie‘) handelte“ (Wolff-Powęska 2004, S. 176), der unter anderem Jerzy Turowicz und Stanisław Stomma angehört hatten. Die Vereinigung wurde in den 1930er Jahren vom französischen Universalismus stark beeinflusst, was sich auch auf die Sichtweise der deutschen Frage auswirkte.
Diese elitäre, versöhnliche Einstellung bildete ein deutliches Gegengewicht zu der politischen Linie einer strengen Identität, die nationale und religiöse Elemente mit einer sich selbst legitimierenden, die Institution des Staates stärkenden Haltung verband. Die konfrontative, auf Vergeltung sinnende, von der kommunistischen Obrigkeit und der zu ihr in Konkurrenz stehenden institutionellen Kirche verfolgte Strategie war bis dahin auch im Tygodnik Powszechny und Znak vorherrschend gewesen. Später begannen jedoch die liberalen Stimmen der katholischen Intelligenz in Polen, obgleich sie in der Minderheit waren und einen begrenzten Wirkungsradius hatten, nicht nur das religiöse Leben mitzugestalten, sondern auch einen breiteren Diskurs zu beeinflussen. Inwieweit sind jene liberalen Meinungsäußerungen in katholischen Nischenzeitschriften heute noch für Presse- und KulturwissenschaftlerInnen sowie LiteraturhistorikerInnen von Interesse, und inwieweit waren sie für die damaligen Rezipienten tatsächlich von Relevanz? In welchem Maße prägten die AutorInnen die Weltanschauung ihrer LeserInnen und wie stark förderten sie die Bereitschaft zum Dialog mit der Außenwelt?
Die genannten Titel haben, trotz der politischen, ideologischen und marktwirtschaftlichen Turbulenzen nach 1989, ihren Status als wichtige kulturbildende Institutionen behalten. Das hohe Prestige der Zeitschriften bestimmte in starkem Maße, wie die politischen Fragen – unter anderem auch das deutsche Problem – von den intellektuellen Kreisen betrachtet wurden. Die Haltung dieser Milieus sorgte dafür, dass „ein Teil der katholischen Intelligenz auf die ‚Stunde der Wahrheit‘, nämlich die Meinungsfreiheit, vorbereitet war“ (Wolff-Powęska 2004, S. 178). Wolff-Powęska bezeichnete das beschriebene Vorgehen als Taktik der „kleinen Schritte“, um sich mit dem „anderen Deutschland“ bekanntzumachen, die Andersheit des Nachbarn wahrzunehmen, und betonte, dass die Ansichten nicht einheitlich waren, das Wichtigste war jedoch „die Häufigkeit, mit der die deutsche Problematik auftrat, die Konsequenz“ und „die Kontinuität der vermittelten Inhalte und politischen Werte“ (Wolff-Powęska 2004, S. 178).
Es ist bezeichnend, dass die weltlichen Akteure, die während der Tauwetter-Periode im deutsch-polnischen Versöhnungsprozess eine zentrale Rolle spielten, ihren Status, ihre Milieuverhaftetheit und institutionelle Zugehörigkeit nahezu über die gesamte Dauer der Volksrepublik bewahren konnten, was nicht nur für polnische Verhältnisse, sondern ostblockweit außergewöhnlich zu sein scheint. Turowicz, Stomma und Kisielewski waren Mitbegründer des Tygodnik Powszechny und behielten ihre Positionen bis 1989; Turowicz und Stomma nahmen an den Gesprächen am Runden Tisch teil; Tadeusz Mazowiecki, ein wichtiger Akteur der Transformationszeit und Architekt des neuen politischen Denkens in Polen stand der Znak-Bewegung und der Zeitschrift Więź nahe; Krzysztof Kozłowski, Redakteur des Tygodnik Powszechny, gehörte der Mazowiecki-Regierung an; Mieczysław Pszon bereitete 1989 das Treffen zwischen Mazowiecki und Kohl vor.
Die Initiativen des katholischen Laientums während der Tauwetter-Periode waren zum einen politischer Natur (so führte Stomma, der der Znak-Abgeordnetengruppe vorstand und auf Einladung von Karl Bringmann, dem Chefredakteur der Katholischen Nachrichten-Agentur, in Westdeutschland weilte, bereits 1958 mit Außenminister Heinrich von Brentano, Vertretern der Landsmannschaften (→ Vertreibung) und Hans Globke, dem Chef des Bundeskanzleramtes unter Konrad Adenauer, Gespräche über die Unverletzlichkeit der polnischen Westgrenze), zum anderen publizistischer Natur und sorgten – was mindestens ebenso wichtig war – für einen offeneren und versöhnlicheren Pressediskurs. Im Tygodnik Powszechny, der es als seine Aufgabe ansah, „der polnischen Gesellschaft die neue Generation der Deutschen zu zeigen, mit der man sprechen muss“, wurden Reportagen veröffentlicht, die ein Gegengewicht bilden sollten zu den Publikationen, in denen Westdeutschland als ein „von militaristischen und revisionistischen Kräften“ beherrschtes Land dargestellt wurde. Leopold Tyrmand äußerte im Tygodnik Powszechny die Ansicht, es liege im polnischen Interesse, „den Dialog mit Moskau durch ein Abkommen mit Deutschland auszubalancieren“ (Wolff-Powęska 2004, S. 188).
Mit dem Ende der Tauwetter-Periode verschärfte sich die Politik der kommunistischen Machthaber gegen die kirchlichen Institutionen in Polen. Immer häufiger wurden Geistliche zum Militärdienst einberufen, 1959 wurden strenge Steuervorschriften erlassen, und im August 1958 erging ein Rundschreiben des Bildungsministeriums über die Einhaltung des schulischen Säkularitätsprinzips, wonach es verboten war, im Schulgebäude religiöse Symbole anzubringen, vor oder nach dem Pflichtfachunterricht zu beten, vonseiten des Lehrpersonals religiöse Praktiken für die SchülerInnen zu organisieren und Mitglieder von Ordensgemeinschaften an staatlichen Schulen mit dem Religionsunterricht zu betrauen (Chruszczewski 1993, S. 75).
Da 1960 gerade einmal 26 % der Schulen Religionsunterricht anboten (während es im Jahr zuvor noch 85 % der Schulen gewesen waren), begann die Kirche, Katechetische Punkte einzurichten. 1961 verabschiedete der Sejm das Gesetz über die Entwicklung des Bildungs- und Unterrichtswesens, in dem der Religionsunterricht außerhalb der Schule als „richtig und vorteilhafter“ bezeichnet wurde, mit dem Ergebnis, dass bis 1966 etwa 20.000 Katechetische Punkte entstanden, in denen vier Millionen Kinder und Jugendliche Religionsunterricht erhielten – 88 % der GrundschülerInnen nahmen an der Katechese teil (Nach Chruszczewski 1993, S. 75, 80). Obwohl die weltliche Obrigkeit versuchte, die Katechetischen Punkte zu kontrollieren und zu überwachen, indem sie verlangte, dass ihr die Teilnehmerlisten vorgelegt wurden, waren der Umfang der kirchlichen Aktivitäten und der Grad der religiösen Bildung für Ostblockverhältnisse beispiellos.
Währenddessen wurde die deutsch-polnische Problematik in der katholischen Presse gegen Ende der Tauwetter-Periode in einen breiteren internationalen Kontext eingebettet (die Erweiterung der Perspektive war laut Wolff-Powęska gleichsam eine Art Tarnung), wobei man sich auf die Enzyklika Pacem in terris Papst Johannes’ XXIII. berief. Mit Pax Christi entstand eine ökumenische Bewegung, die eine deutsch-polnische Annäherung anstrebte und 1959 in Trier ein internationales Treffen organisierte, auf dem Meditationsbegegnungen initiiert wurden. Drei Jahre später begann das Zweite Vatikanische Konzil (1962‒1965), das die christliche Welt zum Dialog aufrief (die orthodoxe Kirche war zu diesem Zeitpunkt mit etwa 500.000 Gläubigen die zweitgrößte Kirche in Polen, die Evangelisch-Augsburgische Kirche vereinigte 100.000 Mitglieder, die Evangelisch-reformierte Kirche 5.000, die Kirche der Methodisten 6.000, die Polnische Kirche der Baptisten 2.000, die Polnisch-Katholische Nationalkirche 32.000 und die Altkatholische Kirche der Mariaviten 25.000), (Nach Chruszczewski 1993, S. 80).
Am 18. November 1965 erhielten die deutschen Bischöfe in Rom von den polnischen Amtskollegen einen versöhnlichen Brief (→ Brief der Bischöfe), in dem die polnische Seite ihre deutschen Amtsbrüder zu den Millenniumsfeierlichkeiten der Taufe Polens einlud.
Die Parteiführung, die an dem Brief großen Anstoß nahm, betrachtete die Erwähnung „des Leids der Millionen von Flüchtlingen und deutschen Vertriebenen“ und das Eingeständnis, dass Polen aus dem Krieg „nicht als Siegerstaat, sondern bis zum äußersten geschwächt hervorging“ fast als Verrat an der polnischen Staatsräson. […] Die Schlussformulierung des Briefes „In diesem allerchristlichsten und zugleich sehr menschlichen Geist strecken wir unsere Hände zu Ihnen hin in den Bänken des zu Ende gehenden Konzils, gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“ war nicht nur für die Obrigkeit, sondern auch für die polnische Gesellschaft eine Herausforderung. Stellte sie doch den Versuch dar, sich von einem auf Vergeltung sinnenden politischen Denken zu lösen, in der Überzeugung, dass es keine Unschuldigen gibt, und den Beginn eines Dialogs mit den Deutschen (Wolff-Powęska 2004, S. 194).
Ein mobilisierender Faktor für die katholische Kirche in Polen war auch die Denkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands vom 14. Oktober 1965 gewesen, die „alle heiklen, die deutsche Position gegenüber Polen belastenden Probleme deutlich benannte und die Argumentation der eindeutig revisionistischen politischen Kräfte kritisierte. Die Stimme der Evangelischen war umso bedeutsamer als die katholische Kirche mit Gleichgültigkeit auf die Schrift reagierte“ (Wolff-Powęska 2004, S. 194). Die polnischen Katholiken waren auf den Brief der polnischen Bischöfe nicht vorbereitet. Nicht einmal das Milieu des Tygodnik Powszechny und Znak wusste etwas von der Initiative des polnischen Episkopats, auch nicht der niedere Klerus, der der „Botschaft“ gegenüber eher kritisch eingestellt war (Madajczyk 1994, S. 175).
Die deutsche Politik – sowohl im Osten als auch im Westen – konzentrierte sich damals nicht darauf, die Beziehungen zu Polen zu normalisieren. Die DDR konkurrierte inoffiziell mit der Volksrepublik Polen um den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zur BRD, wobei sie diesen Wettbewerb deutlich gewann, zumal sie von zahlreichen Handelsprivilegien profitierte (zu diesem Zeitpunkt gab es zwischen den beiden deutschen Staaten keine Zollgrenze). Willy Brandt, der am 28. Oktober 1969 eine sozialdemokratisch-liberale Regierung bildete, benutzte als erster westdeutscher Bundeskanzler offiziell den Namen DDR, sprach von zwei deutschen Staaten, und kündigte die Aufnahme von Gesprächen mit Polen über die deutsch-polnische Oder-Neiße-Grenze an. Im Jahr zuvor, im März 1968, hatte der Bensberger Kreis (der der katholischen Vereinigung Pax Romana angehörte) ein Memorandum veröffentlicht, das zur Aussöhnung mit Polen aufrief und „die polnischen katholischen Eliten in ihrem Mut bestärken [sollte], den Dialog mit den deutschen Protestanten und Katholiken zu intensivieren“ (Wolff-Powęska 2004, S. 196). Erzbischof Kominek, der von der Haltung der deutschen Bischofskonferenz enttäuscht war, sagte gegen Ende seines Lebens, „besser man ist ein ‚einfacher Seelsorger‘ als mit einer derart ‚widerwärtigen Sache‘ befasst, wie Politik eine sein kann“ (Wolff-Powęska 2004, S. 195).
In der Forschung wird der polnische Brief häufig, was seine unmittelbare Wirkung betrifft, als Misserfolg betrachtet. Das Dokument löste seitens der kommunistischen Machthaber eine Lawine der Kritik aus, die polnischen Bischöfe wurden des Landesverrats bezichtigt. Der Brief überraschte die katholischen Laieneliten in Polen und führte nicht zu einem sofortigen Durchbruch oder grundlegenden Kurswechsel in den internationalen Beziehungen – auch nicht zwischen den Kirchen. Dennoch überwand der Brief psychologische Barrieren, da er Themen ansprach, die bis dahin nicht öffentlich diskutiert wurden. Wolff-Powęska bezeichnete diese Aktivitäten als „Aufbau einer ‚Infrastruktur‘ der Aussöhnung“, der auf polnischer Seite von den katholischen Eliten initiiert wurde (Wolff-Powęska 2004, S. 197).
Die deutschen DialogpartnerInnen konzentrierten sich vornehmlich auf die seit 1957 bestehende Aktion Sühnezeichen (→ Aktion Sühnezeichen), Pax Christi, den Bensberger Kreis und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK). Der ostdeutsche Ableger der Aktion Sühnezeichen hatte durch seine Polenfahrten und die symbolische Arbeit in ehemaligen Vernichtungslagern die einmalige Möglichkeit, mit dem offenen, liberal denkenden, doch grundsätzlich antikommunistischen Milieu des katholischen Laientums in Polen ins Gespräch zu kommen. Der evangelische Pfarrer Erich Busse, der in der Aktion Sühnezeichen und in der demokratischen Opposition in der DDR aktiv war, schrieb:
Die ersten Jugendfahrten aus der DDR nach Polen wurden von den Kreisen des Tygodnik Powszechny, des Znak und den Klubs der Katholischen Intelligenz unterstützt […]. In jenen Jahren waren die Wunden des Krieges noch frisch. Ich selbst bin damals vielen Polen begegnet, die sich geschworen hatten, nie wieder ein Wort Deutsch zu sprechen, nie wieder einem Deutschen die Hand zu geben. Außerdem versuchte die kommunistische Propaganda, die Angst vor den Deutschen und den Hass auf sie wachzuhalten und diese Gefühle für die eigenen Ziele zu nutzen. Jerzy Turowicz war indessen der Ansicht, dass der christliche Glaube von uns allen verlangt, sich für Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung einzusetzen. Er wusste, dass eine solche Welt nicht auf Gewalt fußen kann; und der einzige Weg darin besteht, die gegenseitigen Stereotype abzubauen (Erich Busse, Znaki pokuty, in: Tygodnik Powszechny (2000), http://www.tygodnik.com.pl/ludzie/turowicz/glosy/ae.html, 27.12.2012).
Gleichzeitig waren die katholischen Laien in Polen weiter bemüht, das andere Deutschland zu zeigen, indem sie katholische und protestantische Theologen wie Dietrich Bonhoeffer oder Karl Rahner in den Fokus rückten, deren Schriften Anna Morawska übersetzte. Die katholische Publizistik sorgte, vor allem durch die Texte von Władysław Bartoszewski, Józefa Hennelowa, Mieczysław Pszon und Stanisław Stomma, für Vielstimmigkeit, verschiedene Sichtweisen auf Deutschland und bot eine Alternative zur homogenen Vision der kommunistischen Mainstream-Presse. Eine ähnliche Rolle spielte Jan Turnaus Buch Den Zehn Gerechten (Dziesięciu sprawiedliwych), „das Ergebnis einer Umfrage in katholischen Zeitschriften, in der nach Erinnerungen an ‚gute Deutsche‘ während der Besatzungszeit gefragt wurde“ (Wolff-Powęska 2004, S. 200).
Sieben Jahre nach dem Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder erreichte die römisch-katholische Kirche in Polen ihr ursprüngliches Ziel – die Anerkennung der Diözesangrenzen in den westlichen und nördlichen Gebieten. Jedoch nicht durch einen kirchlichen Versöhnungsakt, sondern als Folge der neuen Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt und des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen (am 6.12.1970 unterzeichnet und am 2.6.1972 ratifiziert). Der Vertrag wurde vom liberalen katholischen Laientum in Polen positiv aufgenommen, doch der Arbeiteraufstand vom Dezember 1970 und der erzwungene Rücktritt von Władysław Gomułka, dem Vertragsinitiator (dessen Absetzung sowohl in der DDR als auch in der BRD begrüßt wurde), erschwerten die Umsetzung des Abkommens. Edward Giereks Mannschaft hatte nur sehr bescheidene Möglichkeiten, gegenüber den deutschen Staaten eine eigenständige Politik zu verfolgen, vielmehr konkurrierte man mit der DDR um die Gunst der UdSSR und BRD-Kredite. Polen, das seit Mitte der 1970er Jahre in einer Wirtschaftskrise versank, war gegen Ende des Jahrzehnts für die BRD kein attraktiver Partner mehr. Währenddessen entwickelte sich der innerdeutsche Handel, und die DDR spielte international eine immer aktivere Rolle. Nach der Krise von 1980 und der Gründung des Unabhängigen Selbstverwalteten Gewerkschaftsbundes Solidarność (Niezależny Samorządny Związek Zawodowy Solidarność; NSZZ Solidarność) verlor die DDR-Führung das Vertrauen in die kommunistische Regierung Polens und versuchte, aus Furcht vor einer „Konterrevolution“, die Kontakte zu Polen zu begrenzen. Die 1980er Jahre waren gekennzeichnet durch eine stetige Verschlechterung der Beziehungen zwischen Polen und der DDR und durch eine deutliche Annäherung zwischen der DDR und der BRD. Allerdings wurde dieser Sachverhalt der polnischen Öffentlichkeit verschwiegen beziehungsweise seine Bedeutung kleingeredet – was angesichts der Abwesenheit eines zivilgesellschaftlichen Lebens und öffentlicher Diskussionen nach der Verhängung des Kriegsrechts nicht schwerfiel. Gleichzeitig wurde in Polen die Position der römisch-katholischen Kirche weiter gefestigt (die Verflechtung der religiösen und der nationalen Identität nahm durch die Wahl Karol Wojtyłas zum Papst am 16. Oktober 1978 noch zu) und das gesellschaftliche Vertrauen in die religiöse Institution (aber auch das Gefühl der Bedrohung durch religiöse Minderheiten) zusätzlich gestärkt. Die Kirche „öffnete ihre Pforten für Gläubige und Nichtgläubige und wurde zu einem Forum des ungezwungenen Gedankenaustausches“, wodurch es unter anderem möglich wurde, die Diskussion über Vorurteile gegenüber den Deutschen fortzusetzen (Wolff-Powęska 2004, S. 203).
Die gesellschaftliche Dynamik war bei der Streikwelle, die der Verhängung des Kriegsrechts vorausging und mit der Unterzeichnung des Abkommens zwischen der Regierung und dem Betriebsübergreifenden Streikkomitee (Międzyzakładowy Komitet Strajkowy) am 3. September 1980 endete, ähnlich wie bei früheren Protesten und sozialen Mobilisierungen, auch religiös motiviert. Infolge eines am 21. September 1980 geschlossenen Kompromisses übertrug der Polnische Rundfunk erstmals eine Sonntagsmesse (aus der Heilig-Kreuz-Kirche in Warschau); am 10. November empfing der Primas von Polen unmittelbar nach der Registrierung des Unabhängigen Gewerkschaftsbundes eine Delegation der NSZZ Solidarność mit Lech Wałęsa; und am 15. Januar 1981 erhielt eine von Lech Wałęsa geleitete Solidarność-Delegation eine Audienz bei Papst Johannes Paul II. Im gleichen Jahr wurden in den Krankenhäusern Seelsorgestellen eingerichtet, die Fakultät für Sozialwissenschaften an der Katholischen Universität Lublin reaktiviert und erste Gottesdienste in Gefängnissen abgehalten. Im Rahmen religiös-patriotischer Feierlichkeiten wurden Denkmäler zur Erinnerung an den Posener Arbeiteraufstand vom Juni 1956 sowie an die Opfer des Aufstands vom Dezember 1970 enthüllt. Im September 1981 nahm der Primas von Polen erstmals in der Geschichte der Volksrepublik Polen an der feierlichen Eröffnung des Akademischen Jahres an der Universität Warschau teil – beim Festakt an der Jagiellonen-Universität in Krakau war Kardinal Franciszek Macharski zugegen.
Nach der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 begann die westdeutsche Gesellschaft, ungeachtet der engeren deutsch-deutschen Beziehungen und der Distanzierung von der Politik der polnischen Regierung, Spendensammlungen zu initiieren und Pakete nach Polen zu schicken – auch aus der DDR wurden, wenn auch in kleinerem Umfang, Pakete verschickt. Diese Aktionen, die auch nach der Aufhebung des Kriegsrechts fortgesetzt wurden, hatten eine große Bedeutung und können auf zweierlei Weise beschrieben werden: Zum einen aus der Perspektive des kollektiven Gedächtnisses einer Generation, die sich freute, an einem behelfsmäßigen Ersatz der imaginierten westlichen Konsumwelt teilhaben zu dürfen (die „Gaben“ aus dem Westen erlaubten es, sich auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs zu versetzen), und zum anderen als Fortsetzung eines mühsam aufgebauten Dialogs der intellektuellen Eliten beider Völker, der jahrzehntelang am Rande, außerhalb oder im Widerspruch zum Mainstream der großen Politik stattfand, die von den politischen Zentren geprägt wurde, die die Macht zu monopolisieren suchten – einschließlich der symbolischen Macht, die die kollektiven Bilder vom Fremden, die Modelle der Nachbarschaft, das historische Gedächtnis und den Stil, wie die gemeinsame Zukunft ausgehandelt wird, bestimmt. Auf der existentiellen Ebene stellten die Pakete (die nicht von ungefähr auch als zrzuty, als „abgeworfene Ladung“ bezeichnet wurden) eine Möglichkeit dar, an buntere, ausländische Kleidung, gelben Käse und Fruchtsaftgetränke zu kommen, die über die Gemeinden – oft nach dem Religionsunterricht – als Belohnung für die regelmäßige Teilnahme am Gottesdienst verteilt wurden, wodurch erstens, mittels ökonomisch motivierter positiver Sanktionen, die Kultur der katholischen Frömmigkeit gefördert und zweitens, ein neuer normativer Bezugsrahmen geschaffen wurde, der das Land dem freien, demokratischen, satten, utopischen Europa näher brachte, ein Bestreben, das unter anderem mit der kirchlichen Identität verbunden war.
Die kirchlichen Aktivitäten gingen über die rein seelsorgerische Tätigkeit hinaus; man versuchte, mit dem Massenkino Schritt zu halten und auf diese Weise das eigene kulturelle Angebot zu erweitern. In den Katechesesälen der Gemeinden wurden dank des kirchlichen Videorekorders, neben kitschigen italienischen und amerikanischen Großproduktionen über das Leben Christi und alttestamentliche Stoffe, auch Actionfilme mit Arnold Schwarzenegger, amerikanische Komödien und Sciencefictionfilme gezeigt (jedoch keine deutschen Filme; die Produktion des westlichen Nachbarn wiederum hielt in Form raubkopierter Erotikfilme Einzug in die polnischen Haushalte; ab den 1980er Jahren wurde die deutsche Sprache nicht nur mit den gebrüllten Befehlen der nationalsozialistischen Besatzer assoziiert, sondern auch mit einfachen Sätzen aus den pornografischen Produktionen, die auf den unteren Regalen der Schrankwände versteckt wurden).
Die römisch-katholische Kirche griff gern auf dezidiert nichtkonfessionelle Botschaften zurück – wobei man sittliche Zurückhaltung wahrte und zumeist auf konservative Hollywood-Großproduktionen setzte. Das beschriebene Vorgehen hatte jedoch nicht nur mit dem Pragmatismus der religiösen Institution zu tun, zumal – wie Helmuth Juros feststellte – die Haltung der institutionellen Eliten, in diesem Fall der kirchlichen Eliten in Polen und Deutschland, von weiter reichenden Faktoren beeinflusst wurde, von den Aktivitäten der Laien und Geistlichen,
die aus humanistischen und christlichen Beweggründen heraus handelten und dabei oft persönliche Risiken und Opfer in Kauf nahmen. Zu nennen sind hier die Znak-Gruppe, Aktion Sühnezeichen und die deutsche Friedensinitiative Pax Christi, das ZdK und der KIK, das Maximilian-Kolbe-Werk, die Hochschullehrer und Künstler, die gemeinsame wissenschaftliche und kulturelle Projekte vorantrieben, das Zeugnis der Vertriebenen aus der ehemals deutschen Heimat und aus den früheren polnischen Ostgebieten, das Engagement der „Solidarność“-Gewerkschafter und all diejenigen in den Partnergemeinden und -kommunen, die während des Kriegsrechts humanitäre Hilfe leisteten. Für viele von ihnen ging es um mehr als nur die Beziehungen zwischen Polen und Deutschen: um die Schaffung demokratischer Zellen und die Stärkung der freiheitlichen Kräfte innerhalb der Opposition angesichts einer totalitären Herrschaft, um zu guter Letzt gemeinsam ein neues politisches System in einem vereinten Europa zu entwerfen (Juros 1998, S. 80).
Die in Polen bis dahin vorherrschende Vision einer liberalen, der Welt zugewandten Kirche, die als Brücke zu den europäischen Werten und als Schlüssel zur Moderne verstanden wurde, als eine Institution, die die Demokratisierung, den Aufbau der Zivilgesellschaft und die Wiederherstellung des gesellschaftlichen Vertrauens – sowohl horizontal als auch vertikal – beförderte, verlor jedoch nach 1989 an Strahlkraft oder wurde zumindest unschärfer. Wie bedeutsam diese Umwertung war, davon zeugt zum Beispiel das Buch Vertrauen. Das Fundament der Gesellschaft (Zaufanie. Fundament społeczeństwa) von Piotr Sztompka. Der renommierte polnische Soziologe bekannte, dass es als Reaktion auf die Erosion des Vertrauens während der ersten Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość; PiS) entstanden war, die ihre Herrschaft mit deutlicher Bezugnahme auf die kirchlichen Institutionen zu legitimieren versuchte (Sztompka 2008, S. 9).
Diese Unschärfe hing zum einen damit zusammen, dass starke Akteure die politische Bühne verließen, die bemüht gewesen waren, den Einfluss der kirchlichen Institutionen zu bekämpfen oder zumindest zurückzudrängen (am 23. November 1989 wurde das Amt für Religiöse Angelegenheiten abgeschafft; am 17. Juli 1989 verkündeten der Vatikan und die polnische Regierung die Wiederaufnahme von diplomatischen Beziehungen), und zum anderen mit dem Bewusstsein der Kirche, das innerlich heterogen war, nicht nur in der Vertikalen – entsprechend der Aufteilung in Laientum, niederen und höheren Klerus –, sondern auch in zahlreichen anderen Kategorien variierte, deren Gebrauch die öffentliche Meinung nach 1989 erst erlernen musste. Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems feierten verschiedene gesellschaftliche Projekte und Bestandteile des Vorkriegsdiskurses – auch konfliktbehaftete Elemente, die mit religiösen Narrationen verbunden waren – fröhliche Urständ. Manche Motive bezogen sich auf tatsächliche, noch immer akute Probleme – betrafen die Diskussion um das Konkordat oder den Religionsunterricht, der durch einen Beschluss des Ministers für Nationale Bildung vom 3. August 1990 an den Schulen wiedereingeführt wurde.
Einige Elemente wurden aufgegriffen, obwohl ihre Anwendungsmöglichkeit in der neuen Wirklichkeit verschwindend gering war. Dies galt zum Beispiel für die Kategorie des Fremden, die in konservativen und integristischen Kreisen zum Teil antisemitische Emotionen auslöste (→ Antisemitismus). Weiterhin lebendig waren auch Vergeltungsnarrative, unter anderem eindeutig konfrontative und antideutsche Narrative, die von integristischen Milieus gepflegt wurden. Darauf wiesen WissenschaftlerInnen in ihren Forschungsarbeiten über die frühen 1980er Jahre hin. Helmuth Juros stellte fest:
Die deutschen Bischöfe mahnten, dass auch die Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Deutschen aus den westlichen Gebieten Polens nicht verharmlost werden dürfe, sondern als Ungerechtigkeit und Rechtlosigkeit bezeichnet werden müsse, gleiches gelte für die vertriebenen Polen aus den ehemaligen Ostgebieten, die enigmatisch „Repatrianten“ und „Siedler“ genannt wurden. Der Widerstand der polnischen Bischöfe angesichts dieser historischen Wahrheit dauerte bis in die 1970er und 1980er Jahre fort: Gewöhnt in den propagandistischen Schemata der „wiedergewonnenen Gebiete“ zu denken, in denen „sogar die Steine Polnisch sprechen“, äußerten sich die Kirchenoberen bei Gedenkfeiern noch lange Zeit so, als wären diese Gebiete ausschließlich von Slawen besiedelt worden und die Deutschen dort bloß zufällige Bewohner oder Besatzer gewesen. Entgegen der historischen Wahrheit behauptete man bis vor kurzem, dass erst mit den polnischen Siedlern „die Kirche hierher zurückgekehrt“ sei […]. Selbst die Reden des Papstes bei seinen Pilgerreisen nach Polen waren nicht frei von derartigen Behauptungen und Untertönen, die diplomatische Interventionen und Richtigstellungen nach sich zogen (Juros 1998, S. 79).
Die Steine, „die Polnisch sprechen“, erwähnte Bischof Sławoj Leszek Głódź noch Mitte der 1990er Jahre während einer Messe anlässlich des Polnischen Unabhängigkeitstages am 11. November im Breslauer Dom in Anwesenheit des deutschen Konsuls und stimmte unmittelbar danach das gegen die Germanisierung im preußischen Teilungsgebiet gerichtete patriotische Lied Rota von Maria Konopnicka an. Konfrontative Narrative fielen bei den im Laufe der Zeit stärker werdenden konservativen katholischen Medien, zu denen auch das mediale wie soziologische Phänomen Radio Maryja gehörte, auf fruchtbaren Boden. Anna Wolff-Powęska schrieb 2000 über den katholischen Radiosender:
In der Zeitschrift Rodzina Radia Maryja gaben Dozenten der KUL, weltliche wie geistliche, ihrer Überzeugung Ausdruck, dass Polen anderen Völkern die christliche Zivilisation gebracht, niemandem jedoch geschadet habe. Die Empörung der kommunistischen Machthaber über die denkwürdigen Worte der polnischen Bischöfe von 1965, „Wir vergeben und bitten um Vergebung“, die im Übrigen von der großen Mehrheit der Gesellschaft geteilt wurde – wie zahlreiche Studien belegen –, zeigt, wie sehr es verletzt, wenn man einem Volk das Recht abspricht, auf die eigene Vergangenheit stolz zu sein, da dies die tiefsten menschlichen Emotionen in Schwingungen versetzt (Wolff-Powęska 2004, S. 329).
Das Neuinterpretieren und Spekulieren über einzelne Motive der gemeinsamen Geschichte setzte sich in Polen in den folgenden Jahrzehnten der Transformation und des neuen pluralistischen Systems fort. Dennoch wurde der politische und mediale Diskurs in den ersten Jahren nach 1989 noch in großem Maße von den eher liberalen und versöhnlichen Eliten mitbestimmt, die unter anderem dem katholischen Laientum des Znak- und Tygodnik-Powszechny-Milieus zuzurechnen waren. Bereits im Dezember 1989 fand in Krzyżowa eine Messe für die deutsch-polnische Versöhnung statt, an der Tadeusz Mazowiecki und Helmut Kohl teilnahmen. Am 14. November 1990 wurde in Warschau → der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden → Grenze unterzeichnet und am 17. Juni 1991 der Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit.
Allerdings verlief die innerkirchliche Diskussion in den ersten Jahren nach dem Umbruch nicht immer reibungslos – auf dem deutsch-polnischen Bischofstreffen in Gniezno (vom 20. bis 22. November 1990) kam es zu heftigen Kontroversen über die Interpretation der gemeinsamen Geschichte. Der Versuch, eine ausgewogenere Bilanz zu ziehen, wurde erst 1995 mit einem Gemeinsamen Wort der polnischen und der deutschen Bischöfe anlässlich des 30. Jahrestages des Hirtenbriefes der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder unternommen. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Karl Lehmann, sagte damals:
Die deutschen und die polnischen Bischöfe haben am 13. Dezember 1995 erstmals ein Gemeinsames Wort verkündet. Es war ein langer Weg dorthin, seit der Versöhnung im November und Dezember 1965. Manchem erschien der Weg von 1965 bis 1995 als zu lang. […] Es wurde eine Versöhnung erreicht, zwischen dem polnischen und dem deutschen Volk (Nach Juros 1998, S. 83).
Die Tatsache, dass erst 1995 ein Gemeinsames Wort verkündet werden konnte, zeigt nur zu deutlich, wie schwierig sich zwischen 1965 und 1995 die Beziehungen zwischen der polnischen und der deutschen Kirche gestalteten. Beeinflusst wurden diese aber auch durch Ereignisse wie den Besuch von Primas Wyszyński und Kardinal Wojtyła in Deutschland 1978; die Einrichtung einer gemeinsamen Kontaktgruppe für deutsch-polnische Angelegenheiten, wie zum Beispiel die Seelsorge der Polen in Deutschland und den Schutz des kulturellen Erbes der Deutschen in Polen (geleitet wurde die Gruppe von Erzbischof Jerzy Stroba und Bischof Franz Hengsbach); die 1980 gemeinsam vorgebrachte Forderung, Pater Maximilian Kolbe heiligzusprechen; die deutsch-polnischen Bischofstreffen 1990 in Gniezno und 1992 in Mainz; sowie die Neubesetzung der Kontaktgruppe 1994. In den 2000er Jahren begannen das deutsch-polnische Verhältnis auf der staatlichen Ebene und die Beziehungen zwischen beiden Ländern im Rahmen des innerkirchlichen und ökumenischen Dialogs immer stärker auseinanderzudriften. Die offeneren, versöhnlicher eingestellten, innerkirchlichen Kreise, konzentrierten sich darauf, sich selbst zu legitimieren und die eigenen Positionen zu festigen, die religiösen Narrative bezogen sich immer weniger auf Deutschland. Allmählich erfolgte, gemäß den allgemeinen Tendenzen in Europa, eine Säkularisierung der deutsch-polnischen Beziehungen – zumindest für eine gewisse Zeit (Juros 1998, S. 77ff.).
Ein wichtiger Wendepunkt im polnischen öffentlichen Diskurs über die Rolle der Kirche war der Tod von Johannes Paul II., der eine Explosion an Emotionen in den Massenmedien auslöste, und die Überwindung der Scham, im öffentlichen Raum religiöse Gefühle zu zeigen. Mitte der 2000er Jahre kam es zu einer Konsolidierung des rechtsnationalen Milieus, das die sowohl vom konservativen als auch vom liberalen Lager gern benutzten Oppositionen (EU/Wirheit, Modernität/Tradition, (europäische) Eliten/Nation) umwertete. Indem man von einer schlichten Euroskepsis oder gar EU-feindlichen Haltung Abstand nahm, weckte man Hoffnungen auf eine katholische Avantgarde, „eine spirituelle Alternative für ein säkularisiertes Europa“ von polnischer Seite. Die anfängliche Euphorie, die mit dem Projekt der Vierten Republik einherging, bestärkte rechte Kreise in dem Glauben, Polen könne mit Hilfe christlicher Werte Europa neues Leben einhauchen. Diese Vision einer konservativ-katholischen Revolution lässt sich bis zu einem gewissen Grad vergleichen mit den Hoffnungen, die in die Projekte eines „Dritten Weges“ gesetzt wurden, den die postkommunistischen Länder aufgrund ihrer Erfahrungen der imaginierten westlichen „Zivilisation“ offerieren sollten.
In den folgenden Jahren kam es jedoch zu einer nicht nur für Polen charakteristischen Festigung der Identität und Verhärtung der weltanschaulichen Positionen; im politischen Diskurs, aber auch in thematisch anders ausgerichteten Medien (oftmals in integristischen katholischen Publikationen) tauchten zudem wieder kontroverse Äußerungen über die deutsche Minderheit und die gegenseitige Geschichte auf. Der westliche Nachbar erscheint darin mitunter als „Krypto-Besatzer“. 2004 schrieb Anna Wolff-Powęska in ironischem Ton über Radio Maryja:
Die Vision von zehn Millionen Deutschen, die, nachdem sie zuvor das Elsass und Lothringen aufgekauft haben, „blutgetränkten“ polnischen Boden besetzen, ist furchterregend. Tschechien steht unmittelbar davor, „Deutsches Protektorat“ zu werden. In dem heimtückischen deutschen Plan, ein deutsches Mitteleuropa zu errichten, bildet Polen nur einen Brückenkopf. Und nicht zufällig haben die Deutschen ihre Hauptstadt nach Berlin verlegt, „die auf unnatürliche Weise direkt hinter unserer Grenze liegt“ (Wolff-Powęska 2004, S. 37).
Deutschland fungiert jedoch auch als warnendes Beispiel des Verfalls und der linksliberalen Verderbnis (ähnlich wie in Russland mit leeren Kirchen in Deutschland, die als Beweis für den Niedergang des säkularisierten Europas herhalten müssen, Ängste geschürt werden).
Der deutsch-polnische Dialog findet inzwischen auf einer niedrigeren Stufe statt (ein Beispiel für die schlichtende Rolle, die die Kirche auf der lokalen Ebene spielen kann, ist der Mord an den Protestanten in Nieszawa 1945). Die Gefahr „permanent wiederholter und rituell zelebrierter Gesten der religiös-moralischen Aussöhnung“ scheint gebannt worden zu sein (Juros 1998, S. 83). Deutschland hörte auf, ein fremdes Land zu sein, für Teile der Gesellschaft – auch für die unteren Schichten – wurde es gleichsam zu einem imaginierten Sehnsuchtsort, und die Deutschen zu einer normativen Bezugsgruppe, die das ästhetische Empfinden beeinflusste und – dank Arbeitsaufenthalten, Verwandtenbesuchen, Gebrauchtwagenkäufen, Shoppingtouren und Partyausflügen – Einblicke gewährte in andere Lebensstile, anderes Konsum- und Freizeitverhalten usw.
Als attraktiv erwies sich Deutschland auch für die polnische Linke (die neue Linke, die bemüht ist, sich vom postkommunistischen Erbe zu lösen), für anarchistische, libertäre Kreise und für die (vor allem in den 1990er Jahren antiklerikal eingestellten) Hausbesetzer, die immer häufiger auf Punk-Konzerten und Wagenplätzen in Deutschland anzutreffen waren, von deutschen Freunden finanziell unterstützt wurden, mit alten Autos, ausgesondertem Gerät etc.
Mit der Zeit wurde die Kirche von einem Teil der polnischen Intellektuellen als rückschrittlich wahrgenommen, was sich auch im medialen Diskurs niederschlug. Laizität wird immer häufiger mit Pluralismus in Verbindung gebracht und mit der Privatisierung der Religion gleichgesetzt. Zugleich hat im letzten Vierteljahrhundert in Polen ein Sittenwandel stattgefunden; Verständnis und Ausdruck der Sexualität, die Beziehungen zwischen den Generationen und das Modell der Familie haben sich verändert; und die Einstellung zu LGBT-Personen hat sich verbessert (trotz der immer noch unrühmlich hohen Homophobie-Werte im Vergleich zu anderen EU-Ländern und der Rückschritte, was die gesellschaftlichen Moralvorstellungen betrifft, nach 2015).
Doch noch bis zur konservativen Wende 2015 war die öffentliche Debatte in Polen von religiösen Narrativen durchdrungen, die innerkatholische Gegensätze, klerikale und antiklerikale Motive, freilegten. Demgemäß strebte man eine Minderheitskirche frei von Politik oder eine expansive Mehrheitskirche an. Entsprechend dieser Logik wurde auch die Rolle der Gemeinde, das Verhältnis zwischen Laientum und Klerus sowie Fragen des Zölibats und der innerkirchlichen Zensur erörtert. Die katholische Kirche spielte zudem eine zentrale Rolle in der Pro-Life/Pro-Choice-Auseinandersetzung, die in der öffentlichen Debatte einen immer größeren Raum einnahm. Gleichzeitig kam es auf der horizontalen Ebene zu einer deutlichen Individualisierung der Religion, einer „Entkirchlichung“ (Wójtowicz 2004, S. 7), die sich zunächst jedoch vor allem im privaten beziehungsweise im intimen Bereich abspielte.
In der vertikalen Sphäre beobachteten ReligionswissenschaftlerInnen im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts statt universalistischer Tendenzen eine Rückbesinnung auf feste Identitäten, ein Nachlassen dialogischer Bestrebungen sowie taktische Bündnisse zwecks Konfrontation mit anderen Zivilisationen. Dennoch bezeichnete Pfarrer Erich Busse, der sich große Verdienste um die gegenseitige Aussöhnung erworben hatte, die deutsch-polnischen Beziehungen als vorbildlich. Allerdings machte Busse diese Einschätzung, noch bevor 2015 die nationalistische, die katholische Kirche finanziell und rechtlich favorisierende Partei Recht und Gerechtigkeit die polnischen Parlamentswahlen gewann. Seit der Bildung einer neuen Regierung und dem offen erklärten „Kulturkampf“ ist man wieder zur antideutschen Rhetorik zurückgekehrt, was das Verhältnis der Polen zu den Deutschen, wie soziologische Studien zeigen, erneut verschlechterte (Agnieszka Łada-Konefał, Czy retoryka antyniemiecka PiS jest skuteczna? Tak, zobacz na kogo najbardziej działa in: Oko.Press (2021) 13 lipca, https://oko.press/czy-retoryka-antyniemiecka-pis-jest-skuteczna-tak-zobacz-na-kogo-najbardziej-dziala, 21. 06. 2022) und zu noch schärferen Meinungsunterschieden, je nach politischer Sympathie, führte (Kucharczyk, Łada 2021). Die antideutsche Rhetorik wurde nach 2015 in den Regierungsmedien konsequent reproduziert (das endlose Sampeln der aus dem Kontext gerissenen Worte „für Deutschland“ von Donald Tusk in den Nachrichtenprogrammen und politischen Gesprächsrunden des Fernsehsenders TVP inspirierte zahlreiche Witze und Memes). Die Erosion der journalistischen Unabhängigkeit spiegelte sich schnell in entsprechenden Untersuchungen wider. 2022 belegte Polen Platz 66 in der Rangliste der Pressefreiheit (World Press Freedom Index), während es 2015 noch auf Platz 18 lag.
Aus kommunikologischer Sicht mindestens ebenso wichtig und aus soziologischer Perspektive noch wesentlich bedeutsamer waren allerdings die Ereignisse, die durch das Verfassungsgerichtsurteil vom 22. Oktober 2020 und dessen Veröffentlichung im Gesetzblatt der Republik Polen am 27. Januar 2021 ausgelöst wurden. Das Verfassungsgericht entschied, dass ein Schwangerschaftsabbruch aufgrund einer „hohen Wahrscheinlichkeit einer schweren, irreversiblen Schädigung des Fötus oder einer unheilbaren, sein Leben bedrohenden Krankheit“ im Widerspruch zur Verfassung steht (Frąckowiak-Sochańska, Zawodna-Stephan et al. 2022, S. 5). Die als „Frauenstreik“ (Strajk Kobiet) bezeichnete Protestwelle gilt als bedeutendste soziale Bewegung in Polen nach 1989 und wurde von einer Mehrheit der Bevölkerung unterstützt (von bis zu 70 % der Befragten – Umfrage 2021), (Sondaż: spada poparcie dla Strajków Kobiet, in: WNP.pl 23.02.2021, https://www.wnp.pl/parlamentarny/wydarzenia/sondaz-spada-poparcie-dla-protestow-strajku-kobiet,126658.html, 21.06.2022). Gleichzeitig sank das Vertrauen in die römisch-katholische Kirche in Polen drastisch. Verschärft wurde die Krise noch durch den Film Sag es bloß niemandem (Tylko nie mów nikomu) der Gebrüder Sekielski über die Vertuschung von Pädophilie in der Kirche und die Aufdeckung weiterer Missbrauchsskandale, der im Mai 2019 in die Kinos kam. Eine wichtige Rolle spielten in diesem Zusammenhang auch die investigativen Publikationen von Zbigniew Nosowski, dem Chefredakteur der katholischen Zeitschrift Więź. Interessanterweise wurde Nosowski 2021 für seine Artikelreihe Wir gedulden uns und bitten um Geduld (Przeczekamy i prosimy o przeczekanie) – eine bittere Anspielung auf ein lichteres Kapitel der institutionellen Religion in Polen – für den Grand Press nominiert. Im September 2020 sank der Prozentsatz derjenigen, die die römisch-katholische Kirche unterstützen, auf unter fünfzig Prozent (das entspricht einem Rückgang um dreizehn Prozent innerhalb von drei Jahren). Wobei der stärkste Vertrauenseinbruch bei jenen Personen zu beobachten war, die noch einige Jahre zuvor erklärt hatten „Ich habe großes Vertrauen“. Wie Zbigniew Nosowski schreibt: „Die Erosion des Vertrauens schreitet selbst unter den Gläubigsten der Gläubigen voran.“
Aus dem Polnischen von Andreas Volk
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