Sebastian Mrożek

Der Österreich-Mythos in der polnischen Popkultur



Der wichtigste Bezugspunkt des polnischen Österreich-Mythos ist die Habsburgermonarchie. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die Schlacht am Kahlenberg 1683 (Bogucka 2009, S. 185f.), als der polnische König Jan III. Sobieski wesentlich dazu beitrug, die Türken zu vertreiben, die das habsburgische Wien belagerten, und damit nicht nur – wie Ewa Godlewska aus heutiger Sicht feststellt – die Hauptstadt der österreichischen Monarchie, sondern auch die österreichische Staatlichkeit verteidigte (Godlewska 2016, S. 105).  Dieses Ereignis setzte zuletzt auch der – von der Kritik verrissene – italienisch-polnische Monumental- und Historienfilm Die Belagerung von Renzo Martinelli aus dem Jahr 2012 ins Bild (Pietrasik 2012, S. 80).  Und ebendiese Habsburgermonarchie wird hundert Jahre nach ihrer Errettung an vorderster Stelle an den Teilungen Polens mitwirken. Österreichs Anteil an der polnischen Rzeczpospolita ist ein Gebiet, das offiziell Königreich Galizien und Lodomerien heißen wird und dessen wichtigste Städte Krakau und Lemberg sind. Hauptstadt dieses neuen Königreichs wird Lemberg, nicht das vor kurzem noch königliche Krakau – die historische Hauptstadt Krakau wird zu „einer Provinzstadt an der Peripherie einer fremden Großmacht“ (Małecki 2007, S. 163).  Entgegen der heute in Polen weit verbreiteten Überzeugung war die Situation der Polen in der ersten Phase der österreichischen Herrschaft schwieriger als im russischen oder preußischen Teilungsgebiet – aufgrund des starken Zentralismus der monarchischen Herrschaft, die eine intensive Germanisierungspolitik betrieb und Manifestationen des Polentums, sowohl im Verwaltungs- und Schulwesen als auch im kulturellen Leben, konsequent unterdrückte. Dieser Aspekt der Geschichte des österreichischen Teilungsgebietes gerät in der allgemeinen Rezeption häufig in Vergessenheit, stattdessen wird Galizien mit einem Raum liberaler Freiheiten, einer Art Ersatz polnischer Staatlichkeit gleichgesetzt. Diese Liberalisierung fand tatsächlich statt, doch erst nach 1866, nach der Niederlage im Preußisch-Österreichischen Krieg, als das politische System in Wien verändert wurde, wodurch die einzelnen Länder des Habsburgerreiches, und damit auch das Königreich Galizien und Lodomerien, eine größere Autonomie erhielten. Zuvor war dies nur phasenweise der Fall gewesen – zu Zeiten der sogenannten Republik Krakau (1815–1846) und während der Revolutionen von 1848/1849, nach der der antipolnische Kurs erneut massiv verschärft wurde. 1866 richtete der Galizische Landtag eine Ergebenheitsadresse an den österreichischen Kaiser, die mit den Worten endete: „[…] aus tiefstem Herzen erklären wir, zu Dir, allergnädigster Herr, stehen wir und wollen wir stehen“ (Zitiert nach Grodziński 1996, S. 209).  Das angeführte Zitat prägte lange Zeit die Wahrnehmung Galiziens als politisch loyal gegenüber der kaiserlichen Herrschaft in Wien. Es war jedoch auch Ausdruck eines politischen Realismus; statt Konspiration und bewaffnetem Unabhängigkeitsstreben wollte man mit Österreich lieber einen Kompromiss eingehen, wobei man sich von der Gegenseite Zugeständnisse versprach, die längerfristig zu einer bedingungslosen Respektierung der nationalen Rechte der Polen führen sollten (Dziadzio 2007, S. VII–IX).  Franz Josephs Porträt, das in vielen galizischen Häusern hing, auch nach dem Fall der k. u. k. Monarchie 1918, wurde zu einem Symbol dieser Haltung.

Die Zuerkennung der Autonomie in den späten 1870er und frühen 1880er Jahren neutralisierte die Germanisierungstendenzen in Galizien. Als Preußen unter Bismarck seine polenfeindliche Politik verschärfte, unter anderem im Rahmen des „Kulturkampfes“ und der Preußischen Ansiedlungskommission, begann sich die Situation der Polen in Österreich zu verbessern. Auf diese Weise entstand der Mythos der galizischen Freiheit, der von einer Renaissance des polnischen Nationalbewusstseins begleitet wurde. Diese Entwicklung wurde vor allem dadurch begünstigt, dass die polnische Sprache in Schulen, Gerichten, Ämtern sowie ins politische Leben zurückkehrte. Zwangsläufige Folge dieser Veränderungen war ein Aufblühen des polnischen Kulturlebens, das sowohl im russischen als auch im preußischen Teilungsgebiet seinesgleichen suchte. Einen Höhepunkt bildete Ende des 19., Anfang des 20. Jhs. unter anderem die künstlerische Strömung „Młoda Polska“. Erst von diesem Zeitpunkt an kann die Donaumonarchie als eine sanfte Besatzungsmacht bezeichnet werden. Und ebendiese Zeit prägte sich ins Bewusstsein der nachfolgenden Generationen ein und schuf das Bild des gutmütigen Kaisers Franz Joseph, während Galizien zum „polnischen Piemont“ stilisiert wurde (Kłańska 1991, S. 7).

Galizien, mit seiner Hauptstadt Lemberg und dem konkurrierenden Krakau, wurde damals, ähnlich wie Piemont für Italien, zum Zentrum der nationalen Bewegung. Hierbei handelt es sich jedoch um die polnische Perspektive der in Galizien stattfindenden Veränderungen. Aus Sicht vieler Österreicher, vor allem der deutschsprachigen Beamten, die ihre Versetzung nach Galizien als „Verbannung“ betrachteten, stellte sich die Situation völlig anders dar, denn sie hielten das an der Peripherie der Monarchie gelegene Galizien für „ein halbwildes Land ‚weit weg von Wien‘“ (Kłańska 1991, S. 7).  Der polnische Galizien-Mythos steht folglich im krassen Gegensatz zum österreichischen Anti-Mythos, demzufolge Galizien ein Synonym für Schmutz, Armut, Verwahrlosung, Ineffizienz und Alkoholismus ist. Allerdings übte die polnische Kultur auf die österreichischen Beamten, die zur Germanisierung nach Galizien geschickt worden waren, eine nicht unerhebliche Anziehungskraft aus, so dass sie – wie der für seine Galizien-Romane bekannte Schriftsteller Andrzej Kuśniewicz feststellte – oftmals in der zweiten oder dritten Generation zu „eifrigen Verfechtern des Polentums“ wurden (Galicja, Galicja. Z Andrzejem Kuśniewiczem rozmawia Włodzimierz Paźniewski, in: Odra 1989, Nr. 10.).  Sie schlugen nach und nach im polnischen Traditionsgut und Brauchtum Wurzeln und polonisierten sich (Röskau-Rydel 2011).  Zu dieser Gruppe gehören unter anderem die polnischen Polonisten und Slawisten Karol Józef Estreicher, Aleksander Brückner, Tadeusz Lehr-Spławiński und Juliusz Kleiner, aber auch bekannte Kulturschaffende der Gegenwart, wie zum Beispiel Jerzy und Maciej Stuhr, beide, Vater wie Sohn, herausragende polnische Theater- und Filmschauspieler. Deren Vorfahren, sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits, waren Ende der 1870er Jahre aus Niederösterreich nach Krakau gekommen (https://e-teatr.pl/wrastanie-w-krakow-a70885, 24.3.2021).  Seinen persönlichen Prozess der Akkulturation, das Wurzelschlagen im polnischen Galizien beziehungsweise im polnischen Krakau sowie dessen soziokulturelles Gefüge beschrieb Jerzy Stuhr vor Jahren in der Familiensaga Die Stuhrs, Stuhrowie (Stuhr 2008).

Im Zuge der politischen Lockerungen während des Polnischen Oktobers 1956, als es möglich wurde, Themen aufzugreifen, die in der offiziellen polnischen Kultur bis dahin nicht vorkamen, wurde der polnische Galizien-Mythos um neue Akzente bereichert. Unmittelbar nach dem Krieg war es verboten, den Verlust ostgalizischer Gebiete an die Sowjetunion, genauer gesagt an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik, mitsamt Lemberg, das bis 1918 die Hauptstadt des Königreichs Galizien und Lodomerien war, auch nur zu erwähnen. Ab Ende der 1950er Jahre erfolgte dann allmählich die literarische Entdeckung Galiziens, die eindeutig dem Topos „Das verlorene Reich/Paradies der Kindheit“ (→ Osten), und zwar in einer stark idealisierten Form, zuzuschreiben ist. Die polnische Literatur ignorierte die damalige reale Wirklichkeit, die „die Wirklichkeit eines rückständigen Landes voller nationaler, religiöser, gesellschaftlicher und kultureller Widersprüche“ (Kaszyński 1999, S. 49) war. Die konträren Sichtweisen auf Galizien – hier die polnische Idealisierung, dort die österreichische Abwertung – entsprachen den jeweiligen Bedürfnissen beider Seiten. Die Entdeckung Galiziens war aus polnischer Perspektive auch deshalb wichtig, weil man nicht mehr nur aus einer rückständigen, peripheren Provinz voller Widersprüche nach Wien blickte, sondern die Monarchie auch als einen Ort begriff, an dem Polen wichtige politische Ämter bekleideten – sowohl auf der Ebene des Galizischen Landtages als auch auf der gesamtstaatlichen Ebene, zum Beispiel als Minister, Ministerpräsident oder Präsident des Abgeordnetenhauses (Nowak 2016, S. 230).  Mancher Pole legte in Galizien den Grundstein für seine berufliche Karriere, die anschließend im österreichisch-ungarischen Herrschaftssystem ihre Fortsetzung fand. Adelsfamilien wie die Czartoryskis, Dzieduszyckis, Lanckorońskis und Lubomirskis wurden auf diese Weise Teil der habsburgischen Geschichte (Godlewska 2016, S. 105).

Ein weiterer Wendepunkt war das Jahr 1989. In den letzten gut zwanzig Jahren fand der Begriff „Galizien“ Eingang in den „Kresy-Diskurs“, den Diskurs über die ehemaligen polnischen Ostgebiete, und durch die Aufhebung der Zensur wurde es möglich, im öffentlichen Raum überhaupt nicht oder nur begrenzt existierende Themen zu enttabuisieren. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Galizien-Mythos in der polnischen Populärkultur vor 1989 nicht vorkam. Erinnert sei an die außerordentlich beliebte Komödie K. u. k. Deserteure (C. K. Dezerterzy) aus dem Jahr 1985, die Verfilmung des gleichnamigen Tagebuchromans von Kazimierz Sejda. Der Film von Janusz Majewski, der während des Ersten Weltkriegs spielt, zeichnet ein recht groteskes Bild von Österreich-Ungarn und hält gleichzeitig den Mythos des polnischen Galiziens aufrecht – obwohl die Handlung vor allem in einer Garnison in der ungarischen Provinz angesiedelt ist. Deren unfähige Besatzung setzt sich zusammen aus Vertretern fast sämtlicher Völker, die in der österreichisch-ungarischen Monarchie leben. Die Garnison ist so etwas wie ein Mikrokosmos der Monarchie mit all ihren inneren Widersprüchen, Unsinnigkeiten und Absurditäten. Deren besonderes Merkmal ist die herrschende Sittenlosigkeit (Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens im Garnisonsstädtchen ist ein Bordell) sowie die Insubordination der Soldaten, die der örtliche Garnisonskommandant zu tolerieren scheint.

Das groteske Bild der Garnison wird durch die Tatsache verstärkt, dass die Handlung während des Krieges spielt. Statt Zucht und Disziplin herrscht Freizügigkeit, und die Soldaten planen ihre Flucht, die spöttisch als „Operation Federbett“ bezeichnet wird. Das Karikaturistische der ganzen Situation wird dadurch unterstrichen, dass keiner der Soldaten in der Lage ist, die österreichische Kaiserhymne korrekt zu singen – sie kennen weder die richtige Melodie, geschweige denn den Text. Zweifel wecken auch ihre Deutschkenntnisse. Überhaupt überrascht die Abwesenheit der Österreicher, die lediglich als Offiziere in Erscheinung treten, die aber mit der Besatzung der Garnison nicht fertig werden beziehungsweise es nicht einmal versuchen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die militärischen Befehlshaber den eigenen Staat sabotieren.

Die in Österreich-Ungarn herrschenden Freiheiten und die daraus resultierende Autonomie Galiziens werden im Film zu einer Parodie ihrer selbst. Die Donaumonarchie erscheint als ein pathologischer, im Verfall begriffener Raum, seine Degeneration übt gleichzeitig jedoch, gerade wegen der erlaubten Freiheiten, eine große Anziehungskraft aus. Der fehlende Wille, sich unterzuordnen, jener nach außen hin als Anarchie erscheinende Zustand, ist paradoxerweise Ausdruck einer seit Jahren funktionierenden Ordnung, nämlich das Ergebnis eines raffinierten Spiels zwischen einer eher schwachen Herrschaft und deren Untertanen. Sowohl die Insubordination als auch die Ineffizienz der habsburgischen Strukturen sind, so wie sie in K. u. k. Deserteure gezeigt werden, charakteristisch für die polnische Narration des Niedergangs Österreich-Ungarns. Die Wiener Perspektive ist eine völlig andere, was zum Teil im Film selbst angedeutet wird, insbesondere durch die Figur des neuen stellvertretenden Garnisonskommandanten, der von den einzelnen Volksgruppen, aus denen sich das Habsburgerreich zusammensetzt, also von den Tschechen, Slowaken, Slowenen, Bosniern, Kroaten und Polen, ziemlich stereotype Vorstellungen hat. Und obwohl sie alle formal gesehen österreichische Staatsbürger sind, halten sie sich nicht für solche. Aus Sicht des neuen Stellvertreters sind sie bestenfalls „eine Herde slawischer Rindviecher“, unfähig, ein eigenständiges Leben zu führen, und nichts weiter als „politisch suspekte Schweinehunde“.

Galizien war bereits zu Lebzeiten Aleksander Fredros, und auch später zu Zeiten des Kabaretts Zielony Balonik (Der grüne Luftballon, 1905–1912), Gegenstand von Witzen und Satiren. Die der Region eigene Widersprüchlichkeit diente als unerschöpfliche Inspirationsquelle. Bolesław Faron schreibt über das damalige Krakau: „Eine Stadt der Kontraste. Einerseits Apathie, muffige Atmosphäre, fehlender Glaube, jemals die Unabhängigkeit wiederzuerlangen, Loyalität gegenüber der Teilungsmacht, andererseits wiederum Versuche, der Stadt Leben einzuhauchen […]. Krakau war – als eine Stadt der Gegensätze – ein hervorragendes Beobachtungsfeld für Satiriker, es lieferte sowohl jenen von der schreibenden Zunft als auch jenen, die mit Zeichen- und Bleistift arbeiteten, genügend Anschauungsmaterial“ (Faron 1997, S. 16f.). Aus diesen Kontrasten erwuchs nicht selten etwas Absurdes. Eine der Formen, in der sich diese Widersprüche beziehungsweise Absurditäten artikulierten, war das intensive satirische Leben, für das Galizien berühmt war. Es existierte eine Vielzahl von Satirezeitschriften, wie Diabeł (Der Teufel), Szczutek (Nasenstüber) und Liberum Veto, sowie Kabaretts, die hauptsächlich in Cafés auftraten, wie besagter Zielony Balonik, dessen Vorstellungen in der Krakauer Cukiernia Lwowska (im Volksmund Jama Michalika genannt) in der ulica Floriańska 45 zur Verbreitung der typischen Galizienbilder beigetragen haben, die bis heute in der polnischen Vorstellungswelt präsent sind.

Das Caféleben bestimmte den Alltag, sowohl in Krakau als auch in Lemberg – es orientierte sich am Vorbild des Wiener Kaffeehauses, dessen unerreichbares Ideal das Café Central war. Im Café fand das intellektuelle und künstlerische Leben – und auch das Kabarett – statt. Der Zielony Balonik spottete in seinen, meist improvisierten, Darbietungen über die spießbürgerliche Welt, den Mief des Kleinbürgertums, oder nahm aktuelle Ereignisse des gesellschaftlichen und künstlerischen Lebens in Galizien aufs Korn. Insbesondere die satirischen Puppenspiele in der Neujahrszeit (Szopki) waren charakteristisch dafür.

Ermöglicht wurde das lebhafte satirische Treiben durch die – für die damalige Zeit – außergewöhnliche Meinungsfreiheit in Österreich-Ungarn. Stanisław Witkiewicz schrieb scherzhaft:

In Galizien herrscht vollkommene Freiheit, es ist erlaubt ‚Noch ist Polen nicht verloren!‘ zu sagen und zu singen, es ist erlaubt, von der Wiederherstellung zu sprechen, es ist erlaubt, im altpolnischen Oberrock und mit Krummsäbel herumzulaufen. Diese Freiheit ist darauf zurückzuführen, dass niemand glaubt, dass Polen nicht verloren ist, niemand danach strebt, Polen wiederherzustellen, und altpolnische Oberröcke und Krummsäbel zu ethnografischen Zeichen wurden, an denen man in einer Menschenmenge loyaler Untertanen die Polen erkennt (Zitiert nach Faron 1997, S. 16).

 Der Preis der Autonomie war besagte Loyalität, die wiederum zu einer spezifischen Apathie führte: Die Treue zur habsburgischen Krone vermittelte ein Gefühl der Sicherheit, motivierte jedoch nicht dazu, Veränderungen herbeizuführen, konservierte vielmehr den bestehenden Zustand, jenen spezifischen, von der galizischen Tradition als heilig erachteten Status quo. Dies erklärt gleichsam die galizische Neigung, den Alltag zu zelebrieren und zu genießen, so dass man den Eindruck gewinnt, die Zeit in Galizien verginge langsamer. Dies war womöglich der Grund, wieso vor allem die Zugereisten Galizien für rückständig hielten (was aufgrund des landwirtschaftlichen Charakters der Region nicht nur ein subjektives Gefühl oder das Ergebnis übertriebener Fantasie, sondern eine unbestreitbare Tatsache war). Aber darin schien auch – wie von jenen, die sich für diesen geografischen Raum begeistern, immer wieder betont wird – der Charme Galiziens zu bestehen.

 Bis heute zieht die Stadt Krakau, mit ihrem ruhigen, geradezu langsamem vom Caféleben geprägten Rhythmus, aus diesen Vorstellungen Profite. Das Caférestaurant Jama Michalika weckt auch heute noch – wie Michał Rożek in seinem Krakau-Reiseführer schreibt – „Erinnerungen an die Młoda Polska und die Künstler des Fin de Siècle“. Das Gleiche lässt sich über das Café und Restaurant Hawełka im Pałac Spiski mit seiner österreichisch-ungarischen Attribuierung (Kaiserlich-Königlicher Hoflieferant) oder das Café und Restaurant Europejska im Palais Pod Krzysztofory, dessen Interieur an den Stil der Wiener Sezession erinnert (Rożek 2005, S. 45), sagen. Beide Orte befinden sich direkt am Krakauer Hauptmarkt (Rynek Główny), dessen Besonderheit nicht nur in der außergewöhnlichen Dichte an Cafés und, in der Sommerzeit, den zahlreichen Schanigärten besteht, in denen man dem Kaffeegenuss frönen kann, sondern auch in der heute noch lebendigen Tradition der Krakauer Droschken, die lange Zeit nach dem Wiener Vorbild Fiaker genannt wurden. Auf diese Weise drückte die Hauptstadt der Donaumonarchie Galizien ihren Stempel auf, und Galizien seinerseits schien der Habsburger Metropole näher zu sein. Während sich die galizischen Bewohner, sei es aus Lemberg oder Krakau, der Hauptstadt Österreich-Ungarns so nahe fühlten, dass sie an der europäischen Kultur teilnehmen konnten, schien den hauptstädtischen Beamten die Versetzung nach Galizien einer Verbannung in die tiefste, weit von Wien entfernte Provinz gleichzukommen. Letzten Endes konnten weder Lemberg noch Krakau, noch andere galizische Städte oder Städtchen mit dem Leben in der habsburgischen Hauptstadt Schritt halten.

Die Armut Galiziens setzte nicht nur den österreichischen Beamten zu. Der überwiegende Teil der Bewohner des Königreichs Galizien und Lodomerien lebte de facto in Armut, was eine gewaltige Auswanderungswelle, vorwiegend in die Vereinigten Staaten, zur Folge hatte. So wanderten zwischen 1880 und 1900 aus Galizien hunderttausende Polen in die USA aus (Bogucka 1991, S. 285).  Norman Davies schreibt, dass in den fünfundzwanzig Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs mehr als zwei Millionen Menschen Galizien verließen (Davies 1992, S. 190).  Aus dieser Zeit stammt die verbreitete und auch heute noch gebräuchliche Bezeichnung „Centuś“ (jemand, der jeden Cent, damals in Galizien die kleinste Geldeinheit, umdreht, bevor er ihn ausgibt) für den Bewohner Galiziens, und insbesondere Krakaus. Es wäre nicht vermessen zu behaupten, dass Geiz der dunkelste Fleck im heute in Polen vorherrschenden Galizien-Bild ist.

Interessanterweise enthält das Bild keinen Hinweis auf das in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. aufkeimende nationale Bewusstsein der Ukrainer und nimmt folglich auf die polnisch-ukrainischen Spannungen, Streitigkeiten und Kämpfe keinen Bezug. Die polnische Wahrnehmung Galiziens ignoriert die Tatsache, dass diese Region nicht nur die Wiege der polnischen, sondern auch der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung war. Die Mythologisierung Galiziens und die Besonderheit des österreichischen Teilungsgebietes als das sanfteste Besatzungsregime aller drei polnischen Teilungsgebiete stützt sich bis heute auf die Vorstellung der friedlichen Koexistenz der dort lebenden Völker: der Polen, Juden, Ukrainer und Deutschen. Der arkadische Mythos wurde in Polen zu einer Figur, die das kollektive Denken über Galizien prägt. Das Ende der Existenz Galiziens – mit dem Untergang der Habsburgermonarchie 1918 – intensivierte den Prozess der Mythologisierung. Polens Verlust seiner Ostgebiete nach dem Krieg, im Zuge der Konferenz von Jalta, insbesondere der Verlust Lembergs, der ehemaligen Hauptstadt Galiziens, verstärkte die Nostalgie, die jahrelang vor allem in individuellen und familiären Erinnerungen ihren Ausdruck fand. Nach 1989 waren Galizien, Österreich und Franz Joseph wieder Teil der öffentlichen Diskussion über die Vergangenheit und wurden Gegenstand wissenschaftlicher Analysen sowie einer fortschreitenden Kommerzialisierung. Der Mythos gewann schnell an Wert, was nicht nur von Händlern und Dienstleistern ausgenutzt wurde, sondern auch von den Stadtoberen Krakaus, die sich die Abwesenheit Lembergs innerhalb der polnischen Nachkriegsgrenzen zunutze machten und sich (erfolgreich) zum Haupterben der galizischen Tradition erklärten.

Mit dem Attribut „galizisch“ schmücken sich zahlreiche Krakauer Restaurants, Kneipen und Hotels sowie verschiedene kulinarische Genüsse. Beliebtheit erfreuen sich auch die galizischen Jahrmärkte, die entweder in den Sommerferien, wie z. B. in Tarnów, oder wie in Krakau in der Vorweihnachtszeit stattfinden. Auf diesen Märkten werden meist regionale Erzeugnisse zum Verkauf angeboten: Keramik, Kunstschmuck, Skulpturen und Gemälde sowie Viktualien wie Wurstwaren, Käse, Honig oder Liköre. Das bekannteste Produkt ist der „galizische Glühwein“ (grzaniec galicyjski), der aus Rotwein, Gewürzen – Ingwer, Zimt und Nelken – und Naturhonig gemacht wird. Er ähnelt dem deutschen Glühwein, der wie sein galizischer Namensvetter in der kalten Jahreszeit serviert wird. Auf traditionelle Gaumenfreuden aus Galizien hat sich auch die Geschäftskette Krakowski Kredens (Krakauer Anrichte) spezialisiert, deren Firmenname mit dem Zusatz „Galizische Tradition“ versehen ist. Die angebotenen Waren wurden – so die Devise der Firma – nach Rezepturen aus dem ehemaligen Galizien hergestellt. Den Produkten beigefügt sind Informationen über ihre Herstellung, ihren Herkunftsort, ihre Schöpfer sowie ausgewählte Anekdoten. Die Verfasser dieser kurzen Erzählungen sind Mieczysław Czuma und Leszek Mazan, die Autoren der 1998 erschienenen galizischen Enzyklopädie Österreichisches Palaver (Austriackie gadanie), in der sie die LeserInnen mit leichter Feder und augenzwinkerndem Humor auf eine Reise in die galizische Vergangenheit mitnehmen, in eine vergangene, untergegangene Welt, die zwangsläufig in der mythologisierenden Galizien-Narration wiederersteht. Am besten vertieft man sich in die Lektüre dieser eigentümlichen Mythologie bei einer Tasse Kaffee der Marke Stary Lwów (Das alte Lemberg), der „im Herzen Galiziens gebrannt wird“, wie auf der Verpackung zu lesen ist. Nicht zufällig heißt der Produzent „Wiener Kaffee“, der im ukrainischen Lwiw seinen Firmensitz hat und seinen Kaffee an polnische Lebensmitteldiscounter liefert. Und so materialisiert sich der Mythos in jener spezifisch galizischen, transnationalen Koinzidenz.

Aus dem Polnischen von Andreas Volk

 

Literatur:

Bogucka, Maria: Dzieje kultury polskiej do 1918 roku, Wrocław – Warszawa – Kraków 1991.

Bogucka, Maria: Historia Polski do roku 1864, Wrocław 2009.

Davies, Norman: Boże igrzysko. Historia Polski. Tom II. Od roku 1795, Kraków 1992.

Dziadzio, Andrzej: Teka Stańczyka, Kraków 2007.

Faron, Bolesław: Jama Michalika. Przewodnik literacki, Kraków 1997.

Godlewska, Ewa: Das Bild Österreichs in Polen nach 1945, in: Austria w polskim dyskursie publicznym po roku 1945. Österreich im polnischen öffentlichen Diskurs nach 1945, hg. von Agnieszka Kisztelińska-Węgrzyńska, Kraków 2016.

Golesz, Roman: Obraz galicyjskiego miasteczka w twórczości Josepha Rotha, in: Topika pogranicza w literaturze polskiej i niemieckiej, hg. von Stanisław Uliasz und Zbigniew Światłowski, Rzeszów 1998.

Grodziński, Stanisław: Z dziejów starań o prymat Krakowa w Galicji, in: Kraków – Małopolska w Europie Środka. Studia ku czci profesora Jana M. Małeckiego w siedemdziesiątą rocznicę urodzin, hg. von Krzysztof Broński, Jacek Purchla und Jan Szpak, Kraków 1996.

Kaszyński, Stefan H.: Summa vitae Austriacae. Szkice o literaturze austriackiej, Poznań 1999.

Kłańska, Maria: Daleko od Wiednia. Galicja w oczach pisarzy niemieckojęzycznych 1772–1918, Kraków 1991.

Kuczyński, Krzysztof A.: Wielobarwność pogranicza. Polsko-austriackie stosunki literackie, Wrocław 2001.

Małecki, Jan M.: Historia Krakowa dla każdego, Kraków 2007.

Nowak, Ewa: Stosunek Polaków do Austrii i Austriaków, in: Austria w polskim dyskursie publicznym po roku 1945. Österreich im polnischen öffentlichen Diskurs nach 1945, hg. von Agnieszka Kisztelińska-Węgrzyńska, Kraków 2016.

Röskau-Rydel, Isabel: Niemiecko-austriackie rodziny urzędnicze w Galicji 1772–1918. Kariery zawodowe – środowisko – akulturacja i asymilacja, Kraków 2011.

Rożek, Michał: Nietypowy przewodnik po Krakowie, Kraków 2005.

Stuhr, Jerzy: Stuhrowie. Historie rodzinne, Kraków 2008.

Wiegandt, Ewa: Austria Felix, czyli o micie Galicji w polskiej prozie współczesnej, Poznań 1997.

Wolff, Larry: The Idea of Galicia. History and Fantasy in Habsburg Political Culture, Stanford 2010.

 

Mrożek, Sebastian, Dr., verfasste den Beitrag „Der Österreich-Mythos in der polnischen Popkultur“. Er ist seit 2014 als unabhängiger Forscher tätig. Früher arbeitete er an der Pädagogischen Universität in Kraków. Er arbeitet in den Bereichen deutschsprachige Literatur nach 1945 sowie Literatur und Kultur im DaF-Kontext.

 

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