Robert Grzeszczak

Transfer von Rechtsdenken (Recht)



Bei dem Transfer von Rechtsdenken geht es um den Einfluss des deutschen Rechts auf das polnische Rechtssystem. Diese Frage kann und sollte sowohl aus einer breiten historischen Perspektive als auch aus der Perspektive einzelner Rechtsdisziplinen heraus betrachtet werden: angefangen von der Rechtsphilosophie, der Axiologie des Rechts, der Organisation des Staates und seiner politischen Institutionen, dem öffentlichen Recht (z.B. dem Verfassungs-, Verwaltungs- und Steuerrecht) bis hin zum Privatrecht (z.B. dem Zivilrecht – dem dinglichen Recht, Handels-, Familien- und Strafrecht).

Der gegenseitige Einfluss der Rechtssysteme, sowohl in Polen als auch in Deutschland, war vielfach Gegenstand heftiger wissenschaftlicher Kontroversen. Noch häufiger jedoch waren dies politische und ideologische Auseinandersetzungen, zumeist pseudowissenschaftlicher Natur. Denn die Rezeption des Rechts wurde oft als Rückständigkeit und Unterlegenheit des Rezipierenden gegenüber dem Rezipierten interpretiert. Daher versuchte man, diesen Begriff in der polnischen Rechtsliteratur durch andere Bezeichnungen zu ersetzen, wie z.B. Assimilation, Infiltrierung, Expansion, Übertragung, Transfer, Verbreitung, Einfluss, oder aber durch eine neutralere Formulierung wie „die Beziehungen zwischen dem deutschen und dem polnischen Recht“ (Matuszewski 2006, S. 15).

Sowohl die polnische als auch die deutsche Rechtsordnung sind klassische europäische (anders ausgedrückt: kontinentale) Rechtssysteme. Dies bedeutet, dass es sich dabei um Systeme des positiven Rechts handelt, das auch als Zivilrecht bezeichnet wird. Sie bildeten sich durch die Rezeption der Tradition und Kultur des Römischen Reiches (des römischen Rechts) heraus. Im Unterschied zum angelsächsischen Common Law oder Fallrecht stützt sich das in Polen und Deutschland geltende kontinentale Rechtssystem auf Gesetze, und die Aufgabe der Justiz besteht ausschließlich darin, diese anzuwenden. Das Rechtssystem selbst ist eine vollständige und geordnete Struktur von Rechtsnormen. Die Ordnung beruht darauf, dass die Rechtsnormen, die das Rechtssystem bilden, in sich geschlossen sein sollten.

In den letzten dreißig Jahren, d.h. seit der Wende von 1989, hat Polen einen schwierigen und langen Weg politischer, systemischer, rechtlicher, wirtschaftlicher und vor allem gesellschaftlicher Veränderungen zurückgelegt – von der demokratischen Transformation, der Verabschiedung einer neuen Verfassung 1997, die den Rahmen für die Ausübung der Herrschaft bildete, bis hin zu zahlreichen weiteren rechtlich-politischen Erfahrungen, u. a. im Zusammenhang mit der vollständigen Umsetzung der Verfassungsbestimmungen und dem Beitritt Polens zu supranationalen, integrierenden Organisationen wie der NATO und der Europäischen Union. Diese Prozesse sollten jedoch nicht losgelöst vom historischen Kontext betrachtet werden. Berücksichtigt werden muss insbesondere die Rezeption des deutschen Rechts in der Zwischenkriegszeit, die für die Vereinheitlichungs- und Kodifizierungsprozesse des neuen polnischen Rechts nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1918 ein wichtiger Bezugspunkt war (Garlicki 2010).

Der Umfang der Transferprozesse im Rechtsdenken hängt nicht nur von den historischen, sondern auch von den ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen ab. Je weiter die Organisation des Staates und der Gesellschaft entwickelt ist, desto komplexer der Rezeptionsprozess. Er kann darin bestehen, Rechtslösungen zu kopieren, es können aber auch partielle Entlehnungen sein, oder, wie dies heutzutage oft der Fall ist, Diskussionsanregungen, mit dem Ziel, eigene und originelle Rechtslösungen zu finden. Die Rede ist hier von der Herausbildung eines gesellschaftlichen Rechtsbewusstseins als Ergebnis der Kommunikation über Recht. Dieses Bewusstsein hat in Polen eine bedeutende Entwicklung erfahren. Es setzt sich aus vier Elementen zusammen: dem Wissen über Recht, der Bewertung des Rechts, der Haltung zum Recht und den Forderungen für zukünftige Änderungen und Reformen (de lege ferenda). Das Rechtsbewusstsein umfasst daher Aspekte wie das Ansehen des Rechts, die Rechtskultur, moralische und rechtliche Einstellungen sowie Ansichten und Meinungen, wie dieses Recht auszusehen hat. Es ist eine Art „Rechtssinn“. Die Konzeptionen des Rechtsbewusstseins ähneln folglich der „kulturalistischen“ Denkrichtung, die gerade in der deutschen Rechtssoziologie (z.B. in den Schriften von Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber) sehr stark ausgeprägt war. Soziologische Forschungen zeigen, dass die Gesellschaft in Polen ein geringes Rechtsvertrauen besitzt. Zu beobachten sind die Instrumentalisierung des Rechts und mangelndes Vertrauen gegenüber Richtern und Gerichten. Ein weiterer Faktor, der zur Ausbildung eines Rechtsbewusstseins beiträgt und die Rechtskultur fördert, sind die Gerichte und die Gerichtsbarkeit sowie die Rolle, die die Richter spielen, wobei das Ganze von der gewählten Rechtsphilosophie abhängt. Die Bedeutung des deutschen Einflusses kann hierbei nicht hoch genug eingeschätzt werden. Einer der Voraussetzungen, um die heutigen Rechtslösungen verstehen zu können, ist das genaue Studium der führenden deutschen Rechtsphilosophen. Die Vertrautheit mit den Werken von Gustav Radbruch, Ralf Dreier, Jürgen Habermas, Otfried Höffe, Robert Alexy oder Arthur Kaufmann – um nur einige zu nennen – ist der Schlüssel zu einem besseren Verständnis des polnischen Rechts und seiner gegenwärtigen Entwicklung. Und nicht zuletzt basiert das Rechtsbewusstsein auf dem jeweiligen Wertesystem der Gesellschaft. Dieses ist derzeit im Wandel begriffen; Polen und Deutschland sind seit dem EU-Beitritt Polens Mitglieder eines gemeinsamen Rechtsraumes, der auf einer gemeinsamen Axiologie gründet.

Die Rezeption des deutschen Rechts in Polen umfasst die direkte Übernahme von Rechtsnormen durch den nationalen Gesetzgeber, die Anlehnung an Lösungen aus dem deutschen Rechtssystem, die Übernahme von Rechtslösungen in der Praxis (z.B. in der Verwaltungs- und Amtspraxis) und schließlich die Rezeption von Terminologien, Rechtsinstitutionen und dem, was zuvor als Rechtsbewusstsein bezeichnet wurde.

In der Geschichte des polnischen Rechts unterscheidet man drei Perioden des intensiven und qualitativen Transfers von Rechtsdenken. Die erste ist die Zeit des Adelsstaates, in dem einzelne für die feudale Gesellschaft charakteristische Körperschaften ihre jeweils eigenen Rechtssysteme hatten, die nebeneinander existierten. Die zweite Phase fällt in den Zeitraum der Teilungen, des direkten Einflusses der Rechtssysteme der Teilungsmächte. Anschließend folgen die Jahre des modernen polnischen Staates, d.h. von der Wiedererlangung der Unabhängigkeit bis in die Gegenwart, die Epoche der Globalisierung und der europäischen Integration. Die ersten beiden Phasen werden in der vorliegenden Analyse nicht näher erörtert, da sie Teil der historischen Forschung sind. Der Einfluss des Ius Theutonicum war zur damaligen Zeit jedoch vielschichtig und nachhaltig, was sich auf die heutige Situation auswirkte. Daher ist die gleichsam „spiegelbildliche“ Ähnlichkeit des deutschen und des polnischen Rechts kein Zufall. Die Wegbereiter des modernen polnischen Rechts gingen in der Regel bei deutschen Meistern in die Lehre, die ihnen als Vorbilder dienten. Es lassen sich unterschiedliche Einflüsse der deutschen Rechtslehre auf das positive Recht in Polen erkennen: von der Kritik, die dazu anregt, eigene, originelle Lösungen zu finden, bis hin zur vollständigen Übernahme deutscher Konzepte.

Transfer von Ideen – das Beispiel des Rechtsstaates

Die deutsche Rechtsdoktrin, die deutsche Rechtspraxis (worunter die Rechtsprechung der Gerichte und die Verwaltungspraxis verstanden wird) und die deutsche Jurisprudenz (worunter hier die theoretischen Bestrebungen der Rechtswissenschaften, einen gemeinsamen Begriffsapparat für alle Rechtsbereiche zu entwickeln, verstanden wird) sind sicherlich eins der grundlegenden Rechtssysteme auf dem europäischen Kontinent, wobei die Rechtsstaatsidee, was das politische System betrifft, heute das Flaggschiff des deutschen Rechtsdenkens sein dürfte. Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit ist eine Institution, die der deutschen Tradition entstammt und in Europa eine breite Rezeption erfuhr.

Obwohl Kant in der Regel als geistiger Vater des Rechtsstaatsbegriffs gilt, wurde dieser erstmals 1798 von Johann Wilhelm Petersen (alias Placidus) und etwas später von Robert von Mohl benutzt. Beide stellten ihn dem Begriff des Polizeistaates gegenüber. Mit dem Inkrafttreten des westdeutschen Grundgesetzes 1949 erlebte der Rechtsstaat eine Wiedergeburt, als zentrales Verfassungsprinzip, auf dem das gesamte rechtlich-politische System der BRD errichtet wurde. Das Handeln der öffentlichen Gewalt sollte im Einklang mit ebendiesem Rechtsstaatsprinzip stehen. Ein bemerkenswerter Aspekt der Rechtsstaatlichkeit ist die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht aus dem Grundgesetz andere Rechtsprinzipien ableitete, die in seinen Bestimmungen nicht ausdrücklich enthalten sind, wie z.B. der Grundsatz der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit sowie das Rückwirkungsverbot. Infolgedessen funktioniert der Rechtsstaat im deutschen Rechtssystem nicht nur als Verfassungsprinzip, das die Interpretation anderer Rechtsgrundsätze bestimmt und deren Durchsetzung sicherstellt, sondern er füllt auch Systemlücken aus und dient als Begründung für eine teleologische Auslegung des Rechts. Solche rechtlichen Anwendungen des Rechtsstaates sind eher ungewöhnlich, berücksichtigt man das Fehlen einer wie auch immer gearteten Definition dieses Prinzips im positiven (vom Menschen gesetzten) Recht.

Der textliche, offene Charakter des deutschen Rechtsstaatsbegriffs war jedoch kein Hindernis für „Entlehnungen“, u. a. durch Polen. Der Transfer der Idee erfolgte formal im Art. 2 der polnischen Verfassung von 1997. Darin heißt es: „Die Republik Polen ist ein demokratischer Rechtsstaat, der die Grundsätze gesellschaftlicher Gerechtigkeit verwirklicht“. Das Rechtsstaatsprinzip ist das dominierende institutionelle Paradigma des modernen polnischen Verfassungsrechts. So wie im deutschen Rechtssystem wurde auch in Polen die Rechtsstaatlichkeit nie genau definiert, weder durch die Verfassung von 1997 noch durch die Rechtsprechung der polnischen Gerichte. Dieses aus der deutschen Rechtsdoktrin stammende Metaprinzip wurde in Polen zum Grundgerüst für ein unabhängiges und effektives Gerichtswesen, das die Kontrolle über das Recht ausübt und der öffentlichen Gewalt formelle und materielle Beschränkungen auferlegt, um das Primat des Individuums zu garantieren und es vor willkürlichen und rechtswidrigen Entscheidungen zu schützen. Die polnische Verfassungstradition zeichnet sich, ähnlich wie die deutsche, durch eine dynamische Herangehensweise an den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit aus. In der Praxis bestehen zwischen beiden Traditionen jedoch Unterschiede, und zwar in der Form, wie die Wahrung des Rechtsstaatsprinzips „institutionalisiert“ ist. Doch auch in den Werten, Grundsätzen und Standards unterscheiden sich beide Länder erheblich, was sich vor Gericht zeigt, insbesondere wenn es um die Rechte des Individuums geht. Während der beiden Legislaturperioden der Regierung der Vereinigten Rechten (2015–2023) wurde einerseits die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit in der politischen und juristischen Praxis zerstört, andererseits kam es zu einer erheblichen Vertiefung der rechtsstaatlichen Lehre in der polnischen Rechtswissenschaft.

Transfer von politischem Denken

Ab den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts unternahmen völlig neue Generationen von Juristen im System des polnischen Rechts ihre ersten Schritte, wodurch eine neue „Identität des Rechts“ aufgebaut werden konnte, die an alte Traditionen anknüpfte, diese aber in den neuen Kontext des demokratischen Rechtsstaates und der Gewaltenteilung setzte. Betrachtet man die Organisation der Montesquieu’schen Gewalten im politischen System Polens, so ist der Einfluss deutscher Rechtslösungen unverkennbar. Das westdeutsche politische System galt als Erfolgsmodell, da es in hohem Maße den Schutz der Bürgerrechte garantierte, die demokratischen Institutionen stärkte und die Rolle der Gewalten durch eine effektive Gewaltenteilung einschränkte. So beeinflusste z.B. das im Grundgesetz verankerte Kanzlersystem eine Reihe von Rechtslösungen, die in Polen nach der politischen Wende von 1989 eingeführt wurden. Dieses System ist eine Art verbessertes parlamentarisches Kabinettssystem. Die am 2. April 1997 verabschiedete Verfassung der Republik Polen enthält zwei grundlegende Ähnlichkeiten zum Kanzlersystem: das dreistufige Verfahren, um den Ministerrat (die Regierung) zu berufen, und die Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums für den gesamten Ministerrat. Zusätzlich sehen die Wahlordnungen für den Sejm und den Senat (von 1993, 2001 sowie das Wahlgesetz von 2011) bei den Wahlen zum Sejm Sperrklauseln vor: eine 5-Prozent-Hürde für die Kandidatenlisten politischer Parteien und eine 8-Prozent-Hürde für die Kandidatenlisten von Parteienkoalitionen. Trotz verschiedener Vorschläge für ein gemischtes Wahlsystem (eine Mischung aus Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht nach deutschem Vorbild) entschied man sich für eine andere Lösung.

Ein interessantes Beispiel für den Transfer von deutschem Rechts- und Verfassungsdenken war die in Polen in den Jahren 2009–2011 (und in begrenztem Umfang auch in den Jahren 2021–2022) geführte Diskussion über eine Änderung der Integrationsklausel in der Verfassung der Republik Polen. Integrationsklauseln sind Bestimmungen, die einem Staat die Integration in die EU ermöglichen. Eine solche Klausel findet sich in Art. 90 Abs. 1 der Verfassung der Republik Polen. Die grundlegenden Integrationsbestimmungen im deutschen Verfassungsrecht sind der Art. 23 des Grundgesetzes (im Folgenden: GG) sowie eine Reihe weiterer im GG verstreuter Rechtsvorschriften. Die Klausel in Art. 23 des GG war bereits 2006 und nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, der die EU-Verträge reformierte, überarbeitet, erweitert und präzisiert worden. Damals (2009) wurden weitere Änderungen am GG vorgenommen, um es an die neue politische Gestalt der Europäischen Union anzupassen. In Polen gibt es immer noch, wenn auch nicht mehr so intensiv, Vorschläge für eine Verfassungsänderung. Die Ereignisse innerhalb der EU selbst (die Krise der Rechtsstaatlichkeit in einigen Mitgliedstaaten, die COVID-Pandemie und der Krieg in der Ukraine) haben jedoch einen Schatten auf diese Initiativen geworfen, die dennoch auf die politische Tagesordnung zurückkehren werden. Interessant sind jene Verfassungen, in denen die „EU-Bestimmungen“ auf verschiedene Teile der Verfassung verstreut sind. Das „interessanteste“ Vorbild ist, wie die Protokolle der Verfassungskommission des polnischen Parlaments belegen, das deutsche Modell, das Fragen der EU-Mitgliedschaft und die Aufgaben der einzelnen staatlichen Institutionen im Rahmen dieser Mitgliedschaft ausführlich im GG regelt. Die Veränderungen des politischen Systems in Polen 1989 führten unter den Bedingungen des demokratischen Rechtsstaates zu einem völlig neuen Verständnis der Rolle und Position der Justiz. Die Situation erinnerte ein wenig an das Jahr 1918, als der entstehende polnische Staat ein neues Rechtssystem aufbaute, das auf den Systemen der Teilungsmächte, d.h. auf dem deutschen, österreichischen und russischen, gründete. Nach den eingeleiteten politischen Veränderungen 1989 griff der polnische Gesetzgeber auf gute Praktiken anderer Staaten zurück, wobei er die neuen Rechtslösungen teilweise auf Regelungen stützte, die sich in der Volksrepublik Polen bewährt hatten, diese modifizierte, mitunter grundlegend änderte, oder völlig neue entwickelte. Im Gerichtswesen galt dies für die richterliche Unabhängigkeit, die über die politische Sphäre hinausging. Sie war zur Legitimierung einer Justiz, die bürgerliche Rechte und Freiheiten garantierte, eine zwingende Grundvoraussetzung. Die unabhängige Justiz hat einen stabilisierenden Einfluss auf den Staat, seine Wirtschaft und erfüllt viele andere wichtige gesellschaftliche Ziele. Die Unabhängigkeit der Gerichte und Richter ist also kein Selbstzweck. Sie trägt dazu bei, eine Gesellschaft aufzubauen und zu stärken, die auf dem Grundsatz der Gerechtigkeit fußt. Diese Argumente lagen der Gründung neuer Organe in Polen (z.B. des Landesrates für Gerichtswesen [Krajowa Rada Sądownictwa, KRS]) und der Reform bereits bestehender Institutionen (z.B. des Verfassungsgerichts [Trybunał Konstytucyjny]) zugrunde. Übrigens wurde die Unabhängigkeit der Verfassungsorgane während der Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) in Polen, also seit 2015, systematisch untergraben. Mit der Änderung des Justizsystems hat Polen gegen das Recht der Europäischen Union und des Europarates verstoßen, was in Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 2020–2022 bestätigt wurde.

Gerichte sind neben den Organen der öffentlichen Verwaltung eine Art Filter, durch den die Gesellschaft das Recht direkt erfährt. Darüber hinaus schützen sie die Rechte und Freiheiten des Einzelnen sowie anderer Rechtssubjekte (Sarnecki 2003). In modernen demokratischen Rechtssystemen ist das Gericht ein unabhängiges staatliches Organ, das Recht anwendet und Rechtsstreitigkeiten schlichtet, über Rechte entscheidet sowie andere Handlungen durchführt, die in Gesetzen oder internationalen Verträgen festgelegt sind. So wie in Deutschland ist auch in Polen die Gerichtsbarkeit in ordentliche Gerichte und Fachgerichte unterteilt. Die ordentlichen Gerichte umfassen Zivil- und Strafgerichte. Zu den Fachgerichten zählen Verwaltungs-, Finanz-, Arbeits- und Sozialgerichte. Hinzu kommen die Verfassungsgerichte – in Polen das Verfassungsgericht, in Deutschland das Bundesverfassungsgericht und die Verfassungsgerichte der Bundesländer. Das deutsche Gerichtssystem gliedert sich in fünf eigenständige Gerichtszweige: die ordentliche Gerichtsbarkeit, die Arbeitsgerichtsbarkeit, die allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit, die Finanzgerichtsbarkeit und die Sozialgerichtsbarkeit.

Die Rechtsprechung in Polen üben, wie Art. 175 der Verfassung der Republik Polen von 1997 feststellt, das Oberste Gericht (Sąd Najwyższy), ordentliche Gerichte sowie Verwaltungs- und Militärgerichte aus. Gerichtshöfe wie z.B. das Verfassungsgericht stehen damit außerhalb der Strukturen des polnischen Gerichtswesens. Der Begriff des Rechtswesens bezieht sich aber im weitesten Sinne auch auf sie. Das System der ordentlichen Gerichte in Polen bilden Appellations-, Bezirks- und Amtsgerichte. In ihre Zuständigkeit fallen u. a. Gerichtssachen des Straf-, Zivil-, Familien- und Sorgerechts sowie des Handels-, Arbeits- und Sozialversicherungsrechts – mit Ausnahme der Fälle, in denen Sondergerichte (z.B. Militärgerichte) zuständig sind. Ordentliche Gerichte führen die Grundbücher, das Pfandregister, das Landesgerichtsregister (Krajowy Rejestr Sądowy) und das Landesstrafregister (Krajowy Rejestr Karny). Das System der Verwaltungsgerichte besteht aus dem Obersten Verwaltungsgericht (Naczelny Sąd Administracyjny) und den Verwaltungsgerichten der Woiwodschaften. Das oberste Organ der rechtsprechenden Gewalt in Polen ist das Oberste Gericht. Es übt die gerichtliche Kontrolle über die Urteile sämtlicher Gerichte aus und stellt eine einheitliche Rechtsauslegung und Rechtsprechungspraxis sicher. Im polnischen Rechtssystem gelten weder das Oberste Gericht noch das Verfassungsgericht als ordentliche Gerichte. Das Verfassungsgericht entscheidet: ob Gesetze und internationale Verträge verfassungskonform sind; ob Gesetze mit ratifizierten internationalen Verträgen – Verträgen, deren Ratifizierung einer vorherigen gesetzlichen Zustimmung bedurfte – im Einklang stehen; ob staatlicherseits erlassene Rechtsvorschriften mit der Verfassung, den ratifizierten internationalen Verträgen und den Gesetzen im Einklang stehen; ob die Ziele und Aktivitäten politischer Parteien verfassungskonform sind; über Verfassungsbeschwerden. Abgesehen von dem seit 2015 stattfindenden Abbau der Unabhängigkeit polnischer Gerichte bleibt das Justizsystem im Kern unverändert. Im polnischen Gerichtswesen begegnen wir zahlreichen Elementen, die aus dem deutschen Gerichtswesen übernommen wurden. Dabei geht es sowohl um die Rezeption allgemeiner Grundsätze als auch um konkrete Verfahrenslösungen und die institutionelle Konstruktion der Gerichte. Dies wird in der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit besonders deutlich. Die wachsende Rolle der Richter ist ein charakteristisches Merkmal des deutschen Systems, doch diese Tendenz ist in zunehmendem Maße auch in Polen und anderen Ländern zu beobachten. Man spricht nicht zuletzt von einem „Europa der Richter“, was auf die Wechselwirkung zwischen der Tradition des positiven Rechts und des von Richtern geschaffenen Rechts zurückzuführen ist. Dieses Phänomen geht mit dem Prozess der europäischen Integration einher, die das System der Rechtsquellen verändert und den Begriff der Souveränität modifiziert, indem sie den Richter vor den Gesetzgeber stellt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts, auf die sich das polnische Verfassungsgericht in seinen Urteilen bisweilen expressis verbis bezieht.

Um den Transfer von Ideen, was die Organisation von Gerichtsverfahren betrifft, zu veranschaulichen, sei auf die Übernahme eines deutschen Konzepts verwiesen: die Forderung, die Gerichte stärker am Ermittlungsverfahren zu beteiligen, wobei im Vorverfahren durchgeführte, unwiederholbare Prozesshandlungen auch vor Gericht Bestand haben. Die Annahme des deutschen Modells, mit einer starken Beteiligung des Gerichts an den Ermittlungsmaßnahmen, stand im Gegensatz zur Idee, Ermittlungsrichter einzusetzen. Das Modell des Untersuchungsrichters schlösse für einen längeren Zeitraum eine ganze Gruppe von Richtern vom Rechtsprechungsprozess aus, was sich zu der bereits bestehenden überlangen Verfahrensdauer an polnischen Gerichten zusätzlich negativ auswirken würde.

Im Bereich der öffentlichen Verwaltung (sowohl der staatlichen als auch kommunalen) wird der gerichtliche Rechtsschutz u. a. durch die Fachgerichte – Verwaltungsgerichte – sichergestellt. Es ist in Europa von heute die vorherrschende Praxis, die öffentliche Verwaltung zu kontrollieren. Das deutsche Modell, das diesbezüglich als vorbildlich gilt, zeigt, dass die Rechts- und Freiheitsgarantien der Bürger ein wirksames Mittel sind, die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsmaßnahmen zu überprüfen und die Rechte der verwalteten Subjekte zu schützen. Der Vorbildcharakter des deutschen Systems ist in der Praxis wahrscheinlich in jedem europäischen Land zu erkennen, so auch in Polen. Die Gesetzgebungen einzelner Staaten haben unterschiedliche Formen der Verwaltungsgerichtsbarkeit entwickelt. An dieser Stelle möge der Hinweis genügen, dass dies eine Folge der rechtlich-organisatorischen Vielfalt der kontrollierten Verwaltungsorgane sowie der differenzierten Formen von Entscheidungen, Maßnahmen und Handlungen der Recht sprechenden Organe ist (daher z.B. die Bildung spezieller Verwaltungsgerichte für Steuer-, Wasser-, Sozialversicherungs- und Arbeitsfragen in Deutschland).

In Polen wird die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung von den Verwaltungsgerichten ausgeübt, die der Judikative zugerechnet werden, gegenüber den ordentlichen Gerichten jedoch unabhängig sind. Es handelt sich dabei um das Oberste Verwaltungsgericht und die seit fünfundzwanzig Jahren existierenden Verwaltungsgerichte der Woiwodschaften. Obwohl das Oberste Verwaltungsgericht in der Nachkriegszeit entstand, setzt es in gewissem Maße die Tradition des Obersten Verwaltungsgerichtshofs (Najwyższy Trybunał Administracyjny) fort, einer Institution, die zu Beginn der Zweiten Polnischen Republik gegründet wurde. Verwaltungsgerichtliche Lösungen wurden am schnellsten in Deutschland ausgearbeitet. In Polen kam es zu einer intensiven Rezeption des deutschen Modells der gerichtlichen Verwaltungskontrolle. Art. 19 Abs. 4 des GG erklärt, dass jedem, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, der Rechtsweg offensteht. Klagen werden von ordentlichen Gerichten entschieden, es sei denn besondere Bestimmungen sehen die Zuständigkeit anderer Gerichte vor. Diese Verfassungsbestimmung, die eine Verwaltungsgerichtsbarkeit zwar nicht zwingend garantiert, erlaubt jedoch den Aufbau von Verwaltungsgerichten, wobei es dem Gesetzgeber überlassen bleibt, Form und Zuständigkeiten der Gerichte so zu wählen, wie er es für angemessen hält. Der Gesetzgeber schuf ein umfangreiches System von Verwaltungsgerichten und setzte damit die Tradition der preußischen Verwaltungsgerichtsbarkeit fort. Die Verwaltungsgerichte sind nicht mit der Verwaltung verbunden. In der deutschen Rechtslehre fest verankert ist der vom polnischen Gesetzgeber rezipierte Grundsatz, wonach die Hauptaufgabe der Verwaltungsgerichte der rechtliche Schutz des Einzelnen ist, während der Schutz der Rechtsordnung nur ein Nebenziel darstellt (Schmidt-Assmann 1983).

Seit dem 23. November 2002 gilt in Polen ein neues Gesetz über das Oberste Gericht. Die Geschichte des Obersten Gerichts reicht bis in die Zwischenkriegszeit zurück. Seine Stellung im System der polnischen Gerichtsorgane hat sich seitdem erheblich gewandelt. Ausgangspunkt für den Gesetzgeber in der Zwischenkriegszeit war – wie könnte es anders sein – die Anknüpfung an deutsche Vorbilder, also die Entflechtung der rechtsprechenden Gewalt und die Schaffung zweier separater oberster Gerichtsorgane: des Obersten Gerichts und des Obersten Verwaltungsgerichtshofs – anschließend kam mit dem Sozialversicherungsgerichtshof (Trybunał Ubezpieczeń Społecznych) noch ein drittes Organ hinzu. Ebenfalls in Anlehnung an deutsche Lösungen verzichtete man darauf, eine Verfassungsgerichtsbarkeit einzurichten, stattdessen wurde der Staatsgerichtshof (Trybunał Stanu) als eigenständiges politisch-gerichtliches Organ mit einigen Aspekten der verfassungsmäßigen Verantwortung betraut.

Nach einer entsprechenden Verfassungsänderung durch das Gesetz vom 20. Dezember 1989 wurden systemische Änderungen in der Konstruktion des Obersten Gerichts vorgenommen, wobei man erneut auf das deutsche Modell zurückgriff. In den Jahren 1990–2016 wurde eine völlig neue Generation von RichterInnen an das Oberste Gericht berufen, wodurch sich eine neue Identität herausbildete, die einerseits an alte Traditionen anknüpfte, das Gericht andererseits aber auch neu verortete, in einen demokratischen Rechtsstaat, in dem der Grundsatz der Gewaltenteilung gilt. Folglich wurde die fünfjährige Amtszeit abgeschafft, die RichterInnen des Obersten Gerichts waren fortan unabsetzbar. 2015 gewann die PiS die Parlamentswahlen in Polen, und es ist schwierig, zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Textes das Ausmaß der Veränderungen im polnischen System und ihre Dauer abzuschätzen. Das Gesetz über das Oberste Gericht von 2002 unterteilte dieses Organ in vier Kammern: 1.) die Zivilkammer, 2.) die Strafkammer, 3.) die Kammer für Arbeit, Sozialversicherungen und Öffentliche Angelegenheiten und 4.) die Militärkammer. Die neue Aufteilung des Obersten Gerichts in Kammern war eine Konsequenz der Verwaltungsgerichtsreform, in Folge derer die Zuständigkeiten des Obersten Gerichts für Verwaltungsfragen auf das Oberste Verwaltungsgericht übertragen wurden.

So wie im deutschen Gerichtswesen ist auch im polnischen Rechtssystem das Oberste Gericht mit dem Verfassungsgericht verbunden – und zwar durch die Institution der Verfassungsbeschwerde. Diese hat ein enormes Potential, da in allen Systemen, die sich am deutschen, weit gefassten Beschwerdemodell orientieren, das Verfassungsgericht die Möglichkeit besitzt, die gerichtliche Rechtsprechung direkt zu beeinflussen. Es kann das Handeln der obersten Gerichte koordinieren und verfassungsrechtliche Differenzen zwischen ihnen beseitigen. Diese Rezeption dauert in Polen noch immer an. Die Verfassungsbeschwerde tritt in Deutschland in zwei Formen auf: als Urteilsverfassungsbeschwerde, die sich gegen ein Gerichtsurteil richtet, das, nach Ansicht des Beschwerdeführers, gegen eine der in Art. 93 des GG verbrieften Grundrechte verstößt, sowie als Rechtssatzverfassungsbeschwerde, die sich unmittelbar gegen eine bestimmte Gesetzesbestimmung oder, im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, gegen einen Rechtsakt von grundsätzlicher Bedeutung richtet, sofern dieser verfassungswidrige Bestimmungen enthält. Der Begriff der Verfassungsbeschwerde umfasst in Deutschland zwei Rechtsmechanismen, die zur Einleitung eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht durch ein Rechtssubjekt, dessen Rechte aufgrund eines verfassungswidrigen Urteils beschnitten wurden, dienen. Im polnischen Rechtssystem kann sich die Beschwerde nur gegen eine verfassungswidrige Bestimmung richten, vorausgesetzt diese war Grundlage für ein konkretes Gerichtsurteil. Es gibt daher Stimmen, die fordern, das Verfassungsbeschwerdeverfahren nach deutschem Vorbild auszubauen. Dies könnte nützlich sein für den Schutz der Menschenrechte und dazu beitragen, dass die Verfassungsbestimmungen von Gerichten einheitlich angewandt werden. Es könnte zudem ein „neutrales“ und effektives Verfahren sein, um Kompetenzstreitigkeiten zwischen ordentlichen Gerichten (Oberster Gerichtshof) und Verwaltungsgerichten (Oberstes Verwaltungsgericht) beizulegen – zumal die zurzeit geltenden Lösungen nicht immer funktionieren.

Die im Jahr 2015 eingeleiteten kontroversen „Reformen“ des Staatssystems, u. a. auf dem Gebiet der Gerichtsbarkeit, sind immer noch im Gange. Die ergriffenen Maßnahmen zielen jedoch nicht auf die Umsetzung einer echten Justizreform ab. Stattdessen wird die Lage immer prekärer. Polen bewegt sich eindeutig in Richtung eines autoritären Staates, noch ist es zwar nicht so weit, als Rechtsstaat kann Polen aber auch nicht mehr bezeichnet werden. Das Verfassungsgericht ist gelähmt und besteht größtenteils aus Richtern, die der Regierung ergeben sind, wobei manche (sogenannte „Doubles“) bereits zuvor besetzte Stellen übernommen haben. Folglich wurde das Verfassungsgericht zu einem Marionettengericht, das dem Willen der vollziehenden Gewalt untergeordnet ist. Die Staatsanwaltschaft, die vom Justizminister stark abhängig ist, der zugleich auch als Generalstaatsanwalt fungiert, degeneriert zusehends. Die Polizei wurde politisiert und verliert rapide an Vertrauen in der Bevölkerung, u. a. durch unverhältnismäßig aggressive Reaktionen während öffentlicher Demonstrationen, eine Entwicklung, die es seit der Wende 1989 so noch nicht gegeben hat. Die unabhängige, ordentliche Gerichtsbarkeit verfällt weiter in vielerlei Hinsicht – aufgrund der verschärften Disziplinarmaßnahmen gegen Richter, der dubiosen Auslosung der Spruchkörperbesetzung und des beispiellosen Personalaustausches –, insbesondere was die Präsidenten der Gerichte und die Umstrukturierung des KRS, der für die Benennung und Beförderung der Richter in Polen zuständig ist, betrifft. Die Wahl des neuen KRS ist politisch bedingt und wurde durch den EuGH als mit den Voraussetzungen der Unabhängigkeit unvereinbar und mit dem EU-Recht nicht konform erklärt. Folglich sind die Entscheidungen des sogenannten NeoKRS mit Rechtsmängeln behaftet, was in Zukunft zur Anfechtung rechtskräftiger Urteile führen kann, wenn an der Urteilssprechung von diesem Organ nominierte oder beförderte Richter beteiligt waren. Ferner wurde durch das seit 2016 mehrfach novellierte Gesetz über das Oberste Gericht u. a. eine neue Gerichtskammer gegründet – die Disziplinarkammer (Izba Dyscyplinarna, ID), die dazu ermächtigt ist, die Immunität von Richtern aufzuheben, folglich für Disziplinarverfahren zuständig ist. Diese Kammer, die aus politisch nominierten Richtern besteht, wurde als mit dem EU-Recht unvereinbar erklärt, und ihre Tätigkeit wurde im April 2020 und erneut im Juli 2021 durch einen Beschluss des EuGH eingestellt (Die EU- und die Straßburger Gerichte fällten in den Jahren 2021 und 2022 weitere Urteile gegen Polen, in denen sie Verstöße gegen das EU-Recht und die Europäische Konvention in Zusammenhang mit den Änderungen im polnischen Justizsystem feststellten. Viele dieser Urteile wurden in Polen nicht vollstreckt und einige von ihnen führten zu hohen Geldstrafen für die Republik Polen). Hinzu kommen neue Regelungen im Bereich möglicher Disziplinarmaßnahmen und Sanktionen gegen Richter, die sich nicht an Weisungen der Regierung halten (u. a. Lohnminderung, Versetzung an weit entfernte Gerichtsstandorte sowie der Entzug der Berechtigung zur Ausübung des Richteramtes), woraus sich insgesamt das Bild eines Staates, der in Richtung Autoritarismus abdriftet, ergibt.

Die Möglichkeit, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin gerichtlich prüfen zu lassen, ist heute eine der Grundbedingungen, um die Einhaltung der Verfassung zu garantieren. In der Mehrzahl der kontinentaleuropäischen Länder wird diese Aufgabe von einem speziellen Organ der rechtsprechenden Gewalt – dem Verfassungsgericht – wahrgenommen. Das Verfassungsgericht ist ein unabhängiges Verfassungsorgan. Von einer Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland im engeren Sinne kann erst ab der zweiten Hälfte des 20.Jhs. gesprochen werden. Lange Zeit gab es keinen einheitlichen, unitären deutschen Staat. Das Bundesverfassungsgericht war im Grundgesetz (1949) vorgesehen und wurde 1951 gegründet (Sarnecki 2003). Das polnische Verfassungsgericht wurde 1982 verfassungsrechtlich verankert und erhielt 1985 seinen institutionellen Rahmen; die ersten Urteile stammen aus dem Jahr 1986. Allerdings sind es nicht nur die positiven Rechtsnormen, die das Verfassungsgericht ausmachen. Es lässt sich eine ganze Klasse von Rechtsäußerungen unterscheiden, die ebenfalls diese Funktion erfüllen; dabei handelt es sich um die Rechtsprechungsgrundsätze des Verfassungsgerichts, d.h. jene Prinzipien, die es als Organ konstituieren. Diese Grundsätze bestimmen seinen institutionellen Charakter, die gerichtlichen Zuständigkeiten und rechtlichen Durchführungsbestimmungen. In erheblichem Maße wurden diese Prinzipien vom Verfassungsgericht selbst formuliert. Es sind jedoch nicht nur Grundsätze mit Direktivencharakter, die das Gericht aus den geltenden Rechtsvorschriften ableitet, sondern auch Aussagen über das Recht. Dies hängt mit dem Rechtsbewusstsein zusammen, mit der Frage, welcher Stellenwert der Verfassung in der Rechtsordnung eingeräumt wird, und mit dem inhaltlichen Verständnis ihres rechtlichen Charakters. Aus den unterschiedlichen Rechtsverständnissen ergeben sich widersprüchliche Vorstellungen, was die Aufgaben des Gerichts sind. Hieraus resultiert auch der Streit über die „interpretativen Urteile“ des Verfassungsgerichts. Das Rechtsverständnis und die sich daraus ableitenden Verpflichtungen stehen im Mittelpunkt dieser Problematik. Die langjährigen Kontakte zwischen dem Bundesverfassungsgericht der BRD und dem Verfassungsgericht der Republik Polen haben die Rechtsprechung beider Gerichte und die Funktionsweise des europäischen Rechts in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen erheblich beeinflusst. Auf dieser Ebene kann von einer Rezeption des deutschen Rechtsdenkens gesprochen worden, obwohl sich dies natürlich nicht expressis verbis aus den Urteilsbegründungen des polnischen Verfassungsgerichts ablesen lässt. So ist z.B. der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in Bezug auf die zulässigen Einschränkungen der persönlichen Freiheiten des Einzelnen, in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mehrfach analysiert worden. Nach Ansicht des Gerichts verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Mittel, die angewandt werden, um das beabsichtigte Ziel zu erreichen, angemessen und erforderlich sind, und dass der damit verbundene Eingriff in einem vernünftigen Verhältnis zur Schwere des Falles und des Tatverdachts steht. Die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte sind dazu verpflichtet, die in Betracht gezogenen Mittel, die Ursachen und Folgen der angeordneten Intervention sowie alle sonstigen Umstände gegeneinander abzuwägen. Darüber hinaus sollte der begründete Zweifel am Beweiswert einer Maßnahme stets mitberücksichtigt werden, da der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Strafverfahren voraussetzt, dass eine Maßnahme unerlässlich ist. Auffällige Ähnlichkeiten finden sich in einer Reihe von Urteilen des polnischen Verfassungsgerichts (siehe z.B. das Urteil vom 10. Juli 2007, Aktenzeichen SK 50/06).

Auch das Oberste Gericht bezog sich auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In seinem Urteil vom 23. Juni 2009 (Aktenzeichen K 54/07) betonte das Oberste Gericht beispielsweise, dass – in Anbetracht der Würde des Einzelnen und der Wahrung der Privatsphäre (u. a. der Privatsphäre der Wohnung) – für die Zulässigkeit behördlicher Eingriffe in Form von Abhörmaßnahmen höhere Anforderungen gelten als für das Briefgeheimnis. Einen ähnlichen Standpunkt hatte das Bundesverfassungsgericht zuvor in seinem Urteil vom 3. März 2004 zum Großen Lauschangriff vertreten.

Viele der heutigen Rechtsbereiche, z.B. das Urheberrecht, das Umweltrecht, das Antidiskriminierungsrecht oder das Wettbewerbsrecht, stammen nicht aus „vaterländischen“ Rechtssystemen, sondern aus dem gemeinsamen europäischen Erbe und werden von EU-Institutionen geregelt. Gegenwärtig ist der Einfluss der EU auf das polnische Recht wesentlich stärker als der Einfluss von Deutschen, Franzosen oder Briten. Deutsches Rechtsdenken gelangt daher indirekt über die europäische Integration in die polnische Rechtslehre und -praxis. Die Zugehörigkeit zur EU erlegt den Mitgliedstaaten bestimmte Verpflichtungen auf – die grundsätzlich für alle gleich sind. Sie bestehen vor allem in der Pflicht, die EU-Normen (Verordnungen und Entscheidungen, die unmittelbar anzuwenden sind und direkte Auswirkungen auf den Einzelnen haben, sowie Direktiven, die in nationales Recht umgesetzt werden müssen) zu implementieren. Die europäische Rechtsordnung wurde Teil des nationalen Rechts, wobei dem Gerichtswesen bei der Anwendung dieser Normen eine besondere Rolle zukommt. Die Pflicht der Mitgliedstaaten, bestimmte Rechtsstandards einzuführen, ergibt sich nicht nur aus den Verträgen, sondern auch aus den Verfassungen der Staaten. In der Praxis entstehen, wenn nationale Rechtsnormen und europäisches Recht miteinander kollidieren, zweifelhafte Situationen. Für derartige Konflikte gibt es jedoch kein allgemeingültiges Lösungsmodell, auch in diesem Bereich kann von einer Rezeption bereits existierender Rechtslösungen gesprochen worden. Denn es fehlt eine eindeutige, EU-weit angewandte Regelung, eine Art goldener Mittelweg zwischen effektivem EU-Recht und der Sicherheit und Beständigkeit des nationalen Rechts und der nationalen Rechtsprechung. In diesem Zusammenhang ist ein starker Einfluss der deutschen Gerichte und der deutschen Rechtslehre auf die polnischen Rechtslösungen zu beobachten.

Ein Beispiel ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 über die Vereinbarkeit des Vertrags von Lissabon mit dem Grundgesetz. In seiner Begründung betonte das Gericht das Wesen der EU als eine zwischenstaatliche Organisation, deren Mitgliedstaaten ihre Souveränität (Kompetenz-Kompetenz) im europäischen Integrationsprozess behalten. Das Gericht legte die Grenzen der politischen Entwicklung der EU fest, wobei es sich auf die Notwendigkeit, die Staatlichkeit Deutschlands zu garantieren, auf die Einhaltung der Grundrechte, das Demokratiegebot sowie auf die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, der Sozialpolitik, des Föderalismus und der Subsidiarität berief. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hatte außerordentlich großen Einfluss auf die Debatte in Polen über die Grundregeln der EU-Mitgliedschaft und die Rolle des Parlaments in Fragen der EU-Integration. Überdies wurde das Urteil zu einem Bezugspunkt sowohl in den Diskussionen über erforderliche Änderungen der Verfassung der Republik Polen als auch in der Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichts, u. a. im Urteil vom 16. November 2011 (Aktenzeichen SK 45/09), in dem das polnische Verfassungsgericht, das die Verfassungsbeschwerde von Anna Supronowicz zu prüfen hatte, feststellte, dass keine Unvereinbarkeit zwischen der EG-Verordnung 44/2001 und der polnischen Verfassung vorliegt (siehe die Verordnung [EG] Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen). Damit erkannte das Verfassungsgericht, dass eine EU-Verordnung als normativer Akt per Verfassungsbeschwerde auf ihre Verfassungskonformität überprüft werden kann. Dieses Urteil löste in der polnischen und europäischen Rechtslehre Kontroversen aus. Bezeichnend ist, dass sich das polnische Verfassungsgericht in seiner Urteilsbegründung direkt auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts berief – zum Beispiel auf das Urteil vom 6. Juli 2010 in der Rechtssache 2 BvR 2661/06 (Honeywell-Beschluss), das sich seinerseits auf die Solange II-Entscheidung vom 22. Oktober 1986 (Aktenzeichen 2 BvR 197/83) und den Beschluss zur Bananenmarktordnung vom 7. Juni 2000 (Aktenzeichen, 2 BvR 1/97) bezog. Das polnische Verfassungsgericht übernahm zudem einzelne Punkte aus den Urteilsbegründungen des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere aus dem bereits erwähnten Gerichtsentscheid zum Vertrag von Lissabon (2009).

Im kontinentalen zivilrechtlichen System gibt es zwei Kodifikationen, die sich aus der römischen Tradition ableiten, jedoch in einem gegenseitigen Konkurrenzverhältnis stehen, die französische und die deutsche. Im Zivilrecht werden die zivilrechtlichen Beziehungen zwischen natürlichen und juristischen Personen, die rechtliche Situation von Personen und Dingen als Subjekte und Gegenstände zivilrechtlicher Beziehungen sowie der Inhalt der rechtlichen Beziehungen, der sich aus den Rechten und Pflichten der beteiligten Subjekte zusammensetzt, geregelt. Der Vergleich einzelner, in Polen und Deutschland geltender Rechtslösungen, führt zu dem Schluss, dass das deutsche Modell dem polnischen Gesetzgeber im Legislationsprozess als Vorbild dient. Die polnische Rechtslehre zitiert und kommentiert umfassend die Ansichten der deutschen Rechtsdoktrin und die Rechtsprechung der deutschen Gerichte. Der Einfluss des deutschen Rechts auf das polnische Zivilrecht lässt sich bereits in der Systematik des polnischen Zivilgesetzbuches von 1964 erkennen, das nach wie vor Gültigkeit besitzt, jedoch zahlreiche – teils revolutionäre – Änderungen erfahren hat. Die Systematik des Zivilgesetzbuches hat weitreichende Folgen für das gesamte Zivilrechtssystem in Polen. Dabei handelt es sich um das sogenannte Pandektensystem, das in der deutschen Rechtslehre des neunzehnten Jahrhunderts entstand und sich auf wissenschaftliche Analysen des römischen Rechts stützte. Charakteristisch ist die Aufteilung in den Allgemeinen Teil des Zivilgesetzbuches und in Gesetzbücher, die einer Klassifizierung in Rechtsgebiete entsprechen. Das Ergebnis ist eine Einteilung in dingliches Recht, obligatorisches Recht, Familienrecht und Erbrecht. Die gesonderte Behandlung des Familien- und Vormundschaftsrechts in einem separaten Gesetz hatte in Polen ideologische Gründe, was nichts daran ändert, dass polnische Juristen das Familienrecht als integralen Bestandteil des Zivilrechts betrachten (Liszewska 2006).

Bei genauerer Betrachtung des Allgemeinen Teils des Zivilrechts, in dem Fragen geregelt werden, die für das gesamte Zivilrecht gelten (u. a. die allgemeinen Bestimmungen für Rechtsgeschäfte), erweist sich, dass die Sanktion der Nichtigkeit von Rechtsgeschäften mit dem deutschen Rechtsdenken am engsten verbunden ist. Dies betrifft Geschäfte von Personen, die nicht geschäftsfähig sind, beziehungsweise Sanktionen für Geschäfte von Personen mit beschränkter Geschäftsfähigkeit. Im polnischen Recht gründet das Handeln von Personen auf der Organtheorie, die vom deutschen Juristen von Gierke in der zweiten Hälfte des 19.Jhs. entwickelt wurde. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass zur Willensbildung und -umsetzung von juristischen Personen in ihre Organe natürliche Personen berufen werden. Diese Theorie prägt die heutigen Rechtslösungen, die das Funktionieren juristischer Personen regeln, wie z.B. die Frage der Willenserklärung von juristischen Personen und die Problematik der Gut- oder Bösgläubigkeit ihrer Organe. Ähnlich verhält es sich mit der Rechtsinstitution der Vollmacht zur Vornahme eines Dienstvertrages. Man betrachtete die Vollmacht – wie bereits zuvor Paul Laband und Rudolf von Ihering in ihren Schriften – als einseitiges Rechtsgeschäft, das zur Vertretung des Vollmachtgebers befugt. Die erteilte Vollmacht begründet ein Rechtsverhältnis, unabhängig von einem etwaigen Vertrag. Ihren Niederschlag findet die Eigenständigkeit beider Rechtsverhältnisse (Verträge) in der Normierung der Vollmacht im Allgemeinen Teil des Zivilrechts (anders als im französischen Code civil), in dem Kapitel, in dem die einzelnen Vertragstypen geregelt werden. Die deutsche Rechtswissenschaft erklärte das Wesen der Vertretung, woraufhin die polnische Doktrin dieses Konzept übernahm. Bedeutende Rechtsprofessoren – Friedrich Carl von Savigny, was den Begriff des Vertretenen, Rudolf von Ihering und Bernhard Windscheid, was das Rechtsinstitut der Vertretung, und Otto Lenel, was die Vermittlungstheorie betrifft – legten die Dogmatik dieser Rechtsinstitutionen fest, die auch heute noch die Überlegungen in diesem Bereich prägt (Liszewska 2006). Die deutsche Rechtslehre des 19.Jhs. definierte Begriffe wie Willenserklärung, Rechtsgeschäft und Rechtsbeziehung, die sich dauerhaft in die Rechtskultur Deutschlands und Polens eingeschrieben haben. Es sind Grundkonzepte für das Zivilrecht. Natürlich ist auch in Detaillösungen der Einfluss der deutschen Rechtslehre unverkennbar, z.B. in einzelnen Regelungen, was Mängel bei der Willenserklärung oder aufschiebende und auf­lösende Bedingungen betrifft. 

Ein weiterer Bereich des Zivilrechts – das dingliche Recht – regelt die Entstehung, den Inhalt, die Änderung und das Erlöschen des Eigentumsrechts sowie anderer Rechte an Sachen. Es ist ein absolutes Recht, das erga omnes, d.h. gegenüber jedermann, wirkt. In Polen werden Fragen des dinglichen Rechts durch das zweite Buch des Zivilgesetzbuches von 1964, Eigentum und andere dingliche Rechte (Własność i inne prawa rzeczowe), und durch zahlreiche Sondergesetze geregelt, z.B. das Gesetz über Grundbücher und Hypotheken, das Wohnungseigentumsgesetz oder das Gesetz über das Registerpfandrecht und das Pfandregister. Die Ähnlichkeit deutscher und polnischer Rechtslösungen ist verblüffend. Dies erklärt sich vor allem durch den gemeinsamen Ursprung des dinglichen Rechts im römischen Recht. Die einzelnen neuzeitlichen Rechtsinstitutionen haben jedoch ihre – mehr oder weniger – eigenen, für die deutsche oder französische Rechtswissenschaft charakteristischen Lösungen herausgebildet. Im deutschen Recht sind dies zentrale Grundsätze wie der Numerus clausus der dinglichen Rechte, die Abgrenzung des Pfands von der Hypothek, die Verwirkung, direkte und indirekte Immissionen (Handlungen des Eigentümers einer Immobilie auf seinem Grundstück, die Auswirkungen auf die Nachbargrundstücke haben). Das polnische System des dinglichen Rechts ist durch einen abschließenden Katalog von Sachenrechten gekennzeichnet (ebenfalls ein Beispiel für den Transfer deutscher Rechtslösungen). Es handelt sich hierbei um den bereits erwähnten Numerus clausus der Sachenrechte, d.h. um Eigentum, Erbbaurecht, Nießbrauch, Dienstbarkeit, Pfand, Genossenschaftseigentumsrecht.

Nach den Änderungen des politischen Systems 1989 führte man – für den Staatsbesitz und den Besitz der lokalen Selbstverwaltungen – ein monistisches Eigentumsmodell ein, das man dem deutschen System entlehnte. Dagegen regeln die Franzosen die domaine publique – die öffentlichen und gesellschaftlichen Güter, die sowohl die Erzeugnisse der Natur (z.B. Wälder) als auch der Kultur (z.B. Traditionen und intellektuelle Werte) umfassen – separat. Der starke Einfluss des deutschen Rechts ist auch in den Rechtslösungen sichtbar, die ungerechtfertigte Bereicherung oder Regelungen für Surrogate betreffen. Ein außerordentlich sensibler Bereich des Zivilrechts ist das Erbrecht, das die Übertragung von Vermögensrechten und -pflichten nach dem Tod ihres Besitzers regelt. Die zivilrechtlichen Beziehungen, die zum Zeitpunkt des Todes bestehen, gehen in der Regel auf ein anderes Rechtssubjekt über und erlöschen nicht. Aufgrund des Gegenstandes der Regelung haben erbrechtliche Bestimmungen uneingeschränkte Gültigkeit. Das Familienrecht ist in der Regel ebenfalls ein Bereich des Zivilrechts, das für jedes Rechtssystem charakteristisch ist. Daher fällt es in beiden Fällen schwer, von einer Rezeption des deutschen Rechts oder eines anderen Rechtssystems zu sprechen. Dennoch wurde in Polen ein Teil der deutschen Rechtslösungen übernommen, u. a. der Schutz der engsten Familienangehörigen des Erben oder der Erbin und des Personenkreises, der Anspruch auf einen Pflichtteil hat, sowie die Rechtsinstitution der Enterbung. Dem Familienrecht sind die grundlegenden Institutionen aus dem römischen Recht bekannt, während die nationalen Gesetzgebungen in Europa hier erhebliche Unterschiede aufweisen, was mit Aspekten wie der Kultur, der Religion und dem politischen System zu tun hat. In Polen entschied man sich für Rechtslösungen, die direkt an die Regelungen des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches angelehnt sind, wonach die Rechtsnachfolge durch ein gerichtliches (deklatorisches) Schriftstück festgestellt wird, ein Zeugnis der Rechtsnachfolge des Erblassers, was den Erfordernissen der Praxis entspricht.

Eindeutig erkennbar ist auch der Einfluss des deutschen Rechts und der deutschen Rechtslehre auf das polnische Wechselrecht. Die Tatsache, dass die Vertragstheorie zur Entstehung einer Wechsel- oder Scheckverpflichtung vom polnischen Rechtssystem akzeptiert wird, mag ein Beispiel dafür sein. Diese Theorie hat ihren Ursprung in der deutschen Rechtswissenschaft. Auch für das polnische Handelsrecht, das sich nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte, waren deutsche Rechtslösungen der entscheidende Bezugspunkt. Diese Einflüsse lassen sich auch in neuen Regelungen erkennen, wie dem Gesetzbuch für Handelsgesellschaften von 2000 sowie in den Institutionen des Handelsrechts, vor allem im Konzept des Käufers, der Personenhandelsgesellschaft, der Kapitalgesellschaft in Gründung, der Aktiengesellschaft und des Handelsregisters. Im Straf- und Strafprozessrecht ist die polnische und deutsche Rechtsdogmatik in vielen Fällen, insbesondere wenn es um die Grundlagen strafrechtlicher Verantwortung geht, eng miteinander verbunden. Die deutschen Konzepte inspirierten die Diskussionen, die in der polnischen Rechtslehre geführt wurden (Liszewska 2006 r.). Dies betrifft grundlegende Fragen wie die Begriffsstruktur des Verbrechens, die Rechtswidrigkeit, die Schuld und den Katalog von Umständen, die eine strafrechtliche Verantwortung ausschließen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das deutsche Recht bereits in der Zwischenkriegszeit einen starken Einfluss auf den polnischen Gesetzgeber ausübte. Der Transfer des deutschen Rechts wurde nach dem Zweiten Weltkrieg, aufgrund der damaligen politischen Situation, schwächer. Einige Jahrzehnte lang war der Meinungsaustausch ideologisch geprägt und wurde mit RechtswissenschaftlerInnen aus der Sowjetunion geführt. Nach 1989 änderte sich die Lage jedoch. Der Einfluss der deutschen Rechtslehre verstärkte sich, und der polnische Staat begann das Rechtssystem zu reformieren, es an die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse und das neue politische System anzupassen. Das polnische Recht gründet jedoch zunehmend auf polnischem Rechtsdenken.

Aus dem Polnischen von Andreas Volk

Literatur:

Garlicki, Leszek: Ewolucja pozycji ustrojowej Sądu Najwyższego (1989–2010), in: Państwo i Prawo (2010), Nr. 11.

Grzeszczak Robert: Abdriften in den Autoratismus, in: der Hauptstadtbrief, Berlin Sommer 2021, https://www.derhauptstadtbrief.de/abdriften-in-den-autoritarismus/ [abgerufen am 8.7.2022].

Grzeszczak, Robert: The European Transformation of the Legislative, Executive and Judicial Power in Poland, in: The Transformative Power of Europe, hg. von Ireneusz Paweł Karolewski und Monika Sus, Baden-Baden 2015.

Liszewska, Agnieszka: Wybrane problemy polskiego i niemieckiego prawa karnego materialnego, in: Związki prawa polskiego z prawem niemieckim, hg. von Agnieszka Liszewska und Krzysztof Skotnicki, Łódź 2006.

Matuszewski, Jacek: Dzieje wpływów prawa niemieckiego w Polsce, in: Związki prawa polskiego z prawem niemieckim, hg. von Agnieszka Liszewska und Krzysztof Skotnicki, Łódź 2006.

Sadurski, Wojciech: Poland’s Constitutional Breakdown, Oxford 2019.

Sarnecki, Paweł: Ustroje konstytucyjne państw współczesnych, Zakamycze 2003.

Schmidt-Assmann, Eberhard: Zadania i rozwój sądownictwa administracyjnego, in: Administracja Republiki Federalnej Niemiec, hg. von Polska Akademia Nauk, Wrocław 1983.

 

Grzeszczak, Robert, Prof. Dr. habil., verfasste die Beiträge „Rechtliche Streitpunkte im deutsch-polnischen Kontext (Recht)“ und „Transfer von Rechtsdenken (Recht)“. Er ist Leiter des Instituts für die Organisation der Europäischen Union an der Fakultät für Recht und Verwaltung der Universität Warschau. Daneben ist er Vorsitzender des Rechtswissenschaftlichen Ausschusses der Polnischen Akademie der Wissenschaften (2020–2024) sowie Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates der Rechtswissenschaftlichen Disziplin der EU (2021–2024). Er arbeitet in den Bereichen des Institutionenrechts, des EU-Binnenmarkts, und des Völker- und Verfassungsrechts.

 

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