Maciej Górny
Die deutsch-polnische „Grenzmark“ (Osten) in den Wissenschaften vom Menschen (19.–20. Jh.)
Jedes kulturelle Grenzgebiet, existiert es lange genug, bringt ethnische → Stereotype hervor. Zeugnisse davon finden sich in der Volkskultur, in Reiseberichten, Reiseführern, in der schönen Literatur und der Ikonografie. Sie konzentrieren sich rund um „gemeinsame“ (wenngleich unterschiedlich bewertete) Orte und Prozesse. Das moderne wissenschaftliche Denken hat diese Stereotype keineswegs für ungültig erklärt. Im Gegenteil, einige Teilgebiete der Wissenschaften vom Menschen sind mit ihnen in einen besonders engen Kontakt getreten, wobei sie die vorwissenschaftlichen Vorstellungen mit Fachtermini und einer modernen Methodik „verkleideten“. Der vorliegende Text ist verschiedenen Ausdrucksformen dieser Symbiose gewidmet, eingebettet in den deutsch-polnischen Kontext. Dies betrifft nicht nur die Geschichtswissenschaft, sondern auch die Volkscharakterologie (ein Wissenschaftsbereich, der sich im 19. Jh. großer Beliebtheit erfreute und den Anspruch erhob, einer der wichtigsten Zweige der Geisteswissenschaften zu sein) und ab der zweiten Hälfte des 19. Jhs. auch die physikalische Anthropologie und die Archäologie. Die titelgebende „Grenzmark“ bedeutet nicht, dass die deutschpolnischen Überlegungen immer einen konkreten Grenzraum betrafen. Es ist eher eine Metapher für eine stets von Neuem festgelegte, diskutierte und in Frage gestellte Grenze (mindestens) zweier „nationaler“ Narrationen, die auf verschiedenen Ebenen verläuft, sowohl im Raum wie auch in der Zeit, und sogar im menschlichen Körper.
Den „ursprünglichen“ Vorurteilen und Stereotypen am nächsten sind vermutlich enzyklopädische Definitionen, deren objektivierende Narration häufig mit wertenden Urteilen unterfüttert ist. Stellenweise bewegen sie sich im Grenzbereich zwischen Wissenschaftlichkeit und schöngeistiger Literatur, wie bei den gelehrten Betrachtungen des deutschen Warschauers Bogumil Goltz, der die Polen (ähnlich wie die Russen, Türken und Juden) mit dem weiblichen Element gleichsetzte:
Elementare Sinnlichkeit ist es, durch welche das weich und sanft geschaffene Weib, selbst kultivierter Nationen, in eine charakterlose, schlangenlistige, gefühllose Koquette, in eine Furie; und die Engelnatur eines Kindes, in einem kleinen Barbaren, in ein unbändiges Thier, in einen brutalen Dämon verhext werden kann (Goltz 1858, S. 20).
Solche Beobachtungen von deutscher Seite waren, wie Hans Lemberg feststellte, nicht immer Ausdruck einer bewusst antipolnischen oder antislawischen Haltung: „Man schwärmte zu Zeiten für die Polen; man liebte Mazurkas und slowakische Volkstrachten; aber in die Bewunderung für Chopin und Smetana mischte sich das Staunen darüber, zu welch hoher künstlerischer Leistung, zu welchem Weltformat aber auch so schlichte Völker fähig seien“ (Lemberg 1973, S. 215). Ein den Polen gewidmeter Artikel in der ethnografischen Zeitschrift Volk aus den 1880er Jahren illustriert diese Sichtweise hervorragend. Darin heißt es:
Der Pole ist ein Sanguiniker, ein Mensch des Augenblicks, von Kopf bis Fuß. Von Natur aus edel, zu großen Opfern befähigt – selbst für Fremde –, aber nur dann, wenn die Vollbringung unmittelbar nach der rechten Entscheidung erfolgt. Denn die Begeisterung für das Edle und Schöne entweicht, nachdem sie erreicht wurde, gleich wieder aus ihm […]. Der durchschnittliche Pole lässt sich, unabhängig vom Stand, dem er angehört, eher mit einem hochbegabten und freundlichen, aber schlecht erzogenen Kind vergleichen, denn mit einem Intriganten (Zitiert nach Wajda 1991, S. 81).
Bei solchen Urteilen lassen sich deutlich zwei Elemente erkennen, die in unterschiedlichem Maße das deutsche Stereotyp der Polen und Slawen bedingen. Die Polen sind einerseits die lebhaften, redseligen und extrovertierten „Franzosen des Nordens“, andererseits primitive und manchmal auch grausame Barbaren. Die Verteilung der Akzente, die Balance zwischen diesen Extremen, hing von den Umständen ab, von persönlichen Traumata und Sympathien. In diesem Bild fand erheblich früher als im realen gesellschaftlichen Leben die Demokratisierung des Volkes statt, indem die Eigenschaften des polnischen Adels und der polnischen Bauernschaft miteinander verbunden wurden.
Sowohl die einen wie auch die anderen beunruhigten beziehungsweise empörten das deutsche bürgerliche Publikum. Am Vorabend des Völkerfrühlings rückten die Liberalen jene Elemente des polnischen Bildes in den Vordergrund, die sie als wertvoll und nachahmenswert erachteten: „Deutschland suchte nach Helden, die es in seiner Mitte, in ‚einer Zeit der Mittelmässigkeit‘, ,Flauheit und Halbheit‘, ,der Langeweile‘ nicht fand“ (Whiton 1981, S. 60). Die von Stephan Scholz analysierten deutschen Lexika kehren jedoch bereits ab der 1840er Jahre zu ihren wesentlich kritischeren Beurteilungen zurück. Nach 1848 werden die Polen und ihr Land immer mehr zu einem negativen Abziehbild des stereotypen Deutschtums, das sich auf „langweilige“ und „träge“ bürgerliche Werte stützt. Die Historiker der „Preußischen Schule“ und die deutschen Nationalisten fanden in Polen die dringend benötigte ideale Andersartigkeit (Surynt 2006, S. 97). Dieses Bild wurde mitgeprägt von der deutschen – vor allem der preußischen – Geschichtsschreibung, die im polnischen Volkscharakter die Ursache für den Untergang der polnischen Rzeczpospolita und das Scheitern der nachfolgenden Aufstände sah. Auch hier wurde die Perspektive im Laufe der Zeit immer düsterer. Gerd S. Biedermann, der die Urteile über Polens Geschichte in den Werken, publizistischen Auslassungen und Briefwechseln preußischer Historiker analysierte, zeigte sich erstaunt über die Übereinstimmung und Eintönigkeit dieser Bewertungen, „gerade als besäße jeder der Berichterstatter ein ,Handbüchlein‘, das in einschlägiger Form über Schmutz und Anarchie des polnischen Adels Auskunft gibt“ (Biedermann 1967, S. 55).
In einer breiteren historiosophischen Perspektive erschien Polen als ein „Füllhorn von Modernisierungsdefiziten“ (Orłowski 2002, S. 104), als ein Synonym für Rückständigkeit, aus der es im Grunde kein Entrinnen gab, da sie dem Genotyp des leichtsinnigen und zugleich barbarischen Polen eingeschrieben war.
Solche Urteile blieben selbstverständlich nicht unbeantwortet. An anderer Stelle in diesem Handbuch wurden das polnische Stereotyp des Deutschen und das → polnische Autostereotyp in seinen Hauptmerkmalen dargestellt. Hierbei sollte auf ein spezielles Konstrukt hingewiesen werden, das nicht nur für die polnische Historiografie, sondern auch für die Geschichtsschreibung der slawischen Verwandten – vor allem der tschechischen – typisch war. Man drehte die Vorwürfe um, mit denen die Polen, vonseiten preußischer Historiker, konfrontiert wurden. Dies führte zu der logischen Feststellung: Nicht die Slawen, sondern die Germanen waren brutale Barbaren (wie bereits Tacitus schrieb), und die ihnen zugeschriebenen zivilisatorischen Errungenschaften waren folglich das Werk anderer. Und die Rolle der anderen übernahmen bei slawophilen Autoren wie Wacław Aleksander Maciejowski eben die Slawen. Mitte des 19. Jhs. schrieb der polnische Historiker über die Sueben, die seiner Meinung nach bis dahin fälschlicherweise mit den Germanen gleichgesetzt wurden. In Wirklichkeit seien sie Slawen gewesen, die alleinigen Schöpfer der Kultur, die später als deutsche Kultur bezeichnet wurde:
Aus der Geschichte weiß man, wann immer in Deutschland etwas Grandioses zu Tage trat, kam es von den Sueben… oder war es eng verbunden mit ihrem Namen. Ich nenne ein Beispiel: Jeder weiß, dass Goethe und Schiller in Rheinnähe, also im ursprünglichen Siedlungsgebiet der Sueben, geboren wurden (Maciejowski 1852, S. 12).
Einer gewissen Beliebtheit erfreute sich in Polen damals auch der tschechische Geschichtsschreiber Alois Vojtěch Šembera, der Maciejowskis Methode erheblich weiterentwickelte und fast die gesamte Antike, „bis zu Julius Cäsars Zeiten und früher“, slawisierte (Šembera 1868, S. VI). Ähnliche gelehrte Überlegungen über die Identität der alten Volksstämme und deren Stammesgebiete kündeten von einem grundsätzlichen Umdenken, was die deutschpolnische „Grenzmark“ betraf. Frühere Urteile über den Volkscharakter wurden zu einem festen Bestandteil des wissenschaftlichen Diskurses. Der Geist materialisierte sich. Gleichzeitig etablierte sich die Evolutionstheorie in der Wissenschaft. Für die Beurteilungen der Volkspsyche bedeutete dies, dass man von den früheren Theorien über den Einfluss des Klimas oder des Volkstemperaments abrückte und den Fokus auf die Vererbung legte. Die europäischen Archäologen wiederum begannen in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. Ausgrabungen von einem neuen Standpunkt aus zu bewerten, als ein Beweis, dass das eigene Volk die gegenwärtigen wie auch die von ihm beanspruchten Gebiete „seit jeher“ bewohnte. An die Spitze dieser weltweit betriebenen Disziplin setzten sich deutsche Archäologen, die davon ausgingen, „ein Volk wie die Germanen, das bereits eine Jahrtausende alte Kultur hinter sich hatte, […] darf man nicht einmal Barbarenvolk nennen“ (Kossinna 1914, S. 205).
Um die ausgegrabenen menschlichen Überreste ethnisch zuordnen zu können, war es notwendig, anthropologische Merkmale festzulegen, die für Deutsche und Slawen charakteristisch sind. Dabei waren den Archäologen physikalische Anthropologen und Rassenideologen behilflich. Die meisten Rassentheorien der zweiten Hälfte des 19. Jhs. hatten gemein, dass sie die antiken Germanen mit dem nordischen Typ gleichsetzten, der sich durch einen länglichen Schädel, helle Hautfarbe und helle Haare auszeichnete. Obwohl diese Beschreibung keineswegs auf die Mehrheit der heutigen Deutschen zutrifft, wurde sie zu einem wissenschaftlichen Fetisch, mit der es möglich wurde, die Germanen von den – seltener langschädeligen – Slawen zu unterscheiden. Die einen wie die anderen zählten sich zwar zu den indoeuropäischen Völkern (wobei deutsche Wissenschaftler eher von indogermanischen Völkern sprachen), doch man tat alles, um zu beweisen, dass die Slawen das östlichste und zugleich rassisch unreinste Element dieser Familie waren, dermaßen verunreinigt, dass sich ihre ursprüngliche anthropologische Identität (sowie ihre Verwandtschaft mit den Germanen) verwischt hatte.
Die Archäologen standen folglich vor der Frage, wie sie die im – sehr weit gefassten – deutsch-polnischen Grenzgebiet gefundenen Überreste interpretieren sollten. Probleme bereiteten ihnen insbesondere Funde in den von Polen bewohnten Territorien. Aus alten Gräberfeldern wurden zumeist längliche Schädel ausgegraben, während die lebenden Bewohner dieser Gegenden mehrheitlich runde Kopfformen aufwiesen. Für Gustaf Kossinna und andere großdeutsche Archäologen war dies der unumstößliche Beweis für den primären deutschen Anspruch auf das polnische Territorium. Die dort in prähistorischen Zeiten lebenden Germanen achteten, so ihre Argumentation, „seit jeher“ auf die Reinheit der Rasse und vermieden Verbindungen mit Vertretern anderer, ausnahmslos schlechterer Rassen. Ein breiter unbewohnter Gebietsstreifen trennte die Germanen in der Antike von den östlich von ihnen lebenden Slawen. Die Slawen wiederum vermischten sich mit den mongoliden Nachbarn im Osten, weshalb sich mit der Zeit die Schädelform veränderte. Die logische Fortführung dieses Gedankenganges bestand darin, die meisten, wenn nicht alle prähistorischen Kulturen in Mittelosteuropa mit den Deutschen gleichzusetzen.
Behauptungen dieser Art stießen zuweilen auf Spott, es fehlte, auch in Polen, nicht an hämischen Kommentaren zu den nordischen Theorien. Der bekannte Soziologe Ludwik Gumplowicz, von dem das Konzept des „Rassenkampfes“ stammt, verglich in der Fachzeitschrift Przegląd Historyczny diese Denkrichtung mit den, seiner Meinung nach, bereits überholten Versuchen, die Volkscharakterologie zu verwissenschaftlichen:
Da also die Völkerpsychologie versagt hat, ist es nicht weiter verwunderlich, dass man einen anderen Weg ausprobiert. […] Doch welcher Weg bleibt einem nach der Enttäuschung mit der Völkerpsychologie? Es liegt nahe, dass man sich, nachdem die ,Seele‘ versagt hat, dem Körper zuwendet. […] Daher folgte auch in Deutschland auf die Völkerpsychologie die Rassenlehre. Was man mit der ,Seele der Völker‘ nicht erklären konnte, versuchen die Deutschen, mit dem Blut und den Knochen der Völker, d. h. mit der Rasse zu erklären (Gumplowicz 1906, S. 292).
Die große Schwäche der „Rassenlehre“ bestand seiner Meinung nach in der Auffassung, dass die Psyche vererbbar sei. Gumplowicz stellte nicht ohne Ironie fest:
Ich weiß wirklich nicht, wie weit die deutschen Rassenkundler mit der Chamberlain-Methode kommen. Es steht zu befürchten, dass sie, wenn sie sich von Kiautschou aus nach China vorwagen, irgendwann auch aus Konfuzius einen reinrassigen Germanen machen […]. Ein chinesischer Gobineau könnte mit dem gleichen Recht […] behaupten, dass die weiße Rasse ,das bisschen Kultur‘, über das sie verfügt, allein der kleinen Beimischung von Blut der gelben Rasse zu verdanken hat (Gumplowicz 1906, S. 294 und S. 299).
Die von Gumplowicz vertretene Soziologie erhob für sich den Anspruch, die psychischen Eigenschaften von Gesellschaften zu erklären, und tat die von den deutschen Ideologen propagierte Lehre als einen Haufen blödsinniger Behauptungen ab.
Es gab jedoch auch Wissenschaftler, die zwar gegen Kossinnas Thesen polemisierten, gleichzeitig jedoch innerhalb desselben (para)wissenschaftlichen Diskurses blieben. Dies galt für die Archäologen, und hier zuvorderst für Józef Kostrzewski, einem Schüler des Berliner Professors. Seine Antwort war das genaue Spiegelbild zu Kossinnas Theorie. Die Lausitzer Kultur wurde von Kostrzewski mit slawischer Besiedlung gleichgesetzt, wodurch die Slawen auf dem Gebiet Westpolens (und Ostdeutschlands) als autochthone Bevölkerung und als eine hoch entwickelte materielle Kultur aus prähistorischer Zeit anerkannt wurden. Auch Anthropologen äußerten sich kritisch zu Kossinna. Julian Talko-Hryncewicz und Edward Bogusławski legten in ihrer Kritik der „berliner-österreichischen Schule“ dar, dass sich in der slawischen Bevölkerung im Laufe der Jahrhunderte die vorherrschende Schädelform verändert hatte. Die bei Ausgrabungen in Polen gefundenen länglichen Schädel gehörten nicht Germanen, sondern ursprünglich arischen und langschädeligen Slawen:
Die Weichsel mit ihren Nebenflüssen war […] die Wiege dieses Stammes, von dort breiteten sich anfangs die Siedlungen der Slawen über Europa aus. Hier im Zentrum der lechischen Slawengebiete konnten sich materielle Spuren des alten Kultes vermutlich besser bewahren, und auch der Typ des ursprünglichen Slawen unterlag nicht so stark den Einflüssen der Nachbarn (Talko-Hryncewicz 1913, S. 64).
Im Laufe der Zeit begann unter Letzteren der kurzschädelige Typ zu überwiegen, der, wie Talko-Hryncewicz an anderer Stelle feststellt, „sich durch große Fortpflanzungskräfte auszeichnete und die Fähigkeit besaß, sich Kultur anzueignen, deren Träger er unter den Völkern des Ostens war, um anschließend eine eigene Kultur zu entwickeln, wobei er mit Leichtigkeit oft bereits in der ersten Generation sowohl anthropologisch wie auch kulturell fremde Elemente assimilierte“ (Talko-Hryncewicz 1926, S. 70).
Die Schädelform war nicht das einzige körperliche Unterscheidungskriterium zwischen Slawen und Germanen. Andere Merkmale fielen bereits früher auf, Anthropologen und Archäologen „verwissenschaftlichten“ lediglich allgemein gemachte Beobachtungen. In Meyers Großem Konversations-Lexikon heißt es – im 19. und zu Beginn des 20. Jhs. – im Artikel über Polen, „[d]ie hervorstehenden Backenknochen und die etwas eingedrückte Nase [deuten] auf die slawische Abstammung“ (Meyers Großes Konversationslexikon 1908, S. 86). Viele deutsche Beobachter assoziierten das slawische Aussehen mit markanten Wangenknochen und leicht schlitzförmigen Augen. Die anthropologischen Eigenschaften, die Thomas Mann im Zauberberg Clawdia Chauchat (breite Wangenknochen und schmale Augen) und Pribislav Hippe („stammte aus Mecklenburg und war für seine Person offenbar das Produkt einer alten Rassenmischung, einer Versetzung germanischen Blutes mit wendisch-slawischem – oder auch umgekehrt“), (Mann 1967, S. 127) gab, erlangten sehr schnell wissenschaftlichen Status. Bereits Mitte des 19. Jhs. galten sie als Beleg für die mongolide Beimischung bei den Slawen. Im frühen Anthropologie-Lehrbuch von Carl Friedrich Burdach wurde der slawische Stamm als eine Übergangsgruppe zwischen den Europiden und der gelben Rasse beschrieben (Burdach 1847, S. 668). In anthropologischen Monografien wurden die vorstehenden Wangenknochen in der Folgezeit als offenkundiges Zeichen für fremde, nichtarische Rasseneinflüsse gedeutet, so dass sie in der nationalsozialistischen Dokumentation bei der Beurteilung der eugenischen Gesundheit die gleiche Bedeutung hatten wie beispielsweise die Geschichte der Erbkrankheiten in der Familie (Eyckt 1933).
Das Problem der anthropologischen Eigenschaften der modernen Slawen, die vom Ideal des skandinavischen Kriegers abwichen, ließ sich jedoch nicht allein auf den deutschpolnischen Konflikt reduzieren. Die hervorstehenden Backenknochen fielen auch anderen, weniger voreingenommenen Beobachtern auf. Selbst Gustave Le Bon hob bei der Beschreibung der Goralen in Zakopane dieses Gesichtsmerkmal hervor („der ursprüngliche Typ […] zeichnet sich aus durch ein flaches, rundes Gesicht, mit oft äußerst markanten Wangenknochen“), (Le Bon 2009, S. 81). Gleichzeitig bestätigten die seit Beginn des 20. Jhs. auf polnischem Boden durchgeführten anthropologischen Messungen in gewisser Weise die Thesen der deutschen Rassisten: Die Mehrheit der Bevölkerung repräsentierte hier nicht den nordischen Typ. Eine originelle Lösung für dieses Problem schlug der Lemberger Anthropologe Jan Czekanowski vor. In der Polemik mit deutschen Autoren argumentierte er zweigleisig. Einerseits betonte er, die nach dem Ersten Weltkrieg angestellten Untersuchungen hätten gezeigt, „dass das nordische Element in Polen nicht weniger zahlreich ist als in Deutschland“ (Czekanowski 1930, S. 432). Andererseits stellte er – und nach ihm auch andere polnische Anthropologen – fest, dass die Mehrheit der Landesbewohner dem gemischten nordisch-laponoiden, auch subnordisch genannten Typ angehörten. Man könnte sagen, dass er auf diese Weise seinen deutschen Kollegen Recht gab, die die Slawen als mehr oder minder mongolisierten nordischen Typ betrachteten. In diesem Fall war jedoch nicht der Inhalt das Wichtigste, sondern die Art und Weise, wie dieser vermittelt wurde. Der in der polnischen Bevölkerung vorherrschende Rassentyp erhielt in polnischen Abhandlungen die edle Bezeichnung „sarmatischer Typ“. Czekanowski, der diesen Begriff bereits vor dem Krieg benutzte, erklärte, dass die gängige Einteilung in drei Haupttypen – den nordischen, den mediterranen und den alpinen Typ – sich in Mittelosteuropa nicht bewähre. Denn diese verwirre nur, so der polnische Anthropologe, weil die Forscher nicht imstande seien, die einzelnen Parameter in Übereinstimmung zu bringen: die Schädelindexe mit der Haar- und der Augenfarbe.
Stattdessen schlug er eine andere Einteilung vor, die außer dem sarmatischen Typ den dinarischen und den präslawischen Typ berücksichtigte. Am meisten Aufmerksamkeit schenkte er dem nordpolnischen nordischen Typ, alle anderen Kategorien betrachtete er als Ergänzungen. Historisch gesehen hielt er die Slawen für einen ursprünglich nordischen Rassentyp und verglich ihre prähistorische Expansion mit der Expansion der Germanen (Czekanowski 1925, S. 12f.). Zwar kritisierte Czekanowski vehement jegliche Versuche, Rassentypen mit Nationalitäten gleichzusetzen, seine Dreiteilung deckte sich jedoch weitgehend mit den drei ethnischen Gruppen, die Gebiete der Zweiten Rzeczpospolita besiedelten: den Polen, den Ukrainern und den Belarusen. Kein Zweifel bestand auch an der Hierarchie der im Land dominierenden Rassentypen. Ludwik Jaxa-Bykowski stellte in seiner Arbeit über den Zusammenhang zwischen Rasse und Schulunterricht zusammenfassend fest, dass die talentierteste und dominierende Gruppe die sarmatische Rasse sei, „die auch der Gymnasialjugend und der gesamten polnischen Intelligenzija ihren Stempel aufdrückt“ (Jaxa-Bykowski 1932, S. 31). Der Name, der nicht, wie möglicherweise ausländische Wissenschaftler hätten meinen können, ihren asiatischen Charakter betonen sollte, knüpfte an einen völlig anderen Zeitraum an. Der sarmatische Typ, „der früher jene umtriebige und ungestüme Adelsschaft charakterisierte, tritt heute in unserer Intelligenzija zutage“, schrieb Jaxa-Bykowski. „Dies hat sicherlich mit der schnellen körperlichen Entwicklung zu tun, aber auch mit der ,grausamen Ritterfantasie‘, der Sienkiewicz in Gestalt von Kmicic ein literarisches Denkmal setzte“ (Jaxa-Bykowski 1926, S. 935f.).
In der Zwischenkriegszeit, als beiderseits der deutsch-polnischen Grenze nationalistische anthropologische Theorien propagiert wurden, kam es auch zu Grenzscharmützeln auf dem Gebiet der Wissenschaft. Ein charakteristisches Beispiel dafür ist das Ostpreußen gewidmete Werk des bedeutenden Geografen Stanisław Srokowski, der eine kurze Zeit lang polnischer Konsul in Königsberg war. Srokowski, tief enttäuscht von dem für Polen ungünstigen Ausgang der Volksabstimmung nach dem Ersten Weltkrieg, rächte sich an der undankbaren masurischen Bevölkerung, indem er ihr jegliche Perspektive auf eine anthropologische Annäherung an Deutschland verweigerte. Seiner Meinung nach näherten sich die Masuren in biologischer Hinsicht „zentralasiatischen Elementen [an], wobei sie diesen unvergleichlich näherstand als besagte [ostbaltische – MG] Bevölkerung. Die Masuren waren von niedrigem Wuchs, kurzköpfig, hatten ein breites Gesicht, dunkle oder schwarze Haare, dunkle Augen und eine gelb-bräunliche Haut“ (Srokowski 1929, S. 32). In seiner populären Kleinen Rassenkunde Europas reproduzierte Hans F. K. Günther bei der Charakterisierung der ostbaltischen Rasse (zu der auch die Mehrheit der polnischen Bevölkerung gehörte) seinerseits nahezu unverändert die negativen Stereotype, die bereits im 19. Jh. in Lexika und Reiseberichten vorkommen: „Leicht wird der ostbaltische Mensch zum wirren Träumer, Fabler und Plänemacher, zum ,Phantasten‘. […] Er ist sehr rachsüchtig und als Rachesuchender weit vorausberechnend und besonders verschlagen“ (Günther 1925, S. 60f.).
Die zu Beginn des 20. Jhs. von Ludwik Gumplowicz geäußerten Bemerkungen über die genetische Verbindung zwischen der Erforschung der Volkspsyche und der modernen „Rassenlehre“ hatten daher auch weiterhin ihre Gültigkeit. Die Rassentheorien knüpften in der Regel bewusst an die frühere Volkscharakterologie an, im Sinne des Grundsatzes – der von einem der Hauptideologen des deutschen Rassismus stammte –, dass die Seele genauso wie der Körper vererbbar ist (Vacher de Lapouge 1939, S. 339).
Die deutschen und polnischen Vertreter der Wissenschaften vom Menschen, zu deren Rüstzeug jahrhundertealte Stereotype und parawissenschaftliche Theorien neueren Datums gehörten, wurden in Ereignisse verwickelt, deren Tragik und Reichweite alle früheren Erfahrungen in den Schatten stellten. Für deren wissenschaftliche Arbeit, insbesondere für die Darstellung der deutschen „Grenzmark“, hatten die Machtergreifung der Nationalsozialisten und der Zweite Weltkrieg eine besondere Bedeutung. Zahlreiche recht unklare und schlecht dokumentierte Theorien wurden damals Grundlage der angewandten Wissenschaft und für die Bevölkerung der besetzten Gebiete sowie für → Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene zu einer Frage von Leben und Tod. Die Einordnung in die jeweilige Rassengruppe (je näher dem nordischen Ideal desto besser) konnte darüber entscheiden, ob man in einem Gebiet, das dem Reich eingegliedert wurde, bleiben durfte (und einen vor der Zwangsumsiedlung in das Generalgouvernement bewahren), beziehungsweise – auf Kosten einer freiwilligen Germanisierung – das Leben eines polnischen Zwangsarbeiters retten, der wegen Geschlechtsverkehrs mit einer Deutschen verurteilt worden war. In der neuen „Grenzmark“ des Dritten Reiches wurde umfangreiche anthropologische Forschung betrieben, um den rassischen Charakter der einheimischen Bevölkerung zu ermitteln. Polnische Kollegen, wie Józef Kostrzewski oder Zygmunt Wojciechowski, die bis dahin mit Worten bekämpft worden waren, mussten sich nun vor der Gestapo verstecken (Heinemann 2003, S. 187–302).
Der Untergang des Dritten Reiches kompromittierte keineswegs die Sprache, die von jenen Wissenschaftlern benutzt wurde. In der westdeutschen Anthropologie kam es jahrzehntelang weder zu größeren personellen noch methodologischen Veränderungen. Jan Czekanowski wurde einer der angesehensten Wissenschaftler in Polen, und noch in den 1970er Jahren fanden seine Methoden und Klassifikationen Anwendung. Auch in der Archäologie lässt sich eine Kontinuität beobachten. Gleichzeitig ließ jedoch der Druck im deutsch-polnischen Konflikt allmählich nach. Der einst zentrale Diskurs war zunehmend nur noch von marginaler Bedeutung. Spuren anthropologischer Natur lassen sich bisweilen an völlig unerwarteten Orten entdecken, wenn auch immer seltener. Beim Schreiben dieses Textes liegt vor mir der beliebte Taschenkalender des Verlags Iskry für das Jahr 1947, voller praktischer Ratschläge für das Entfernen von Flecken und die Zahnpflege. Das kleine Büchlein enthält auch eine Übersicht über die Rassentypen (Przegląd typów rasowych) in Tabellenform, die es dem Leser möglich macht, das eigene Aussehen zu bewerten und einer von acht Kategorien zuzuordnen. Die Tabelle wird durch einen Textausschnitt ergänzt, der sich mit der körperlichen Leistungsfähigkeit einzelner Rassentypen befasst – Vergeltung für die Propaganda deutscher (und nordischer) Überlegenheit:
Unter den Rassentypen, die Polen bevölkern, zeichnet sich der subnordische Typ (oder sarmatische Typ: hochgewachsen, blondes Haar, kurzköpfig und mittelgesichtig; im Nordosten Polens vorherrschend) durch herausragende körperliche Leistungsfähigkeit aus[…]. Körperlich am schwächsten ist der nordische oder nordeuropäische Typ: hochgewachsen, blondes Haar, langköpfig und schmalgesichtig, im Nordwesten Polens beheimatet. Wettkampf und Konkurrenz sind ihm fremd (Taschenkalender 1947, S. 233).
Heute begegnet man nur noch in Ausnahmefällen Überbleibseln von biologischen Beschreibungen des Volkscharakters. Und dann zumeist als Zitate der Klassiker dieses Genres aus der Zwischenkriegszeit. Sie zeugen von einem interessanten Paradox. Obgleich dieser Diskurs in der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen eine äußerst unrühmliche Rolle spielte, kann man ihn nicht als einen Faktor betrachten, der die gegenseitige Kommunikation erschwerte. Im Gegenteil, er stellte eine Ebene der Kommunikation dar, auch wenn er nicht zu einer Verständigung zwischen den deutschen und polnischen Teilnehmern beitrug. Beide Seiten benutzten denselben Code, beriefen sich auf dieselben Axiome. Dem Ideal wissenschaftlicher Unvoreingenommenheit verpflichtet, spannten sie ihr fachliches Wissen in den Dienst eines Denkens ein, das im deutsch-polnischen Grenzgebiet bereits jahrhundertelang existierte.
Aus dem Polnischen von Andreas Volk
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Górny, Maciej, Dr. hab., verfasste die Beiträge „Die deutsch-polnische „Grenzmark“ (Osten) in den Wissenschaften vom Menschen (19.-20. Jh.)“, „Polnische Autostereotype“ und „Ostdeutsch-polnische Historikerbegegnungen: Die Grenzen der Verständigung (Wissenschaft)“. Er ist stellvertretender Direktor am Tadeusz Manteuffel Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. Er arbeitet in den Bereichen Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, Wissenschaftsgeschichte und Vergleichende Geschichte.