Katarzyna Śliwińska

Heimatverlust und Vertreibung in der deutschen und der polnischen Literatur



„Gemeinsam vertrieben“ betitelte die Neue Zürcher Zeitung Ende 2006 ihre Rezension zum deutsch-polnischen Theaterprojekt Transfer! – einer Montage aus Zeitzeugenerzäh­lungen, grotesken Spielszenen und historischem Ton- und Filmmaterial, die nur wenige Wochen zuvor am Teatr Współczesny in Wrocław Premiere hatte. Zum ersten Mal stan­den in der von Jan Klata inszenierten Aufführung Deutsche und Polen gemeinsam auf der Bühne, um von ihrem eigenen „Transfer“ von Ost nach West zu berichten (Dirk Pilz, Gemeinsam vertrieben, in: Neue Zürcher Zeitung vom 29.12.2006). Der Hö­hepunkt der deutsch-polnischen Kontroversen um ein Zentrum gegen Vertreibungen schien damals bereits überschritten. Dennoch wurde die Inszenierung in Polen als ein Politikum rezipiert. Prompt wurden aus national-konservativen Kreisen Proteste laut: Dürfe man die unterschiedlich motivierten gewaltsamen Bevölkerungsverschiebungen zwischen 1939 und 1950 gleichberechtigt nebeneinander stellen? Gerate dadurch nicht die kausale Dimension der Geschichte aus dem Blick? Würden die Polen zuletzt nicht als Opfer, sondern als Täter im Fokus stehen?

Klatas Idee, Zeitzeugen mit ihren biografischen Erfahrungen zu Wort kommen zu las­sen, war eine künstlerische Antwort auf eine politische Debatte, die in einer Sackgasse festgefahren schien. Während es in Polen seit dem politischen Umbruch von 1989 auf lokaler und regionaler Ebene zahlreiche Projekte gab, in denen Deutsche und Polen sich gegenseitig vom Verlust der Heimat und dem schwierigen Anfang danach erzählten, wurde diese Annäherung ab der Jahrtausendwende durch gegenläufige Tendenzen ge­stört: Die Rückkehr der Opfererinnerung im deutschen Vergangenheitsdiskurs wurde in Teilen der polnischen Öffentlichkeit als ein Versuch wahrgenommen, deutsche Leiden gegen die von Deutschen begangenen Verbrechen auszuspielen und so die Geschichte des Zweiten Weltkriegs umzuschreiben (Scholz 2020). In der politisch aufgeheizten Atmosphäre wur­den Restitutionsansprüche aus Deutschland, wie sie die Preußische Treuhand geltend machte, per Parlamentsbeschluss mit Reparationsforderungen für in Polen entstandene Kriegsschäden beantwortet. In beiden Ländern fehlte es zugleich nicht an Bemühungen, die Debatte in sachlichere Bahnen zu leiten – beispielsweise durch eine Europäisierung der Auseinandersetzung mit dem Vertreibungsthema. Auf diese Weise (so die Hoff­nung) würden die nationalen Gedächtniskonstruktionen ihre Selbstbezüglichkeit verlieren; aus einem Gegeneinander der Deutungen und Perspektiven würde man zu einem gemeinsamen Erinnerungsort gelangen.

Rund 1,5 Millionen Polen wurden zwischen 1945 und Ende 1948 aus den von der So­wjetunion einverleibten polnischen Ostprovinzen (Kresy) „repatriiert“, hauptsächlich in die bis dahin deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße (Hinzurechnen muss man schätzungsweise 600.000 Polen aus den Ostgebieten, die schon früher vor dem polnisch-ukrainischen Bürgerkrieg flohen bzw. vertrieben wurden, aus Angst vor politischer Verfolgung ihre Identität verheimlichten oder von der Zwangsarbeit aus Deutschland bzw. von der Front zurückkehrten. Vgl. Ther 1998, S. 44). Etwa zeitgleich wurden aus dem südlichen Ostpreußen, Westpreußen, Danzig, der Neumark, Pommern und Schlesien 3,5 bis 4 Millionen Deutsche vertrieben bzw. ausgesiedelt (4,5 bis 5 Millio­nen wurden vorher evakuiert oder sind vor der Roten Armee geflohen). Dies schien in der Tat die Möglichkeit einer gemeinsamen Erzählung über Heimatverlust und Vertrei­bung zu eröffnen (Traba 2021, S. 58). Begegnungen zwischen alten und (mittlerweile gar nicht so) neu­en BewohnerInnen ehemaliger deutscher Ostgebiete, wissenschaftliche Tagungen und Publikationen, die Zwangsmigration als „gemeinsame Erfahrung“ von Deutschen und Polen in den Blick nahmen (Orłowski, Sakson 1997), Sammlungen von Erlebnisberichten und Erinnerungen, wie der von Hans-Jürgen Bömelburg, Renate Stössinger und Robert Traba zweispra­chig edierte Band Vertreibung aus dem Osten. Deutsche und Polen erinnern sich (2000), dokumentieren denn auch das Bemühen, die selbstreferenziellen, von den ideologischen Verengungen und Erinnerungsblockaden der vergangenen Jahrzehnte geprägten natio­nalen Diskurse aufzubrechen. Eine Hinwendung zu den Erfahrungs- und Erlebniswel­ten Betroffener sollte dabei den Blick für das Leid der jeweils anderen öffnen (zumindest ansatzweise auch für die eigene Mitverantwortung daran, sei es nur durch die Verwei­gerung von Empathie).

Die Rede von einer Schicksalsgemeinschaft qua Vertreibung (Karwat, Schäpe, Bieniasz 1996) blendet allerdings aus, dass Polen bereits 1939, mit dem deutsch-sowjetischen Angriff und der Aufteilung des Landes zwischen Hitler und Stalin, Schauplatz von Zwangsmigrationen enormen Aus­maßes wurde. Schon der deutsche Überfall im September 1939 hatte Tausende Men­schen in Bewegung gesetzt, unter ihnen schätzungsweise 300.000 polnische Jüdinnen und Juden, die sich zur Flucht Richtung Osten entschlossen bzw. über die deutsch-sowjetische Demarkationslinie abgeschoben wurden. Beide Besatzungsregime zielten auf eine radikale (ethnische bzw. soziale) Neuordnung der annektierten Gebiete und setzten dazu auch Umsiedlung, Deportation und Vertreibung als Instrument ein. So wurden aus dem östlichen Polen zwischen Februar 1940 und Juni 1941 ca. 330.000 polnische BürgerInnen nach Sibirien oder Zentralasien verbracht (darunter etwa 70.000 jüdische Flüchtlinge aus dem deutsch besetzten Territorium, die auf diese Weise dem Holocaust entkamen). Hunderttausende Polen wurden in den ins Deutsche Reich ein­gegliederten Gebieten und im Generalgouvernement aus ihren Wohnstätten aus- bzw. umgesiedelt oder zur Zwangsarbeit und Eindeutschung verschleppt – nicht zuletzt, um Platz für ethnische Deutsche aus dem Baltikum, Wolhynien, Ostgalizien und Rumä­nien zu schaffen, die im Zuge der deutsch-sowjetischen Abkommen „heim ins Reich“ geholt werden sollten. Unter deutscher Besatzungsherrschaft kam es zudem in Wolhy­nien und Ostgalizien (heute Westukraine) zu einer Brutalisierung des polnisch-ukrai­nischen Konflikts, der 1943 und 1944 den Charakter einer ethnischen Säuberung an der polnischen Bevölkerung annahm (Schätzungsweise 80.000 Menschen kamen bei der „antipolnischen Aktion“ der OUN-UPA 1943 und 1944 ums Leben (im Gegenzug wurden ca. 10.000 bis 15.000 UkrainerInnen ermordet), etwa 300.000 gelang die Flucht über die Flüsse Bug und San ins polnische Kerngebiet. Angaben nach Ciesielski 2006, S. 23). Zum polnischen „Vertreibungskomplex“ gehören somit verschiedenartige Phänomene, die auch in der Literatur unterschiedlichen Nieder­schlag fanden: die sowjetischen Deportationen von 1940/1941; die als „Repatriierung“ bezeichnete vertragliche Umsiedlung aus den erneut an die UdSSR angeschlossenen Kresy seit Oktober 1944 – mehrheitlich in Gebiete, die zuvor zum Deutschen Reich gehörten; die Flucht und die „wilden Vertreibungen“ durch Einheiten der OUN-UPA in Wolhynien und Ostgalizien 1943/1944 sowie die Zwangsumsiedlung der nach dem polnisch-ukrainischen Bevölkerungsaustausch in den neuen Staatsgrenzen verbliebenen ukrainischen Minderheit in den Norden und Westen („Aktion Weichsel“ 1947). Teil dieses Gesamtkomplexes ist aber auch die nationalsozialistische Praxis einer „völkischen Neuordnung“ Europas (mit den Versuchsräumen Wartheland, Gdingen und Zamość). Eine Verflechtung polnischer und deutscher Deportationsschicksale fand hier als Teil einer rassenbiologisch motivierten „Volkstumspolitik“ statt, die Polen wie Deutsche als bloßes Menschenmaterial betrachtete (Hahn 2017/2018, S. 129f. Für die jüdische Bevölkerung mündete diese Politik ab Spätsommer/Herbst 1941 bekanntlich in den Völkermord).

In der deutschen Erinnerung an Flucht und Vertreibung sind die gewaltsamen „Ab­siedlungen“, „Verdrängungen“ und Deportationen im besetzten Polen kaum präsent. Gewöhnlich wird mit dem Doppelbegriff die erzwungene Migration von etwa 12 Mil­lionen Deutschen aus den bis 1945 zum Deutschen Reich gehörenden östlichen Provin­zen sowie aus Gebieten und Staaten bezeichnet, wo sie als Minderheiten lebten – ein mehrstufiger, sich über Jahre hinziehender Vorgang, der die Phasen der Evakuierung, Flucht, „wilden“ Vertreibung sowie organisierten Aussiedlung umfasste. Diese Begriffs­verwendung liegt auch der Definition einer Vertreibungsliteratur zugrunde, wie sie von Louis Ferdinand Helbig, dem Verfasser der ersten umfassenden Monografie zu Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit, 1988 vorgeschla­gen wurde. Als „Literatur der Vertreibung“ werden darin Texte aller Genres gefasst, die „thematisch vom Kriegserlebnis unmittelbar vor der Flucht bis zur Wiederbegegnung mit den verlorenen Heimaten lange nach der Vertreibung reichen“ (Helbig 1989, S. XI. Diese Definition zitiert der einschlägige Beitrag zur Belletristik in der BRD in dem von Stephan Scholz, Maren Röger und Bill Niven edierten Handbuch Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Vgl. Berger 2015, S. 16). Helbig wird dabei nicht müde zu betonen, dass es nicht um Völkerrechtsfragen, Gebietsansprüche oder eine Aufrechnung der Leiden und Opfer geht – der eigentliche Bereich der Vertrei­bungsliteratur sei der Versuch, das persönliche Erleben von Millionen Menschen, ihre mit der Zwangsmigration verbundenen Leiden und Verluste zur Sprache zu bringen. Seine Studie ist aus diesem Grund symptomatisch für die Erinnerungsgeschichte von Flucht und Vertreibung, die (so gründlich das Thema von Anfang an historiographisch und soziologisch aufgearbeitet wurde) lange Zeit den Zwängen und Verzerrungen des politischen Diskursfeldes unterlag (Mecklenburg 1990; Eigler 2022, S. 83). In ihrem Versuch, die Existenz eines ebenso um­fangreichen wie unzulänglich erforschten „Korpus von teilweise erstrangigen belletris­tischen Werken“ nachzuweisen (74 Romane bis etwa 1986, zahlreiche Erzählungen, Gedichte und Lyrikanthologien sowie Hörspiele, von einer schier unübersehbaren Fülle autobiographischer Texte abgesehen) und die „Vertreibungsliteratur“ als wenigstens in der Tendenz kritische Heimatliteratur von der Vertriebenenliteratur abzugrenzen ver­standen als emotionalisierte Gebrauchsliteratur von Betroffenen für Betroffene (Helbig 1989, S. 62. Als „Vertriebenenliteratur“ wird bei Helbig die emotionalisierte Gebrauchsliteratur von Betroffenen für Betroffene bezeichnet. Literatursoziologisch bestehen zwischen Vertreibungs- und Vertriebenenliteratur durchaus Überschneidungen, sei es im Hinblick auf AutorInnen, sei es beim Vertrieb und der Rezeption. Vgl. Mecklenburg 1990), ver­weist sie auf ein rezeptionshistorisch aufschlussreiches Defizit der akademischen Lite­raturforschung, die entweder das Vorhandensein einer solchen Literatur grundsätzlich bestritt oder sie als tendenziell revisionistische „Literatur von Massenauflagen“ unter Generalverdacht stellte – aus ideologiekritischen Erwägungen heraus oder aus Gründen der ästhetischen Qualität (Helbig 1989, S. 30).

Konnte noch 1988 mit Recht von einem Desinteresse der LiteraturforscherInnen am thematologischen Feld „Flucht und Vertreibung“ gesprochen werden (auch die 1996 erschienene Studie Vertreibung und verlorene Heimat im früheren Ostdeutschland von Wolfgang Schneiß verstand sich noch explizit als Beitrag zu einer Rehabilitierung des Themas), so stellt es heute eine Herausforderung dar, den gesamten Forschungsstand zu überblicken. Das Ende des Kalten Krieges führte mit der Wiedervereinigung Deutsch­lands und der endgültigen Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze zunächst zu einer Entpolitisierung der Vertreibungserinnerung und ermöglichte so auch der Literaturwissenschaft eine neue Annäherung an die Thematik. Seit Mitte der 1990er-Jahre nimmt die Zahl der Publikationen zu literarischen Darstellungen von verlorener Heimat und Vertreibung kontinuierlich zu (Kroll 1997; Feuchert 2001), auch mit einem komparatistisch erweiterten Blick auf polnische oder tschechische Perspektiven (Mehnert 2001). In transnationaler Kooperation wird der traditionelle Gegenstand der Literatur über Heimatverlust und Vertreibung nun auch mit neuem theoretischem Instrumentarium aufgeschlüsselt z. B. mit den Kategorien der Postcolonial Studies, die es erlauben, die wechselseitigen interkulturellen Wahrneh­mungen und Zuschreibungen der betroffenen Gruppen zu erfassen (Zu nennen ist etwa das an der Universität Passau unter Leitung von Dirk Uffelmann durchgeführtecForschungsprojekt zu den Fremd- und Kolonisierungswahrnehmungen im Dreieck Deutsche – Polen – Russen „Der erzwungene Bevölkerungstransfer der Jahre 1944–1950 in der deutschen und polnischen Literatur“. Vgl. Uffelmann 2017). Wichtige Impulse gehen zudem von neueren Texten aus, die Bezüge zu unterschiedlichen, auch aktuellen Erfahrungen von Exil, Flucht und Migration herstellen.

Seit 2005 liegt auch eine umfassende annotierte Bibliografie zu Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in Prosaliteratur und Erlebnisbericht seit 1945 vor. Verzeichnet sind darin etwa 2.000 Einzelveröffentlichungen und 87 Anthologien, die zwischen 1945 und 2005 in Buchform erschienen sind (seitdem sind etliche hinzu­gekommen): west- und ostdeutsche Publikationen, fiktionale wie faktuale Texte (Erleb­nisbericht, Sachbuch, Reisebericht, Essay), von populär- bis hochliterarisch; neben der Produktion großer Publikumsverlage auch die im Selbstverlag veröffentlichten Titel, die nur einen kleinen Leserkreis erreichten. Die Sammlung vermittelt so einen Einblick in das inhaltlich und formal insgesamt sehr heterogene Spektrum der „Vertreibungslitera­tur“; sie erlaubt überdies Aufschlüsse über die quantitative Entwicklung der einschlägigen Buchproduktion (ohne allerdings etwas über den Stellenwert der einzelnen Titel in der Rezeption sagen zu können). So lässt sich, nach einem zögerlichen Anlauf in der ersten Nachkriegszeit sowie einer relativen, nicht zuletzt dem „politisch-historischen Zeitgeist der Ostverträge“ geschuldeten Dekonjunktur Ende der 1960er und in den frü­hen 1970er Jahren, empirisch ein exzeptioneller Anstieg von den 1980er Jahren an über die letzte Dekade des 20. und den Beginn des 21. Jhs. nachzeichnen, was zum einen auf die erinnerungskulturellen Entwicklungen seit dem Ende des Kalten Krieges zurückzu­führen ist, zum anderen auf die veränderten Veröffentlichungsmöglichkeiten (printing on demand), nicht zuletzt auch auf kommerzielle Erwägungen (Vgl. Dornemann 2005, SVIIf.).

Deutlich wird dabei schnell, dass die gängige Rede von einer Tabuisierung der Vertreibungserfahrung aus Unkenntnis resultiert bzw. als Vorwand dient, sich auf wenige kanonisierte Titel und AutorInnen zu beschränken – neben den Aufzeichnungen von Hans Graf von Lehndorff aus dem Jahr 1947, die 1960 unter dem Titel Ostpreußisches Tagebuch als 3. Beiheft der vom Bundesvertriebenenministerium edierten Dokumenta­tion der Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa (1953‒1962) erschienen sind (Auf den Beständen der sog. Ostdokumentation des Bundesarchivs Koblenz (heute im Lastenaus gleichsarchiv in Bayreuth verwahrt) basieren zahlreiche Dokumentationen wie Die Flucht – Ostpreußen 1944/45 (1964) von Edgar Günther Lass, Die Vertreibung. Sudetenland 1945‒1946 (1967) von Emil Franzel oder Niederschlesien 1945 (1965) von Rolf Becker, aber auch belletristische Reportagen wie Der große Treck (1958) von Günter Karweina und Romane, z.B. Der große Treck (1975) von Will Berthold), dem Bericht von Marion Gräfin Dönhoff über ihren Ritt gen Westen (1946, 1962 ausführlicher in Namen, die keiner mehr nennt aufgenommen) und dem von Christian Graf von Krockow nach einer Erzählung seiner Schwester Libussa Fritz-Krockow ver­fassten Bericht Die Stunde der Frauen (1988) werden gewöhnlich Günter Grass mit der Blechtrommel (1959) und der Novelle Im Krebsgang (2002), Siegfried Lenz mit Heimat­museum (1978), Horst Bienek mit der Gleiwitzer Tetralogie (1975‒1982) und Christa Wolf mit dem Roman Kindheitsmuster (1976) genannt, von den Jüngeren: Hans-Ulrich Treichel, Tanja Dückers oder Reinhard Jirgl. Dornemanns Bibliografie zeigt demgegenüber, dass das Thema auch in der reglementierten literarischen Öffentlichkeit der DDR stärker präsent war als bisher angenommen, und zwar nicht nur im engen Rahmen des offiziellen Ankunfts- und Integrationsdiskurses. Vor allem spätere DDR-Prosa (wie Werner Heiduczeks Roman Tod am Meer von 1977 oder Harald Gerlachs Novelle Jungfernhaut aus dem Jahr 1987) stellt den Optimismus der frühen Aufbau- bzw. der Ankunftsliteratur (Verwiesen sei u. a. auf die Aufbauromane von Karl Mundstock Helle Nächte von 1952, Benno Voelkner Die Tage werden heller, ebenfalls 1952, Hans Marchwitza Roheisen von 1955) in Frage und schildert mitunter eine gescheiterte Integration – am Ende konnte durchaus auch eine bleibende Verstörung, ein Nicht-Ankommen in der sozialistischen „Heimat“ stehen (Hähnel-Mesnard 2008, S. 123; Niven 2015).

Zu korrigieren ist ebenfalls die von Helbig vorgenommene Periodisierung der „Vertreibungsliteratur“, vor allem die Identifizierung einer „Erlebnisphase“ 1945‒1955 mit faktualen Genres (Berichten, Tagebüchern, Chroniken und Dokumentationen). Eine „dichterische Phase“, die das Thema in die „Sphäre der […] Allgemeingültigkeit“ transponiert, habe demnach erst nach Abschluss einer „Erinnerungsphase“ Mitte der 1970er Jahre begonnen – mit den großen Romanprojekten von Siegfried Lenz (Heimatmuseum, 1978), Horst Bienek (Gleiwitzer Tetralogie 1975‒1982) oder Christa Wolf Kindheitsmuster, 1976 (Helbig 1989, S. 103). Viele Erlebnisberichte und Erinnerungen aus den ersten Nachkriegs­jahren stehen noch unter dem unmittelbaren Eindruck der biografisch einschneidenden Erfahrungen von Flucht, Gewalt, Entrechtung und Vertreibung – oft fehlt darin eine re­flexive Ebene der Auseinandersetzung mit dem Geschehenen; dominant ist eine Selbst­wahrnehmung als Opfer, die einer Sensibilisierung für NS-Verbrechen (erst recht für die Verstrickung der breiten Bevölkerung) zunächst entgegenwirkte. Gerade aus dem ersten Jahrfünfzehnt sind aber auch Texte überliefert, die den „Tatsachenstil des rei­nen Berichtens“ überschreiten, indem sie das Erzählte vielschichtig verwoben zu einem Panorama militärischen Zusammenbruchs im Osten anordnen (so der 1950 erschiene­ne Roman über den „Untergang Ostpreußens“ Wenn die Dämme brechen von Edwin Erich Dwinger, der bereits im Titel einen apokalyptischen Ton anschlägt), eschatolo­gisch deuten (Jenseits der Schleuse von Werner Klose, 1953; Das vorletzte Gericht von Ruth Storm, 1953), in den Bereich des Mythischen verschieben (Hanna Stephans Engel, Menschen und Dämonen, 1951) oder zu einem Gleichnis verdichten (Klose, Rehn). Ins­gesamt bietet sich für diese Phase ein differenziertes Bild: Neben den großen Sinnstif­tungsversuchen im Medium des Romans steht etwa Feuer im Schnee (1956) des „letzten Kahlschlägers“ Jens Rehn; neben Romanen und Dokumentationen über die militäri­schen Endkämpfe im Osten (Neben Dwinger und Klose u. a. Das Floss der Vertriebenen von Heinz Werner Hübner (1954); Der Himmel war unten von Hugo Hartung, 1951) das fiktive „Tagebuch einer Verschollenen“ (1949) von Fritz Nendel Spreu im Wind; Jürgen Thorwalds „Tatsachenerzählung“ Die große Flucht (erschienen zunächst 1945/1950 in zwei Bänden Es begann an der Weichsel und Das Ende an der Elbe), die durch ihre fortdauernde Marktpräsenz (nicht zuletzt auch durch die wiederholte Überarbeitung und Anpassung an die veränderte erinnerungskulturelle Si­tuation) zu einem der wirkungsmächtigsten Sachbücher zum Thema avancieren sollte (Oels 2009), gehört ebenso dazu wie der „große[ ] protestantische[ ] Roman“ (So, mit einer polemischen Spitze gegen bloße „Bericht[e] vom schlesischen Flüchten und Sterben“, in Wolfgang Grözinger: Berichte, Deutungen, Bekenntnisse, in: Hochland (1952/1953), H. 2) des evangelischen Theologen und Pfarrers Kurt Ihlenfeld Wintergewitter (1951); neben Fortsetzungs- und Unterhaltungsromanen (Suchkind 312 von Hans-Ulrich Horster, 1955; Die schlesische Barmherzigkeit von Ruth Hofmann, 1950) findet sich eine avantgardistische Annähe­rung bei Arno Schmidt (Leviathan von 1949, Die Umsiedler von 1953).

Frauke Janzen hält den 1959 publizierten Roman Die Blechtrommel von Günter Grass für eine Zäsur des literarischen Vertreibungsdiskurses: Auf die Nachkriegsliteratur, die das historische Geschehen von Flucht und Vertreibung nicht selten transzendierte, in­dem sie religiöse, mythische oder existenzielle Deutungsmuster bot (Ernst Wiecherts Missa sine nomine, 1950), zum Teil auch kolportagehafte Züge trug (Dwinger; Olga Barényis Prager Totentanz, 1958) oder Erzählmuster der Trivialliteratur bediente, folgte nun eine literarische Auseinandersetzung, die den historisch-politischen Kontext reflek­tierte und dabei neue Erzählstrategien erprobte wie Elemente des Schelmenromans bei Grass (Janzen 2021, S. 136). Die heterogene Erzählliteratur dieser Zeit spiegelte die zunehmende Pluralisie­rung, Politisierung und die unterschiedliche „Milieubindung der Erinnerungen“ wider, die den Umgang mit Flucht und Vertreibung im bundesrepublikanischen Diskurs seit Ende der 1950er Jahre prägten (Röger 2011, S. 45). Ein weiterer Höhepunkt, quantitativ wie qualitativ, ist in den 1970er und frühen 1980er Jahren anzusetzen. Der Generationswechsel und der veränderte soziopolitische Kontext (Ostverträge) ermöglichten eine zunehmend kritische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, in der neben dem Leid von Deutschen auch deutsche Verbrechen Platz fanden (Berger 2015, S. 20; Janzen 2021, S. 188f.). Viele der heute kanonisierten Titel erschie­nen in dieser Phase – Siegfried Lenz’ Heimatmuseum (1978), Horst Bienek Gleiwitzer Tetralogie (1975‒1982), in der DDR Christa Wolfs Kindheitsmuster (1976), aber auch zahlreiche populärliterarische Texte, die ein breites Publikum hatten: Christine Brück­ners Poenichen-Serie aus den Jahren 1975‒1985 (Jauche und Levkojen, Nirgendwo ist Poenichen und Die Quints), Leonie Ossowskis Schlesien-Trilogie (Weichselkirschen 1976, Wolfsbeeren 1987, Holunderzeit 1991) oder die erfolgreichen Romane von Arno Surmin­ski (u. a. Jokehnen oder Wie lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland? von 1974).

Die jüngste Hochphase im literarischen Flucht- und Vertreibungsdiskurs begann nach der Wende; sie fiel mit dem Aufstieg der Erinnerung zu einer „Pathosformel“ (Mar­tin Sabrow) der gesellschaftlichen Selbstverständigung zusammen. Eine neue, bis heute anhaltende Dynamik bekam sie um die Jahrtausendwende – vor allem durch Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang (2002), die zum Anlass einer lebhaften Diskussion um eine legitime Erinnerung an die Leiden der deutschen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg wurde. Auffällig viele Texte, vor allem von AutorInnen aus der Kinder- und Enkelgeneration, sind dabei als Familien- bzw. Generationsromane angelegt – neben Grass’ Novelle sind u. a. Der Verlorene (1998) von Hans-Ulrich Treichel, Himmelskörper (2003) von Tanja Dückers, Die Unvollendeten (2003) von Reinhard Jirgl, Die Reise nach Samosch (2003) von Michael Zeller, Katzenberge (2010) und Sibir (2023) von Sabrina Janesch sowie Sieben Sprünge vom Rand der Welt (2014) von Ulrike Draesner zu nen­nen. Bei allen Unterschieden zwischen den individuellen Schreibweisen lassen sich un­schwer gemeinsame Merkmale erkennen: eine genealogische Spurensuche, die in einer Mischung aus historischer Distanz und emotionaler Nähe um Leerstellen und blinde Flecken des Familiengedächtnisses kreist (mitunter führt sie in die Geburtsorte der El­tern bzw. Großeltern, so z. B. in Petra Reskis Ein Land so weit von 2002); eine Sensibi­lität für die „spukhafte Fernwirkung“ historischer Verletzungserfahrungen, wie sie für transgenerationelle postmemoriale Prosa charakteristisch ist (spürbar auch in sachlite­rarischen Genres, wie in Christiane Hoffmanns Alles, was wir nicht erinnern von 2022); reflexive Brechungen von Erinnerungen, Perspektiven und Erzählstrukturen; ein Chan­gieren zwischen Fakten und Fiktion. Daneben finden sich Texte älterer Autoren, die ihre Schreibweisen mit einem neuen Blick auf das vereinte Deutschland fortsetzen (Die Landnahme von Christoph Hein, 2004), ihren traditionellen Gegenstand neu kontextualisieren (wie Arno Surminski im Roman Winter Fünfundvierzig oder Die Frauen von Palmnicken von 2010, der die Flucht aus Ostpreußen mit einem Todesmarsch jüdischer Frauen verschränkt), zeithistorisches Material aus der Zeit nach dem Beginn der sowjeti­schen Offensive im Osten zu einem kunstvoll komponierten „kollektiven Tagebuch“ ar­rangieren (Walter Kempowskis Das Echolot. Fuga furiosa, 1999) oder wie Theodor Buhl mit Winnetou August (2010), einem Roman über eine doppelte Flucht eines kindlichen Protagonisten (aus Schlesien und aus der Realität in eine Welt der Phantasie), überhaupt erst debütieren.

Allein dieser Überblick verdeutlicht die Schwierigkeit, „Flucht- und Vertreibungslite­ratur“ als ein eigenes Genre zu begründen und literaturgeschichtlich einzuordnen. In der Vielzahl ihrer Ausprägungen, der unterschiedlichen Textsorten, Schreibweisen und Erzählstrategien erweist sie sich als „äußerst amorph und deshalb nur begrenzt strukturierbar“ (Dornemann 2005, S. XIVf.). Versuche, die einschlägigen Texte nach „Vertreibungslandschaften“ zu ordnen (Helbig 1989, S. 6ff.), situieren sie am ehesten im Kontext der deutschen Heimat- bzw. Regionallitera­tur in ihrer kulturkonservativen bzw. kritischen Variante (Schneiß 1996). Mittlerweile aber setzt sich die zweite und dritte Generation von AutorInnen mit dem Thema „Heimatverlust“ aus­einander – mit den Mitteln der Verfremdung und der Fiktion (Hans-Ulrich Treichel), in einer Verschränkung von imaginären und realen Räumen, mit Bezügen zu gegenwär­tigen Migrationen (Draesner). Zahlreiche Texte der neueren „Vertreibungsliteratur“ wer­den daher in anderen Zusammenhängen verortet (Familien- und Generationenroman, postmemoriale Erinnerungsprosa).

Das jüngste, von Axel Dornemann zusammengestellte „literarische Lesebuch“ Heim­wehland von 2018 – eine knapp 800 Seiten starke Sammlung von Erzählungen, Prosatexten, Essays, fiktionalen Tagebüchern, Romanauszügen und Gedichten von über sechzig AutorInnen, im Geleitwort von Frank-Lothar Kroll als „eine für lange Zeit gültige Gesamtschau“ der literarischen Behandlung von Flucht und Vertreibung angeprie­sen (Dornemann 2018, S. 10. Der Historiker Frank-Lothar Kroll ist Herausgeber eines der ersten literaturwissenschaftlichen Sammelbände zum Thema und seit 2016 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beraterkreises der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Dornemanns Lesebuch weist beträchtliche Schnittmengen mit den beiden früheren, jeweils zum 40. und 50. Jahrestag des Kriegsendes publizierten Anthologien auf: Vertrieben ... Literarische Zeugnisse von Flucht und Vertreibung,1985 von Ernst-Edmund Keil und Verlorene Heimaten – neue Fremden, 1995 von Louis Ferdinand Helbig, Johannes Hoffmann und Doris Kraemer) – versucht dieser Vielfalt Rechnung zu tragen: Aufgenommen wurden Texte von SchriftstellerInnen unterschiedlicher Generationen; „große“ Autorennamen werden von weniger bekannten oder vergessenen flankiert. Die Sammlung bietet zugleich eine trans­nationale Erweiterung der Perspektive: Ein Kapitel in Heimwehland widmet sich (so die Verlagswerbung) „der literarischen Aufarbeitung der Vertreibung von etwa 2,5 Millio­nen Menschen aus Ostpolen in die von den Deutschen verlassenen Gebiete durch die Sowjetunion“. Neben Auszügen aus Texten von Fritz Nendel, Dagmar von Mutius und der deutsch-polnischen Autorin Sabrina Janesch (In den Häusern spukt es ja) sind hier Fragmente aus Erzählungen und Romanen polnischer SchriftstellerInnen versammelt: Henryk Worcell (Ein heißer Tag in Heinzendorf ), Paweł Huelle (Der Umzug), Joanna Bator (Im ehemals deutschen Schrank) und Stefan Chwin (Erinnerung an einen Teufel); in einem anderen Kapitel ist die kurze Erzählung Peter Dieter von Olga Tokarczuk ab­gedruckt (in extenso enthalten in ihrem 1998 veröffentlichten Roman Taghaus, Nacht­haus). Diese Auswahl ist durchaus repräsentativ für die polnische Literatur nach 1989, die sich mit den Folgen der Westverschiebung auseinandersetzt (nur Worcells Erzählung ist bereits 1945 in der Zeitschrift Odra erschienen). Sie macht allerdings deutlich, was der Klappentext explizit formuliert: Letztlich geht es in Heimwehland um eine „nati­onale Wunde“, wenn auch „mit europäischer Ausstrahlung“ – die Zwangsaussiedlung der ostpolnischen Bevölkerung wird in der Anthologie nur insofern berücksichtigt, als darin „das deutsche Schicksal mitschwingt“ (Dornemann 2018, Klappentext und S. 10). In Gero von Wilperts Sachwörterbuch der Literatur ist unter dem Lemma „Vertreibungsliteratur“ denn auch nachzulesen: „Sam­melbz. für die meist erzählende Lit. zum Thema der Flucht und Vertreibung Deutscher aus den ehem. dt. besiedelten Ostgebieten Polens, Böhmens, Siebenbürgens u. a.: Grass, Lenz, Surminski u. a“ (von Wilpert 2001, S. 881).

Die Frage nach der Vergleichbarkeit der deutschen und der polnischen „Vertreibungsli­teratur“ beginnt somit mit den Begrifflichkeiten, die den Diskurs jeweils präfigurieren. Helbig betont zwar, dass es der „Literatur der Vertreibung“ um „dichterische[ ] Darstel­lungen im Kontext menschlicher Erfahrungen“ geht – Freude und Leid, Heimatliebe und Heimatverlust, Liebe zu Familie und Landschaft, Sehnsucht nach einer einstmals heilen Welt seien „nicht nur deutsche […], sondern Menschheitsthemen“(Helbig 1989, S. 42 und 266). Unter dieser Prämisse lassen sich durchaus Parallelen zwischen beiden Literaturen aufzeigen. Auch in polnischen Texten, die Heimatverlust und Zwangsmigration verhandeln, kommen verstörende Gewalt- und Verlusterfahrungen zur Sprache (das Herausgerissen-Sein aus den vertrauten Bindungen und Sinn-Zusammenhängen, Tod von Angehörigen, Enteignung und Entrechtung, die Schwierigkeit, in einer neuen Lebenswelt heimisch zu wer­den). Gemeinsamkeiten gibt es ebenso in der nostalgischen Beschwörung verlorener Kindheitsparadiese, die sentimentalisch betrauert werden als Orte primärer Geborgen­heit und Vertrautheit, ja als Ursprungsidyll und Modell einer im Metaphysischen auf­gehobenen Seinsordnung.

Dennoch ist der These des Posener Germanisten Hubert Orłowski zuzustimmen, dass die literarische Thematisierung der erzwungenen Migrationen von Deutschen und Po­len grundsätzlich über die Leitdiskurse der beiden Nachkriegsliteraturen erfasst werden sollte (Für die Zeit bis 1989/1990 wäre allerdings zwischen den unterschiedlichen Produktions- und Rezeptionsbedingungen in der DDR und der BRD zu differenzieren), die jeweiligen literarischen Traditionen eingeschlossen, in die die polnische bzw. deutsche „Vertreibungsliteratur“ eingebettet ist. Entscheidend ist, wie die Erfahrungen von Heimatverlust und erzwungener Migration gedeutet und mit welchen Erzählungen sie verknüpft werden; nicht zuletzt geht es darum, welche sozialen Funktionen diese Erzählungen jeweils erfüllen (Orłowski 2003, S. 42f.).

Für die polnische Literatur lässt sich schwerlich ein allgemein akzeptierter Begriff fin­den, der sämtliche Aspekte des polnischen „Vertreibungskomplexes“ erfassen würde (sieht man von dem wenig distinkten Terminus der Migrationsliteratur ab (Bakuła 2012; Siewior 2018). Hinzu kam bis 1989 die mehrfache Spaltung des literarischen Feldes in „offizielle“ (in Staats­verlagen publizierte) sowie Samisdat- und Exilliteratur. Thematisch einschlägige Texte werden in der Polonistik unterschiedlich kategorisiert, z. B. als literatura kresowa Kresy- Literatur (Karwat, Schäpe, Bieniasz 2015).Vergleichbar dem deutschen Begriff des → Ostens verweist das polnische Wort kresy (ursprünglich Grenzmarken) – ein nur vage fixierter geographischer Begriff, der in seiner weitesten Auslegung die östlichen Territorien der alten polnisch-litauischen Adelsrepublik, in einer engeren Fassung die östlichen Wojewodschaften Vorkriegspolens mit Wilna und Lemberg umfasst – auf eine hochgradig verdichtete mythopoetische Er­innerungslandschaft, die durch unterschiedliche, mitunter konfligierende Aneignungen geprägt ist (Kleßmann, Traba 2012). Einerseits transportiert es unverkennbar eine polnische Herrschaftserinne­rung, die zumindest einen Vormundschaftsanspruch gegenüber den nicht-polnischen Ethnien enthält; in einer defensiven Variante wird das östliche Grenzland im Rekurs auf antemurale-Mythen zum Bollwerk gegen „asiatische Barbarei“ stilisiert. Es überrascht daher kaum, dass der Kresy-Diskurs den polnischen postcolonial studies ein gerne fre­quentiertes Untersuchungsfeld bietet (So Sproede, Lecke 2011, S. 42). Aus diesem Grund wird der Kresy-Begriff auch häufig durch das neutralere pogranicze (Grenzland) ersetzt.

In der heute kulturell wohl dominanten Variante des Kresy-Mythos, an deren Herausbildung die Publizistik und Essayistik aus dem Umfeld der Pariser Exil-Zeitschrift Kultura großen Anteil hatte, stehen die Kresy (mit dem Königreich Polen-Litauen und dem Vielvölkerstaat der Habsburger Doppelmonarchie als den wichtigsten historischen Bezugspunkten), (Alfrun Kliems spricht hier nicht zu Unrecht von einem „postimperiale[n] Phantomschmerz in transnationaler Verklärung“. Kliems 2019, S. 454) zugleich aber für polyethnische, plurikonfessionelle und mehrspra­chige Kontakt- und Interferenzräume, die mitunter zu Prototypen einer künftigen eu­ropäischen Gesellschaft und Identität erhoben wurden (so z. B., mit einer polemischen Stoßrichtung gegen die mit „Jalta“ identifizierte politische Nachkriegsordnung (Zu Jalta als einem hochgradig verdichteten Symbol dessen, was die Mächte der Anti-Hitler-Koalition auf einer Reihe von Konferenzen über Polens Zukunft beschlossen haben, und einer v. a. in den oppositionellen Diskursen der Volksrepublik wirkmächtigen Chiffre für die Aufteilung Europas in Interessensphären vgl. u. a. Borodziej 2012), in der Mitteleuropa-Debatte der 1980er Jahre). Einen solchen Charakter haben u. a. das Tal der Issa und Wilna bei Czesław Miłosz, das Lemberg des Józef Wittlin, Galizien bei Zygmunt Haupt, Drohobycz bei Andrzej Chciuk, das Dnepr-Tal bei Jerzy Stempowski und das Huzulengebiet bei Stanisław Vincenz – Exilautoren, die in Polen erst nach der politischen Wende und dem Wegfall der Zensur in einem breiteren Umfang rezipiert wurden (einige Texte wurden noch vor 1989 in den unabhängigen Foren des „zweiten Umlaufs“ publiziert). Von den Inlandsschriftstellern sind hier Andrzej Kuśniewicz, An­drzej Stojowski, Julian Stryjkowski, Tadeusz Konwicki oder Zbigniew Żakiewicz zu nennen. Ihre Verlusterzählungen beziehen sich zu einem großen Teil auf die im Zweiten Weltkrieg und Holocaust gewaltsam entflochtene Pluralität dieser Regionen (Marszałek und Schwartz bezeichnen Autoren wie Vincenz, Stempowski und Wittlin als „Apologeten eines in Kataklysmen des 20. Jahrhunderts untergegangenen (Mittel-)Europas“. Marszałek, Schwartz 2004, S. 80).

Überliefert ist der literarische Kresy-Mythos, grob vereinfachend, seit der Romantik in zwei Varianten, die nach 1945 auf unterschiedliche Weise fortgesetzt und revidiert wur­den. Die eine imaginiert die ins Russische bzw. in das Habsburger Reich inkorporierten Kresy der polnisch-litauischen Adelsrepublik als idyllisches Arkadien, betrachtet mit dem nostalgischen Blick eines Adam Mickiewicz, der im Pariser Exil mit seinem Versepos Pan Tadeusz (1834) ein verklärtes Bild seiner litauischen Heimat schuf (Der 1970 in Opole (Oppeln) geborene Tomasz Różycki greift diese Tradition in seinem fulminanten, in wechselseitiger Brechung von Groteske, Humor und Sentimentalität von einer Reise in die verlorene Heimat in der Ukraine erzählenden Poem Dwanaście stacji, 2004, dt. Zwölf Stationen auf). Czesław Miłosz greift diese Tradition in seinem 1955 erschienenen autobiografischen Roman Dolina Issy auf – das Tal der Issa figuriert hier als ein metaphysisch gefasster locus amoenus. Aus dieser Tradition speist sich auch, wenn auch in anderer Weise und mitunter persiflie­rend, der Wilnaer Zyklus von Tadeusz Konwicki: Rojsty (1956), Dziura w niebie (1959, dt. Das Himmelloch), Zwierzoczłekoupiór (1969), Kronika wypadków miłosnych (1974, dt. Chronik der Liebesunfälle, 1978/1980) und Bohiń (1987). Die zweite Variante ist düs­ter und pessimistisch, ja fatalistisch in der Vision der polnisch-ukrainischen Beziehungs­geschichte, die seit dem 16. Jh. durch Brudermord und Verrat gekennzeichnet schien (Chmelnyzkyj-Aufstand 1648‒1657; die Hajdamaken-Aufstände gegen die polnischen Feudalherren mit dem Massaker von Uman von 1768). Auch sie rekurriert auf die pol­nische Romantik, in der „das ukrainische Thema zu einer äußerst produktiven Quelle literarischer Imaginationen und zu einem der wichtigsten Momente historischer Refle­xion“ wurde (Marszałek, Schwartz 2004, S. 76. So bei den Autoren der „ukrainischen Schule“ Antoni Malczewski, Seweryn Goszczyński, Józef Bohdan Zaleski und Michał Czajkowski, z.T. auch bei Juliusz Słowacki). Aus der fatalistischen Historiosophie der „ukrainischen Schule“ speist sich z. B. die in ihren halluzinatorisch-realistischen Bildern an Proust oder Faulkner erinnernde Prosa Włodzimierz Odojewskis, v.a. sein Podolien-Zyklus Zmierzch świata (1962), Wyspa ocalenia (1964, dt. Adieu an die Geborgenheit, 1966) und Zasypie wszystko, zawieje … (1973 im Exil erschienen, dt. Katharina oder Alles verwehen wird der Schnee, 1977), die den polnisch-ukrainischen Konflikt im Zweiten Weltkrieg thematisiert.

Diese zwischen Arkadien und Inferno aufgespannte Skala romantischer Kodierung der Kresy wirkt in der polnischen Literatur bis ins 20. Jh. hinein. Das diskursive Spektrum reicht dabei vom ethnozentrischen, mitunter kolonialen Diskurs einer polnischen Kul­turmission (z. B. in Zofia Kossak-Szczuckas Pożoga, 1922) bis zur Überschreitung des polnisch-nationalen Horizonts in der Idealisierung der multikulturellen Koexistenz vieler Ethnien und Konfessionen bei Vincenz, Stempowski, Wittlin, Haupt, Kuśniewicz u. a. (Ebd., S. 77).

Vornehmlich im Exil, zum Teil auch im „zweiten Umlauf“, erschienen wichtige Texte über die Deportationen der polnischen Bevölkerung ins Innere der UdSSR und die sowjetischen Arbeitslager. Ein Großteil dieser Titel wird in der Polonistik als literatura łagrowa (als Variante der literatura obozowa) bezeichnet. Sie besteht nicht aus verein­zelten Zeugnissen und Berichten, sondern geht auf eine unmittelbar nach Kriegsen­de einsetzende Welle von Veröffentlichungen zurück, die bis in die Mitte der 1950er Jahre eine beachtliche Zahl höchst unterschiedlicher, faktualer wie fiktionaler Texte hervorgebracht hat und bis weit in die 1980er Jahre hinein nachwirkte (Gall 2012, S. 25. Etwa 115.000 polnische Deportierte konnten die Sowjetunion 1942 verlassen, nach der im Anschluss an den deutschen Überfall auf die UdSSR zwischen der polnischen Exilregierung und der sowjetischen Staatsführung ausgehandelten Amnestie; sie gelangten mehrheitlich mit der Armee von General Władysław Anders über Zentralasien und den Nahen Osten in den Westen Europas. Ca. 30.000 kämpften an der sowjetischen Seite unter dem Kommando von Zygmunt Berling; ihr Weg führte in der Regel über Berlin in die ehemals deutschen Gebiete. Literarisch umgesetzt u. a. in Halina Auderskas Dilogie Ptasi gościniec und Babie lato 1973/1974). Viele dieser Titel gehören heute zum Kanon der polnischen Gulag-Literatur: Józef Czapskis Na nie­ludzkiej ziemi (1949, dt. Unmenschliche Erde), Gustaw Herling-Grudzińskis Inny świat (1954, dt. Welt ohne Erbarmen), Beata Obertyńskas W domu niewoli (1946, dt. Im Haus der Gefangenschaft), Mój wiek von Aleksander Wat (1977, dt. Jenseits von Wahrheit und Lüge) und Wszystko co najważniejsze… von Ola Watowa (1984, dt. Der zweite Schatten). Im Zentrum steht hier allerdings nicht die Deportation selbst, sondern die Extremer­fahrung der sowjetischen Lager und Gefängnisse, die eine Analyse von Mechanismen stalinistischen Terrors ermöglicht. Zum Teil greifen die AutorInnen dabei auf die spe­zifischen polnischen Traditionen der Auseinandersetzung mit dem zaristischen System zurück, so z. B. auf die Topoi der (post-)romantischen Verbannungsliteratur (literatura zsyłkowa): Sybir, eine im Polnischen eingebürgerte Entlehnung aus dem Russischen, be­zeichnet nicht nur einen geografischen Raum im asiatischen Norden Russlands, son­dern zunächst eine historische Erfahrung, die in der polnischen Vorstellungswelt eine Schlüsselrolle spielt – als zentraler Ort eines nationalen Martyriums und eines der zen­tralen Sinnbilder zaristischer bzw. sowjetischer Oppression (Marszałek 2011, S. 239f. und 244. Vgl. dafür den zunächst 1983 in einem Londoner Exilverlag, dann im Samisdat erschienenen Band mit Erlebnisberichten Deportierter W czterdziestym nas Matko na Sibir zesłali... Polska a Rosja 1939‒1942 in der Auswahl und Bearbeitung von Jan Tomasz Gross und Irena Grudzińska-Gross, erste offizielle Inlandsausgabe 1990). Wie die Kresy-Literatur steht somit auch die dokumentarische und fiktionale Vertextung der Lager- und der Deportationserfahrung von vornherein in einem dichten intertextuellen Verweiszusam­menhang (auch wenn sich die AutorInnen von der martyrologischen Selbstbeschreibung distanzieren). Ein wichtiges Merkmal einer ganzen Reihe von Texten ist somit eine po­tenzierte Literarizität, so in Odojewskis 1984 in Paris veröffentlichter Erzählsammlung Zabezpieczanie śladów (dt. Spurensicherung) oder dem 1996 publizierten Roman Błękitne śniegi (dt. Blauer Schnee) von Piotr Bednarski. Im Gegensatz dazu steht die lakonische Schreibweise eines Leo Lipski sein Erzählband Dzień i noc ist 1957 im Pariser Exilverlag Instytut Literacki erschienen, 1960 folgte der Roman Piotruś (Lipski wurde 1917 in einer polonisierten jüdischen Familie in Zürich geboren. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs floh er aus Krakau nach Lemberg, wurde dort 1940 von sowjetischen Behörden verhaftet und in ein Arbeitslager verschickt; mit der Amnestie von 1942 konnte er dann die Sowjetunion mit der Anders-Armee verlassen. Nach der Entlassung aus dem Dienst ließ er sich in Tel Aviv nieder).

Die meisten Texte der polnischen Gulag-Literatur sind in Exilverlagen erschienen; im­merhin konnten in Polen die Erzählungen von Zbigniew Domino (Cedrowe orzechy. Opo­wiadania syberyjskie, 1974; 2001 folgte der Roman Syberiada polska) und die Romane von Jerzy Krzysztoń (Wielbłąd na stepie, 1978; Krzyż południa, 1983) veröffentlicht werden. Für die polnische Literatur der 1990er Jahre war die zeitlich verschobene Rezeption der Exiltexte insofern von Bedeutung, als der revidierte Kresy-Mythos eine willkommene Folie für das zeitgleich erwachende Interesse an den früher deutschen Gebieten Nach­kriegspolens lieferte. Die Zeit nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus stand in Polen im Zeichen eines Aufbruchs der Regionen, die zeitgleich zum „Verschwinden des Zentrums“ (Janusz Sławiński) begannen, sich ihrer Identität – und damit auch der vor- und nichtpolnischen Anteile ihrer Geschichte und Kultur – neu zu vergewissern (Joachimsthaler 2007, S. 26). Die wichtigsten Impulse gingen dabei gerade von den Rändern (kresy) aus. Im Norden und Westen rückten die mit der Westverschiebung „wiedergewonnenen Gebiete“ (→ Ziemie Odzyskane) – jene als „urpolnisch“ deklarierten Provinzen also, die 1945 als Kom­pensation für die Gebietsverluste im Osten zu Polen kamen – nun als ehedem deutsche bzw. plurikulturelle Räume in den Blick. Zahlreiche SchriftstellerInnen – Stefan Chwin, Adam Zagajewski, Julian Kornhauser, von den Jüngeren Paweł Huelle, Olga Tokarczuk, Artur Daniel Liskowacki, Kazimierz Brakoniecki, Karol Maliszewski, Tomasz Różycki und viele andere – gingen auf Spurensuche und entdeckten die verdrängte Geschichte ihrer Heimatorte und -regionen – vor allem im Umgang mit den materiellen Hinterlas­senschaften ihrer VorgängerInnen, aber auch durch die Lektüre deutscher AutorInnen, die über diese Regionen als über ihre verlorene Heimat schrieben. Die Aneignung der Vergangenheit mit ihren heterogenen Schichtungen und Diskontinuitäten war für sie notwendige Voraussetzung für ein endgültiges Ankommen in ihren nun als „Heimat“ (mała ojczyzna) verstandenen, privaten Zugehörigkeitsräumen. Aufs Ganze gesehen, ging es dabei um das ambitionierte Projekt, Polen „neu zu schreiben“ (Leszek Szaruga). Damit war nicht allein eine kritische Umkartierung von Zentrum und Peripherie anvisiert; es ging nicht zuletzt um eine Westverschiebung der mental maps der Polen, um die Ankunft in den geografischen Koordinaten der „Welt nach Jalta“.

SchriftstellerInnen der jüngeren Generation erkundeten zugleich die Geschichte der eigenen Familien, die nicht selten aus Polens Osten kamen. Die jeweiligen „kleinen Vaterländer“ (małe ojczyzny, sinngemäß als Heimat zu übersetzen) – ein Schlüsselwort der öffentlichen Diskurse der 1990er Jahre, namensgebend für die wohl einflussreichste literarische Tendenz dieser Dekade: literatura małych ojczyzn – wurden so zu histori­schen Schnittstellen eines doppelten, deutschen wie polnischen Heimatverlusts (Das Thema „Vertreibung der Deutschen“ ist längst in der Populärliteratur angekommen, zu nennen wären etwa Marek Krajewski mit dem Kriminalroman Festung Breslau aus der erfolgreichen Eberhard-Mock-Reihe (2006), Maria Nurowska mit der melodramatisch zuspitzenden Geschichte Niemiecki taniec (2000) oder Jacek Inglot mit Wypędzony (2016); anspruchsvoller bei Piotr Adamczyk in Dom tęsknot, 2014).

Die Stettiner Literaturwissenschaftlerin Inga Iwasiów, Autorin des vielbeachteten Romans Bambino (2008), prägte für die neueren Texte, die neben der „Umsiedlungsliteratur“ (literatura przesiedleńcza) der Älteren (z. B. Lida von Aleksander Jurewicz, 1990; Repa­trianci von Stanisław Srokowski, 1988) bestehen, den Begriff der „Neo-Post-Ansied­lungsliteratur“ (literatura neo-post-osiedleńcza). Anders als die vor 1989 offiziell geförder­te literatura osiedleńcza (bzw. osadnicza, Ansiedlungsliteratur), die legitimierende und integrierende Aufgaben zu erfüllen hatte, indem sie die Entstehung einer neuen, weitge­hend homogenisierten Nachkriegsgesellschaft als gesetzmäßigen (wenn auch durchaus konfliktreichen) Prozess schilderte – vom schweren Anfang im „Neuland“ (Trud ziemi nowej von Eugeniusz Paukszta, 1948) über das zögerliche „Hineinwachsen“ in die neue Umgebung (Wrastanie von Eugeniusz Paukszta, 1964) bis hin zum „Heimisch werden“ im symbolisch verstandenen „neuen Haus“ (Vgl. Trepte 2004, S. 397) –, ist die „Post-Ansiedlungsliteratur“ frei von den früheren ideologischen Zwängen und Verpflichtungen (Eine kleine, dt. Sonate für S. von Artur Daniel Liskowacki, 2000; Hanemann, dt. Tod in Danzig von Stefan Chwin, 1995; Ocalenie Atlantydy von Zyta Oryszyn, 2012; Dom pod Lutnią von Kazi­mierz Orłoś, 2012). Sie setzt sich zugleich mit den Traumata der Eltern und Großeltern auseinander, mit einem neuen, für transgenerationelle Übertragungen sensibilisierten Blick auf die Region und die eigene Herkunft und Identität (dafür steht das Präfix „neo“), (Iwasiów 2012, S. 220. Iwasióws Beitrag in dem von Roswitha Schieb und Rosemarie Zens edierten Band Zugezogen. Flucht und Vertreibung – Erinnerungen der zweiten Generation (2016) ist denn auch mit Verdrängung betitelt.). Eine Neuaufnahme und Revision des bis dahin nur unvollständig erzählten Um- und Ansiedlungsthemas – so ist Iwasióws terminologischer Vorschlag zu verste­hen. Neben ihren eigenen Texten (Bambino, Ku słońcu) wären hier die Romane von Joanna Bator zu nennen (Piaskowa Góra, 2010, dt. Sandberg; Ciemno, prawie noc, 2010, dt. Dunkel, fast Nacht). Schwieriger zu klassifizieren ist z. B. Niebko von Brygida Helbig (2013, dt. Kleine Himmel) – nicht nur, weil der autobiografisch geprägte Roman die erzwungene Migration von Deutschen und Polen verschränkt, sondern auch, weil die Erzählerin selbst Migrantin ist.

Noch schwieriger sind in solchen Schemata Autoren wie Erwin Kruk oder Piotr (Peter) Lachmann unterzubringen – der eine reflektiert in seinen Gedichten, in Kronika z Mazur (1989) und Spadek (2009) die Geschichte der Masuren, die 1945 in ihren Heimatorten bleiben durften; der andere, 1935 im damals deutschen Gleiwitz geboren, 1945 durch Zufall im polnischen Gliwice geblieben und 1958 als Spätaussiedler nach Deutschland gekommen, Mitte der 80er Jahre dann auf Dauer nach Polen zurückgekehrt, legte mit Wie ich (nicht) vertrieben wurde (2018, zuerst 1999 auf Polnisch erschienen als Wywołane z pamięci) einen „Schelmenessay“ vor, der die persönliche Erinnerung und die Gedächt­niskonstruktionen beider Gesellschaften exploriert.

Auch in der deutschen Literatur liegen Texte vor, die die Geschichte von Flucht und Ver­treibung mit anderen Zwangsmigrationen verschränken. So im Debütroman Katzenberge (2010) der deutsch-polnischen Autorin Sabrina Janesch, der „eine hierzulande eher unbekannte Vertreibungsepisode des zwanzigsten Jahrhunderts“ in den Mittelpunkt stellt (so eine Besprechung in der FAZ): die Flucht der polnischen Bevölkerung vor der ethnischen Säuberung in Wolhynien und Galizien und ihre Umsiedlung in kurz zuvor noch deutsch Gebiete, die durch die Vertreibung der bisherigen BewohnerInnen für die Neuankömmlinge frei gemacht wurden (Andreas Platthaus, Die Geschichte dauert bis zu diesem Moment an, in: FAZ vom 16.05.2023). Mit Sibir (2023) legte die Autorin nun einen ebenfalls autobiografisch inspirierten Roman vor: In zwei Erzählsträngen, 1945/46 und 1990/91, werden darin (so die Verlagswerbung) „unbekannte, unerzählte Kapitel der deutsch-russischen Geschichte“ verwoben: die Verschleppung deutscher ZivilistInnen nach Zentralasien am Ende des Zweiten Weltkriegs und die postsowjetische Migration Russlanddeutscher in die Bundesrepublik. Ein drittes, ebenfalls kaum erzähltes Kapitel ist darin eingelagert – die „Heimholung“ der Deutschen aus Galizien im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts 1939/1940 in die annektierten Gebiete Polens. Einen anderen Zu­gang wählt Ulrike Draesner in ihrem vielstimmigen Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt (2014). Sie kreuzt die Lebenswege der schlesischen Grolmanns mit dem Schick­sal einer aus Ostpolen nach Wrocław vertriebenen Familie – eine über vier Generationen miteinander verflochtene Figurenkonstellation, die neben individuellen Verletzungen und Verlusten die kollektive Dimension des Geschehens zu fassen versucht: „Etwas, das weit über den noch immer national und generationell bestimmten Denkrahmen ‚Flucht und Vertreibung‘ (deutsch, alle Betroffenen verstorben oder hochbetagt) hinausreicht“ (So Draesner, in: Rebecca Ellsäßer, Sieben Fragen an Ulrike Draesner, https://der-siebte-sprung.de/sieben-fragen/index.html, 20.04.2023).

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Śliwińska, Katarzyna, Dr., verfasste den Beitrag „Heimatverlust und Vertreibung in der deutschen und der polnischen Literatur“. Sie ist Mitarbeiterin an der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań und arbeitet in den Bereichen Deutsche Literaturwissenschaft, Deutsche Kulturgeschichte und Interkulturelle Kommunikation.

 

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