Izabela Surynt

Wie Polen und Deutsche miteinander kommunizieren
Oder: Über Unterschiede in den Kommunikationskulturen

Wie Polen und Deutsche miteinander kommunizieren <br> Oder: Über Unterschiede in den Kommunikationskulturen


Die Kommunikation zwischen Deutschen und Polen ist trotz der jahrhundertelangen Nachbarschaft weder eine einfache noch eine offensichtliche Sache. Zwar bewirkten kulturelle Bindungen und nachbarschaftlicher Austausch über Jahrhunderte hinweg eine Annäherung, und vielfältige Interaktionen schufen ein Netz gegenseitiger Beziehungen, dennoch konnten diese Prozesse die unterschiedlichen Kommunikationstraditionen und verhalten in der polnischen und der deutschen Kultur nicht nivellieren. Insbesondere in den interpersonalen Kontakten kommt es leicht zu Missverständnissen, was nicht selten die gutnachbarschaftlichen Beziehungen auf eine schwere Probe stellt. Polen und Deutsche unterscheiden sich erheblich voneinander, sowohl in puncto Kommunikationsstil (deutsches Kommunikationsverhalten wird von Polen häufig als unsensibel, ja sogar als arrogant empfunden, während das polnische von Deutschen wiederum als chaotisch und überempfindlich wahrgenommen wird) als auch in Bezug auf die Perzeption der Wirklichkeit (Vorstellungen von der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; Einstel lung gegenüber der Welt und dem eigenen Ich etc.), was sich in einer spezifischen Kultursemantik und entsprechenden Begriffen manifestiert (Czachur 2011). Zum einen unterscheidet sich das sprachliche Weltbild von Polen und Deutschen derart, dass Fehlinterpretationen, falsche Schlüsse und Verständigungslücken gleichsam vorprogrammiert zu sein scheinen. Auch die vermittelte Kommunikation (Wóycicki/Czachur 2009), wie zum Beispiel mediale Narrationen über das Eigene und Fremde oder Bilder der Vergangenheit (→ Erinnerungskulturen), wird von unterschiedlichen Traditionen und Wertehierarchien geprägt, was wiederholt zu Kontroversen und Irritationen führt, die das Gefühl der Fremdheit und der kulturellen Kluft zwischen den Nachbarn zusätzlich verstärken. Andererseits sollte man diese Unterschiede nicht dämonisieren, denn die seit Jahrhunderten praktizierte, intensive und erfolgreiche Zusammenarbeit sowie der Austausch zwischen Polen und Deutschen auf den verschiedenen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens zeigen ungeachtet aller kulturellen Unterschiede, dass Verständigung und ein effektives Zusammenwirken möglich sind.

Interessant sind bei Reflexionen über die deutschpolnische Kommunikation vor allem die Ursachen für kulturell bedingte Störungen oder gar Missverständnisse zwischen Polen und Deutschen, sog. kritische Vorfälle (critical incidents). Sie resultieren nicht aus individuellen Charaktereigenschaften oder voneinander abweichenden Intentionen der SprecherInnen, sondern sind zumeist das Ergebnis der in der jeweiligen Gemeinschaft vorherrschenden Kommunikationsmuster, die die verbalen und nonverbalen Verhaltensweisen ihrer Mitglieder bestimmen. Situationen gestörter, ineffektiver Kommunikation zwischen den BenutzerInnen verschiedener Kulturen werden in hohem Maße durch unterschiedliche kulturelle Codes und Standards (Dimensionen) verursacht, die einen erheblichen Einfluss auf die Perzeption von Andersartigkeit und deren Beurteilung haben. Obwohl nationale Kulturen kollektive Konstrukte sind, die auf einer Verallgemeinerung der dominierenden gesellschaftlichen Verhaltensweisen, auch der kommunikativen Verhaltensweisen, sowie der ausgehandelten Bedeutungen und Lesarten beruhen, ist es bei einem Kulturvergleich notwendig, sich auf das nationale Paradigma zu beziehen. Das bedeutet, dass man in diesem Zusammenhang nur von vorherrschenden gesellschaftlichen Normen sprechen kann, die nicht von allen Mitgliedern einer Gemeinschaft, die als nationale Gemeinschaft betrachtet wird, geteilt werden müssen (und oft auch nicht geteilt werden), und dass der Grad ihrer Aneignung und Anwendung von regionalen Diff erenzen, individueller Weltanschauung, Vorstellungen, Bedürfnissen und Wünschen der jeweiligen Person abhängig ist. Regionale (u. a. ethnische) Unterschiede, z. B. zwischen Kaschuben, Schlesiern, Goralen und den BewohnerInnen anderer polnischer Landesteile, verwischen sich im nationalen Vergleich, denn im „Zusammenprall“ mit der kulturellen Andersartigkeit der Deutschen werden alle regionalen Gruppen, sowohl von den westlichen NachbarInnen als auch von ihnen selbst, als „polnisch“ wahrgenommen, wenngleich man sich der Eigenschaften bewusst ist, die einen von den anderen unterscheiden. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass in Deutschland zwischen den verschiedenen Regionen und insbesondere zwischen dem – vereinfacht gesprochen – „protestantischen Norden“ und dem „katholischen Süden“ (→ Religionen in Deutschland) erhebliche Unterschiede bestehen. Und dabei geht es nicht nur um die konfessionelle Dimension, als vielmehr um kulturelle, von der religiösen Weltanschauung geprägte Muster. Nicht weniger wichtig sind innerdeutsche kulturelle Unterschiede, die sich aus verschiedenen staatlichen Traditionen herleiten (der deutsche Nationalstaat entstand erst 1871). Trotz dieser starken regionalen Unterschiede kennzeichnen die deutschen Kulturstandards im Kontakt mit der polnischen (oder einer anderen) Kultur ein hohes Maß an Übereinstimmung und können von außen betrachtet als unterschiedslos erscheinen. Ein ähnlicher Mechanismus lässt sich bei Kommunika tionskulturen beobachten, die auf den Kategorien Geschlecht oder Alter basieren. Erst die Konfrontation mit einem anderen nationalen Kommunikationsparadigma lässt die Ähnlichkeit innerhalb einer national definierten Gemeinschaft hervortreten. Dies mindert keineswegs die individuelle Bedeutung des Gesprächspartners. Auch deshalb sollte man – vor allem im interpersonalen Kontakt – auf die Persönlichkeit und Sozialisierung seines Gegenübers achten, der möglicherweise bewusst ein in der jeweiligen nationalen Gruppe funktionierendes Kommunikationsmuster verletzt oder sich konträrer Kommunikationsweisen bedient, um auf diese Weise seine eigene Identität zu definieren (abzugrenzen). Berücksichtigen sollte man ferner die Tatsache, dass im Rahmen nationaler Gemeinschaften unterschiedliche Subkulturen auftreten, deren Kommunikationsregeln oft grundlegend von der „nationalen Norm“ abweichen, beziehungsweise zu ihnen im Widerspruch ste hen. Trotz dieser Vorbehalte hat eine vergleichende Analyse dominierender Kommunikationsparadigmen in nationaler Perspektive ihre Berechtigung, da sie wahrscheinliche Kommunikationsverhalten vorhersagt, die zu gegenseitigen Missverständnissen, ja sogar zu interkulturellen Konflikten führen können.

Angesichts der vielen Konzepte der Kulturkomparatistik werde ich mich im Folgenden auf diejenigen Darstellungsweisen von Kulturunterschieden konzentrieren, die für die polnische und deutsche Kultur am geeignetsten zu sein scheinen, die Verschiedenheiten beider Kommunikationsmodelle aufzuzeigen. Die Unterschiede betreffen den Grad des Kontextbezuges einer Kultur, und die daraus resultierenden Konsequenzen verweisen auf wesentliche Differenzen beider Kommunikationskulturen, die häufig zu Missverständnissen und zu einer Verfestigung der Stereotype führen (Hall 1959, Hall 1976, Hall 1976). Überdies ist der Begriff der Kulturdimension (Hofstede/Hofstede 2000) sehr nützlich, um dominierende gesellschaftliche Einstellungen und Verhaltensweisen, die sich direkt auf die Kommunikationskultur auswirken, zu erklären. Wichtiger als Hofstedes Forschungsergebnisse sind in diesem Zusammenhang jedoch die Studien des GLOBE-Projekts (House/Hanges/Javidan/Dorfman/Gupta 2004), dessen Forscher nicht nur Hofstedes Schlussfolgerungen korrigierten, ja sogar in Frage stellten, sondern dessen theoretisches Modell erweiterten, indem sie die Auswirkungen der Kulturunterschiede auf das Kommunikationsverhalten stärker in den Fokus rückten. Interessant sind auch die Arbeiten des deutschen interkulturellen Psychologen Alexander Thomas (Thomas/Kinast/Schroll-Macht 2003, Thomas 2005) sowie die seines polnischen Kollegen Paweł Boski (Boski 2010), die sich beide in ihrer Forschung auf Kulturstandards konzentrieren.

Kommunikationsstile und -standards

Unter dem Begriff Kulturdimensionen/-standards versteht man die grundlegenden Aspekte einer Kultur, die eine wichtige Rolle bei der Identitätsbildung ihrer Teilnehmer spielen. Sie umfassen kulturelle Wahrnehmungs-, Denk- und Gefühlsmuster sowie Aktivitäten, die hinsichtlich ihrer kulturellen Verschiedenheit vergleichend analysiert werden können. Kulturdimensionen sind dabei wissenschaftliche Konstrukte, dank derer man Durchschnittswerte für einzelne Aspekte des Sozialverhaltens erhält, die jedoch lediglich die in einer bestimmten Kommunikationsgemeinschaft dominierenden Normen abbilden. Diese Beschränkungen resultieren aus der Verengung der Forschungsperspektive auf ein nationales Paradigma, das die Prozesse kultureller Ströme (die kulturelle Heterogenität) reduziert und Kulturen als statische und feste Gebilde darstellen. In dessen sind Kulturen weder homogen noch starr, da sie ständigen Austausch und Umwandlungsprozessen unterliegen. Dies trifft auch auf die polnische Kultur zu, in der sich in den letzten dreißig Jahren ein tiefgreifender kultureller Wandel vollzogen hat (u. a. infolge von Globalisierung und Verwestlichung), und auf die deutsche Kultur, in der ähnliche Prozesse stattgefunden haben, insbesondere im östlichen Teil des Landes. Im Zusammenhang mit den Kulturdimensionen muss sowohl in der ehemaligen DDR wie auch in Polen vor allem der Übergang von kollektivistischen hin zu individualistischeren Kulturmustern im Zuge des politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozesses (1989/90) hervorgehoben sowie die grundlegenden Unterschiede – zwischen den Generationen, zwischen den Regionen (Osten – Westen, im Falle Deutschlands auch Norden – Süden) und zwischen Stadt und Land betont werden. Nationale Kulturmodelle konzentrieren sich darauf, kulturelle Unterschiede zu akzentuieren, was den falschen Eindruck verstärken kann, dass die verglichenen Kulturen alles trennt und im Grunde genommen nichts verbindet. Es geht jedoch nicht allein darum, die kulturelle Verschiedenheit bestimmter Kommunikationsgemeinschaften aufzuzeigen, sondern auch darum, mögliche Problempunkte (rich points) in der interkulturellen Kommunikation zu identifizieren (Agar 1996, Agar 2008, Heringer 2010). Sich der Existenz von Kommunikationsschwierigkeiten bewusst zu sein, kann dazu beitragen, die Kommunikationsprozesse effektiver zu gestalten.

In seinem Buch Beyond Culture (1976) stellte Edward T. Hall, einer der Pioniere der wissenschaftlichen Beschäftigung mit interkultureller Kommunikation, das Konzept der Kulturdimensionen vor, einschließlich des Kontextbezuges, wobei er Kulturen mit einem starken Kontextbezug und solche mit einem schwachen Kontextbezug unterschied. Die Dimension des Kontextbezuges erfasst die Art und Weise, wie Informationen gewonnen, verarbeitet, vermittelt und entschlüsselt werden, das heißt Strategien der Weitergabe und des Empfangs von Nachrichten. Sie betrifft u. a. die bevorzugten Proportionen verbaler und nonverbaler Kommunikation. In Kulturen mit starkem Kontextbezug (high context cultures) ist das Wort nicht der einzige Bedeutungsträger, sondern nur eine von vielen möglichen Kommunikationsweisen. Nicht weniger wichtig sind außersprachliche Signale, z. B. Körpersprache, Stimmkraft, Intonation, Raum und Zeitmanagement usw. In Kulturen mit schwachem Kontextbezug (low context cultures) wird die Nachricht jedoch hauptsächlich durch Sprache vermittelt, während die übrigen außersprachlichen und übersprachlichen Mittel stark eingeschränkt sind.

NutzerInnen von Kulturen mit einem starken Kontextbezug schnüren ihre Äußerungen zu einem „Informationspaket“ zusammen, in dem die Bedeutungen nicht nur in den Wörtern enthalten sind, sondern auch in allen anderen Bedeutungsträgern. Ihre EmpfängerInnen müssen daher den gesamten Komplex an Signalen entschlüsseln und aus der Art und Weise, wie sie miteinander kombiniert wurden, die vom Sender gesandten Bedeutungen herauslesen. Oft kommt es darauf an, „zwischen den Zeilen“ zu lesen. Darüber hinaus ist die sprachliche Botschaft weder linear noch geradlinig konstruiert, die Wörter nennen die Bedeutungen nicht „beim Namen“. Der Bedeutungsgehalt einer Äußerung resultiert daher eher aus dem Erraten der Sprecherabsicht als aus einer direkt formulierten Botschaft. Für die TeilnehmerInnen einer Kultur mit einem starken Textbezug sind der Akt und Prozess des Kommunizierens – der Aufbau einer Bindung zwischen den GesprächspartnerInnen während der Interaktion – wichtiger als das endgültige Ziel der Kommunikation. Die Beschränkung der Kommunikation auf das Wort, und damit auf dialogorientierte sprachliche Äußerungen, ist charakteristisch für Kulturen mit einem schwachen Kontextbezug. Die Möglichkeit kritischer Vorfälle ist daher sehr groß, wenn VertreterInnen von Kulturen mit unterschiedlich hohem Kontextbezug miteinander kommunizieren.

Eine verbal verknappte Botschaft, die für die TeilnehmerInnen einer Kultur mit schwachem Kontextbezug typisch ist, kann von den NutzerInnen einer Kultur mit starkem Kontextbezug als unhöflich, ja sogar als unverschämt und arrogant empfunden werden. Dies wiederum führt häufig dazu, dass Personen, die geradeheraus sprechen, die „kein Blatt vor den Mund nehmen“, für Personen gehalten werden, die die Gefühle anderer ignorieren und nicht respektieren, also für „inhumane“ Personen. Doch ein Fehlurteil derselben Situation ist auch von der anderen Seite her möglich, für die ein Kommunikationsverhalten, das auf einer Kombination aus verbalen und nonverbalen Signalen sowie auf einer nichtlinearen, sprachlichen Botschaft gründet, nicht nur die Regeln der Transparenz und Eindeutigkeit einer Äußerung verletzt, sondern auch dazu führen kann, dass man den Sprecher für eine chaotische, irrationale und inkompetente Person hält, ja ihm sogar Unredlichkeit und die Absicht, etwas „vertuschen“ zu wollen, unterstellt.

Mit ähnlichen Schwierigkeiten können es Polen und Deutsche zu tun bekommen. Auch wenn im globalen Vergleich beide Kulturen von Hall und seinen NachfolgerInnen zu Kulturen mit einem schwachen (die deutsche Kultur) beziehungsweise mit einem schwachen bis mittleren Kontextbezug (die polnische Kultur) gezählt werden, sieht man bei einer Verkürzung der Perspektive und Fokussierung auf den bilateralen Vergleich (Boski 2010) deutlich die grundsätzlichen Unterschiede zwischen dem polnischen und dem deutschen Kommunikationsstil: Ersterer zeigt viele Merkmale, die Kulturen mit starkem Kontextbezug charakterisieren (z. B. „spiralförmige“, nichtlinear konstruierte sprachliche Äußerungen, viel Körpersprache – Mimik, Gestik und Spiel mit der Stimme), während der deutsche Stil für eine Kultur mit schwachem Kontextbezug kennzeichnend ist. Im deutschen Kommunikationsverhalten gilt es, sich auf die sprachliche Botschaft zu konzentrieren (kurz, präzise und eindeutig formulierte Äußerungen, die beim Empfänger keinerlei Zweifel an ihrer Bedeutung aufkommen lassen) und gleichzeitig außersprachliche Signale (Kontrolle und Reduktion der Körpersprache) stark einzuschränken. Für die deutschen GesprächspartnerInnen ist es deshalb von entscheidender Bedeutung, sich auf den Gegenstand und das Ziel der Kommunikation und nicht auf die Beziehung zwischen den Sprechenden zu konzentrieren. Aus einem solchen Kommunikationsmuster folgt unstreitig, dass in der deutschen Kommunikationskultur GesprächspartnerInnen geschätzt werden, die direkt sind, „die Dinge beim Namen nennen“ und nicht „um den heißen Brei herumreden“, sondern ohne Umschweife sagen, worum es ihnen geht. In der polnischen Kultur wiederum wird viel größeres Gewicht auf die Emotionen der GesprächspartnerInnen gelegt, z. B. indem man eine unangenehme Äußerung abschwächt. Das direkte und unzweideutige Artikulieren der Absicht (des Kommunikationsziels) ist eher ungewöhnlich. Ein solches Kommunikationsverhalten wird häufig als „männlich“ bezeichnet (etwas „mannhaft“ sagen bedeutet im Gegensatz zum „Weibergequatsche“ etwas knallhart, direkt und konkret ausdrücken) und gilt als unhöflich und rücksichtslos („jemandem reinen Wein einschenken“ oder „frei von der Leber weg drauf los“). Deshalb ist ein Kommunikationsstil wie in Kulturen mit einem schwachen Kontextbezug in der polnischen Kultur möglich, weicht aber deutlich von der anerkannten Höflichkeitsnorm ab. Der direkte Stil ist häufig die Antwort auf eine erfolglose Kommunikation und wird angewandt, wenn der Empfänger die Sprecherabsicht, die auf abgeschwächte Weise vermittelt wird, nicht versteht oder nicht verstehen will. Eine solche Reaktion stützt sich häufig auf die Annahme, es mit einem nicht besonders aufgeweckten (also begriffsstutzigen) oder dickköpfigen Gesprächspartner (er will das Gesagte nicht interpretieren, sondern verlangt ganz bewusst eine direkte Botschaft, z. B. um den Sprecher in Verlegenheit zu bringen) zu tun zu haben. Die dritte Möglichkeit ist, dass er oder sie den Code nicht kennt, obwohl das hauptsächlich interkulturelle Beziehungen betrifft. Da ein solches Kommunikationsverhalten eindeutig negativ konnotiert ist, zeugt der Gebrauch des direkten Stils entweder von dem Versuch, die Kommunikationseffizienz in einer Ausnahmesituation zu erhöhen, oder von Rücksichtslosigkeit, da die Emotionen der GesprächspartnerInnen ignoriert werden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass der deutsche Kommunikationsstil von den polnischen PartnerInnen häufig als arrogant und herablassend, also als beleidigend empfunden wird. Im Zusammenhang mit der stereotypen Vorstellung von deutscher Ordnung als seelenloser Pedanterie und uneingeschränktem („blindem“) Gehorsam und der harten Aussprache des Deutschen (der Klang der deutschen Sprache wird häufig als Bellen wahrgenommen) wird der direkte Kommunikationsstil oft aus der Perspektive von → Stereotypen beurteilt. Und gemäß derer ist der typische Deutsche streng, steif, überheblich und aggressiv, mit einem Wort inhuman (→ Kreuzritter). Diese Etikettierungen bilden den Kern des polnischen Stereotyps vom Deutschen, das seit nahezu dreihundert Jahren, in den unterschiedlichsten Spielarten, vervielfältigt und in Abhängigkeit von den Ereignissen aktualisiert wird – mal als aggressiver Germane, der die friedlichen Slawen in Unruhe versetzt, mal als heimtückischer und gnadenloser Kreuzritter, mal als seelenloser preußischer Beamter und schließlich als grausamer Nazi.

Die deutsche Perzeption des polnischen Kommunikationsstils fällt nicht besser aus. Da in Kulturen mit einem schwachen Kontextbezug der Empfänger nicht erwartet, dass er die Bedeutung einer Äußerung auch aus außersprachlichen Signalen, also aus Unausgesprochenem, herauslesen muss, verunsichert und irritiert die polnische Sprechweise zuweilen die Deutschen. Statt mit einer möglichst präzisen und eindeutigen Äußerung werden sie mit verbalen Informationsbruchstücken sowie mit Anspielungen und Ungesagtem konfrontiert, ergänzt durch entsprechende Mimik, Gestik und Intonation. Dies sorgt für Unbehagen, vermittelt das Gefühl einer unklaren Situation, da die Worte oftmals im Widerspruch zur Körpersprache zu stehen scheinen. Darüber hinaus ist die Äußerung spiralförmig aufgebaut, das heißt, sie beginnt mit einer Einleitung (Gesprächseröffnung), die erst nach und nach ins Thema einführt, „zur Sache“ kommt. Überdies schwächt der polnische Sprecher häufig absichtlich seine „Verhandlungsposition“, um sie – paradoxerweise – zu stärken, das heißt er versucht, die Sympathien, das Mitgefühl oder Interesse seines Gesprächspartners zu gewinnen, indem er sein Licht unter den Scheffel stellt oder das eigene Befinden herabsetzt (ewiges „Beklagen“), um später die aufgebaute Beziehung dazu zu nutzen, das selbst gesteckte Ziel zu erreichen (Wóycicki 2009). Für den deutschen Gesprächspartner ist eine solche Äußerungsweise unverständlich und verstärkt den Eindruck, mit einer chaotischen, inkompetenten, ja unehrlichen Person zu kommunizieren, die ihre wahren Absichten zu verbergen sucht. Diese Kategorisierungen (Chaos, Inkompetenz, Unehrlichkeit, willkürliches Handeln) korrespondieren mit dem dauerhaften Stereotyp der → polnischen Wirtschaft Missverständnisse, die durch kritische Vorfälle ausgelöst werden, verfestigen die traditionellen Stereotype, das heißt, sie „erklären“ den wahrgenommenen Unterschied im Verhalten, ohne dass man groß nachdenken muss, und bestätigen zugleich die Richtigkeit („Wahrhaftigkeit“) der vom Stereotyp transportierten Inhalte. Kritische Vorfälle, die aus dem schwachen deutschen und dem stärkeren polnischen Kontextbezug resultieren, bestätigen den „Wahrheitsgehalt“ der Stereotype: Der Deutsche spricht direkt, ohne auf die Gefühle anderer Rücksicht zu nehmen, er ist für den Polen ein seelenloser, aggressiver und überheblicher Mensch; der Pole seinerseits „rückt nicht raus mit der Sprache“, vermeidet es, zügig zum Kern der Sache zu kommen, ist in den Augen des Deutschen also ein Schwindler, ein Ignorant, ein unorganisierter, sprich nicht vertrauenswürdiger Mensch.

Polnische und deutschen Kulturdimensionen

Die in diesem Umfang erstmals vom niederländischen Wissenschaftler Geert Hofstede durchgeführten quantitativen Studien erlaubten es, gewisse Tendenzen (Normen) im Verhalten der Mitglieder einer bestimmten Kulturgemeinschaft festzustellen. Dadurch konnten Kulturen nach bestimmten festen Kriterien beschrieben und wertfrei miteinander verglichen werden. Trotz der unbestrittenen Verdienste für die interkulturelle Forschung, gelang es Hofstede jedoch weder kulturelle Veränderungen zu erfassen, die schließlich unausgesetzt stattfinden, noch unterschiedliche, individuell bedingte Verhaltensweisen innerhalb einer Gemeinschaft zu berücksichtigen. Dennoch lohnt es, die deutsch-polnische Kommunikation vor dem Hintergrund seiner Studien zu betrachten, die nicht nur die bestehenden Unterschiede aufzeigen, sondern auch die kulturellen Ähnlichkeiten, insbesondere in globaler Perspektive. So ist beispielsweise der Maskulinitäts-/Feminitätsgrad der polnischen und der deutschen Kultur nach Geert Hofstede im Grunde genommen auf dem gleichen Niveau, allerdings zeigt die kommunikative Praxis deutlich, dass das gesellschaftliche Funktionieren der Geschlechter in beiden nationalen Gemeinschaften sehr unterschiedlich verstanden wird. Die Dimension der Maskulinität/Feminität verweist auf die herrschenden Beziehungen zwischen den gesellschaftli chen Rollen, die von den Individuen ausgefüllt werden (Gender verstanden als ein soziokulturelles Konstrukt von Geschlecht), und den ihnen gegenüber, in Abhängigkeit ihres biologischen Geschlechts, formulierten Erwartungen. In dieser Kulturdimension wird erkennbar, ob sich die Rollen von Frauen und Männern in einer bestimmten Gemeinschaft stark unterscheiden und z. B. auch andere Tätigkeitsbereiche betreffen (stark vereinfacht gesprochen – ob die Frau im häuslichen und privaten Bereich arbeitet, während der Mann im öffentlichen Bereich tätig ist), oder ob dies den individuellen Präferenzen und Entscheidungen überlassen bleibt. Im ersten Fall zieht die Aufteilung in weibliche und männliche Aktivitäten die Zuschreibung bestimmter charakterologischer Eigenschaften nach sich, die als natürlich betrachtet werden („weiblich“ sind z. B. Empathie, Geduld und Passivität, dagegen gelten Bestimmtheit, Dominanz und Aktivität als „männlich“), während im zweiten Fall diese Charaktermerkmale keine geschlechtlichen Konnotationen aufweisen, da sie als individuelle Eigenschaften konkreter Personen behandelt werden. Zwar wurden beide Kulturen, die deutsche wie die polnische, als maskulin klassifiziert, doch beim Anteil von Frauen am Arbeitsmarkt, einem Parameter, den Hofstede zur Bestimmung des Gleichheitsgrades der Geschlechter heranzog, ging er nicht näher auf dessen spezifischen Charakter und dessen Struktur ein – im Falle Polens blieben beispielsweise die Auswirkungen der Sozialpolitik der Volksrepublik Polen auf den Beschäftigungsstand in den frühen 1990er Jahren unberücksichtigt. Hofstedes Untersuchungen stammen aus den 1960er und 1970er Jahren und wurden Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre auf Kulturen erweitert, die in den ersten Studien keine Berücksichtigung fanden. Auch deshalb werden die Folgen der gesellschaftspolitischen und vor allem wirtschaftlichen Transformation in Polen und (Ost)Deutschland auf die berufliche Aktivität von Frauen bei Hofstede kaum reflektiert. Heute sind die Unterschiede in dieser Kulturdimension sicherlich viel größer, allein schon aufgrund der Politisierung des Konzepts „Gender“ und seiner Instrumentalisierung in Polen in den letzten zwei Jahrzehnten, wovon im Weiteren noch die Rede sein wird.

Die ForscherInnen, die in Hofstedes Fußstapfen traten (die AutorInnen des GLOBE- Projekts), lehnten einen Teil seiner Forschungsergebnisse ab oder korrigierten sie (House/Hanges/Javidan/Dorfman/Gupta 2004, Boski 2010). Ohne näher auf die Ursachen der widersprüchlichen Befunde (die vor allem die Dimensionen „Unsicherheitsvermeidung“, „Maskulinität/Feminität“ und „Kollektivismus/Individualismus“ der polnischen Kultur betreffen) und ihre unterschiedlichen Interpretationen eingehen zu wollen, sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass in der polnischen Kultur Geschlechterunterschiede viel stärker akzentuiert werden als in der deutschen. Deutsch-polnische Verschiedenheiten treten bereits bei der Begrüßung oder in Situationen, in denen Frauen eine besondere Behandlung erfahren (z. B. beim Türaufhalten, Anbieten von Hilfe beim Tragen schwerer Einkäufe oder Koffer, Platzabtreten usw.), zutage. Das gehäufte Auftreten derartiger Kulturunterschiede kann zu einem Gefühl der Unsicherheit, ja der Gereiztheit bei der Begrüßung führen, also noch vor dem Beginn eines Gesprächs. Und dabei geht es hier nicht einmal so sehr um den berühmten polnischen Handkuss, ein Relikt höfischer Etikette (und durch die polnische Adelskultur verbreitet), der schon häufiger Verwirrung gestiftet hat, insbesondere auf diplomatischer Ebene (da er eine Verletzung des diplomatischen Protokolls darstellt), als vielmehr um die Begrüßung per Handschlag in Alltagssituationen. Es kann nämlich vorkommen, dass in einer informellen Situation, in der sich mehrere Personen aus Polen und Deutschland begrüßen, ein Pole, der die anwesenden Männer (sowohl die polnischen als auch die deutschen) zuvor mit einem Händedruck begrüßt hat, einer Frau (egal aus welchem Land) die Hand nicht reicht. Denn gemäß der polnischen Höflichkeitsnorm sollte die Geste des Händereichens von der Frau ausgehen. Der Mann erwidert diese Geste. Ergreift die Frau jedoch nicht die Initiative, begrüßt der Mann die ihm fremde Frau verbal („Guten Tag!“, „Ich begrüße Sie“) oder mit einem Kopfnicken und einem Lächeln, und handelt es sich um eine Bekannte oder Freundin, mit einer kurzen Umarmung oder einem Kuss auf die Wange. In dienstlichen Situationen ist das Händeschütteln (vor allem wenn man sich neuen Personen vorstellt) unabhängig vom Geschlecht gängige Praxis, obwohl man dort auch dem Handkuss begegnen kann, was wiederum eine Verhaltensabweichung aufgrund des Geschlechts ist. Obwohl der Handkuss heute mehr und mehr aus dem Begrüßungsritual verdrängt wird, kann er jedoch vorkommen, insbesondere bei älteren Personen oder solchen, die besonderen Wert auf Konventionen legen. Trotz des erheblichen Anteils polnischer Frauen am öffentlichen Leben (obwohl es bis zu einer Parität der Geschlechter noch ein weiter Weg ist), ist ein Verhalten, das Geschlechtsunterschiede betont, immer noch an der Tagesordnung und lässt sich in jedem Milieu beobachten. Die symbolische „Privilegierung“ von Frauen in den oben erwähnten Situationen, wie auch in „romantischen“ Beziehungen (die Erwartung, dass der Mann im Restaurant die Rechnung bezahlt, der Frau Blumen schenkt sowie Geschenke und Komplimente macht, ihr seinen Mantel gibt, wenn es draußen kalt wird, etc.), gilt allgemein als Höflichkeit, aber auch als eine Art „männliche“ Pflicht. Es ist der Mann, der sich um die Gunst der Frau bemüht und ihre Launen erfüllt, nicht umgekehrt, er ist die aktive Seite, sie die passive. Geschlechterspezifische Verhaltensweisen und Erwartungen verschwinden auch nicht in späteren Phasen einer Beziehung. In der deutschen Kultur wiederum gilt Gleichbehandlung bei der Begrüßung, das heißt eine Begrüßung per Händedruck jeder anwesenden Person, ohne nach Geschlecht zu unterscheiden, sowie ein viel weitreichenderer Geschlechteregalitarismus in der Alltagskommunikation. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Kollision zwischen dem polnischen Brauch (nur ein verbales Signal oder Lächeln, ohne der Frau die Hand zu geben, es sei denn, die Initiative zu einer solchen Geste geht von ihr aus) und der deutschen Kommunikationspraxis (Handschlag mit jeder Person) bei der Kontaktaufnahme einen falschen Eindruck von den Absichten des polnischen Gesprächspartners geben kann. Ähnlich verhält sich die Situation, wenn der Mann anbietet, das Gepäck zu tragen oder die Tür aufhält, was in der Interaktion mit Frauen, die im Alltag in wesentlich egalitäreren Kulturen, wie z. B. der skandinavischen oder auch der deutschen, zu Hause sind, zu kritischen Vorfällen führen kann. Andererseits wiederum werden die Erwartungen polnischer Frauen in analogen Situationen möglicherweise völlig ignoriert, da sie Deutschen nicht offensichtlich sind.

Zu Missverständnissen zwischen Polen und Deutschen kann auch ein unterschiedliches Verständnis von „Feminität“ und deren Artikulierung im Alltag führen, z. B. durch den Kleidungsstil und das Verhältnis zum eigenen Aussehen/Körper. Natürlich existieren in bestimmten Bereichen des öffentlichen Lebens sowohl in Polen als auch in Deutschland in bestimmten Situationen (z. B. in Unternehmen, diplomatischen Vertretungen, Ämtern usw.) von oben auferlegte Kleiderordnungen – bestimmte Dresscodes kenn- zeichnen auch Subkulturen, gesellschaftliche Milieus oder Weltanschau- ungliche Gruppen. Für akademische Kreise in Westeuropa ist ein Lebensstil charakteristisch, der nicht nur bürgerliche Normen und die Nachahmung von Celebrities in Frage stellt, sondern auch durch eine antikonsumorientierte Kleidungsweise gekennzeichnet ist, die sich bei Frauen häufig darin äußert, dass Kleidung abgelehnt wird, die die körperlichen Attribute betont, oder dass das von Illustrierten propagierte Ideal „der perfekten Frau“ – die sorgfältige Korrekturen des Äußeren durch entsprechende Kleidung, Make-up, Frisur usw. über sich ergehen lässt – ignoriert wird zugunsten von Bequemlichkeit, Gesundheit, Ökologie und Ersparnis von Zeit und Geld. Aus Sicht der polnischen Kultur, für die „Weiblichkeit“ als ästhetische Dimension immer noch als ein Exponieren von Geschlechtsunterschieden durch die Sexualisierung des Körpers verstanden wird, also durch entsprechende Kleidung, die die weibliche Körperlichkeit betont, und Selbstverschönerungen, ist die deutsche studentische Norm die vollkommene Negierung von „Weiblichkeit“. Viele deutsche Studentinnen erscheinen Polen daher als „hässlich“, „ungepflegt“, „männlich“. Die Maskulinisierung deutscher Frauen, die im Stereotyp der unattraktiven deutschen Frau sichtbar und von der polnischen Popkultur (→ Popkultur) gern aufgegriffen wird, ist weder ein neues Verfahren der Stereotypisierung noch auf eine bestimmte Gruppe von Frauen (z. B. Studentinnen) beschränkt. Im Gegenteil, das Stereotyp „der hässlichen Deutschen“ (zumeist namens Helga) hat eine viel längere Tradition. „Unweibliche“, gefühllose, strenge, im Kasernenhofton sprechende, „uniformierte“ deutsche Frauen tauchen zumindest seit dem Zweiten Weltkrieg häufig im polnischen Diskurs auf und ergänzen das Stereotyp des deutschen Aggressors. Bekannt sind auch frühere (19. Jh.) abfällige Ansichten über deutsche Frauen, die zumeist mit einer negativen Perzeption des preußischen Staates einhergehen (Wrzesiński 2007). Die heutigen polnischen Meinungen über deutsche Frauen beschränken sich jedoch überwiegend auf äußere Eigenschaften, die die Nachlässigkeit (Schlampigkeit und Geschmacklosigkeit), was das Aussehen betrifft, und die Hässlichkeit unterstreichen, wovon auch die zahlreichen Witze und Kabarettsketche unmissverständlich zeugen, die sich auf diese Figur konzentrieren. Das Stereotyp der „hässlichen Deutschen“ korrespondiert mit dem polnischen Autostereotyp der → schönen Polin das übrigens auch in Russland, der Ukraine, Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern (z. B. den Niederlanden und Frankreich) bekannt ist. Die Bewertungen der polnischen Weiblichkeit weichen jedoch, trotz oberflächlich übereinstimmender Vorstellungen (z. B. das Motiv des schönen Körpers), deutlich voneinander ab. Im polnischen Autodiskurs ist die Polin nicht nur die Schönste auf der Welt, sondern auch mit Charaktervorzügen jedweder Art ausgestattet (z. B. hingebungsvoll, in grenzenloser Liebe Familie und Vaterland zugetan, treu, fleißig und in der Lage, jeglichen Widrigkeiten zu trotzen). Im deutschen Heterostereotyp der Polin hingegen geht die Schönheit des Körpers nicht mit der Schönheit der Seele einher: Die schöne Hülle verbirgt oft das Fehlen von Sittlichkeit und bürgerlichem Anstand, während sexuelle Attraktivität mit Lüsternheit und Käuflichkeit assoziiert wird. Die nicht nachlassende Beliebtheit des Stereotyps der „schönen Polin“ hat womöglich auch mit der Art und Weise zu tun, wie sich viele Polinnen kleiden, nämlich im Einklang mit der körperbetonten polnischen Norm von „Weiblichkeit“. Als Beispiel mag hier erneut das akademische Milieu in Deutschland und Polen dienen: Die lockere, bequeme Kleidung, die den Körper eher verhüllt als exponiert (charakteristisch für den Kleidungsstil deutscher Studentinnen), steht im Kontrast zum Stil, den die Illustrierten lancieren – hautenge und/oder kurze Kleidung, die die Figur betont, sowie sorgfältiges Make-up und Frisur – und der oft (wenn auch nicht immer) bei polnischen Studentinnen als Inbegriff von „Eleganz“ gilt. In von mir durchgeführten Interviews mit polnischen Studenten und Studentinnen, die im Rahmen des Erasmus-Programms in Deutschland studiert hatten, wurden oft Meinungen geäußert, die das „ungepflegte Äußere“ („Geschlechtslosigkeit“ oder „Männlichkeit“) der deutschen Frauen und die „Weiblichkeit“ der Polinnen betonten. Die Nivellierung der Unterschiede zwischen den Geschlechtern wird folglich in der polnischen Kultur häufig als „Hässlichkeit“ und „Schlampigkeit“ interpretiert, wohingegen das Exponieren des Körpers gemäß dem polnischen Verständnis von „Weiblichkeit“ von vielen deutschen Adressaten für ein Signal sexueller Freiheit und Offenheit für erotische Kontakte gehalten wird. Auf diese Weise schließt sich der Kreis: Die Unterschiede im Verhältnis zur Geschlechtergleichheit bestätigen die bereits bestehenden Stereotype: „der hässlichen Deutschen“ und „der schönen Polin“.

Die Kluft zwischen dem Verständnis von Weiblichkeit und Männlichkeit in der polnischen Kultur und dem in der deutschen Kultur kann, in dem Maße wie der Konflikt über die Rolle der Familie und der Frau in der polnischen Gesellschaft, oder besser gesagt in der Welt der Politik und der katholischen Kirche, eskaliert, noch wachsen. Allgemein lässt sich feststellen, dass seit Beginn des 21. Jhs. in national-katholischen und konservativen Kreisen der Widerstand gegen liberale Werte, gegen die Emanzipation der Frau und deren verstärkte Aktivität in Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Politik, zunimmt. Die Transformationsprozesse der letzten Jahrzehnte in diesen Bereichen haben zwangsläufig zu veränderten weiblichen und männlichen Rollenverständnissen geführt, aber auch Einfluss auf die Geburtenrate, die Kindererziehung und die Zuständigkeiten für die Hausarbeit gehabt. Politische und kirchliche Versuche, die Genderforschung zu diskreditieren – was zumeist auf fehlendes Wissen und ein Nichtverstehen der Grundbegriffe zurückzuführen ist –, haben jedoch konkrete Folgen: Die Bindung der Frau an die häusliche Sphäre wird verstärkt einerseits durch eine entsprechende Sozialpolitik (das berühmte „Programm 500+“, dessen Ziel es ist, die Geburtenrate in Polen anzuheben, und dessen Effekte diesbezüglich verschwindend gering sind, sowie andere Programme, die Familien unterstützen, und Anti-Abtreibungsgesetze), andererseits durch die Propaganda der Regierungsmedien, die die Aktivitäten feministischer Kreise beharrlich – wenn auch inkompetent – verunglimpfen und die sogenannte traditionelle Rolle der Frau als Ehefrau, Mutter und Hüterin des häuslichen Herdes propagieren. In dem sich seit der Machtübernahme durch die national-katholische Partei PiS verschärfenden Konflikt wird der Versuch erkennbar, die Emanzipation der Frau zu stoppen und rückgängig zu machen, ihre Rolle auf die Fortpflanzung zu beschränken und sie aus dem öffentlichen Leben, einschließlich des Arbeitsmarktes, zu verdrängen. Obwohl der deutsche Staat seit vielen Jahrzehnten ebenfalls Sozialprogramme auflegt, die Familien helfen und zu steigenden Geburtenraten führen sollen, werden diese jedoch weder von Angriffen auf andersartige Lebenskonzepte begleitet noch zielen sie darauf ab, dem Individuum, die Wahl zu nehmen, über sich selbst frei zu entscheiden. Auch deshalb können bestimmte Verhaltensweisen und von Frauen getroffene Entscheidungen in beiden Kulturen unterschiedlich ausfallen und zu kritischen Vorfällen in der deutsch-polnischen Kommunikation führen. Hierhin gehört in gewisser Weise auch die Situation der sexuellen Minderheiten in Polen und die gegen sie gerichteten Maßnahmen: die sich in den letzten Jahren verstärkenden Aktivitäten gegen Vertreter und Vertreterinnen der LGBT-Bewegung; das Verabschieden von Resolutionen, die vorgeben, Familien zu schützen, indem sie zur Bekämpfung nicht heteronormativer Menschen aufrufen (die berühmt-berüchtigten „LGBT-freien Gemeinden/Zonen“); direkte Angriffe auf Personen mit einer anderen sexuellen Orientierung als der traditionellen (z. B. seitens der Polizei und Gruppen, die bei Demonstrationen offen gegen nicht-heteronormative Personen vorgehen, oder die schändlichen Äußerun- gen des derzeitigen Ministers für Bildung und Wissenschaft [sic!]). In Kulturen mit einem höheren Grad an Geschlechteregalitarismus (also in Hofstedes Sinne feminineren Kulturen) sind die Wahl gesellschaftlicher Rollen, das Kommunikationsverhalten sowie das Verhältnis zum eigenen Körper und zur Sexualität individuelle Entscheidungen – gesellschaftlicher Druck ist in diesen Bereichen praktisch nicht existent. In diesem Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben, dass, entgegen Hofstedes Ergebnissen, das Niveau der Geschlechtergleichheit in der polnischen Gesellschaft viel niedriger ist als in der deutschen, die polnische Kultur folglich männlicher ist als die deutsche.

Geschlechtergleichheit wird von den GLOBE-ForscherInnen etwas anders verstanden als von Hofstede. Bei ihnen verweist diese Messgröße insbesondere auf diskriminierende Verhaltensweisen, aber auch auf das allgemeine Kommunikationsverhalten, z. B. auf das Niveau der Bestimmtheit (Selbstsicherheit, Entschlossenheit, Fähigkeit, nein zu sagen und an seinen eigenen Ansichten festzuhalten). Im Allgemeinen wird ein solches Verhalten als männlich bezeichnet und steht, wie Paweł Boski schreibt, im Widerspruch zur polnischen Kulturnorm (Boski 2010, S. 144), obwohl es in den letzten zwanzig Jahren, und vor allem in der Wirtschaft, immer stärker gefragt ist. Ebenso wie in Kulturen mit schwachem Kontextbezug bedeutet Bestimmtheit auch in männlichen Kulturen die Fähigkeit, ohne Rücksicht auf die Emotionen des Empfängers direkt zu kommunizieren, um die eigenen Interessen zu forcieren. Deshalb sind auch hier Kommunikationskollisionen vorprogrammiert, da Bestimmtheit in Kulturen mit stärkerem und starkem Kontextbezug von ihren NutzerInnen häufig mit Aggressivität, einem unfreundlichen Verhältnis zur Umwelt und Unnachgiebigkeit in Verbindung gebracht wird. In Bezug auf die polnische und deutsche Kultur ließe sich schlussfolgern: Die deutsche Kultur ist, was die Geschlechtergleichheit betrifft (die Nivellierung der Unterschiede im Bereich der gesellschaftlichen Geschlechterrollen und des Verhältnisses zum Körper), weniger männlich als die polnische, aber andererseits, was die Häufigkeit assertiver Verhaltensweisen betrifft, viel männlicher als die polnische. Die GLOBE-AutorInnen unterschieden im Zusammenhang mit Maskulinität/Feminität noch eine weitere Kulturdimension – die Humanorientierung, die für femininere Kulturen typisch ist. „Der Humanaspekt der Feminität bedeutet Fürsorge, dem Wohl der anderen Priorität einzuräumen, den Mitmenschen nie auf ein Mittel zum Zweck zu reduzieren“ (Boski 2010, S. 145). Die ForscherInnen messen die Feminität einer Kultur, indem sie das Niveau der Uneigennützigkeit (wobei betont werden muss, dass wir uns hier im deklarativen Bereich bewegen, das heißt, wir es hier eher mit Werten als mit kulturellen Praktiken zu tun haben, da letztere schwer zu untersuchen sind) und den Grad der Fürsorglichkeit des Staates analysieren. Wobei die Niveaus der beiden Bereiche nicht identisch sein müssen, möglich ist zum Beispiel auch, dass eine durchschnittliche Fürsorglichkeit des Staates mit einem niedrigen Grad an Uneigennützigkeit einhergeht und umgekehrt. In der polnischen und deutschen Kultur haben wir ähnliche Werte bei der Humanorientierung (der Unterschied beträgt 0,2 Punkte zugunsten der polnischen Kultur), dagegen ist die Sozialpolitik in Deutschland etwas ausgebauter als in Polen. Die Humanorientierung ist, wie Boski feststellt, in den Staaten Westeuropas am schwächsten ausgeprägt, während die skandinavischen Länder ein hoher Grad an Fürsorglichkeit auszeichnet (Boski 2010, S. 145). Eine andere Kulturdimension, in der sich Polen und Deutsche stark unterscheiden, ist der Grad der Unsicherheitsvermeidung, der im GLOBE-Projekt mit weiteren Dimensionen verbunden ist: mit der Zukunftsorientierung und der Leistungsorientierung. Sowohl bei Hofstede als auch bei den etwas neueren GLOBE-Ergebnissen unterscheiden sich die polnische und die deutsche Kultur in dieser Frage grundlegend. Was allerdings die konkreten Werte betrifft, so kommen die empirischen Studien zu äußerst widersprüchlichen Ergebnissen. Laut Hofstede zeichnet Polen ein sehr hohes Maß an Unsicherheitsvermeidung aus, Deutschland hingegen ein mittleres. Nach den späteren Befunden von GLOBE (und auch von Paweł Boski) ist das Gegenteil der Fall: Die Polen charakterisiert eine sehr hohe Unsicherheitstoleranz (schnelle Anpassung an plötzliche Veränderungen), während die Deutschen bei (unerwarteten) Veränderungen ihre Selbstsicherheit verlieren und starkes Unbehagen empfinden. Die Art und Weise, wie mit überraschenden Ereignissen, unklaren Situationen oder einer schwer vorhersehbaren Zukunft umgegangen wird, illustriert diese Unterschiede sehr gut. In Kulturen mit einem hohen Grad an Unsicherheitsvermeidung erzeugt eine dynamische Entwicklung der Ereignisse mit abrupten Wendungen Unzufriedenheit, Stress, Frustration, ja anhaltende Ängste. Deshalb erwarten die Mitglieder solcher Gemeinschaften Instruktionen und Tipps, wie sie mit einer veränderten Situation umgehen sollen. Anders in Kulturen mit einem geringen Grad an Unsicherheitsvermeidung, in denen gesellschaftlich sanktionierte Verhaltensmuster existieren, die die Anpassungsfähigkeit an wechselhafte Lebensbedingungen, also eine spezifische Flexibilität fördern, die sich im schnellen Reagieren auf neue Umstände und einer grundlegenden Adaptivität ausdrückt. In beiden Fällen ruft eine plötzliche Veränderung Angst und ein Gefühl der Destabilisierung hervor – eine Reaktion, die allen Menschen gemein ist. Entscheidend ist jedoch, auf welche Weise und wie schnell man in der neu eingetretenen Situation zur Ordnung übergeht. Recht, Religion und Technik sind laut Hofstede Instrumente, mit denen das Unbekannte und Unsichere im gesellschaftlichen und privaten Leben domestiziert werden kann. Je größer das Bedürfnis nach einem vorhersehbaren Leben und die Furcht vor instabilen Verhältnissen, desto größer der Grad an Unsicherheitsvermeidung, der sich oft darin manifestiert, dass man zwischenmenschliche Kontakte mit einem System von Regeln und Vorschriften (Gesetzen, Reglements, Anordnungen, Instruktionen) zu kontrollieren versucht, was als eine Methode betrachtet wird, die unbekannte Zukunft – ähnlich wie im Fall der Natur – durch technologische Entwicklung zu beherrschen. Deutsche und Polen unterscheiden sich jedoch hauptsächlich in ihrem Verhältnis zur Einhaltung von Vorschriften im Alltag (dies gilt vor allem im Privaten, aber auch in der Öffentlichkeit).

Die Missachtung der Straßenverkehrsordnung durch Polen mag manchem Deutschen bereits unangenehm aufgestoßen sein, ähnlich wie die häufigen Planänderungen und das ständige Sich-Umentscheiden im Privaten auf deutscher Seite schon des Öfteren für Kopfschmerzen gesorgt haben dürfte (Boski 2010, S. 145). Auch die „unbekümmerte“ (de facto fehlende) Zukunftsplanung vieler Polen kollidiert mit der Ansicht vieler Deutscher, Herr des eigenen Lebens zu sein. Aus polnischer Sicht sind „Spontaneität“, „Kreativität“ und „Flexibilität“ hoch geschätzte Eigenschaften, die für Anerkennung sorgen. In der deutschen Perzeption werden sie dagegen oft als Neigung, Gesetze und gesellschaftliche Regeln zu missachten, als anarchistische Gelüste, als Chaos und Führungsunfähigkeit, als Irrationalität im Sinne einer „intellektuellen Schwäche“, als Unberechenbarkeit und Unbeständigkeit, was mit Unehrlichkeit und Unzuverlässigkeit (→ polnische Freiheitpolnische Wirtschaft) assoziiert wird, interpretiert. Unterschiedlicher könnte die Bewertung derselben gesellschaftlichen Verhaltensweisen kaum ausfallen: das, was aus polnischer Sicht höchste Anerkennung verdient, gilt in den Augen der Deutschen als tadelnswert und wird mit gesellschaftlichen Sanktionen belegt. Gerade in diesem kulturellen Unterschied kann man den Grund für die polnischen und deutschen Auto- und Heterostereotype erblicken. Das Bedürfnis, das Unbekannte zu „zähmen“, das im Verhalten vieler Deutscher festgestellt werden kann (Siehe die Arbeiten von Alexander Thomas in der Bibliografie), führt zu weitreichenden Regelungen im privaten und öffentlichen Leben (zu einer stark formalisierten Organisation des Lebens, „Ordnungsliebe“), zu einer spezifischen Reglementierung der Zeit, zu einem Kontrollsystem mit Hilfe von Geboten und Verboten und deren konsequenter Vollstreckung. Die Befolgung der Empfehlungen wird als Chance (fast schon als Garantie) des gesellschaftlichen Friedens, als Sicherheitsvoraussetzung des Individuums und der Gruppe begriffen, die allen Mitgliedern der Gemeinschaft ein relativ konfliktfreies Funktionieren ermöglicht. Für die Mehrzahl der Polen hingegen ist das Leben zu unberechenbar, komplex und wechselhaft, als dass man es mit Regeln und Gesetzen kontrollieren könnte. Deshalb werden Beschränkungen mittels Vorschriften zumeist als Behinderung oder sogar als Schikane seitens des Staates und seiner Institutionen betrachtet und nicht als Versuch, das Risiko und die potenziellen Gefahren zu minimieren. Die deutsche Kultur lässt sich, laut Boski, als gut funktionierende„Mustermaschine“ beschreiben, die konkrete Schemata und Verhaltensmuster vorgibt, während die polnische Kultur als ein freies, spontanes Anpassen an die aktuelle Situation, an den unvorhersehbaren Lauf der Dinge bezeichnet werden kann (Boski 2003, Bd. 2., S. 125).

Erhebliche Unterschiede im Grad der Unsicherheitsvermeidung lassen sich derzeit bei den Reaktionen der Polen und der Deutschen auf die, den Gesellschaften im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie auferlegten Beschränkungen beobachten. Obwohl in beiden Fällen die Maßnahmen der Regierungen, die die Bürgerrechte einschränken – u. a. Pflicht, Nase und Mund zu bedecken; Verbot von Massenveranstaltungen; gesetzliche Regelungen, wie viele Personen sich versammeln dürfen; Quarantäneregeln usw. –, auf Proteste stoßen und in beiden Gesellschaften Impfgegner und CoronaLeugner aktiv sind, sieht man mit bloßem Auge die unterschiedliche Akzeptanz der Vorschriften. Während die überwiegende Mehrheit der Deutschen die von Bund und Ländern eingeführten Empfehlungen und Regelungen akzeptiert und sie – wenn auch ohne Begeisterung – befolgt, riefen ähnliche Maßnahmen in Polen allgemeine Unzufriedenheit hervor und führten insbesondere im Frühjahr 2020 dazu, dass man sich den auferlegten Regeln offen widersetzte. Erst die Einführung horrender Bußgelder zwang große Teile der Gesellschaft, den Anordnungen nachzukommen, obwohl es weiterhin gängige Praxis war, die Maske nicht korrekt zu tragen und Hygienevorschriften zu ignorieren – grundsätzlich herrschte ein weit verbreiteter Unwille gegenüber staatlichen Corona-Regelungen. Der fehlende Glaube an die Richtigkeit der behördlichen Entscheidungen, das Misstrauen gegenüber Experten und gleichzeitig die Überzeugung, selbst oder in der Familie die Situation besser einschätzen zu können, dies alles trägt dazu bei, die erlassenen Vorschriften und Verbote nicht zu beachten. Mit ähnlicher Leichtigkeit versuchen viele Polen und Polinnen, die Zwangsschließungen für Fitnessstudios in der Pandemie zu umgehen, indem sie ihre Betriebe kurzerhand zu „Kirchen“ des gesunden Körpers (da die Restriktionen in geringerem Umfang für religiöse Aktivitäten gelten) oder Unternehmen, die Geräteausstellungen organisieren, erklären. Nicht anders verhält es sich mit Hochzeiten, die Beschränkungen unterliegen, was die Zahl der Gäste betrifft. Die Organisatoren der Feier melden zum Beispiel zwei oder drei angeblich voneinander unabhängige Veranstaltungen an, um auf diese Weise die Teilnehmerobergrenze zu umgehen. Diese Art von Verhalten ist in Polen nicht ungewöhnlich, während es in Deutschland überaus selten vorkommt. Die Neigung, Verbote nicht zu befolgen und sich nicht an Empfehlungen zu halten, kennzeichnet die TeilnehmerInnen von Kulturen mit einem niedrigen Grad an Unsicherheitsvermeidung, da sie davon überzeugt sind, selbst besser mit einer Krisensituation zurechtzukommen, und nicht daran glauben, dass Anordnungen von oben ihnen tatsächlich helfen können. In Kulturen mit einem hohen Grad an Unsicherheitsvermeidung werden dagegen Empfehlungen, Instruktionen und Regeln, egal ob sie von Experten oder renommierten Institutionen stammen, als das beste Mittel erachtet, um mit unerwarteten und unerwünschten Veränderungen zurechtzukommen. Viele Polen formulieren ihre Träume und Pläne häufig lieber im Einklang mit Mickiewicz’ Devise, die eigenen Kräfte an den Vorsätzen zu messen, also nicht unbedingt an der Realität, als dass sie die potenziellen Probleme und eigenen Möglichkeiten berücksichtigen. Deshalb auch die häufigen Planänderungen, spontanen Improvisationen, Wechsel der Richtung und des Ziels beim Vorgehen vieler Polen. Ein solches Verhalten ist für die Mehrzahl der Deutschen unverständlich, extrem „unverantwortlich“ und kritikwürdig, die Polen erscheinen ihnen dadurch als unberechenbare Zeitgenossen, die gesellschaftliche Ordnung gefährden. Planung (die Vorbereitung auf zukünftige Ereignisse) ist nämlich einer der Grundpfeiler des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland, und zwar sowohl des kollektiven (beruflichen, öffentlichen etc.) Lebens wie auch des individuellen Lebens (Familien-, Privat-, ja sogar des Freizeitlebens). Eine solche Einstellung zum Leben wird aus polnischer Sicht als übertriebene Regelgläubigkeit interpretiert, was wiederum das polnische Stereotyp vom Deutschen als einem wenig „geistreichen“, schematischen Menschen ohne Sinn für Humor und Fantasie, einem fanatischen Bürokraten, „gefühllosen Klotz“, der blind Befehle ausführt, bekräftigt.

Ähnliche Unterschiede kennzeichnen die Wahrnehmung und Bewertung der im Zusammenhang mit den Kulturdimensionen Leistungs- und Zukunftsorientierung (die eng mit dem Grad der Unsicherheitsvermeidung zusammenhängen) beobachteten Verhaltensweisen von Deutschen und Polen. Die Dimension der Leistungsorientierung beschreibt das Verhältnis zum Können, zur Genauigkeit der Planumsetzung und zu den Ambitionen; die kulturellen Praktiken in diesem Bereich stehen in einem positiven Verhältnis zur ökonomischen Effektivität und zum Lebensstandard der Gemeinschaft. Der Indikator für Zukunftsorientierung wiederum zeigt, wie man die Zukunft versteht und plant und wie man die Arbeit in der Zeit organisiert. Momentan ausgeführte Aufgaben sollen in der Zukunft eine Wirkung entfalten: „Heute Geleistetes wird zu einem Element eines langfristigen Plans“ (Boski 2010, S. 131). Ähnliches gilt für den Lohn der Arbeit, der erst in der Zukunft, als eine „Belohnung“ für die über einen längeren Zeitraum erbrachte Leistung, erwartet wird.

Für die deutsche Kultur kennzeichnend sind wesentlich höhere Ergebnisse bei der Leistungs- und Zukunftsorientierung als für die polnische Kultur. Unter den im Rahmen des GLOBE-Projekts untersuchten Kulturen rangierte die polnische auf dem drittvorletzten Platz, was zukunftsorientierte Praktiken betraf, nur vor Argentinien und Russland (Boski 2010, S. 134). Es genügt in diesem Zusammenhang auf den fehlenden Plan zur Bekämpfung der Pandemie hinzuweisen: Obwohl das Risiko steigender Inzidenzen im Herbst 2020 bereits ein halbes Jahr früher sowohl den Behörden als auch der Gesellschaft bekannt war, scheint die Entwicklung der Ereignisse dennoch alle überrascht zu haben. Wie Paweł Boski betont:

„[A]ufgrund der Tatsache, dass Zukunftsorientierung und Unsicherheitsvermeidung die deutlichsten kulturellen Verschiedenheiten zwischen Polen und Deutschland zu Tage befördern, sollte diesen Dimensionen größere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Zumal wir Grund zu der Annahme haben, dass diese Differenzen bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ähnlich wahrgenommen wurden und zu den Teilungen Ende desselben Jahrhunderts beigetragen haben“ (Boski 2010, S. 148).

Obwohl es schwerfällt, letztgenannter These vorbehaltlos zuzustimmen, muss man Boski jedoch darin Recht geben, dass die Triade  „Unsicherheitsvermeidung, Zukunfts- und Leistungsorientierung“ des GLOBE-Projekts den größten Unterschied zwischen Polen und Deutschen ausmacht. Der letzte, hier erörterte Aspekt deutsch-polnischer Kulturunterschiede sind drei Kulturdimensionen, die im GLOBE-Projekt analysiert werden: Machtdistanz sowie institutioneller und In-Group-Kollektivismus. Machtdistanz bezieht sich auf das Ausmaß gesellschaftlicher Hierarchisierung, einschließlich der zwischenmenschlichen Beziehungen: die Verteilung von Macht; Gehorsam gegenüber Vorgesetzten (Respekt, Bewunderung für diejenigen, die die Macht auf den verschiedenen Ebenen ausüben); Akzeptanz gesellschaftlicher Ungleichheit; Verhältnis zu staatlichen Institutionen etc. „Je stärker die praktizierte Hierarchisierung, desto niedriger die Indikatoren für Reichtum und wirtschaftlichen Wohlstand; desto niedriger die Zustimmung zum wirtschaftlichen Wettbewerb und desto höher die Befürwortung staatlicher Interventionen; desto niedriger die Indikatoren für gesellschaftliche und individuelle Lebensqualität, während der Familie und den Freunden eine größere Bedeutung zugeschrieben wird“ (Boski 2010, S. 139). Im Unterschied zu Deutschland hat Polen, wie auch einige andere ehemalige Ostblockländer, beim institutionellen Kollektivismus einen relativ hohen Wert und weist auch bei der zweiten Form des Kollektivismus, des In-Group-Kollektivismus, eine abweichende Tendenz auf (hier sind die Unterschiede ebenso deutlich). Nach den GLOBE-Befunden korreliert eine schwache Familie mit einer funktionierenden demokratischen Bürgergesellschaft, während starke Familienbindungen typisch sind für wirtschaftlich ärmere Länder, mit niedrigerer Lebensqualität, relativ hoher Korruption und ausgedehnten Beziehungsgeflechten (Familie, Freundeskreis, soziales Umfeld).

Die vergleichende Betrachtung, die sich auf die Annahmen des GLOBE-Projekts, aber auch auf die Studien von Hofstede und Boski stützt, untergräbt eindeutig die allgemein üblichen Ansichten von der polnischen Kultur als einer „westlichen“, also größtenteils im Einklang mit deutschen Standards stehenden Kultur. Wie sich herausstellt, ist die kulturelle Distanz zwischen Polen und Deutschen mehr als zweimal so groß wie die zwischen Polen und Russen. „Bei vier der neun Dimensionen bestehen zwischen Polen und Deutschland signifikante Unterschiede: bei der Zukunftsorientierung und bei der Unsicherheitsvermeidung hat Deutschland höhere Werte; beim In-Group-Kollektivismus und bei der Geschlechtergleichheit ist Polen höher platziert. Während Polen sich in keiner Dimension der kulturellen Praktiken von Russland unterscheidet“ (Boski 2010, S. 148). Abgesehen von dem kontroversen Wert für die polnische Kultur beim Geschlechteregalitarismus (bei der Geschlechtergleichheit), den Boski zitiert, zeigen die übrigen Dimensionen tatsächlich grundsätzliche Unterschiede, wobei auch der unterschiedlich starke Kontextbezug der polnischen und der deutschen Kultur berücksichtigt werden muss, der eine zusätzliche Quelle möglicher kritischer Vorfälle darstellt.
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass – zumindest in der Theorie – kritische Vorfälle in der deutsch-polnischen Kommunikation fast unvermeidlich sind. Fügt man noch die Unterschiede in den kulturellen Gedächtnissen, die verschiedenen Netze von Schlüssel begriffen und eine Reihe unübersetzbarer, da kulturell „inkompatibler“ Begriffe hinzu, wird sichtbar, dass wir trotz aller fortschreitenden Verwestlichung beziehungsweise Amerikanisierung der polnischen Kultur kulturell immer noch enger mit den für Osteuropa typischen Denk-, Gefühls-, Handlungs- und Kommunikationsmustern verbunden sind.

Aus dem Polnischen von Andreas Volk

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Surynt, Izabela, Prof. Dr. habil., ist zusammen mit Sylwia Dec-Pustelnik, Peter Klimczak, Arkadiusz Lewicki und Christer Petersen Mitherausgeberin des vorliegenden Handbuchs der deutsch-polnischen Interaktionen und verfasste die Beiträge „Wie Polen und Deutsche miteinander kommunizieren. Oder: Über Unterschiede in den Kommunikationskulturen“, „Deutsche Ordensritter/Kreuzritter (Stereotyp)“ und zusammen mit Ilona Rodzeń den Beitrag „Polnische und deutsche Popkultur – gegenseitige Wahrnehmung in der Satire“. Sie ist Professorin an der Universität Wrocław und arbeitet in den Bereichen Interkulturelle Kommunikation, Deutsche Literaturwissenschaften und Deutsche Kulturgeschichte.

 

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