Tytus Jaskułowski, Karoline Gil

Der deutsch-polnische Grenzvertrag und der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag

Der deutsch-polnische Grenzvertrag und der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag


Der am 17. Juni 1991 unterzeichnete Vertrag über gute Nachbarschaft und freund­schaftliche Zusammenarbeit war mehr als nur ein Instrument zur Regulierung der Be­ziehungen zwischen dem wiedervereinigten Deutschland und Polen. Er erwies sich als Brennglas, in dem sich die wichtigsten Hotspots, Rich Points und Hotwords der bilatera­len Kommunikation sowohl vor als auch nach 1989 bündelten. Auch der Vertrag selbst wurde zum Hotword, und gleichzeitig generierte er neue Rich Points, die mit wechselnder Intensität in der öffentlichen Debatte in Polen und Deutschland aufgegriffen wurden. Auf den ersten Blick widersprach dies der Intention des Vertrags, dessen eigentliches Ziel darin bestand, ein neues Modell der zwischenstaatlichen Beziehungen und der För­derung natürlicher, nicht von oben diktierter Methoden der Kommunikation zwischen den Gesellschaften der beiden Nachbarländer zu etablieren.

Dass das auf Versöhnung ausgerichtete Vertragswerk selbst zum Störfaktor im Versöhnungsprozess werden konnte, konnte auf den ersten Blick als unerwünschte Folge erscheinen. Zumal die Verfasser in der Präambel die Ursachen für die Entstehung von Hotspots und Rich Points sowie allgemeine Methoden zu ihrer Überwindung benann­ten – in vollem Bewusstsein, dass der Vertrag selbst neue hervorbringen würde. Damit entsprach der Vertrag den noch vor seiner Unterzeichnung von Artur Hajnicz und Jan Barcz formulierten Ansprüchen. Für Hajnicz sollte der Vertrag zu einer „Verfassung der deutsch-polnischen Beziehungen“ (Borodziej 2006, S. 427) werden, die nicht nur allgemeine Ziele umreiße, sondern auch Methoden zur Lösung von Konflikten sowie Standards für die bilaterale Kommunikation anbiete. Für Barcz sollte der Vertrag diesen Beziehungen „den Grund bereiten“ (Góralski 2007, S. 157), das heißt zunächst die aus Sicht der beiden Staaten wichtigsten Fragen klä­ren: die verbindliche Anerkennung der Grenze sowie die Übernahme völkerrechtlicher Verpflichtungen im Bereich der Sicherheitspolitik. Erst dann und somit formal nach der Ratifizierung des Vertrags sollten nachrangige politische, wirtschaftliche und juristische Fragen geklärt werden (→ rechtliche Rich Points), was Differenzen, Debatten und Inter­essenskonflikte keineswegs ausgeschlossen hat.

Schon die Prioritätensetzung für das gemeinsame Vorgehen bot ausreichenden Anlass für das Entstehen von Rich Points und Hotspots. Dies wurde von den Verfassern des Vertragstextes bewusst in Kauf genommen. Ihre Priorität war das übergeordnete Ziel: die deutsch-polnische Versöhnung und die Neugestaltung der bilateralen Beziehungen. Die Behandlung von Detailproblemen, die zweifellos die Beziehungen belasteten und in der bilateralen Kommunikation für Konflikte sorgten, wurde im Hinblick auf ihre Bedeu­tung für das Erreichen des Hauptziels betrachtet und den langfristigen wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen beider Staaten untergeordnet. Man ging von folgender Prämisse aus: Hotspots, Hotwords und Rich Points, die in der kurzfristigen Perspekti­ve von bis zu zwanzig Jahren im deutsch-polnischen Verhältnis und in der bilatera­len Kommunikation für Probleme sorgen konnten, würden sich längerfristig für die deutsch-polnischen Beziehungen als fruchtbar erweisen. Anders als von den Verfassern des Vertragstextes erhofft, unterlagen sie allerdings keinem natürlichen Zerfall. Es zeigte sich, dass sie sich nicht nur in Polen vor dem Hintergrund der dort ablaufenden sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen leicht für innenpolitische Zwecke instrumentali­sieren ließen.

Für die Gestaltung des Vertrags und der mit ihm verbundenen Kommunikation war verständlicherweise die Zeit bis 1989 von zentraler Bedeutung. Schon damals wurde das Wort „Vertrag“ als solches zum Hotword, Hotspot und Rich Point. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war vorgesehen worden, dass die Grenzfrage in einem endgültigen Friedensvertrag dauerhaft und verbindlich geregelt werden sollte. Weil die internationalen Rahmenbedingungen dies nicht zuließen, hatte sich der provisorische Zustand verfestigt. Das begünstigte die innenpolitische Instrumentalisierung des Hotwords „Vertrag“. In der Volksrepublik Polen (Polska Rzeczpospolita Ludowa, PRL) diente es etwa zur Legitimation der Herrschaft der regierenden Elite. Man verwies auf antideut­sche Ängste und Emotionen im Zusammenhang mit der nur provisorisch festgelegten Grenze, die das Bündnis mit der UdSSR und korrekte Beziehungen zur – die Grenze anerkennenden – DDR zwingend notwendig machten. In der BRD verschaffte das Grenzprovisorium bestimmten Parteien die Unterstützung von Wählern, denen man im Hinblick auf einen künftigen Friedensvertrag versprach, für eine Veränderung des Status quo in Europa zu kämpfen. Eine bilaterale Kommunikation gab es angesichts der künstlichen Aufrechterhaltung eines Bedrohungszustandes nicht, vielmehr brachten die unterschiedlichen Haltungen zur Grenzfrage weitere Hotspots und Rich Points hervor.

Relative Entspannung brachten die sogenannte neue Ostpolitik der BRD sowie unab­hängige bilaterale Initiativen (→ Grenze) zur Verbesserung der deutsch-polnischen Be­ziehungen. Das Hotword „Vertrag“ prägte aber weiterhin die abweichenden Auslegungen der geschlossenen bilateralen Verträge, darunter auch des wichtigsten Dokuments: des Normalisierungsvertrags zwischen Polen und der BRD von 1970. Für die polnische Sei­te bedeutete das Abkommen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und das Ja zu einer offenen Kommunikation, die über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen die Funktion dieses Hotspots beschränken würde. In der BRD wurde diese Auffassung nicht von allen Parteien geteilt. Manche verwiesen in diesem Kontext auf entsprechende Ur­teile westdeutscher Verfassungsgerichte. Der Behauptung der mit einem Machtmonopol regierenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robot­nicza, PZPR), der Vertrag von 1970 sei das wichtigste Dokument der tausendjährigen polnischen Geschichte, standen die ablehnenden Erklärungen der bundesdeutschen Vertriebenenverbände (→ Vertreibung) zu den in ihm enthaltenen Aussagen zur Grenzfrage gegenüber (Jacobsen/Tomala 1992, S. 215 sowie 231). Während aber in der BRD offen über den Vertrag diskutiert werden konnte, bestand diese Möglichkeit in der PRL außerhalb oppositioneller Milieus nicht (→ Aktion Sühnezeichen). Dies trug zu einem – von der Regierung auch geförderten – Wiederaufle­ben der nach dem Zweiten Weltkrieg unvermeidlichen → Stereotype bei.

Für die BRD war der Vertrag Bestandteil einer auf Friedenssicherung und europäische Integration ausgerichteten Außenpolitik (Pick 2016, S. 31ff.), für die PRL eine Funktion der akuten ökono­mischen Interessen der herrschenden Partei sowie der negativen Propaganda, die in di­rekt proportionalem Verhältnis zu den wirtschaftlichen Zugeständnissen der BRD stand. Diese Zugeständnisse führten überdies nicht zur Lösung der wichtigsten Detailproble­me, weil dies auch im Widerspruch zur PZPR-Doktrin stand. Daraus erwuchs ein für die Zeit nach 1989 zentraler Rich Point: die ungleiche Vorbereitung auf den Diskurs über die Gestalt des bereits von der letzten PZPR-Regierung geplanten Nachbarschaftsvertrags.

Die daraus resultierende Unwucht bestimmte die konzeptionelle Arbeit am Vertragswerk ebenso wie die Neuausrichtung der polnischen Deutschlandpolitik in den Jahren 1989– 1991. In der BRD hatten sich Demokratie und Rechtsstaat seit 1949 kontinuierlich entwi­ckeln können. Darum verlief auch die Neuordnung der Beziehungen zu den postkommu­nistischen Staaten gleichsam natürlich und rief abgesehen von taktischen Manövern etwa im Zusammenhang mit Wahlen oder der Wiedervereinigung keine großen Kontroversen hervor. In Polen hingegen bewirkte 1989 die Abkehr vom staatlichen Informationsmo­nopol und die Rückkehr zu demokratischen Spielregeln – etwa die Achtung der Rechte von Minderheiten (→ Deutsche in Polendeutsche Minderheit in Polen), die bis zu die­sem Zeitpunkt offiziell nicht existieren durften – einen kognitiven Schock, der als inneres Hotword bezeichnet werden könnte. Die erneute Verwendung des Begriffs der Minder­heiten und die Anerkenntnis ihrer Existenz weckte dieselben Emotionen wie die Prämisse der neuen nichtkommunistischen Regierung, dass die diesen Minderheiten zustehenden Rechte natürlicher Teil der demokratischen Ordnung seien und keineswegs eine Folge von Kompromissen oder Konzessionen an wen auch immer (Jaskułowski 2020, S. 162). Die soziale Akzeptanz dieser Haltung wurde erschwert durch die gegen den Machtverlust ankämpfenden PZPR, die sowohl die bestehenden → Stereotype als auch die in der politischen Krise unvermeidlichen Zwischenfälle zur politischen Besitzsstandswahrung einsetzte. Für die PZPR sollte der Vertrag maximales Misstrauen gegenüber Deutschland zum Ausdruck bringen. Verträge mit Deutschland, die nicht auf Misstrauen fußten oder die Beziehungen zur BRD nach dem Prinzip seiner Maximierung regelten, sorgten nicht nur als Symbole eines vermeintli­chen Verrats für hitzige Debatten, sondern wurden nach 2015 auch zum Sinnbild für alles, was aus den deutsch-polnischen Beziehungen zu eliminieren wäre.

Die erste nichtkommunistische Regierung Tadeusz Mazowieckis übernahm 1989 die Verhandlungen über einen neuen Vertrag mit Deutschland vom abtretenden Kabinett Mieczysław Rakowskis. Die Gespräche befanden sich aufgrund der Ablehnung jeglicher Zugeständnisse in der Minderheitenfrage durch die PRL in einer Sackgasse. Dies und die Position der BRD in der Grenzfrage bildeten vor der Aufnahme direkter Verhand­lungen 1989 den wichtigsten bilateralen Rich Point.

Die Regierungschefs beider Staaten, Helmut Kohl und Tadeusz Mazowiecki, waren sich der Chancen bewusst, die der Versöhnungsprozess beiden Völkern eröffnen würde. Deshalb bemühten sie sich wo immer möglich um positive Gesten. Das eindrücklichs­te Beispiel war der gemeinsame Besuch eines Gottesdienstes in Kreisau im November 1989 mit der Umarmung während des Friedensgrußes. PZPR-nahe Medien vermittelten freilich ein ganz anderes Bild: Sie rückten die in Kreisau zu sehenden Transparente mit der Aufschrift „Helmut, jesteś naszym kanclerzem“ (Helmut, du bist unser Kanzler) in den Vordergrund. Diese Parole symbolisierte sehr gut die bestehenden Differenzen. Der polnische Ministerpräsident – Regierungschef eines Staates, der erst wenige Monate zuvor seine Souveränität wiedererlangt hatte – konnte unmöglich die in der Gesell­schaft vorhandenen Befürchtungen ignorieren, ganz gleich, ob sie rational begründet oder künstlich generiert waren. Ebenso wenig konnte er die innenpolitisch motivierte Überzeugung des deutschen Kanzlers akzeptieren, die Grenzfrage könne nur durch ein wiedervereinigtes Deutschland geklärt werden. Andernfalls, so Kohl, der natürlich seine Unterstützung garantierte, verliere er die Unterstützung von Wählergruppen, die den gegebenen Grenzverlauf ablehnten. Die Argumentationslinie der deutschen Seite be­schrieb zwei Jahrzehnte später Kohls Berater Horst Teltschick:

„Ich [HT, Anm. d. Verf.] habe unter vier Augen mit Mazowiecki geredet. Ich habe gesagt: ‚Herr Ministerpräsident, Sie waren in Kreisau, haben den gemeinsamen Gottesdienst gefeiert, haben mit dem Bundeskanzler ein Friedenszeichen ausgetauscht, und Sie glauben uns immer noch nicht.‘ Hinzugefügt habe ich: ‚Was soll der Bundeskanzler denn noch mehr machen als gemeinsam Gottes­dienst feiern?‘ Beide sind katholisch. Dann muss man irgendwann einem Partner vertrauen. Doch er hat bis zum Schluss Angst gehabt“ (Jaskułowski/Gil 2011, S. 166).

Tadeusz Mazowiecki erklärte seine Position so:

Argumen­tation. Gleichzeitig jedoch gab er zu bedenken, dass Wahlangelegenheiten und Innenpolitik es ihm momentan nicht erlauben, die Grenze anzuerkennen. Das war die Argumentation, die ich viele Male von deutschen Politikern zu hören bekam. Immer erschwerten Wahlangelegenheiten die Regelung des Sachverhalts. Ich habe dem Kanzler daher geantwortet, dass auch ich Schwierigkeiten habe, dass wir doch in Polen Gegner haben, Gegner der neuen Deutschlandpolitik und Gegner des neuen Geistes der bilateralen Beziehungen. Sie waren daran gewöhnt, dass Deutschland nun einmal als Gefahr dargestellt würde. Und ich setzte meine Ausführungen fort, indem ich sagte, dass auch ich interne Schwierigkeiten habe, aber es unsere Aufgabe ist, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Wenn uns das nicht gelingt, dann treiben wir die Geschichte nicht voran“ (Jaskułowski/Gil 2011, S. 157).

Es war klar, dass die polnische Regierung in einer so fundamentalen Frage wie der des Grenzverlaufs keine Entscheidung treffen konnte, die ihre Glaubwürdigkeit beschädigt und ihre Souveränität im Kampf um die vertragliche Bestätigung der Unverletzlichkeit der Grenze eingeschränkt hätte. Daher klammerte man diesen Punkt aus dem geplanten Vertrag aus und entschloss sich, auch mit starker Unterstützung der Besatzungsmächte, nicht nur einen eigenen Grenzvertrag zu verhandeln, sondern auch ein Mitspracherecht in den 2+4-Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung zu beanspruchen, so­weit sie die Grenze betrafen. Sobald die Grenze anerkannt sein würde, wäre der „Grund bereitet“ für die Lösung einzelner Probleme.

Die erste Voraussetzung für den Erfolg der Verhandlungen war die Beseitigung von Hot­spots auf internationaler Ebene. Der Freundschaftsvertrag stand weniger im Kontext der politischen Auseinandersetzung als Parteiprogramme. Die Verweigerung von Kommunikation war ein Element des Kampfs um Wählerstimmen, das mit der Anerkennung der Grenze obsolet wurde. Eine funktionierende Kommunikation hingegen bildete das Fundament der künftigen Beziehungen. Um sie zu gewährleisten, enthielt der Vertrags­text Klauseln über regelmäßige Konsultationen auf Regierungs- und Ministeriumsebene sowie über die Förderung natürlicher Formen des gegenseitigen Kontakts insbesondere durch Impulse für den Jugendaustausch, den ein nach deutsch-französischem Vorbild konzipiertes Deutsch-Polnische Jugendwerk organisieren sollte. Ebenso wichtig war die polnische Neuausrichtung der Verhandlungsstrategie: Der Vertrag sollte nicht gegen­einander, sondern miteinander erarbeitet werden (Was freilich Gegenstand zahlreicher interner Diskussionen im Außenministerium der PRL war Vgl. Sułek 2011, S. 37). Das schloss zwar Spannungen nicht grundsätzlich aus, doch es signalisierte die Bereitschaft zu sachlichen Gesprächen und Problemlösungen zum beiderseitigen Nutzen. Wichtig waren auch die Übernahme völ­kerrechtlicher Bestimmungen zur friedlichen Konfliktlösung und die Implementierung der UN-Regeln zur Nichtweitergabe von Atomwaffen. Diese Bestimmungen waren an­gesichts der Auflösung des Warschauer Pakts von zentraler Bedeutung. Deutschland und Polen wollten bis zum Wiederaufbau bzw. Ausbau des euroatlantischen Sicher­heitssystems mit allen Nachbarstaaten klassische Verträge über gute Nachbarschaft ab­schließen, die den institutionellen Austausch in Sicherheitsfragen gewährleisteten – eine unerlässliche Voraussetzung auch für die Versöhnung.

Nebenbei wurden neue Hotwords produziert. Die BRD unterstützte im Vertrag die europäischen Ambitionen Polens, sofern die Republik Polen (Rzeczpospolita Polska, RP) die entsprechenden Bedingungen schaffe. Diese Bestimmung sorgte in den üb­rigen Ländern der damaligen europäischen Gemeinschaft für Empörung. Nach deren Auffassung hatte Deutschland Polen die Aufnahme in die EU zugesichert, ohne dies mit den anderen Mitgliedsstaaten abzustimmen. Die Aufregung um einen möglichen polnischen EU-Beitritt gefährdete aber keineswegs das übergeordnete Ziel – die euro­päische Integration – abgesehen davon, dass sich dieses Hotword mit dem 1. Mai 2004 von selbst erledigte. Teile des polnischen Parteienspektrums wiederum empfanden die Verhandlungsmaxime „nicht gegeneinander, sondern miteinander“ als Verrat am nationalen Interesse, was 2005 und 2015 maßgeblich zum Wahlsieg der entsprechenden Par­teien beitrug. Man argumentierte, wegen des ökonomischen Ungleichgewichts werde sich Polen immer in einer unterlegenen Position befinden, weshalb Zugeständnisse in der Minderheitenfrage lediglich den Verlust von Verhandlungsmasse bedeuteten.

Auch auf Detailebene gab es Hotspots und Rich Points, was zwei Fragen aufwarf: Wie ließen sich Problemlösungen finden, die die betroffenen Begriffe entschärften, und wie sollte man Probleme, die 1991 nicht gelöst werden konnten, im Vertrag behandeln – angesichts der Tatsache, dass ein offen eingestandenes „Protokoll der Divergenzen“ zwi­schen BRD und RP nicht nur unweigerlich Diskussionen hervorrufen würde, sondern auch den Prozess der Versöhnung und die bilaterale Kommunikation stören könnte. Zur Lösung griff man auf drei Instrumente zurück: auf im Völkerrecht bereits etablierte Formeln, „spezielle Syntax“ und das Mittel der Vertagung. Die betroffenen Problemfelder waren: Entschädigungen und Reparationen sowie Vermögens-, Minderheiten-, Niederlassungs-, Namens- und Staatsbürgerschaftsfragen. Sie produzierten neue, teils mitein­ander verknüpfte Rich Points und Hotspots.

Vor allem auf polnischer Seite schlugen die Emotionen hoch. Hintergrund waren Befürchtungen hinsichtlich möglicher zivilrechtlicher Forderungen von Menschen, die in den nach 1945 zu Polen gekommenen Gebieten gelebt hatten, an Bürger der RP oder auch an die polnische Regierung (→ Vertreibungen). Dies nährte die im kollektiven Bewusstsein existierenden → Stereotype der Deutschen, die sich vor allem in der Gestalt des Vertriebenenfunktionärs kristallisierten, der wenn nicht auf die Revision der Grenzen, so doch mindestens auf die Erstattung von Vermögen pochte (→ Drang nach Osten). Negativ im Sinne eines unterstellten Mangels an Loyalität gegenüber dem Wohnsitzstaat war auch das Bild des typischen Angehörigen der → deutschen Minderheit. Vor diesem Hintergrund erhielt der Vertrag einen Passus über die Loyalitätspflicht gegenüber dem Wohnsitzstaat, was auch auf das Verhalten etwa der Vertreter der Polonia in Deutschland bezogen werden konnte.

Hinsichtlich der Bestimmung der Minderheitenrechte griff man auf die international akzeptierten Dokumente der Kommission für Sicherheit und Zusammenarbeit in Euro­pa (KSZE) zurück. Mit der Definition des Begriffs der Minderheit schuf man zugleich ein neues Hotword. Die Regierung der BRD lehnte die Bezeichnung aus innenpoliti­schen Gründen ab – man fürchtete, auch andere Zuwanderergruppen könnten zusätz­liche Rechte einfordern wollen. Deshalb griff man zum Mittel der „speziellen Syntax“, das heißt der Wortverbindung „deutsche Minderheit“ gegenüber einer deskriptiven De­finition der polnischen Community in Deutschland. Dieses Vorgehen wurde zu einem eigenen Hotword, weil die gefundene Lösung in Polen teilweise als Beleg des schlechten Willens der BRD aufgefasst wurde. Dabei lag das Problem in diesem Fall hauptsächlich in einer unzureichenden Informationspolitik. Beide Gruppen erhielten dieselben Rech­te, wobei der Vertrag natürlich keine Gewähr bot, dass die extrem zerstrittene polni­sche Community in Deutschland sie sinnvoll nutzen würde. Diese Tatsache wurde nach 2015 in Berichten aus Deutschland zur Begründung der Kritik an der Deutschlandpoli­tik früherer Regierungen herangezogen.

Weitere Hotwords bildeten die Passagen zu den in den 1990er Jahren unlösbaren Proble­men. In Sachen zweisprachige Ortsnamen oder Niederlassungsfreiheit wollte man „sich bemühen“ oder „bekräftigte die Bereitschaft“. Dass derartige Formulierungen für hitzi­ge Debatten sorgen würden, war klar. Allerdings war damals eine Niederlassungsfreiheit für Deutsche in Polen gesellschaftlich nicht vermittelbar. Mit der Assoziierung und der Aufnahme in die EU sollte die Problematik angesichts des Prinzips der Freizügigkeit ob­solet werden. Man war sich bewusst, dass in jedem Fall Hotspots entstehen würden. Die mehrdeutige Syntax, die das Vermeiden verbindlicher Entscheidungen signalisierte, soll­te aber ihre Auswirkungen maximal begrenzen. Da der EU-Beitritt frühestens zehn bis fünfzehn Jahre nach Inkrafttreten des Vertrags erfolgen sollte, ging man davon aus, dass sich bis dahin die Gemüter abgekühlt haben würden. Es kam jedoch anders. Stereotype, nicht nur gegenüber der BRD, waren ein wesentlicher Faktor der Wählermobilisierung, die 2015 den Wechsel der Regierungskoalition in Polen herbeiführte.

Die schwierigsten Fragen des Nachbarschaftsvertrags betrafen Staatsbürgerschafts- und Vermögensangelegenheiten. Wegen der fundamental unterschiedlichen Standpunkte beschränkte man sich auf die Feststellung, der Vertrag befasse sich nicht mit diesen Fragen, womit das direkte Eingeständnis eines Rich Points umgangen wurde. Diese Lösung führte zwangsläufig zu Kontroversen, vor allem hinsichtlich des Fehlens einer hinreichenden Erklärung zum Zweck der Feststellung. Ein Fehler, der den Vertrag zum Hotword werden ließ, war zweifellos auch das Fehlen eines Symbols, das – ähnlich wie die Begegnung der beiden Regierungschefs in Kreisau – den beiderseitigen Willen zur Lösung der ausgeklammerten Fragen unterstrichen hätte. Unangemessen war auch die Informationspolitik zu den schon im Oktober 1991 getroffenen ersten Vereinbarungen über Entschädigungszahlungen. Sie wurden zu wenig erklärt, was die Gegner einer Versöhnung mit Deutschland für sich nutzten. Ein Problem, das einen Hotspot allgemeiner Natur bildete, blieb auch das Verständnis von Außenpolitik als Instrument zur innenpolitischen Stärkung der regierenden Parteien.

Die Umsetzung der Bestimmungen des Nachbarschaftsvertrags bestätigte sowohl die in ihn gesetzten Hoffnungen als auch die vorhergesehenen möglichen Bedrohungen. Die Möglichkeiten zur Förderung zivilgesellschaftlicher Kontakte wurden genutzt. 40.000 polnische Studierende in Deutschland, der vom Deutsch-Polnischen Jugendwerk getragene Jugendaustausch mit 2 Millionen Teilnehmern und 35.000 Projekten, mehr als tausend Städte- und Gemeindepartnerschaften, 8.000 von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit geförderte Projekte – das alles gehört zur Erfolgsbilanz drei Jahrzehnte nach Unterzeichnung des Vertrags. Es trug auch zur Überwindung von Stereotypen bei, ebenso wie der polnische EU-Beitritt erwartungsgemäß die Debatte um die Niederlassungsfreiheit verstummen ließ. Seit Oktober 1991 ist die Summe der an polnische Staatsbürger ausgezahlten Entschädigungen auf mehr als drei Milliarden Euro angewachsen (Roth 2019, S. 80). Das alles führte zur Eindämmung von Hotspots und Hotwords.

Nach dem ersten Jahrzehnt bilateraler Beziehungen war eine Rückkehr zur innenpoli­tischen Instrumentalisierung von Hotwords zu beobachten. Deutsche Vertriebene oder Restitutionen fürchtende bzw. auf Entschädigung wartende Polen wurden zu umworbe­nen Wählergruppen. Für sie war der Vertrag von 1991 die Verkörperung ihrer Ängste. Der 1998 initiierte und 2004 abgeschlossene EU-Beitrittsprozess offenbarte darüber hinaus nichthistorische Rich Points zwischen Polen und Deutschland, etwa in Fragen des Arbeitsmarktzugangs, der Kapitalströme und Investitionen (zumal im Markt der Massenmedien), der EU-Fördermittel oder der Russlandpolitik. Es wurden auch deutliche Unterschiede in der Kommunikation offenbar, etwa hinsichtlich der transatlantischen Beziehungen einschließlich der Stationierung von US-Truppen. Diese Rich Points wur­den in den Jahren 2005–2007 und nach 2015 zu einem zentralen politischen Instrument der jeweiligen Regierungskoalitionen. Sie existierten schon in der Zeit davor, charakteristisch für die genannten Zeiträume sind aber die Abkehr vom diplomatischen Umgang mit Hotspots, ein gewandeltes Verständnis von der Rolle Polens innerhalb der EU sowie die starke Fokussierung auf das Potenzial von Hotspots zur Festigung der eige­nen Stammwählerschaft.

Dies alles führte dazu, dass Ressentiments und Hotwords, darunter der Nachbarschafts­vertrag, auch drei Jahrzehnte nach seinem Abschluss in der Innenpolitik beider Ländern noch immer eine signifikante Rolle spielen. Und zwar insofern, als sie symbiotische Wechselbeziehungen zwischen den Gruppierungen hervorbringen, die sich in Polen und Deutschland auf Hotspots beziehen. Diese Gruppierungen brauchen einander, weil jede Handlung der einen Seite, etwa die von der Preußischen Treuhand angestrengten Kla­gen vor internationalen Gerichten oder polenfeindliche Aussagen von Mitgliedern der Alternative für Deutschland, Gründe für eine Gegenreaktion liefern, etwa die Grün­dung einer Polnischen Treuhand. Ein weiterer Faktor sind die Schwierigkeiten bei der Umsetzung einzelner Vertragspunkte, etwa der Förderung des Polnischunterrichts in Deutschland (→ BildungssystemPolnischunterricht). Sie waren Anlass der von den polnischen Regierungen in den Jahren 2005–2007 und nach 2015 gestellten Forde­rung nach einer Neuverhandlung des Vertrags. Begründet wurde sie mit der angeblichen Nichterfüllung bestimmter Zusagen, der Ablehnung des Ausdrucks „polnische Min­derheit“ oder mit dem Vorwurf, der deutsche Staat tue zu wenig für die Überwindung der in Deutschland existierenden Stereotype und Vorurteile über Polen. Insbesondere nach 2015 dienten Hotspots zur Rechtfertigung der erneuten Gestaltung der bilateralen Beziehungen nach dem Prinzip des Gegeneinander.

Zur einer Neuverhandlung des Vertrags kam es nicht. Doch es erwies sich auch die Annahme als falsch, wonach die Wirkung von Hotspots, Hotwords und Rich Points sich vom Negativen ins Positive wenden oder einfach auflösen würde. Immerhin konnten viele von ihnen eliminiert werden. Die EU-Mitgliedschaft und die damit einhergehende Personenfreizügigkeit wurden schon erwähnt. Auf ministerieller Ebene gab es Versuche zur Präzisierung des Minderheitenstatus (2011) (→ Polen in Deutschland) und der För­derung des Polnischunterrichts (2016). Die Instrumentalisierung von Hotwords, etwa in der Entschädigungsfrage (Bainczyk 2019, S. 99), verfing immer weniger. Nachdem der Europäische Gerichts­hof für Menschenrechte 2008 entsprechende Forderungen für unbegründet erklärte, verschwanden die einschlägigen juristischen Argumente aus der politischen Diskussion. Doch sie existieren weiter, wie schon nach Gerhard Schröders rechtlich bindender Rede von 2004, in welcher der Bundeskanzler jegliche Unterstützung der Bundesregierung für Entschädigungsforderungen an die Republik Polen ausschloss. Auch wurden die genannten Fakten und Ereignisse nicht zu natürlichen Symbolen für das Ende der Schaf­fung politisch motivierter Hotwords, unabhängig von den durch die Mitgliedschaft in NATO und EU gegebenen und bewährten Kommunikationsmechanismen. Die genannten Probleme, darunter die Ungleichbehandlung von Bürgern verschiedener Staa­ten in der Entschädigungsfrage,tauchen weiter regelmäßig im öffentlichen Diskurs beider Länder auf, umso mehr als Analysen zur Implementierung des Vertrags noch immer Asymmetrien in der Umsetzung seiner Bestimmungen verzeichnen (Balcerek-Kosiarz/Sakson 2016, S. 8).

Das Jahr 2015 und der Regierungswechsel in Polen offenbarten die Langlebigkeit von historischen und anderen Rich Points sowie ihr innenpolitisches Mobilisierungspotenzial. Dies ist freilich ein natürlicher Bestandteil der europäischen Politik. Abgesehen davon betreffen sie nicht expressis verbis den Nachbarschafts- und Freundschaftsvertrag, der wie gesagt die Frage der Kriegsentschädigungen ausklammerte. Die mit ihm verknüpften Ziele wurden erreicht: Die Sicherheit Polens wird durch die NATO-Mitgliedschaft garantiert, die Kommunikation erfolgt – unabhängig von dynamischen Schwankungen – über die europäischen Institutionen. Der Vertrag selbst kann mit den Worten eines mit ihm befassten Forschers als „ehrwürdiges Denkmal“ (Jaskułowski/Gil 2011, S. 225) bezeichnet werden. Den tatsächlichen Hotspot, der freilich alle EU-Mitgliedsstaaten betrifft, bildet heute weniger die Frage bilateraler Verträge oder ein Detailproblem wie der Rückgabe von im Krieg geraubten Kulturgütern, als vielmehr die Debatte über die Form und verbindliche Gestalt der Kooperation innerhalb der Europäischen Gemeinschaften für die nächsten Jahrzehnte. Gleichwohl wird seit Ende 2019 vereinzelt auf die Notwendigkeit eines neuen bilateralen Vertrags hingewiesen, der die existierenden Hotspots endgültig neutralisieren soll (Miszczak). An­gesichts der unterschiedlichen Auffassungen etwa in der Entschädigungsfrage scheint es aber wenig realistisch, dass ein solcher Vertrag in absehbarer Zeit zustande kommt.

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann

Literatur:

Bainczyk, Magdalena: Asymetria odszkodowań dla obywateli Polski za szkody poniesione w II wojnie światowej w stosunku do odszkodowań wypłaconych obywatelom innych państw, in: Przegląd Zachodni (2019), Nr 1.

Bilans 25 lat Traktatu między Rzecząpospolitą Polską a Republiką Federalną Niemiec o dobrym sąsiedztwie i przyjaznej współpracy z dnia 17 czerwca 1991 r., hg. von Marta Balcerek-Kosiarz und Andrzej Sakson, Poznań 2016.

Bonn – Warschau 1945–1991. Die deutsch-polnischen Beziehungen. Analyse und Dokumentation, hg. von Hans-Adolf Jacobsen und Mieczysław Tomala, Köln 1992.

Borodziej, Włodzimierz: Polska wobec zjednoczenia Niemiec 1989–1991. Dokumenty dyploma­tyczne, Warszawa 2006.

Jaskułowski, Tytus: Szczecin. Miasto, którego nie było. Dyplomacja RFN i polskie przełomy 1970–1989, Szczecin/Warszawa 2020.

Miszczak, Krzysztof: W 80. rocznicę wybuchu drugiej wojny światowej konieczny jest nowy traktat polsko-niemiecki, https://wpolityce.pl/polityka/461866-prof-miszczak-konieczny-jest-nowy-traktat-polsko-niemiecki [zugegriffen am 1.7.2020].

Pick, Dominik: Ponad żelazną kurtyną. Kontakty społeczne między PRL a RFN w okresie déten­te i stanu wojennego, Warszawa 2016.

Polska-Niemcy 1945–2007. Od konfrontacji do współpracy i partnerstwa w Europie, hg. von Witold M. Góralski, Warszawa 2007.

Roth, Karl Heinz: Die deutsche Politik und die Reparationsfrage nach dem Zweiten Weltkrieg: Eine kritische Bilanz unter besonderer Berücksichtigung der Auseinandersetzungen mit Po­len, in: Przegląd Zachodni (2019), Nr. 1.

Sułek, Jerzy: Polska koncepcja normalizacji stosunków z RFN w 1989 r., in: Przełom i wyzwanie. XX lat polsko-niemieckiego traktatu o dobrym sąsiedztwie i przyjaznej współpracy 1991– 2011, hg. von Witold Góralski Warszawa 2011.

Zwanzig Jahre danach. Gespräche über den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag, hg. von Tytus Jaskułowski und Karolina Gil, Wrocław 2011.

 

Gil, Karoline, verfasste zusammen mit Tytus Jaskułowski den Beitrag „Der deutsch-polnische Vertrag von 1991“. Sie leitet den Bereich Integration und Medien am Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) in Stuttgart und arbeitet in den Bereichen europäische Beziehungen und sozioökonomische Transformationen.

Jaskułowski, Tytus, Dr. habil., verfasste zusammen mit Karoline Gil den Beitrag „Der deutsch-polnische Vertrag von 1991“. Er ist Universitätsprofessor und Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte am Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaft der Universität Zielona Góra und arbeitet in den Bereichen DDR-Geschichte, Geschichte der Stasi und Geschichte der Geheimdienste nach 1945.

 

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