Marek Zybura

Deutsche in Polen Einbildungen und Tatsachen über eine Minderheit

Deutsche in Polen Einbildungen und Tatsachen über eine Minderheit


Als der Dichter Jerzy Waleńczyk Anfang der 1950er Jahre in seinem Gedicht An einen unbekannten Deutschen vom „fernen Bruder […], Freund“ schrieb, erteilte er damit der nach dem Zweiten Weltkrieg in Polen allgegenwärtigen Dämonisierung der Deutschen (→ Stereotype) eine Absage. Dennoch blieb diese in Volkspolen – eigentlich bis zu seinem Ende – das einzige Ideologem, das eine ansonsten tief gespaltene Gesellschaft zusammenhielt. Die im Hinblick auf das Bündnis des sog. Lagers sozialistischer Länder politisch „korrekte“ Einteilung in „böse“ (im Westen) und „gute“ Deutsche (in der DDR) wurde in der Gesellschaft weitgehend ignoriert und durch die Parteiführung nolens volens nur toleriert, wie die Geschichte der Beziehungen zwischen den beiden „Brüderparteien“, PVAP und SED, es zur Genüge belegt. Die nach den frischen Kriegserfahrungen leicht zu entfachende Germanophobie erwies sich im Nachhinein als außerordentlich zählebig. Nach 1990 wurde das vereinigte Deutschland zum Hauptbefürworter der Integration Polens in die europäischen Strukturen und zu dessen wichtigstem wirtschaftlichen Partner auf dem Kontinent. Das althergebrachte Stereotyp der → polnischen Wirtschaft“, das so unsäglich auf den deutsch-polnischen Beziehungen lastete, mutierte überraschenderweise in Anerkennung. Dennoch blieben die antideutschen Ressentiments in Polen über diese ganze Zeit hinweg ein sicheres politisches Kapital der rechten, populistisch-nationalistischen Parteien und Gruppierungen. Es bewahrte diese Parteien vor dem parlamentarischen Aus und brachte 2015 der aggressivsten von ihnen, der PiS (Recht und Gerechtigkeit), die in die Wahlen u. a. mit dem Programm zog, die angeblich einseitig prodeutsche und subalterne Außenpolitik Polens (vor allem Deutschland gegenüber) revidieren zu wollen, den erdrutschartigen Sieg ein.

Es ist dies eine frappante Erscheinung, wenn man bedenkt, dass der politisch bedingte soziotechnische Mechanismus der Dämonisierung der Deutschen in der polnischen Nachkriegsgesellschaft eigentlich von Anfang an konterkariert wurde: Der Essayist Edmund Osmańczyk legte schon 1946 in seinem bedeutenden Buch Sprawy Polaków (Sache der Polen) seinen Landsleuten auseinander, dass das Ziel polnischer Politik gegenüber Deutschland „keine Boykotte, keine deutschfeindlichen Kundgebungen sein sollen, sondern wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit, ja, sogar eine kulturelle!“ Seinen Aufruf formulierte er auf der Grundlage einer treffenden Entwicklungsprognose der politischen Situation auf dem Kontinent, im Wissen darum, dass „die antideutsche Einstellung des polnischen Volkes, uns in den nächsten Jahren […] vom Rest der Welt isolieren könnte, weil diese Welt die Zusammenarbeit mit den Deutschen für den größten Triumph der demokratischen Idee halten wird“. Osmańczyk argumentierte in diesem Zusammenhang, dass die gutnachbarlichen Beziehungen mit den Deutschen „für die Welt der beste Beweis für die Stabilisierung der Oder-Neiße-Grenze sein werden. Und darum geht es uns ja!“ (Osmańczyk 1946, S. 98, S. 101, S. 153). Das war ein mutiger Standpunkt in Zeiten, als die aus den Jahren der deutschen Besatzung gewonnene Überzeugung, dass die Deutschen ein genetisch belastetes Volk der Barbaren seien, von der ganzen Gesellschaft unabhängig von inneren politischen und weltanschaulichen Unterschieden geteilt wurde.

Weitsichtig – und wieder treffend! – ahnte Osmańczyk, wie groß die Rolle der Kultur bei der Gestaltung dieser gutnachbarlichen Beziehungen sein würde und wie groß der Stellenwert der Literatur. Und tatsächlich fanden sich damals Schriftsteller in Polen, die seinen Standpunkt teilten und sich bewusst waren, dass die Deutschen […] auch Menschen (sind), wie der ursprüngliche Titel von Leon Kruczkowskis Drama Niemcy (Die Deutschen, dt. Ausg.: Die Sonnenbruchs) von 1949 lautete. Und noch vor Kruczkowski trat schon 1946 Jan Dobraczyński mit dem Roman Najeźdźcy (Die Invasoren) auf, der sich bemühte, die Deutschen im Rahmen des katholischen literarischen Diskurses zu entdämonisieren (der Nazismus wäre eine heidnische Ideologie, deren nihilistischem Ansturm das deutsche Volk seine christliche Tradition hätte gegenüberstellen sollen). Im selben Jahr 1946 publizierte auch Zofia Nałkowska ihr Okkupationsbuch Medaliony (Medaillons) mit dem denkwürdigen Motto: „Menschen haben Menschen dieses Schicksal bereitet“ – und nicht: die Deutschen den Polen. Im Jahr 1946 publizierte auch der im Exil gebliebene Jerzy Stempowski in Paris sein Tagebuch Dziennik podróży do Austrii i Niemiec (Tagebuch einer Reise nach Österreich und Deutschland 1945), Zeugnis eines souveränen Blicks auf den gestrigen Feind, frei von stigmatisierenden Emotionen und stereotypen Vorurteilen.

Osmańczyk, Dobraczyński, Nałkowska, Kruczkowski und Stempowski gehörten zu der Dichter-Avantgarde des damaligen Polen, die mittels des geschriebenen Wortes versuchte, über den noch qualmenden Brandherden des Zweiten Weltkriegs Brücken zwischen Polen und Deutschen zu schlagen. Aber weder sie noch die ihnen ideell verwandten Schriftsteller konnten sich in der Folgezeit mit dieser Botschaft unter ihren Landsleuten durchsetzen. Die meisten polnischen Autoren (unter ihnen in erster Linie die Produzenten der ideologisierten Konfektionsliteratur), die sich der deutschen Thematik zuwandten, folgten den traditionellen opportunen Klischees und Feindbildern. Die Literatur sollte fortan in hohem Grade die deutschen Feindbilder in die Gesellschaft transportieren und aus politisch-ideologischen und konjunkturellen Gründen die Dämonisierung der Deutschen über die Besatzungszeit hinaus sogar auf die graue Vergangenheit (vgl. die sog. Piastenromane von Karol Bunsch und seinen Nachahmern) und unmittelbare bundesdeutsche (!) Gegenwart ausdehnen (vgl. das ausgesprochen faschistoide, paranazistische Bild der BRD im Raport z Monachium von Andrzej Brycht, Bericht aus München, 1967). Der außerordentlich intensiven Propagierung der Piastenromane von Bunsch (sie erschienen in Auflagen von jeweils über hundert Tausend) lag ein politischer Auftrag, verbunden mit einer historischen Manipulation zugrunde. Denn anders als im Falle von Deutschen und Franzosen (den „Erzfeinden“ von gestern), die ihre Staaten von dem Reich Karls des Großen ableiteten, gab es in der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte kaum nachhaltige territoriale Konflikte. Die deutsch-polnische Grenze war bis zu den Teilungen Polens im 18. Jh. eine der friedvollsten und stabilsten Grenzen Europas. Das dieser Tatsache zuwider laufende Bild des den Polen gegenüber aggressiven mittelalterlichen deutschen Reiches, das angeblich den Grundstein für einen über Jahrhunderte andauernden deutschen, durch die Hitlersche Expansionspolitik auf die Spitze getriebenen, vernichtenden → Drang nach Osten legte, war ein ideologischer Mythos und literarisches Stereotyp, der nach dem Zweiten Weltkrieg aus politischen Gründen forciert wurde. Es galt nämlich, der neuen polnischen Bevölkerung der 1945 an Polen angegliederten ehemaligen deutschen Ostprovinzen, die sich in diesem Raum fremd und unsicher fühlte, den scheinbar rechtlosen Charakter der bisherigen deutschen Hoheit über diese Gebiete zu suggerieren und das Bewusstsein zu vermitteln, wieder an alte polnische Wurzeln angeknüpft zu haben. Die manipulative Bezugnahme durch das Medium der Literatur auf die mittelalterliche Wiege der polnischen Staatlichkeit im Westen, auf die Gebiete, die man jetzt deshalb tendenziös „wiedergewonnen“ (→ wiedergewonnene Gebiete) apostrophiert hatte (weshalb polnische Siedler, Vertriebene aus dem ehemaligen polnischen Osten, auch gleich heuchlerisch als „Repatriierte“ bezeichnet wurden), verschleierte im historischen Bewusstsein der Polen eine andere Tatsache, dass nämlich die Quellen der faktischen Feindlichkeit zwischen den beiden Nationen einen anderen Ursprung und auch einen anderen Charakter hatten. Zu suchen sind sie in dem im 13. Jh. von Konrad von Masowien gefassten Entschluss (eigentlich in dessen Folgen), den Deutschen Orden an die unruhige nördliche Grenze seines Herzogtums zur Befriedung und Christianisierung der benachbarten Länder der Pruzzen zu holen.

Die Ordensritter hatten ihre Aufgabe erledigt, nahmen aber bei dieser Gelegenheit die Chance wahr, einen eigenen Staat zu gründen (nachdem sie diese Chance, aus dem ungarischen Burzenland vertrieben, dort verpasst hatten). Dieser Ordensstaat war von Anfang an aggressiv gegen die Nachbarn, insbesondere gegen Polen, obwohl beide formell die Lehnsbande verbanden. Die späteren Herrscher der preußischen Mutation dieses Staates aus dem 18. Jh. wurden zu Initiatoren und Exekutoren der Teilungen Polens. Schon die bloßen Rivalitäten zwischen Polen und dem Ordensstaat (unabhängig von der staatspolitischen Form, die er im Laufe der Zeit annahm), erzeugten Kränkungen, Konflikte und schwarze Propaganda (→ Kreuzritter). Dieser letztendlich mit der Niederlage Polens beendete Konkurrenzkampf erzeugte wiederum auf beiden Seiten bis heute in verschiedenen Varianten latente und virulente Ressentiments: Auf polnischer Seite war es der Komplex des preußischen Verrats (nach der Säkularisierung des Ordensstaates ersetzte er den alten Verrat der Ordensritter aus dem 13. Jh.) und auf preußischer Seite war es das brennende Schamgefühl, von dem jetzt endlich niedergerungenen Rivalen lange genug lehnsmäßig abhängig gewesen zu sein. Mit der Zeit mutierte der preußische Verrat zum deutschen und der preußische Schamkomplex auch zum deutschen. Die Politik bediente sich der nationalen Mythologie, auf deren Wirkung Verlass war, so dass man sogar heute noch, trotz der verflossenen Zeit, unter dem Banner: „Solange die Welt besteht, wird der Deutsche niemals dem Polen Bruder sein“ eine zahlenmäßig durchaus starke Wählerschaft von „echten“ Polen (wie sie sich selbst nennen im Unterschied zu den angeblich nur „polnischsprachigen“ Landsleuten) gegen die Idee einer Zusammenarbeit mit den Deutschen mobilisieren kann.

Tatsache ist aber, dass schon in der zweiten Hälfte des 17. Jhs., zu der Zeit also als der Dichter Jan Potocki in seinen Moralia den zitierten Spruch formulierte (dem wohlgemerkt nicht etwaige Konflikte mit dem Kaiserreich im Westen, sondern mit dem Ordensstaat und späteren Preußen zugrunde lagen), dieser schon längst ein Stereotyp gewesen war, der seine Architekten und Lenker hatte und aktuelle politische Bedürfnisse im Lande bediente. Wie ist es dazu gekommen? Nun, um die unbequeme Tatsache zu verdrängen, dass während der sog. „Sintflut“, d. h. der polnischen Abwehrkriege gegen Schweden Mitte des 17. Jhs., der katholische Adel (um seinen Besitzstand zu wahren) massenhaft zum schwedischen Aggressor überlief, machte die Propaganda der Gegenreformation die polnischen Protestanten (mehrheitlich Deutsche oder deutscher Abstammung) zum Sündenbock, indem sie diese „Dissidenten“ des Landesverrats bezichtigte. Die Rechnung ging auf, weil Calvinisten und Arianer sich teilweise tatsächlich auf die Seite des schwedischen Königs Karl Gustav schlugen. Man glaubte an den protestantischen Landesverrat gerne, obwohl das lutherische und mehrheitlich deutschsprachige Königliche Preußen mit Danzig an der Spitze während des Konflikts treu zu Polen stand. Die polnische Öffentlichkeit glaubte aber daran bereitwillig, weil die Politik des Brandenburger Kurfürsten Friedrich Wilhelm die antiprotestantische Stimmung zusätzlich schürte. Obwohl er Herrscher des Herzoglichen Preußen und somit Lehnsmann der polnischen Krone war – er schwor zunächst König Władysław IV. die Treue, dann Jan Kasimir –, verriet er Polen für die Anerkennung seiner Unabhängigkeit durch die Schweden. Danach erzwang er von den Polen, nachdem er erneut das Bündnis gewechselt hatte und diesmal die Schweden verriet, in den Wehlau-Bromberger Verträgen 1657 den polnischen Verzicht auf die Lehenshoheit über das Herzogliche Preußen. Das Resultat war im folgenden Jahrhundert die weite Verbreitung deutschfeindlicher Ressentiments, als im Zuge einer Welle sarmatischen Gedankenguts sich Auffassungen durchsetzten, Andersgläubige, äußere wie innere Feinde Polens würden gegen die Adelsrepublik Komplotte schmieden, was die Verfestigung des xenophoben polnisch-barocken und antideutschen Stereotyps → → „Pole – Katholik“ zur Folge hatte. Der Deutsche konnte dem Polen kein „Bruder“ sein, weil er damals in Polen meistens Protestant war.

Im Grunde genommen aber, wenn man die damaligen polnisch-deutschen Beziehungen näher in Betracht zieht, kommt man nicht umhin, feststellen zu müssen, dass die seit dem 17. Jh. steigende antideutsche Welle in Polen vor allem ideologischen Charakter hatte und die praktisch gelebte Realität wenig tangierte. Seit den Anfängen der polnischen Staatlichkeit lebten und arbeiteten Deutsche und ihre Nachkommen in Polen und leisteten nicht nur einen bedeutenden, sondern zudem auch noch kontinuierlichen Beitrag zur polnischen Nationalkultur. Es kam vor, dass sie diese Bande mit eigenem Blut besiegelten wie im Falle des während des zweiten Feldzugs Bolesław Chrobrys (des Tapferen) gegen die Kiewer Rus 1018 gefallenen sächsischen Ritters Erich des Stolzen. Er hatte das Land seines polnischen Herrschers früher auch schon gegen die eigenen Landsleute verteidigt, wie übrigens tausend Jahre später der Siedlungsforscher und Schulmann Albert Breyer, der als polnischer Reserveoffizier 1939 Warschau vor der Wehrmacht verteidigte und schon 1919 als Freiwilliger in den polnisch-sowjetischen Krieg zog (der bekannte westdeutsche Historiker Richard Breyer war sein Sohn). Das Bewusstsein für die historische und rein menschliche Natürlichkeit dieser Symbiose wurde aus dem volkstümlichen polnischen Selbstverständnis nach und nach im Verlauf der letzten zweihundert Jahre getilgt, angefangen mit den Teilungen Polens, über den „gesunden Egoismus“ (Wilhelm Jordan im Frankfurter Parlament 1848) des erwachenden Nationalismus im 19. Jh., bis hin zur Tragödie des Zweiten Weltkrieges im 20. Jh. Insbesondere der Zweite Weltkrieg, der beide Völker in derart großem Umfang konfrontierte, wie es in der gemeinsamen Geschichte noch nie vorgekommen war, beließ in ihren Beziehungen tiefe Sedimente von Misstrauen, Feindschaft und Hass. Der Politologe und Historiker Dieter Bingen schreibt dazu: „Wenn die Kategorie des gegenseitigen Unverständnisses, ja des Hasses aufeinander, irgendwo für zwei benachbarte europäische Völker in der Mitte Europas zutreffend war, dann für das deutsch-polnische Verhältnis im 20. Jahrhundert“ (Bingen 2020, S. 27f.).

Konzentriert auf das erfahrene Unrecht und Leid und auf dessen konservierende Pflege übersah man nur allzu eilfertig, dass es in der Geschichte auch anders zwischen Deutschen und Polen zugegangen war und zwar jahrhundertelang und dass die Reduzierung der tausendjährigen Beziehungsgeschichte auf die Konflikte der letzten zweihundert Jahre, mochte ihre Emanation im Zweiten Weltkrieg den noch so tragischen Höhepunkt erreicht haben, einen diese Geschichte verfälschenden Missbrauch bedeutete. Man übersah ebenso, dass man der ethnischen Wurzeln polnischer Deutschen nicht um der Kultivierung eigener Komplexe wegen gedenken sollte (oder aus Gefälligkeit dem hochmögenden Nachbarn auf der anderen Oderseite gegenüber), sondern weil es zum einen die deutsche Polenfaszination bezeugt, zum anderen die historische, aber nationalistisch ins Unterbewusstsein verdrängte Tatsache unter Beweis stellt, dass monoethnische Nationalkulturen in diesem Teil Europas immer eine Fiktion waren.

Im breiteren geschichtlichen Bewusstsein der Polen verlor sich das Andenken an die Königin Richeza, Nichte von Kaiser Otto III. und Frau des polnischen Herrschers Mieszko II. Lambert. Diese durch den Merseburger Frieden von 1013 besiegelte Ehe war eine der politisch bedeutendsten in der Geschichte der Piastendynastie. Richeza, eine der gebildetsten Frauen ihrer Zeit, prägte Polen durch die geistige und materielle Kultur ihrer rheinischen Heimat, was später von ihrem ebenfalls im Rheinland erzogenen Sohn Kasimir Odnowiciel (dem Erneuerer) fortgesetzt wurde. Die rheinischen Kontakte erwiesen sich als überaus nützlich, als Kasimir und sein Sohn Bolesław Śmiały (der Mutige) den polnischen Staats- und Kirchenapparat nach der Zeit der sogenannten destructio Poloniae wiederherstellten, das heißt nachdem es in den dreißiger Jahren des 11. Jhs. einen vorübergehenden Rückfall in heidnische Zustände gegeben hatte und das Land von räuberischen Nachbarn verwüstet worden war. Kasimirs Onkel, der Kölner Erzbischof Hermann II., unterstützte den Wiederaufbau, indem er Mönche und Priester, vor allem Benediktiner, nach Polen schickte. Der vermutlich aus der Abtei Brauweiler stammende Benediktinermönch Aaron, rechte Hand des polnischen Königs in allen Kirchenfragen, gründete das Benediktinerkloster Tyniec und wurde dessen erster Abt. Im Jahre 1046 weihte ihn Hermann II. zum Bischof von Krakau, wo er den Anstoß für den Bau der neuen Kathedrale gab. Bischof Aaron, bei der Nachwelt als Aaron von Krakau bekannt, personifiziert die lebhaften Kontakte zwischen Polen und Lothringen in jener Zeit, denn von dort kamen mit den Benediktinern auch Kirchenarchitektur, lothringische Klosterreform und religiöse Traditionen (wie etwa die Verehrung der Kölner Heiligen Gereon und Leonhard im Krakauer Dom auf dem Burghügel Wawel). Die einwanderungs-freundliche Politik der Piasten unterschied sich in dieser Hinsicht kaum von der Politik anderer Höfe der jungen Staaten Mitteleuropas. In der gesamten Region waren fachlich bewanderte Fremde als wertvolle Mittler der kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften aus Westeuropa geschätzt; naheliegender Weise waren dies in Polen wegen der direkten Nachbarschaft überwiegend Deutsche.

Im 12. und 13. Jh. verließen mehr als 400.000 Menschen Deutschland, um die dünn bevölkerten Regionen Ostmitteleuropas zu besiedeln. Allein für das 13. Jh. beziffern vorsichtige Schätzungen ihre Zahl für Polen auf etwa 100.000, was bei knapp einer Million Einwohnern des Landes nicht wenig war. Diese Nachbarschaft konnte nicht ohne Einfluss auf Gesellschaft und Sprache bleiben. Und so übernahm das Altpolnische bis zum Ende des 15. Jh., den zivilisatorischen Transfer dokumentierend, aus dem Deutschen Lehnwörter etwa in den Bereichen der städtischen Verwaltung (Bürgermeister – burmistrz, Gemeinde – gmina, Schultheiß – sołtys, Vogt – wójt), Bauwesen (Rathaus – ratusz, Ring im Sinne von Marktplatz – rynek, Platz – plac, Ziegel – cegła, Kelle – kielnia, Planken – blanki), Gerichtswesen (Geleitbrief – glejt, Urteil – ortyl), Handelswesen (Jahrmarkt – jarmark, Maßeinheit Last Getreide – łaszt), Handwerk (Kürschner – kuśnierz, Böttcher – bednarz, Ziegelbrenner – ceglarz), Bergbau (Gewerke – gwarek, Bergmeister – berkmajster) und ebenso etliche Alltagsbegriffe (zum Beispiel Tanz – taniec). Von Namen deutscher Tänze leiten sich auch die altpolnischen Familiennamen Rej oder Firlej her. Derartige Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Deutscher Herkunft ist selbst die Bezeichnung für den polnischen Adel, Szlachta, abgeleitet von „Geschlecht“. Auch Abstrakta wie szacunek (Wertschätzung) oder odwaga (Wagnis, Wagemut) übernahm man damals aus dem Deutschen, dessen Einfluss auf das Polnische nur mit dem des Lateinischen vergleichbar ist. Dabei war es keineswegs so, dass das Deutsche nur begriffliche Lücken des Polnischen füllte, sondern häufig verdrängte ein deutsches Wort das alte polnische: So ersetzte z. B. das deutsche „Los“ das polnische wróża. Noch häufiger konkurrierten beide Formen um die weitere Verbreitung, zum Beispiel rachować und liczyć (rechnen), szanować und czcić (schätzen), szynkarz und karczmarz (Schankwirt). Erst seit Ende des 15. Jhs. gingen die Neuentlehnungen aus dem Deutschen zurück.

Wie in einem Brennglas vereinigt die Vielvölkermonarchie der Jagiellonen alle Nuancen dieser Migrationsprozesse. Sie wurde zum Schauplatz zahlreicher höfisch-politischer, kirchlicher, ökonomischer und künstlerischer Karrieren von Fremden. Die Deutschen, die „Wohnpolen“, wie sie sich selber nach dem Wortspiel des Krakauer Druckers Hieronymus Viëtor polonisierend nannten, hatten daran durchaus ihren Anteil. Die neue Einwanderungswelle war weit weniger umfangreich als die mittelalterliche Immigration, jedoch ungleich wichtiger, da die Neuankömmlinge praktische Kenntnisse der frühkapitalistischen Wirtschaftsweise sowie industrieller Techniken in den Bereichen Bergbau, Hüttenwesen, Gießerei, Buchdruck, Papierherstellung und vielen anderen mitbrachten. Das zur europäischen Großmacht heranwachsende jagiellonische Polen war dringend auf solche Fachleute angewiesen. Daher räumte man ihnen vorteilhafte Monopolbedingungen ein, an die im Westen nicht mehr zu denken gewesen wäre. Man befreite sie vom Zoll, entzog die für das Staatswesen wertvollen Zugezogenen der gerichtlichen Kontrolle durch die städtische Verwaltung und unterwarf sie direkt der königlichen Gerichtsbarkeit. Waren in früheren Jahrhunderten deutsche Siedler vorwiegend aus dem Grenzland nach Polen gezogen, so kamen sie jetzt aus Süd- und Westdeutschland und aus der Eidgenossenschaft.

Undenkbar ist das damalige Polen ohne die aus Landau in der Pfalz stammende und in Krakau seit den achtziger Jahren des 15. Jhs. ansässige, vielfach verzweigte Bankiersfamilie Boner, die sich durchaus mit den Fuggern in Deutschland oder den Chigi in Italien vergleichen lassen konnte. Der Begründer des Familienimperiums Hans Boner und sein Neffe Severin finanzierten den Hof und die Kriege dreier polnischer Könige gegen den Deutschen Orden, nämlich Aleksanders des Jagiellonen, Johann Albrechts und Sigismunds des Alten. Als königliche Bankiers übernahmen sie faktisch die Rolle der Finanzminister, kontrollierten das Vermögen der Monarchen und übten so einen diskreten, aber sehr konkreten Einfluss auf deren Politik aus. Insbesondere die Regierungszeit Sigismunds hätte ohne die Finanzierung, Waffenlieferungen und weitverzweigten Kontakte der Boners namentlich mit den Fuggern, von denen auch die polnische Kirche profitierte, völlig anders verlaufen können. Auf Hans Boner geht die in Polen zuvor noch unbekannte Trennung von königlichem und staatlichem Schatz zurück. Seine Nachfolger stiegen in der polnischen Aristokratie auf und wurden Kastellane oder Senatoren. Aus diesen gesellschaftlichen Positionen heraus gelang es ihnen auch, eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Reformation in Kleinpolen zu spielen. Mehr noch als die Familie Boner bietet Jost Ludwig Dietz (polnisch Decjusz) aus dem elsässischen Geschlecht zu Weißenburg, königlicher Sekretär, Münzverweser, Reformer der polnischen Währung, Inspirator der polnisch-preußischen Währungsunion und Apologet der Jagiellonendynastie, ein Beispiel dafür, wie sich im Unterschied zu den Vorgängern die Migranten der Frühneuzeit häufig bereits in der ersten oder zweiten Generation polonisierten. An den Humanisten Dietz, der enge Kontakte etwa mit Luther und Erasmus von Rotterdam pflegte, erinnert heute in Krakau seine 1535 fertiggestellte und 1996 völlig restaurierte und modernisierte Villa Decius. Sie befand sich damals in seinem Landgut Wola Justowska (Josts Freiheit, heute ein Stadtteil von Krakau) und ist, damals wie heute, ein Treffpunkt der gens de lettres, eine Begegnungsstätte für den polnisch-deutschen und überhaupt den internationalen Literatur- und Kulturaustausch.

Und lässt sich das jagiellonische Polen ohne den ersten polnischen Berufsdiplomaten deutscher Abstammung, Johannes von Höfen, gebürtig aus Danzig und deshalb in den Humanistenkreisen Dantiscus genannt (polnisch Jan Dantyszek) denken? Ebenso kaum wie die Entwicklung der Krakauer Universität und der damaligen polnischen Wissenschaft ohne die vielen aus Deutschland zugewanderten Drucker, jene Viëtors, Hallers, Unglers, Scharffenbergs (um hier nur diese zu nennen), die nicht nur Lateinisch druckten, sondern der neuen Heimat das erste in polnischer Sprache gedruckte Buch schenkten. Die Verdienste der sich schnell polonisierenden Krakauer Drucker um das polnischsprachige Druckwesen ergaben sich aus ihrer Einstellung der polnischen Sprache gegenüber, die Hieronymus Viëtor am treffendsten im Vorwort zu einem seiner Bücher festhielt: „Ich als eingewohnter aber nicht eingeborener Pole komme nicht aus dem Staunen, denn während jedes andere Volk seine angeborene Sprache liebt, verbreitet, schmückt und poliert, warum verachtet und grummelt in den Bart das polnische Volk die seine, die man wahrhaftig wie ich’s höre an Fülle und Redekunst mit jeder anderen vergleichen könnte“ (Chrzanowski 1917, S. 85). Die echte Zuneigung zu der neuen Heimat, die diese Worte kennzeichnet, war nicht nur diesen und ähnlichen „eingewohnten Polen“ deutscher Herkunft der Renaissancezeit eigen, sie sollte auch ihre Nachfolger in den darauf folgenden Jahrhunderten charakterisieren.

In der Zeit der polnisch-sächsischen Union formulierte der Universalgelehrte Lorenz Mitzler de Kolof, „Apostel der Wolff’schen Philosophie“ (wie er sich selber nannte), also der Aufklärung in Polen, die folgende treffende Bewertung der deutschen Einwanderung im Nachbarland (wo er sich selber 1743 niedergelassen hatte): „Die Deutschen sind für Polen […] nöthiger als die Herren Franzosen, die, wenn sie etwas gesammelt, gern nach Frankreich zurückgehen. Anders hingegen der ehrliche und standhafte Deutsche, der, wenn er sieht, dass er etwas vor sich bringen kann, sich gern ansässig macht und zum wahren Einwohner des Landes wird, wovon die Republik weit mehr Nutzen hat“ (Klimowicz 2004, S. 49). Die Tatsache, dass sich die Einsicht in die Notwendigkeit von Reformen in der alten Adelsrepublik festgesetzt hatte und wuchs, um unter Polens letztem König Stanisław August Poniatowski überhaut entsprechende Versuche zu ermöglichen, ist der sich unter dem Wettiner, August III., verbreitenden Aufklärung zuzuschreiben und nicht zuletzt solchen deutschen Gelehrten wie Mitzler de Kolof, Philosophen, Verlegern, Architekten und Künstlern, die von der Frühaufklärung bis zu den Teilungen Polens großen Anteil an der Modernisierung des Landes hatten. Die gemeinsame Arbeit daran erinnert in Eigendynamik und Zielrichtung an die Zeiten der Boner und Decius’ unter Sigismund I. Mit den Teilungen Polens von 1772–1795 begannen sich die Beziehungen zwischen Polen und Deutschen zu wandeln. Generell zeigte das 19. Jh. im deutsch-polnischen Verhältnis ein Janusgesicht. In den äußeren Beziehungen zwischen den beiden Kulturen vollzog sich in den bisher frankophilen polnischen Eliten (deren Gallomanie Heinrich Heine bissig verspottete) ein Paradigmenwechsel. Der Posener Literaturhistoriker und Gymnasialprofessor Johann Samuel Kaulfuß, dessen Familie im 18. Jh. in Polen geadelt wurde, setzte seinen Landsleuten in einer 1816 erschienenen Abhandlung, warum die deutschen den französischen Studien vorzuziehen sind, folgendes auseinander: Dlaczego język i literatura niemiecka zdolniejszymi są do ukształcenia rozumu i serca niż język i literatura francuska? (Warum ist die deutsche Sprache und Literatur, als Hilfsmittel zur Fortbildung der französischen Sprache vorzuziehen). Und zwei Jahre später empfahl in der Programmschrift Über Klassik und Romantik der führende Dichter der polnischen Frühromantik, Kazimierz Brodziński, der polnischen Literatur die Nachahmung der deutschen Literaturmuster. Mit Erfolg wie sich zeigen sollte, um nur auf das Schaffen von Adam Mickiewicz, Juliusz Słowacki, Zygmunt Krasiński (das Dreigestirn der polnischen → Romantik) und Seweryn Goszczyński hinzuweisen. Der französische Einfluss auf die polnische Kultur und Gesellschaft begann zu schrumpfen. Deutsche Wissenschaft, Literatur und Musik gaben jetzt den Ton in der polnischen Oberschicht an. Den Einfluss der deutschen Kultur förderte der Umstand, dass sie jetzt die Kultur der Teilungsmonarchien (Preußen und Österreich) war, in denen (außer im Zarenreich) die Polen zu leben hatten und an deren Universitäten die polnische Jugend studierte.

Nach anderthalb Jahrzehnten einer intensiven und schöpferischen Rezeption deutscher Anregungen (vor allem im literarischen, philosophischen und historiographischen Bereich) „revanchierten“ sich die Polen gegenüber der deutschen Literatur mit dem Sujet der sog. Polenlieder, deren Autoren aus dem polnischen Novemberaufstand von 1831/32 und seinen Folgen ihren Stoff bekamen. Diese Gedichte wurden in der deutschen Literaturgeschichte zu einem beispiellosen literaturgeschichtlich-soziologischen Phänomen. In literaturgeschichtlicher Hinsicht deswegen, weil es damals kaum einen deutschen Dichter gab, der nicht ein solches Polenlied verfasst hätte und in soziologischer Hinsicht bemerkenswert deshalb, weil es ein Massenphänomen war, das alle Gesellschaftsschichten erfasste (auch gab es unter den Verfassern viele anonyme Autoren und solche, die sich aus diesem Anlass zum ersten – und letzten Mal literarisch betätigt haben).

Natürlich war diese deutsche Polenfreundschaft (→ der edle Polepolnische Freiheit) eine integrale Komponente der deutschen Gesellschaftsgeschichte und die Polenlieder stellten einen camouflierten Aufruf an die Deutschen zum Kampf um freiheitlich-demokratische und verfassungsliberale Reformen dar. Die Polenlieder fanden indessen bei den Polen eine begeisterte Aufnahme. Julius Mosens Polengedicht Die letzten zehn vom vierten Regiment, sofort ins Polnische übersetzt, wurde als originelles Insurgentenlied gesungen und avancierte im Laufe des 19. Jh. zu einer Art polnischen Nationalhymne. Mehr noch als die literarische Verherrlichung des Aufstandes trug zur Entspannung des gegenseitigen polnisch-deutschen Verhältnisses die Tatsache bei, dass sich am Aufstand viele Polendeutsche, aber auch Freiwillige aus deutschen Ländern (darunter aus den beiden deutschen Teilungsmonarchien), meistens medizinisches Personal (die sog. Polenärzte) beteiligten.

Selten passte auf irgendeine Periode aus der Geschichte der deutsch-polnischen Literaturbeziehungen die Metapher der Brücke (im politischen Diskurs von heute oft so überstrapaziert, dass sie manchmal ihres symbolischen Gehalts bar erscheint) so treffend wie auf diese Zeit (überhaupt auf die erste Jahrhunderthälfte). Literatur schlug damals tatsächlich Brücken zwischen den beiden Nationen. Symptomatisch klingt die Widmung, die Mickiewicz 1833 der deutschen Ausgabe seiner Bücher des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft gab: „Diese Bücher des polnischen Volkes unter den Augen des Verfassers getreu ins Deutsche übertragen, widmet derselbe Dem Deutschen Volke als Zeichen seiner aufrichtigen Achtung und Dankbarkeit für die brüderliche Aufnahme, die ihm und seinen unglücklichen Landsleuten bei demselben auf ihrer Pilgerschaft geworden“ (Mickiewicz 1883, o.S. =Widmung). Damit meinte er nicht nur die freundschaftliche Gastlichkeit, mit der man in Deutschland den ins französische Exil ziehenden Aufständischen begegnete, sondern auch die dichterische Begleitung dieser „Pilgerschaft“.

Während die österreichische Administration in Galizien wegen ihrer rücksichtslosen Unterdrückung jeglicher Erscheinungsformen des Polentums verhasst war, galt die preußische Amtsführung in den preußisch besetzten Gebieten als nachsichtig. Antoni Magier, Chronist von Warschau, nach der dritten Teilung Polens Hauptstadt der neuen Provinz Südpreußen, erinnerte sich an diese Zeit: „Die damalige Regierung in Südpreußen war, so könnte man sagen, philosophisch: Persönlichkeitsrechte, Redefreiheit, Pressefreiheit und Gleichheit aller Stände wurden gewahrt“ (Zybura 2019, S. 66). In der Tat instruierte Friedrich Wilhelm II. seinen ersten Provinzialminister in Südpreußen Otto Karl F. von Voss, die Verwaltung solle in den neuen Gebieten den Polen gegenüber von allen „brutalen und despotischen Verhaltensweisen“ ablassen und Rücksicht „auf den Nationalcharakter der Polen“ nehmen. Er hatte auch allen Grund dazu, stellten die Polen doch damals in Preußen fast vierzig Prozent der Gesamtbevölkerung. Nach dem im Zuge der Beschlüsse des Wiener Kongresses erfolgten Verlust der bei der dritten Teilung Polens gewonnenen Gebiete entpolonisierte sich Preußen schlagartig. Nur noch acht Prozent des Territoriums der alten Adelsrepublik in den Grenzen von 1772 verblieben unter den Hohenzollern, das heißt die Gebiete der Ersten und Zweiten Teilung: das Posener Land und Westpreußen, auf denen das Großherzogtum Posen gebildet wurde. Dies war eine politische Geste mit Rücksicht auf die historische Bedeutung der Region für die polnischen Untertanen; eine Geste, die man nachdrücklich betonte, indem man einen Polen, nämlich den Fürsten Anton Radziwiłł, zum Statthalter des Herzogtums ernannte.

Die zweite Hälfte des Jahrhunderts bildete in dieser Hinsicht das Gegenteil der ersten und enthüllte sein Janusgesicht. Der Völkerfrühling machte dem deutschen liberalen Bürgertum bewusst, dass polnische Freiheitsbestrebungen sich nicht nur gegen Russland, „den Gendarmen Europas“ (was die Deutschen am Novemberaufstand faszinierte) richteten, sondern auch gegen Preußen und Österreich. Vergeblich riefen Demokraten wie Varnhagen von Ense oder Bettina von Arnim zum Verzicht auf annektierte polnische Territorien infolge des Teilungsraubs auf. Es zeigte sich, dass Literatur fortan beide Völker eher scheiden als verbinden sollte. Zwei charakteristische Daten markieren diese Entwicklung: 1855, das Erscheinungsjahr von Soll und Haben Gustav Freytags, der Bibel des Antipolonismus des deutschen Bürgers, und 1900, das Erscheinungsdatum der Kreuzritter von Henryk Sienkiewicz, der mit diesem Roman das bis heute in der polnischen Öffentlichkeit am stärksten nachwirkende Bild vom Deutschen Orden lieferte, in dem die bisherige Verketzerung alles Deutschen gipfelte. Dem Mythos des Kreuzritters, der so lange das polnisch-deutsche Verhältnis belastet, kann augenscheinlich nichts anhaben, wenn sogar noch 2005 der um das Amt des polnischen Staatsoberhauptes ringende Lech Kaczyński sich in seinem Wahlkampf vor dem Gemälde Jan Matejkos Die Schlacht bei Grunwald (→ Erinnerungskulturen) filmen ließ, jener für Polen siegreichen Schlacht von 1410, die den Untergang des Ordensstaates und damit den Sieg über die Ordensritter einleitete.

In den inneren Beziehungen legte sich das nationale und in seiner reifen Endphase nationalistische 19. Jh. mit einem langen und tiefen Schatten auf das Verhältnis der noch unlängst in einem gemeinsamen polnischen Staat zusammenlebenden Polen und Deutschen, denn der Status Letzterer verschob sich unter den beiden deutschen Besatzungsmächten – ohne dass diese polnischen Deutschen den Wohnort wechselten – von einer Minderheit zu einer privilegierten Mehrheit. Bei gerade diesen Deutschen, die in den preußischen und österreichischen Teilungsgebieten lebten, sah die neue preußische und habsburgische Obrigkeit eine Stütze ihrer Herrschaft und einen Katalysator der staatlichen Homogenisierung. Im preußischen Teilungsgebiet vollzog sich der entscheidende Umbruch während der Amtszeit Bismarcks, seit 1862 preußischer Ministerpräsident und seit 1871 Kanzler des Deutschen Reiches. Er setzte der früheren Unentschlossenheit oder gar den Illusionen der preußischen Politik in Bezug auf die polnischen Untertanen zügig ein Ende. Sein diesbezügliches Credo trug er gleich 1861 vor: „Ich habe alles Mitgefühl für ihre Lage, aber wir können, wenn wir bestehen wollen, nichts anderes thun, als sie ausrotten; der Wolf kann auch nichts dafür, dass er von Gott geschaffen ist, wie er ist, und man schießt ihn doch dafür todt, wenn man kann“ (Bismarck 1897, S. 211). Das radikalisierte deutsche Nationalgefühl als Kriterium der staatsbildenden bürgerlichen Einstellung wurde zum Programm des Bismarck’schen Kampfes gegen das Polentum in den östlichen Provinzen des Staates. Die rücksichtslose Germanisierung des Schul- und Gerichtswesens und der Ämter durch die Maigesetze der Jahre 1873–1875 im Rahmen des Kulturkampfes und der Politik der Ansiedlungskommission führte dazu, anstatt die Gesellschaft binnen kürzester Zeit zu unifizieren, die Spirale der gegenseitigen Nationalismen heftig zu beschleunigen. Und diese Politik wandte sich letztendlich gegen Bismarck selbst. Dem Kanzler, dessen unversöhnliche Germanisierungspolitik ihm im allgemeinen Geschichtsbewusstsein der Polen den Ruf eines „Polenfressers“ eintrug, muss man den unfreiwilligen Verdienst zugestehen, durch seine Maßnahmen die polnische Nationalbewegung in Preußen überhaupt erst zum Massenphänomen werden zu lassen.

Das durch Österreich annektierte Territorium der alten Adelsrepublik, das nun die größte Provinz der Doppelmonarchie bilden sollte, wurde anfänglich von den aus Wien entsandten Gouverneuren brutalen Germanisierungsmaßnahmen unterworfen, durch die sich der Erzherzog Ferdinand d’Este den schlimmsten Ruf erworben hatte. Sie verfolgten zugleich das propagandistische Ziel, die Annexion des Landes als Segen und beste aller Lösungen für Land und Leute hinzustellen. Das Fiasko dieser Politik offenbarte sich nach dem Wiener Kongress, indem Wien seine Rechnung erhielt: Während sich im preußischen Teilungsgebiet die Polen vor der Bismarck-Ära teilweise germanisiert hatten, wurde Galizien umgekehrt zum Schauplatz einer quantitativ und qualitativ beispiellosen Polonisierung der zugewanderten Deutschen. Der Vorgang wurde hier zudem durch das Fehlen konfessioneller Barrieren erleichtert. Auch die größtenteils aus den niederen Ständen stammenden österreichischen Beamten ließen sich vom Habitus des polnischen Adels und auch vom Charme der galizischen Polinnen beeindrucken, die von der mittelalterlichen Legende über eine Krakauer „Wanda, die den Deutschen nicht wollte“, nicht viel hielten. Viele herausragende Persönlichkeiten dieser neuen „Wohnpolen“ gingen in das Pantheon der polnischen Kultur des 19. Jhs. ein, die sie mit der Ergebenheit der Neophyten und der aus fremden Ursprüngen stammenden Originalität mitgestalteten, selbst wenn sie sich nicht zu ihren Wurzeln als „wahre Polen“ bekennen wollten, wie etwa der Dichter Wincenty Pol (eigentlich Pohl). Josef Alois Reitzenheim, Adolf Nigroni, Jan Józef Grottger (Arthur Grottgers Vater), Alexander Schoedler, die Familien Estreicher, Dohm, Kirchmayer, Helzl, Friedlein und Girtler, um nur die wichtigsten Krakauer und Lemberger Namen zu nennen, gehörten zur intellektuellen Elite des Landes, ähnlich wie bei den Unternehmern die Familien Piller in Lemberg, Schaiter in Rzeszów, Koppf in Krakau und Götz in Okocim.

1867 erkämpfte Galizien seine Autonomie und wurde daraufhin zum polnischen Piemont. Hier begannen alle Formen des polnischen Nationalbewusstseins wiederaufzuleben. Ein Markstein war an der Wende zu den 1870er Jahren die Wiedereinführung des Polnischen im Schul- und Gerichtswesen, in den Ämtern und im öffentlichen Leben. Die voranschreitende Polonisierung insbesondere der katholischen Deutschen ließ deren Zahl bis zur Jahrhundertwende in Galizien um drei Viertel sinken. Ein Aktivist der dortigen deutschen Gemeinschaft und zugleich ihr Chronist, Theodor Zöckler, evangelischer Pfarrer in Stanisławów (Stanislau), führte dies darauf zurück, dass „Galizien in die fast unumschränkt selbständige Verwaltung der Polen kam, die in immer steigendem Maß auf die Ausmerzung des Deutschtums hinarbeiteten“, und dass „in den deutschkatholischen Gemeinden fast überall polnisch gesinnte oder polnische Geistliche alles anwandten, um die deutsche Kirchensprache durch die polnische allmählich zu verdrängen“, die nach Zöcklers Zeugnis die Galiziendeutschen, „von Jugend auf geläufig sprechen“. Als ob er das nahende Ende des deutschen Kapitels in der Geschichte Galiziens vorausgeahnt hätte, gab er in seinem 1917 veröffentlichten Buch Das Deutschtum in Galizien der Hoffnung Ausdruck,

daß gerade die gemeinsamen Erlebnisse des großen Krieges einer ruhigen, objektiven Beurteilung und Wertschätzung insbesondere auch auf polnischer Seite den Weg ebnen werden, wie umgekehrt wir Deutschen in Galizien uns der Hoffnung hingeben, daß man in weiteren deutschen Kreisen auf Grund der Erfahrungen dieses Krieges zu einem tiefen Verständnis für das polnische Volk und seine Probleme gelangen werde (Zöckler 1917, o. S. = Zum Geleit).

Doch der Krieg dezimierte die deutsche Bevölkerung Galiziens sowohl durch Rekrutierung, durch Kriegsverluste an der Front und nicht zuletzt durch die von der russischen Besatzungsmacht vorgenommenen Zwangsevakuierungen, bei denen die einheimischen Deutschen als potentielle Spione vom galizischen Kriegsschauplatz entfernt und im russischen Landesinnern interniert wurden. Aus der galizischen Landschaft verschwanden so Tausende deutsche Bauernhöfe und Dutzende Dörfer.

Aus dem russisch besetzten Teil der Adelsrepublik wurde ein Teil direkt dem Zarenreich einverleibt und das andere nach dem Wiener Kongress in ein sog. „Königreich Polen“ umgewandelt, das de facto kein polnisches Königreich war, sondern ein russisches Nebenland mit russischem Statthalter in Warschau. Zu den alteingesessenen Deutschen noch aus der polnischen Zeit gesellten sich neue Siedlerströme aus der Zeit der preußischen Ansiedlung 1797–1806, dann Immigranten aus der Zeit des napoleonischen durch die Personalunion mit dem Königreich Sachsen verbundenen Herzogtums Warschau 1807–1815 (mit Friedrich August I., dem Enkel des polnischen Königs August III., an der Spitze) und schließlich Deutsche, die von erneuten Migrationswellen nach dem Wiener Kongress getragen wurden. Das Gros dieser letzten Ankömmlinge zog Städte und Industriesiedlungen dem Land vor, wohin sich nur 25 Prozent ansiedelten, vor allem in Wolhynien. Diese Siedlerbevölkerung wuchs in Kongresspolen von anfänglich einigen zehntausend auf etwa 600.000 am Vorabend des Ersten Weltkrieges, in den an das Zarenreich angeschlossenen Gebieten im gleichen Zeitraum von wenigen tausend auf 200.000.

Im hauptstädtischen Warschau des 19. Jh. polonisierten sich die Deutschen eigentlich völlig, was mit alten Traditionen der deutschen Einwanderung in die Stadt verbunden war. Generationen von Fukiers, die aus einer Nebenlinie der Augsburger Fuggers stammten und seit 1515 in Warschau ansässig waren, von Brauns, Seydels, Gerlachs, Haberbuschs, Schiels, Lilpops, Simmlers, Ulrichs, Wedels, Kerntopfs, um nur einige wenige Familien zu nennen, schrieben sich in die Kultur der Hauptstadt und der Nation ein. Es war zum Beispiel der Warschauer Wilhelm Troschel, der im 19. Jh. die Kirchenlieder Pod Twoją obronę (Unter Deinen Schutz) und Ojcze na niebie (Vater im Himmel) komponierte, die noch heute in ganz Polen gesungen werden. Angehörige dieser polonisierten deutschen Familien fanden sich auch im Offizierskorps der Aufständischen von 1831. Hingewiesen sei nur auf General Józef Bem, dessen Vorfahren namens Boehme aus Schlesien stammten, oder auf die aus Mainz stammende Familie Hauke, die vom Novemberaufstand in besonders tragischer Weise getroffen wurde. In der Nacht des Ausbruchs des Aufstandes erschossen die jungen Fähnriche General Moritz Hauke wegen seiner prorussischen Haltung, obwohl er früher ein Mitstreiter Tadeusz Kościuszkos gewesen war. Seinem Sohn hingegen, Moritz W. Leopold Hauke, ebenfalls Offizier, wurde für seine während des Aufstands bewiesene Tapferkeit, die höchste polnische Militärauszeichnung, das Kreuz Virtuti Militari in Gold verliehen. Ein weiterer Vertreter der Familie Hauke und Cousin der Vorgenannten, General Josef Ludwig Hauke, war einer der Befehlshaber des Januaraufstands von1863/64. Er kam in der Emigration ums Leben, als er auf französischer Seite im Krieg von 1870/71 gegen die Deutschen kämpfte.

Die vielschichtige Problematik der deutschen Immigration im Zuge der Industrialisierung nach Polen im 19. Jh. – mit Lodz, dem „polnischen Manchester“, das bis in die 1860 Jahre ausschließlich von deutschen Bürgermeistern regiert wurde, als Spitzenleistung – erinnert in vieler Hinsicht an das Phänomen der deutschen bürgerlich-kaufmännischen Siedlungen in der alten Adelsrepublik der Jagiellonenzeit. In Lodz allerdings polonisierten sich die Deutschen nur langsam. Mit seinen Trabantenstädten, in denen Heinrich Schlösser in Ozorków, Gottlieb Krusche und Karl Endler in Pabianice sowie Karl August Dittrich und Eduard Hille in Żyrardów zu Industriepionieren aufstiegen, bildete Lodz das Gegengewicht zu Warschau. Hier gab es die größte, deutsch orientierte Gemeinde der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Kongresspolen; aufgrund dieses Potenzials stieg Lodz zum kulturellen und politischen Zentrum des Deutschtums im russischen Teilungsgebiet auf.

Während sich im preußischen und österreichischen Teilungsgebiet die dort herrschenden antirussischen Ressentiments auf die polnische Gesellschaft übertrugen, die nach Bildung der Dreierallianz der sogenannten Zentralstaaten 1882 noch heftig zunahmen, machten sich charakteristischerweise die Polen im russischen Teilungsgebiet die russische Germanophobie zu eigen. Das fand zum Beispiel überraschenden Ausdruck in der herzlichen Verabschiedung der im August 1914 an die Front ziehenden russischen Truppen. Im weiteren Verlauf des Krieges siedelte die russische Armee beim Rückzug aus Kongresspolen und Wolhynien 1915 beinahe eine Viertelmillion Deutsche nach dem bereits aus Galizien bekannten Muster präventiv ins russische Hinterland aus. Die meisten kehrten nie wieder in ihre Heimatorte zurück.

Weil die Restitution des polnischen Staates 1918 u. a. zu Lasten Deutschlands ging, das gewohnt war, die beinahe anderthalb Jahrhunderte lang annektierten und kolonisierten Gebiete als sein angestammtes Eigentum zu betrachten, sah sich Polen von Anfang mit dem aggressiven Revisionismus der Weimarer Republik konfrontiert. Der Versailler Friedensvertrag wirkte wie ein Sprengsatz mit Zeitzünder. Die Deutschen machten von Beginn an aus ihrem Verhältnis gegenüber dem als „Saisonstaat“ verachteten neuen Polen keinen Hehl. Die Außenpolitik aller Weimarer Kabinette verfolgte das Ziel, die Ostgrenzen zu revidieren. So meinte Reichskanzler Joseph Wirth 1922, Polen müsse „erledigt werden […]. In diesem Punkt bin ich ganz einig mit den Militärs, besonders mit dem General von Seeckt.“ Hans von Seeckt, damals der Chef der Reichswehr, meinte wiederum im selben Jahr zu dem ersten Außenminister der Weimarer Republik und späteren Botschafter in Moskau, Graf Brockdorff-Rantzau: „Polens Existenz ist unerträglich, unvereinbar mit den Lebensbedingungen Deutschlands. Es muß verschwinden und wird verschwinden durch eigene Schwäche und durch Rußland, mit deutscher Hilfe“ (Broszat 1972, S. 218).

Gemäß Versailler Vertrag übernahm Polen 1919 Großpolen und Pommern von Deutschland und mit der Entscheidung der Siegermächte aus dem Jahre 1921 auch noch einen Teil Oberschlesiens. Insgesamt bedeutete das mehr als die Hälfte aller von Deutschland abgetretenen Gebiete mit über der Hälfte der verlorengegangenen Bevölkerung. In Polen entstanden in diesen Gebieten die drei Wojewodschaften Pommern, Posen und Schlesien, in denen drei Viertel aller polnischen Deutschen lebten. Weitere 18 Prozent waren im ehemaligen Kongresspolen beheimatet, die übrigen sieben Prozent in den vormals österreichischen Gebieten, hier überwiegend in Galizien. Ihre Zahl sank von etwa zwei Millionen im Jahre 1919 auf ca. achthunderttausend Personen Mitte der 1920er Jahre und blieb auf diesem Niveau bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.

Die soziale und berufliche Struktur der deutschen Minderheit war in den einzelnen polnischen Regionen sehr unterschiedlich. Generell spiegelte sie die historische Spezifik der Entwicklung dieser Gebiete in der Teilungszeit wider. Eine nicht gerade unbedeutende Mehrheit (immerhin rund 73 Prozent) betrieb Landwirtschaft, die im vormaligen preußischen Teilungsgebiet technisch und ökonomisch besser entwickelt war. In den Wojewodschaften Schlesien, Lodz und Warschau, die über die beste industrielle Infrastruktur verfügten, lebten deutsche Fabrikanten, Ingenieure, Handwerker und Arbeiter. Es handelte sich dabei mehrheitlich um seit Generationen ansässige, häufig schon weitgehend polonisierte Familien, die überwiegend in der Textil- und Bekleidungsindustrie, der Metallverarbeitung und der Holz- und Lebensmittelindustrie beschäftigt waren. Die Akademiker und Freiberufler dominierten in den größeren Städten und den Hauptstädten der westlichen Wojewodschaften. Unter den im Osten des Landes ansässigen Deutschen fand sich so gut wie keines dieser sozialen Milieus.

Die Politik gegenüber den nationalen Minderheiten gehörte zu den schwierigsten Problemen, die der junge polnische Staat zu bewältigen hatte. Der polnische Nationalismus – defensiv in der Teilungszeit, ausgerichtet auf den Fortbestand der polnischen Nation, wurde jetzt aggressiv und verlangte die Assimilation der Minderheiten. Im Rückgriff auf die preußische Nationalitätenpolitik, die sogenannte Ostmarkenpolitik in den östlichen Provinzen des Hohenzollernreiches, übernahmen die polnischen Behörden spiegelbildlich deren Instrumentarium und setzten es jetzt gegen die Deutschen ein, und zwar nicht beschränkt auf diese Gebiete. Das repressive Vorgehen zeitigte ungeahnte, von ihren Gestaltern nicht beabsichtigte Folgen, nämlich die innere Konsolidierung der sehr differenzierten deutschen Bevölkerung, die sich allmählich in den Kategorien einer Schicksalsgemeinschaft wahrzunehmen begann. Dieser Prozess erfasste jetzt sogar die Deutschen aus Zentral- und Ostpolen, die dort seit Generationen ansässig waren und Polen bereits für das eigene ideologische Vaterland hielten. An Polen und den Polen rächte sich diese Politik während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg, der die gemeinsamen Beziehungen auf den Status von deutschem „Herrenvolk“ und polnischen „Untermenschen“ reduzierte, womit sie an ihrem absoluten Tiefpunkt angelangten. Bei Kriegsende war die vorherrschende Meinung durch die Propaganda der im Untergrund agierenden Heimatarmee geprägt, in der die Deutschen als Inbegriff des Bösen dargestellt wurden: „Es gibt keine guten Deutschen. Es gibt keine ehrlichen Deutschen. Sie sind alle Räuber. Die einen sind Räuber und offenkundige Mörder. Die anderen sind die, die die politischen Räuber unterstützten, tolerierten und ihnen gehorchten. Jeder Deutsche ist ein Feind. Jeden einzelnen von ihnen muss der strenge Arm des polnischen Gesetzes erreichen“, so das offizielle Organ der Heimatarmee Biuletyn Informacyjny im Juli 1944 (Szarota 1972).

Die Vernichtungspolitik, die das Dritte Reich gegen Polen betrieb, und ihre breite Unterstützung durch die polnischen Deutschen aktualisierten aufs Neue – und für lange Zeit – den alten Ausspruch Potockis vom Deutschen, der dem Polen niemals Bruder sein könne. Die Nachkriegsgeschichte der Deutschen in Polen, ihre Zwangsaussiedlung aus den vormaligen preußischen Ostprovinzen und nunmehrigen West- und Nordgebieten Polens wie aus dem Landesinneren (→ Vertreibung) waren eine Konsequenz der vorausgegangenen sechs Jahre deutscher Okkupation des Landes. Es ist dies ein kausaler Zusammenhang von Ursache und Folgen, den man nach dem Krieg in Deutschland möglichst zu verdrängen suchte und der erst über siebzig Jahre nach Kriegsende dort 2017–2020 zum Gegenstand einer öffentlichen und schließlich parlamentarischen Debatte zugunsten eines „Polendenkmals“ für die polnischen Opfer der deutschen Besatzungspolitik 1939–1945 wurde wohlgemerkt, nicht ohne, dass auch diesmal „Haltungen von [deutscher] Gleichgültigkeit, Unkenntnis, Desinteresse, ja von schlichter Ignoranz hervortraten“ (Bingen 2020, S. 35).

Die Aussicht auf den ersten national homogenen Staat in der polnischen Geschichte bildete das Fundament des Arrangements der schwer geprüften Nation und ihrer katholischen Kirche mit der von der Sowjetunion oktroyierten Macht. Der Preis dafür war hoch, denn unabhängig von der moralischen wie politischen Dimension der Vertreibungen zahlten ihn die Polen mit Desorientierung infolge der Selbstorganisation der im Lande trotz sukzessiver Ausreisewellen doch verbliebenen und sich an der Wende der 1980er zu den 1990er Jahren konsolidierenden → deutschen Minderheit

Die historische Wende der Jahre 1989/90, die Polens gesellschaftspolitisches System umwälzte, bedeutete auch eine völlige Veränderung der Lage der polnischen Deutschen. Das Thema wurde nicht länger tabuisiert, was der aus der Opposition kommende erste Ministerpräsident der Dritten Republik Tadeusz Mazowiecki in seiner Regierungserklärung klarstellte: „Wir möchten, dass sie [die Angehörigen der Minderheit] sich hier zu Hause fühlen, ihre Sprache pflegen und mit ihrer Kultur unsere Gemeinschaft bereichern.“ Die Dritte Republik passte ihre Gesetzgebung den internationalen Standards zum Schutz nationaler Minderheiten an und räumte der deutschen Minorität Möglichkeiten ein, ihre Sprache und Kultur zu pflegen, wie sie es seit der Wiedergründung des polnischen Staates 1918 nicht gekannt hatte. Ihr Rechtsstatus wurde im → Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit  über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Republik Polen und der Bundesrepublik Deutschland 1991 festgeschrieben. Diese Rechte wurden auch in der polnischen Gesetzgebung garantiert und erlangten mit Artikel 35 der Verfassung vom 2. April 1997, der die Rechtslage der nationalen Minderheiten regelt, konstitutionellen Rang. Die deutsche Minderheit vereinigt heute etwa 50.000 Mitglieder in ihren Organisationen; ihr Gesamtumfang wird auf ca. 150.000 Personen in ganz Polen geschätzt, wovon die meisten im Oppelner Land leben. Sie macht von ihren Rechten Gebrauch und beteiligt sich an den Wahlen zu Parlament und Lokalverwaltungen. Die endgültige Anerkennung der polnischen Westgrenze (→ Grenze) durch das vereinigte Deutschland nahm den vom deutschen Bund der Vertriebenen gesteuerten radikalen Minderheitenfunktionären den politischen Wind aus den Segeln. Damit und mit der erwähnten Regelung des Rechtsstatus der Minderheit begann in diesem Milieu die Abkehr von der internationalen Politik und den nationalistischen Kontroversen zugunsten lokaler, kultureller und sozioökonomischer Probleme, die mit den Polen gemeinsam angegangen werden.

In ihren tausend Jahren durchlief die Geschichte der Deutschen in Polen viele Höhen und Tiefen. Es gab darin Nähe und Treue ebenso wie Verrat. Der Kreis scheint sich zu schließen. Seit den 1990er Jahren pendeln sich die deutsch-polnischen Beziehungen wieder dort ein, wo sie zur Zeit der Ottonen an der vorletzten Jahrtausendwende schon einmal standen. Oder wie es der hier schon zitierte Tadeusz Mazowiecki am historischen Datum des 9. November 1989 in Warschau in einem Toast auf Helmut Kohl ausdrückte: 

Die Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen ist durch eine tausendjährige Metrik legitimiert. Darin gab es Konflikte und bewaffnete Auseinandersetzungen, die für uns Kampf um Selbsterhalt und nationale Existenz bedeuteten. Es gab aber auch lange Perioden friedensvollen Zusammenlebens, gutnachbarschaftlicher Zusammenarbeit, gemeinsamer Arbeit an den zivilisatorischen Leistungen unseres Kontinents. Wenn davon so wenig die Rede ist, so deshalb, weil die jüngere Geschichte auf diese besseren Abschnitte der deutsch-polnischen Vergangenheit, auf die ich hier zurückweise, ihren Schatten legte. Angefangen mit der Tragödie des Untergangs des polnischen Staates und seinen Teilungen im 18. Jahrhundert, bis zur Tragödie des Zweiten Weltkrieges. Gewalt und Unterdrückung erreichten ihren Höhepunkt. Polen wurde zum ersten Opfer der militärischen Aggression Deutschlands, deren fünfzigsten Jahrestag wir dieses Jahr begangen haben; es erlag einer abermaligen Teilung und erlitt ungeheure materielle und menschliche Verluste. Doch die Größe menschlichen Leids lässt sich nicht in Statistiken erfassen. Und auch die deutsche Nation hatte schließlich ihren Anteil an der Katastrophe und den Leiden. Es lässt sich nicht alles im historischen Gedächtnis verwischen, es bleibe uns dort als Warnung. Es ist zugleich aber unsere Absicht und Aufgabe – und ich glaube, dass es eine gemeinsame ist –, endgültig und unwiderruflich über diesen Schatten zu springen (Zybura 2019, S. 137).

Denn die Zukunft verlangt von uns, Deutschen wie Polen, Verantwortung – Verantwortung für das besondere Gewicht unseres Zusammenlebens und unserer Nachbarschaft. Und Verantwortung kann nur im Klima des gegenseitigen Vertrauens gedeihen, das wiederum Verantwortung verlangt.

 

Literatur:

Bingen, Dieter: Denk mal an Polen. Eine deutsche Debatte, Berlin 2020.

Bismarck, Otto von: Originalbriefe Bismarcks an Seine Gemahlin, Seine Schwester und Andere, Bielefeld-Leipzig 1887

Broszat, Martin: Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, Frankfurt am Main 1972.

Chrzanowski, Ignacy: Historia literatury niepodległej Polski (965–1795), Warszawa 1917.

Klimowicz, Mieczyslaw: Deutsch-polnische literarische Grenzgebiete im 18. Jahrhundert. Probleme der Teilhabe an beiden Kulturen, Berlin 2004.

Mickiewicz, Adam: Bücher des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft, Paris 1833.

Osmańczyk, Edmund: Sprawy Polaków Katowice 1946.

Szarota, Tomasz : Niemcy w oczach Polaków 1939–1945, in: Odra (1972), 10.

Zybura, Marek: Im gemeinsamen Haus. Zur Geschichte der Deutschen in Polen, Berlin 2019.

Zöckler, Theodor: Das Deutschtum in Galizien, Dresden 1917.

 

 

Zybura, Marek, Prof. Dr. habil., verfasste den Beitrag „Deutsche in Polen – Einbildungen und Tatsachen über eine Minderheit“. Er ist Professor an der Universität Wrocław (Willy Brandt Zentrum) und arbeitet in den Bereichen Interkulturelle Kommunikation, Deutsche Literaturwissenschaft und Deutsche Kulturgeschichte.

 

 

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