Wojciech Browarny
Literarische Bilder Schlesiens 1945–2012
Die Traditionen und das Paradigma
Die populärsten Darstellungen Schlesiens übernahm die polnische Literatur nach 1945 aus der Tradition der Teilungs- und Zwischenkriegszeit. Es handelte sich um Sichtweisen aus Lyrik und Epik historischen Inhalts sowie um Zivilisationsmythen, wie sie für die Literatur des Positivismus und der Moderne typisch sind. Erstere entstammten noch dem romantischen Paradigma (→ Romantik) der polnischen Kultur, das der historischen Narration die Rolle eines Leitdiskurses über die kollektive Identität beimaß, der den geopolitischen Bestrebungen der peripheren, nicht souveränen und im 19. Jh. eines eigenen Staates entbehrenden Nation die historische Rechtfertigung verlieh.
Als nach dem Ersten Weltkrieg, nach Grenzkonflikten, oberschlesischen Aufständen und der Volksabstimmung das Industriegebiet Oberschlesiens (das die Deutschen Ostoberschlesien nannten) sowie andere Gebiete im Westen und Norden fortan in den Grenzen des neu erstandenen Polens lagen, diente zur symbolischen Polonisierung dieser Gebiete und ihrer Vergangenheit vor allem das „piastische Narrativ“, das sie zu → wiedergewonnenen Gebieten (Jürgen Joachimsthaler meint: „Solch Geschichts- und Kontinuitätsbedürfnis war im Prinzip bereits in der Ideologie der ‚wiedergewonnenen Gebiete‘ angelegt und ist wohl zutiefst in der historiologisch angelegten Konstruktion einer polnischen Nation zur Zeit der polnischen Teilungen begründet – das ‚Eigene‘ ist das historisch Gerechtfertigte.“ Joachimsthaler 2004, S. 124).Polens machte. Auf der Grundlage dieser Metageschichte ließ sich Polens feierliche Vermählung mit der Ostsee 1920 offiziell als „Wiedergewinn des polnischen Meeres“ bezeichnen, ebenso das 1938 von polnischen Truppen besetzte Olsagebiet als „wiedergewonnenes Gebiet“. Zu einer Wiederholung im großen Maßstab kam es nach 1945, als fast ganz Schlesien sowie weite Teile Ostpreußens und Pommerns als zum „Mutterland“ zurückkehrende Gebiete dem polnischen Staat angeschlossen wurden.
Mit dem piastischen Narrativ gingen seit dem späten 19. Jh. ein ethnokultureller Nationenbegriff und ein Projekt des zivilisatorischen Fortschritts einher, auf denen die moderne Vision des Nationalstaats gründete, deren Verwirklichung dann mit der Unabhängigkeit einsetzte und sich über die folgenden Jahrzehnte hinzog. Literatur und Publizistik vertraten – wie auch die nationaldemokratische und später kommunistische Propaganda – das Bild eines urpolnischen Schlesiens. Hauptargumente für dessen Polnischsein waren die ethnische und religiöse Identität der Alteingesessenen und die piastische Vergangenheit der Region – die beide ideologisch mystifiziert wurden.
Um das Jahr 1900 verbreitete die positivistische Prosa, u. a. die Novellen und Romane von Aleksander Świętochowski und Artur Gruszecki, das Bild des oberschlesischen Arbeiters, der sozial dem polnischen Proletariat nahestand, jedoch wegen der Unterschiede im Brauchtum und der anderen Staatszugehörigkeit (politischen Identifizierung) als „fremd“ wahrgenommen wurde. In dieser stereotypen Darstellung verband sich oftmals Anerkennung für die berufliche Solidität der schlesischen Volksgruppe mit der Überzeugung von ihrer kulturellen Minderwertigkeit („ungehobelter Kerl“) und Fremdheit „Preußenpack“ (Notkowski 1999). Mithin rechtfertigte diese Darstellung auch die Notwendigkeit, diese Volksgruppe (wieder) zu polonisieren.
Schon in der Zeit zwischen den Weltkriegen galten die Westgebiete als Versprechen für den gesellschaftlichen und industriellen Wandel des Landes, das im Industrie-Schmelztiegel Schlesiens zu einer mitteleuropäischen Militär- und Wirtschaftsmacht umgeschmolzen werden sollte. Gleichzeitig wurden diese Gebiete beinahe als abhängiges Kolonialterritorium betrachtet, das Rohstoffe und Arbeitskräfte lieferte, gezielt polonisiert und zunehmend seiner tatsächlichen kulturellen Andersartigkeit beraubt wurde. Trotz ihrer formellen Autonomie wurde die Woiwodschaft Schlesien mit dem Erstarken der Sanacja-Diktatur politisch und ökonomisch der Zentralmacht unterstellt. Sowohl umgangssprachlich als auch im öffentlichen Diskurs stand die Gegend um Kattowitz (Katowice) – der am Rand gelegene, aber aus dem damaligen polnischen Blickwinkel wichtigste Teil Schlesiens – für die gesamte weitläufige Region.
Die Figur des Pars pro Toto in Bezug auf Schlesien verfestigte sich in der polnischen Geopolitik nach 1945, da die Verwaltungsgliederung Volkspolens in den ersten Jahren die Vorkriegsnamen beibehielt, aber auch weil die Darstellung der Region, abgesehen von ihrem besonders vaterländischen östlichen Teil, in der polnischen Kultur abwich von der lokalen Überlieferung. Die neuen EinwohnerInnen der zentralen und westlichen Teile Schlesiens fühlten sich mit dem Landstrich zumeist nicht verbunden und identifizierten sich eher mit dem Vaterland im ideologischen und gesamtnationalen Sinne. Sie nahmen sich selbst nicht als regionale Gemeinschaft wahr, sondern erkannten von sich aus oder infolge politischer Überzeugungsarbeit die polnische Nationalidentität als einzige an, während sie das Schlesiertum als Relikt volkstümlicher Kultur oder Ergebnis der Germanisierung einer ursprünglich slawischen Ethnie ansahen.
Die kommunistischen Machthaber, die die territoriale Gestalt des Landes nach Jalta legitimieren und zur Besiedlung der „wiedergewonnenen Gebiete“ ermuntern wollten, manipulierten deren öffentliches Bild so, dass die kulturelle Eigenheit verwischt und gleichzeitig die Gefahr deutscher Ansprüche auf die Gebiete an der Oder und der Ostsee herausgestellt wurde. Zugleich zogen sie zur Überprüfung der Identität der Alteingesessenen in erster Linie ethnische und religiöse Kriterien heran (polnischsprachig, katholisch), was zur Entwurzelung der protestantischen Traditionen führte, die für das gesamte Einzugsgebiet der Oder und Preußen zentral gewesen waren (Als wissenschaftlicher Berater des Ministeriums der Wiedergewonnenen Gebiete sagte Władysław J. Grabski: „Das Polentum der wiedergewonnenen Gebiete ist unauflöslich an den Katholizismus geknüpft.“ Zit. nach Strauchold 2001, S. 78f. In derselben Weise sahen Zdzisław Hierowski und Zbyszko Bednorz, die Verfasser des „Programms kultureller Herrschaftsübernahme“ über die Westgebiete, Schlesiens „geistige Polonisierung“, „Einpfropfen des Katholizismus“ Siehe Zybura 1999, S. 16.). Das Aufspüren und Aneignen dieser verwischten Spuren fremder Vergangenheit sollte sich mit der Zeit als eines der wichtigsten Themen der polnischen Literatur in Schlesien und anderen vormals deutschen Gebieten erweisen (Żytyniec 2005). Doch in den ersten Nachkriegsjahrzehnten herrschte in ihr ein Bild der Region als Aufgabe für die Neusiedler oder als Kampfplatz des Polentums (Slawentums) mit dem Deutschtum sowie, weitaus seltener, als historische „Brücke“ zwischen Polen und Westeuropa vor.
Als maßgeblich für den ideologischen Wandel in der polnischen Nachkriegsliteratur darf das Bild des/der Deutschen gelten. Sowohl im populären Piastenroman als auch in der Prosa, die Themen wie Besatzung, Aufstand, Produktion und Siedlungswesen behandelte, überwog in den 1940er Jahren das aus der Teilungszeit herkommende Bild des unmenschlichen deutschen Unterdrückers und zugleich nichtswürdigen Ganoven (→ Kreuzritter). Hinzu gesellten sich zu Beginn des nächsten Jahrzehnts (nach der Gründung der DDR und dem Görlitzer Abkommen) die nicht weniger ideologischen Darstellungen des „ordentlichen Deutschen“ und der „Friedensbrücke“ über die Oder als Sinnbilder für die Partnerschaft der sozialistischen Nationen unter dem Schlagwort des Internationalismus. Alsbald erschienen in Romanen über Schlesien und Breslau, etwa Mądre zioła (Kluge Kräuter) von Wojciech Żukrowski (1951), beide Heldentypen. Um in den Deutschen ganz einfach Menschen zu erkennen, musste man mit ihnen am selben Ort wohnen, wie dies bei vielen EinwohnerInnen der „wiedergewonnenen Gebiete“ der Fall war, die sich allerdings erst nach Jahren – wie die Hauptfigur in Najtrudniejszy język świata (Die schwerste Sprache der Welt) von Henryk Worcell – mit dem geistigen und moralischen Sinn dieser Erfahrung auseinandersetzten. Der antagonistischen Propaganda der Regierung Gomułka zum Trotz, kam nach 1956 sogar Empathie für die vertriebenen Deutschen auf, meistens vonseiten der polnischen Repatriierten, die, wie die Gleiwitzer Neusiedlerfiguren in Aleksander Baumgardtens Ulica Czterech Wiatrów (Straße der vier Winde), ebenfalls die Tragödie des Heimatverlustes oder der Zwangsmigration erlebt hatten („Wenn einer selbst die Heimatlosigkeit kennenlernte, hat er auch Verständnis für fremdes Elend“), (Im Original: „człowiek sam zaznał tułaczki, to i zrozumienie ma dla cudzej bidy“, Baumgardten 1967, S. 304). Heimisch geworden ist dieses Motiv in der Literatur der Westgebiete erst in den 1990er Jahren, nach dem Untergang des Kommunismus, doch in der Untergrundliteratur kam es schon gegen Ende des vorhergehenden Jahrzehnts vor, beispielsweise in den Erzählungen von Mirosław Jasiński und Mirosław Spychalski in dem Band Opowieść historyczna (Historische Erzählung).
Das „Wunder an der Oder“. Schlesien als „Gelobtes Land“
Schlesien als die urbanste und am meisten industrialisierte Region der „wiedergewonnenen Gebiete“ fand in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre besondere Aufmerksamkeit bei SchriftstellerInnen, JournalistInnen, LiteraturkritikerInnen und OrganisatorInnen des Kulturlebens. Es wurde „Wilder Westen“ oder „Gelobtes Land“ genannt. „Schlesien war als Land ein Faszinosum. Beinahe – wie manchen Aussagen zu entnehmen ist – eine Märchenprovinz, jedenfalls eine große Verheißung, ein Garant dafür, dass Polen einen gewissen Reichtum und damit das Wohlergehen seiner Bevölkerung erreichen konnte“ (Strauchold 2003, S. 128f). Diese Vorstellung entsprang zum Teil dem Vorkriegsbild der Woiwodschaft Schlesien als industrielles Herz des künftigen modernen Polens, das ein sozioökonomisches „Wunder an der Oder“ Eugeniusz Kwiatkowski (Diese Bezeichnung wird Eugeniusz Kwiatkowski von Witold Nawrocki zugeschrieben. Siehe Nawrocki 1969, S. 86) versprach, vor allem aber der Propaganda der kommunistischen Machthaber nach 1945, die mit einer Politik des Faktenschaffens versuchten, die neuen Staatsgebiete im Norden und Osten rasch zu bevölkern und zu erschließen. Einer der bedeutendsten Publizisten, der sich dafür einsetzte, war Edmund Osmańczyk, ein gebürtiger Niederschlesier. In den Spalten der Wochenzeitung Odrodzenie (Wiedergeburt), die besonders bei der linksliberalen Bildungsschicht Gehör fand, versprach er:
Es ist vielleicht heute ein Schlachtfeld. Aber unser. Wir können hier Wunder wirken. Jeder, der einen klaren Kopf und starke Hände hat, kann hier erreichen, was ihm gebührt. Weißt Du, Bruder, was Dir gebührt? Ich glaube kaum. Denn was einem Menschen gebührt, erkennt man nur dort, wo es Arbeit über Gebühr gibt. Solch ein Ort ist das polnische Land an Oder und Neiße ( Edmund Osmańczyk, Na pobojowisku, in: Odrodzenie, 1945 Nr. 20, S. 1).
Im Schrifttum der ersten Nachkriegsjahre ist festzustellen, dass die Fragen der endgültigen Zugehörigkeit Schlesiens zum „Mutterland“, seiner Polonisierung sowie der kollektiven Arbeit an der Beseitigung der Kriegsschäden und der Organisation des Lebens der NeusiedlerInnen gleichzeitig erscheinen und ein festes Ideologem bilden. Ein wesentlicher Bestandteil war dabei das Gefühl einer Zäsur im Leben der Nation, deren Geschichte diesmal – wie es im Titel einer dezidiert propagandistischen Anthologie heißt – nach Westen ging (Nawrocki/Wasilewski 1970). Mieczysław Wionczek bezeichnet in einer Reportage aus Liegnitz (Legnica) den notwendigen Wiederaufbau der Westgebiete als ebenso dringend wie den Wiederaufbau der Hauptstadt, denn: „Dort in Warschau ist Polen, während es hier in Schlesien sein soll“; und er betont: „Der Einsatz ist enorm, vielleicht einer der größten in unserer Geschichte“ (Mieczysław Wionczek, Problemy śląskie (Lignica, w czerwcu), in: Odrodzenie (1945), Nr. 32, S. 5). Das Geschichtsträchtige des Augenblicks strich auch Kazimierz Wyka in seinen Publikationen heraus; er rief die polnischen SchriftstellerInnen dazu auf, ein einmonatiges Praktikum in den „wiedergewonnenen Gebieten“ zu absolvieren, und lobte Wojciech Żukrowski und Tadeusz Różewicz für ihr literarisches Interesse an ihnen (Kazimierz Wyka, Na linii Śląska, in: Dziennik Literacki, Beil. zu „Dziennik Polski“, 22– 28.11.1947, Nr. 4, 38, S. 1.). Dabei hatte der Kritiker die Reportagereise im Sinn, die Różewicz 1947 auf einem Oderkahn von Cosel (Kędzierzyn-Koźle) bis Stettin (Szczecin) unternahm. In seiner Reportage Most płynie do Szczecina (Die Brücke fließt nach Stettin) beschreibt der junge Dichter und Journalist nicht nur die Eingesessenen, NeusiedlerInnen und das Stimmengewirr ihrer Kinder auf den Straßen Oppelns (Opole), sondern erschafft auch die Vorstellung einer künftigen kulturell homogenen Bevölkerungsgemeinschaft am Oderlauf. Eine der wichtigsten Quellen ihrer kollektiven Identität solle die nationale Literatur und Geschichte sein.
Nach 1956 wurde das idealistische oder zensierte Bild der Polonisierung der „wiedergewonnenen Gebiete“ zunehmend kompliziert, und auch wenn die geopolitischen Axiome der Volksrepublik Polen offiziell nicht infrage gestellt wurden, thematisierten die damaligen Romane und Skizzen u. a. Konflikte zwischen NeusiedlerInnen und Alteingesessenen, Missbrauch gegenüber Deutschen, die Verwüstung und Plünderung ihres materiellen Erbes nach dem Krieg. Die sechziger Jahre brachten auch eine Krise des My thos von der Moderne, eine Reflexion über die Industrialisierung und Urbanisierung des Landes, eine Suche nach Authentizität am Rande des gesellschaftlichen Lebens. Die oberschlesische Industriestadt (aber auch das niederschlesische Waldenburg/Wałbrzych), deren Bild in der polnischen Literatur bis dahin in der Konvention des zivilisatorischechnologischen Fortschritts gehalten war, wurde von nun an als unwirtliche „schwarze Stadt“ oder schlechtere Gegend des gemeinsamen Raumes dargestellt. Diese axiologische Verschiebung zeugt von einer Entmythologisierung oder auch der Bildung eines Antimythos der Region sowie von deren symbolischer Polonisierung und Eingliederung in die Kultur des ganzen Landes. Als offensichtlicher Bestandteil des polnischen Staates verlor Schlesien seine Stellung einer verheißungsvollen, ungewöhnlichen, immer noch rätselhaften und ungewissen Neuerwerbung im Grenzbereich, und im Zusammenhang mit dem aufkommenden postindustriellen und ökologischen Bewusstsein wurde es auch zum Sinnbild der negativen Folgen der Industrialisierung sowie des damit verbundenen sozialen und sittlichen Wandels.
Die moderne Nation im „Turm zu Babel“
Zwar fanden die SchriftstellerInnen für die Nachkriegsvision des „Wunders an der Oder“ einen populistischen Ausdruck in der Szenerie der Industrielandschaft beispielsweise begann Adam Włodek sein Gedicht Ze Śląska 1945 [Aus Schlesien 1945] mit den Worten „Schlote, große rauchumhüllte Spindeln“ (Adam Włodek, Ze Śląska 1945, in: Sygnały (Beil. zu „Trybuna Robotnicza“ 1947, Nr. 183, 854, 1947, Nr. 21 vom 6. Juli 1947, S. 5. ), doch „die Anlagen zum neuen und künftigen Typ des Polen“ in Schlesien (Kazimierz Wyka) waren entweder diffus oder ideologisch kontrovers. Letzteres betraf die Kulturschaffenden in Jelenia Góra (ehem. Hirschberg), die 1947 in der Ideenerklärung des Kongresses der Polnischen Schriftsteller im Sudetengebiet das literarische Projekt eines „Sudetenpolen“ verkündeten, das die Verankerung der polnischen Identität in den „wiedergewonnenen Gebieten“ bei gleichzeitiger Anknüpfung an die lokale Historie, Kultur und den Naturraum vorsah. Als dezidierter Gegner dieser Idee erwies sich der herausragende Kenner der oberschlesischen Literatur Zdzisław Hierowski, der in der Kattowitzer Wochenzeitung Odra den vermeintlichen Separatismus der SudetenschriftstellerInnen bekämpfte (Nowosielska-Sobel 2007). Da Schlesien und seine Bevölkerung nach 1945 zu einem integralen Bestandteil der einheitlichen Nation werden sollten, mussten die Eingesessenen sich der Polonisierung („Verifikation“ genannt) unterziehen oder emigrieren und die polnischen NeusiedlerInnen aus verschiedenen Gegenden des Landes und Europas zu einer einheitlichen Gemeinschaft ohne regionale Unterschiede verschmelzen. Indes war die Region nach dem Krieg ein soziokultureller Tiegel, in dem das „Wunder“ des entstehenden Polentums – wie in Różewiczs bekanntem Gedicht Dzień w Gliwicach w roku 1945 [Ein Tag in Gleiwitz im Jahre 1945] (aus dem Band Uśmiechy [Lächeln]) – nicht den Stellenwert eines ideellen Prinzips besaß, sondern eine Dimension des gemeinen, noch durch keinerlei höhere Grundsätze eingehegten Lebens.
Eine authentische Beschreibung dieses Tiegels liefern Memoiren und Tagebücher, besonders solche, die in den vierziger Jahren geschrieben, aber Jahrzehnte später veröffentlicht wurden. Neben denjenigen bekannter AutorInnen wie Maria Dąbrowska, Anna Kowalska und Hugo Steinhaus zählen dazu die Aufzeichnungen von Joanna Konopińska, einer Geschichtsstudentin, die am 10. Juni 1945 in Breslau (Wrocław) eintraf. Auch wenn die Autorin von Tamten wrocławski rok (Jenes Breslauer Jahr) aus dem nahen Großpolen stammte, zeichnet sich in ihrem Tagebuch die schlesische Metropole durch die kulturelle Fremdheit der Stadtlandschaft und der deutschen Einwohnerschaft aus, was neben dem materiellen Verfall das Haupthindernis bei der Eingewöhnung darstellt. Noch im August des darauffolgenden Jahres nennt Konopińska ihren Aufenthalt in Breslau bitter „ein Leben unter Deutschen, Banditen und Ratten“ (Konopińska 1987, S. 47). Erstere verließen bald darauf größtenteils die Stadt, wurden vertrieben, doch die in Entstehung begriffene Breslauer Stadtbevölkerung ließ keineswegs ein Gefühl der Familiarität aufkommen. Das „schreckliche Menschengemisch“ war an jedem öffentlichen Ort zu sehen und zu hören, zum Beispiel in der Kirche, wo –wie die Autorin schreibt – der Pfarrer
mit weichem Wilnaer Akzent sprach, der deutsche Organist die Melodien mir unbekannter Weisen spielte, die Gläubigen Kirchenlieder sangen, jeder ein wenig anders. Meine Bank nachbarin zur Rechten dehnte die Worte nach Lemberger Art, hinter mir sprach ein Schlesier die Liedtexte mit harter, rauer Stimme (Konopińska 1987, S. 139).
Auch der bekannteste Breslauroman jener Jahre, Uliczka klasztorna (Klosterstraße) von Anna Kowalska, beginnt mit einem sprachlichen Missverständnis unter NachbarInnen, polnischen NeueinwohnerInnen Breslaus. In dieser sozialen Diversität sahen in den vierziger Jahren weder Reportage- noch RomanschriftstellerInnen, noch auch die VerfasserInnen von unveröffentlichten Tagebüchern oder Notizen einen Vorzug, sondern stellten sich lieber vor, dass die provisorische „Einwohnerrepublik“ sich zukünftig zu einer kulturell einheitlichen Nation entwickeln würde. Nach ihrer Auffassung sollten die Gebiete an der Oder als Teil Polens eher die Ziele der nationaldemokratischen Vision von Staat und Nation erfüllen, auch wenn dem vorerst die wirklichen Gegebenheiten entgegenstanden. Der Konflikt zwischen Ideologie und Erfahrung lässt sich beispielsweise an Leszek Golińskis Roman Ulica siedmiu kół (Siebenrade-Ohle) von 1959 ablesen, in dem Breslau „als Turm zu Babel unserer Tage“ (Gemisch „aller Sprachen der Welt“) zu einer originären kulturellen Gemeinschaft werden könnte, stattdessen aber lediglich ein subjektiver Erfahrungswert des Individuums, dessen unvergessliches und isoliertes Erlebnis bleibt (Goliński 1959, S. 15).
Der Topos des sozialen Gemischs kommt in vielen Erzähltexten und Reportagen vor, deren Handlung in Schlesien spielt. Der größte „Turm zu Babel“ war selbstverständlich Breslau, doch lebten auch in anderen Städten und Ortschaften neben den Alteingesessenen und der zugewanderten polnischen Bevölkerung Deutsche, Tschechen, Ukrainer, Roma, Griechen und Juden, in den Industriezentren RückwandererInnen aus Frankreich, Belgien und Deutschland. Solch eine Darstellung der lokalen Gesellschaft findet sich in der Literatur von der Nachkriegsprosa Anna Kowalskas bis zu den zeitgenössischen Romanen Joanna Bators oder den Reportagen Jacek Antczaks und Filip Springers. Sogar in den sozrealistischen Produktionsromanen, etwa Ludzie z węgla (Menschen aus Kohle; 1950–1953) von Nina Rydzewska oder Pokład Joanny (Der Johannaflöz; 1950) von Gustaw Morcinek, wird die sprachlich-kulturelle Vielfalt Schlesiens, trotz der vorrangigen Thematik der kollektiven Arbeit und der Entstehungsgeschichte der Arbeiterbewegung, deutlich betont. Morcinek stellt dieses Phänomen auch in seinem Roman Victoria (1959) dar, in dem er nicht nur die Waldenburger Bergleute beschreibt, Menschen verschiedener ethnischer und regionaler Herkunft, sondern auch die jüngeren Nationalitätenkonflikte in Grenzgebieten wie Ostgalizien, dem Oppelner Land oder dem Olsagebiet. Gemäß der damaligen Erinnerungspolitik werden die Aufstände in Oberschlesien in Victoria in erster Linie als eindeutiger nationaler Befreiungskampf der polnischen Bevölkerung gegen die deutsche Vorherrschaft behandelt, während der Schriftsteller das Problem der Annexion des Olsagebietes dadurch abmildert, dass er eine gemeinsame Arbeit der Tschechen und Polen an der sozialistischen Wirklichkeit nahelegt. Das Bergwerk Victoria und der Ort Waldenburg sind in Morcineks Roman als „biblischer Turm zu Babel“ nicht frei von Konflikten, die sich vor dem Hintergrund der nationalen Zugehörigkeiten abspielen; doch ihr Ursprung liegt in der Geschichte: dem deutschen Nationalismus und der Minderheitenpolitik Polens zwischen den Weltkriegen (gegenüber Juden, Ukrainern). Das Thema des Bergbaumilieus behandeln auch die AutorInnen von Familiensagas über Oberschlesien und das Dombrowaer Kohlebecken (Jan Baranowicz, Jan Pierzchała, Maria Klimas-Błahutowa), die die verwickelte Geschichte der Region in die biografische Erzählung einbetten.
Zwischen „Bollwerk“ und „Brücke“
Auch wenn die Idee eines von den Anfängen des Piastenstaates bis zur Gegenwart andauernden deutsch-polnischen Konflikts und die Vorstellung der Westgebiete als slawisches Bollwerk bis in die Romantik zurückreichen, so fanden sie ihre vollendete literarische Gestaltung im polnischen historischen Roman zwischen dem ausgehenden 19. und der zweiten Hälfte des 20. Jhs. In Werken wie Pogrobek (Posthumus) von Józef Ignacy Kraszewski ist das slawisch-germanisch Grenzland im Mittelalter zugleich Schauplatz sowohl kriegerischer Auseinandersetzungen als auch des Verfalls der polnischen Elite und der Proletarisierung des Volkes – vor allem in Schlesien – infolge der deutschen Ostkolonisation, die in diesem Roman politische Grausamkeit und moralische Verderbtheit nach sich zieht (Ratajczak 2006). Wenn man von herausragenden Werken, beispielsweise historischen Romanen Jarosław Iwaszkiewiczs oder Teodor Parnickis, absieht, so hielt sich diese Sichtweise auf die Geschichte der Westgebiete bis in die 1950er und 1960er Jahre, u. a. in Karol Bunschs vielgelesenen Romanen Zdobycie Kołobrzegu (Die Eroberung Kolbergs) und Psie Pole (Hundsfeld). In ihnen besteht das ideologische Problem aus einer Kopplung des Bildes frühfeudaler Spannungen mit einer nationalen Staatsräson, derzufolge die Präsenz des polnischen Staates an Oder und Ostsee aufrechterhalten werden muss; der Schlüssel zur Erreichung dieses Zieles liegt in der Verwandlung der Stammesidentität der Slensanen (bei Bunsch bereits Schlesier), Dadosanen und anderer regionaler Gruppen in ein gesamtnationales Zugehörigkeitsgefühl. Das historische Recht Polens auf diese Gebiete gründet auf der Angestammtheit ihrer slawischen BewohnerInnen, die eine nicht nur politische (staatliche), sondern vor allem sprachlich-kulturelle Gemeinschaft bilden. In der damaligen historischen Prosa und Essayistik war dieses Axiom quasi unantastbar, wenngleich es schon in den sechziger Jahren einigen KritikerInnen als besonders schädlich für die Literatur regionalen Inhalts erschien, die in didaktische und historiosophische Vereinfachungen verfiel (Kubikowski 1965, S. 123f.).
Offiziell unberührt blieb dieses Axiom auch von dem Konzept Schlesiens als „Brücke“, die Polen mit Mittel- und Westeuropa verbindet, wie es in Tadeusz Mikulskis biografischen Essays Spotkanie wrocławskie (Breslauer Begegnung; 1950) und Zbigniew Zielonkas in der Oppelner Presse der siebziger Jahre veröffentlichten Skizzen Śląsk: ogniwo tradycji.Rozważania o historii i kulturze (Schlesien: Bindeglied der Tradition. Betrachtungen über Geschichte und Kultur) entwickelt wurde. Diese beiden Essayisten formten das Bild einer Vergangenheit der Region als kulturell-zivilisatorische „Passage“ („Tor“ oder „Weg“), als eines für polnische, tschechische und deutsche Einflüsse offenen Raumes, und ließen die Frage „Wer war hier zuerst?“ gewissermaßen in den Hintergrund treten. Ihnen ist es auch als Verdienst anzurechnen, dass das Wissen von der geografischen Weitläufigkeit Schlesiens und seinen „fließenden“ Grenzen, das in Widerspruch zu der populären, nach 1918/20 herausgebildeten Vorstellung stand, zunehmend Verbreitung fand. Eine hervorragende Forsetzung erfuhr dieses Schreiben in den neunziger Jahren durch die Essays von Henryk Waniek, Andrzej Zawada, Olga Torkarczuk oder Romuald Łuczyński, AutorInnen also, die Universalität und Vielfalt des lokalen Erbes betonten.
Die Geschichte Schlesiens als europäische Region, deren konstitutives Merkmal seit dem Mittelalter kulturelle Vielfalt und in der Neuzeit religiöser Dissidentismus war, wurde auch von Romanciers beschrieben. SchriftstellerInnen wie Władysław Jan Grabski und Jadwiga Żylińska rekonstruierten diese Universalität auf der Grundlage der christlichen Glaubensgemeinschaft, die der ethnischen Zugehörigkeit übergeordnet war. Wenn man bedenkt, dass eines der Hauptkriterien der nationalen Überprüfung der Alteingesessenen nach dem Krieg deren Bekenntnis war, was die Bevorzugung von KatholikInnen zulasten z. B. polnischsprachiger LutheranerInnen zur Folge hatte, dann zeugt das Persönliche dieser Prosa von einer moralischen und kulturellen Reflexion ihrer AutorInnen über die von der nationalistischen Metahistorie beherrschte Tradition der Westgebiete. Ein anschauliches Porträt der schlesischen (Teschener) LutheranerInnen in der Literatur hat Jerzy Pilch geschaffen, der, indem er die jüngste Geschichte dieser kulturell-religiösen Gemeinschaft skizziert, vor allem deren gegenwärtiges Brauchtum, ihre Menta lität und Sprache darstellt. Religiöse Konflikte und Probleme Schlesiens beschreiben auch Henryk Waniek (Sprawa Hermesa [Der Fall Hermes]), Andrzej Sapkowski (hussitische Trilogie), Małgorzata Lutowska (Powierzony klucz. Opowieść o niezwykłych losach protestantów na Dolnym Śląsku [Der anvertraute Schlüssel. Die Geschichte vom außergewöhnlichen Schick sal der Protestanten in Niederschlesien]) und Jakub Czarnik (Pan Samochodzik i … Biblia Lutra [Herr Miniauto und … die Lutherbibel]), wobei sie zeigen, dass dies sowohl im theologisch-philosophischen als auch im Fantasyroman, sowohl im Sittenals auch im Kriminal- bzw. Abenteuerroman möglich ist. Ein besonderer Vorzug dieser Texte liegt darin, dass sie die religiöse Konvention der polnischen Literatur um Themen und Stilrichtungen erweitern, die bei der metaphysischen Dichtung, dem katholischen Roman und der persönlichen Essayistik außen vor blieben.
Identität des Ortes
Das Ende der Volksrepublik im Jahre 1989 bedeutete keineswegs den Untergang Polens als unitarischer und zentralistischer Staat, machte jedoch nationale Minderheiten, ethnische Gruppen und provinzielle Milieus zu Subjekten. Mit dieser Systemtransformation ging eine Revision des kollektiven Gedächtnisses einher, das zuvor selektiv oder ideologisch verfälscht war. In den Werken der polnischen Literatur, deren AutorInnen Probleme der jüngsten Geschichte behandelten, wurden zu Hauptfiguren nun wieder Schlesier, Masuren und Kaschuben sowie in Polen lebende Deutsche und Tschechen, man könnte sagen: noch ein Mal „wiedergewonnene“ Menschen (Als „wiedergewonnene Menschen“ wurden in der Nachkriegspublizistik propagandistisch u. a. die Alteingesessenen bezeichnet, in Anlehnung an den Roman Archipel der wiedergewonnenen Menschen von Igor Newerly, 1950, dt. 1951). Diesmal jedoch vollzog sich ihr Schicksal weniger vor dem Hintergrund einer kollektiven Geschichtserzählung, als vielmehr dem der Autobiografie, der Familien- oder der Mikrogeschichte in Form der Lokalchronik, denn eben das Lokale – und die konkrete Ortsgebundenheitwar die Hauptprämisse ihrer Identität. Schlesien wurde in der Literatur „privatisiert“ und aufgeteilt in Jerzy Pilchs Teschener Land (Śląsk Cieszyński), Julian Kornhausers Gleiwitz (Gliwice), Hubert Klimko-Dobrzanieckis Langenbielau (Bielawa), Karol Maliszewskis Neurode (Nowa Ruda), Piotr Siemions Breslau (Wrocław), Wojciech Kuczoks Königshütte (Chorzów) oder Stefan Szymutkas Myslowitz (Mysłowice), die nicht nur den dargestellten Raum, sondern zugleich den topografischen Schlüssel zur Erzählung abgaben. Denn eine der Fragen dieser Literatur war Schlesiens „Provinzialität“, gleichbedeutend entweder mit der Verdrängung seiner BewohnerInnen an den Rand der nationalen – deutschen, tschechischen oder polnischen – Geschichte oder ihrer Vergegenständlichung sowie politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unerordnung unter das Zentrum.
Mit postkolonialistischem Instrumentarium ließe sich sagen, dass die AutorInnen von Skizzen und Reportagen wie Stefan Szymutkos Nagrobek ciotki Cili (Tante Cillis Grabstein; 2001), Małgorzata Szejnerts Der schwarze Garten (2007; dt. 2015), Kazimierz Kutz’ Piąta strona świata (Die fünfte Weltgegend; 2010) oder Filip Springers Kupferberg. Der verschwundene Ort (2011; dt. 2019) den subalterns eine Stimme gegeben haben, also ganz gewöhnlichen Zeugen des Schicksals einer Familie, der Nachbarn, einer Stadt und Region. Diese Stimme ist privat, umgangssprachlich, oft parteiisch und gespickt mit partikularen Anmaßungen, doch weil die Identität der BewohnerInnen Schlesiens und dessen Geschichte von den großen Narrativen der Moderne geschluckt wurden, haben sie wirklich zu eigen nur das, was als Erfahrenes, Praktisches, Lokales und Individuelles erzählt wird (hooks 2008, S. 109f). Diese Stimme, so schreibt Krzysztof Uniłowski, „will nicht“ Mythos noch Logos, „will nicht in Gefangenschaft des leeren, wenngleich so viele Versprechungen machenden Wortes geraten“ (Uniłowski 2001, S. 92).
Teil dieser Erzählung ist in Schlesien die deutsche und böhmische Vergangenheit der Region, die sich mit der polnischen Geschichte überschneidet. Die Literatur nach 1989 ist daher in hohem Grade der Versuch, einen symbolisch-kulturellen Raum zu erschaffen, der, ohne die verschiedenen Traditionen zu verwischen, alte und neue BewohnerInnen über die heutigen Trennlinien hinweg miteinander verbindet. „Mir war sehr daran gelegen“, schreibt Olga Tokarczuk, die Autorin von Taghaus, Nachthaus, über ihren Roman, „dass dieses Buch auch für andere verständlich ist, für die Nachbarn jenseits der tschechischen Grenze und für die Deutschen, die Nachbarn von vor dem Krieg“ (Tokarczuk 2012, S. 135f.). Dieser Raum beruht einerseits auf dem intellektuellen und zivilisatorischen Erbe Schlesiens, insbesondere seiner westlichen Hälfte, von dem eine Faszination für SchriftstellerInnen wie Olga Tokarczuk, Henryk Waniek, Andrzej Zawada, Joanna Bator, Karol Maliszewski und Marek Krajewski ausgeht, andererseits auf der Biografie oder der familiären Erinnerung. Die in ihren Texten erzeugten Metaphern der Identität (z. B. Zawadas „Bresław“, Siemions „Niskie Łąki“ [Hollandwiesen], Bators „Frankenstein“-Region und Tokarczuks „unendlich großes Grenzland“, und auf der anderen Seite Maliszewskis schlesisch-sudetische „gebrochene Sprache“) brechen mit dem „Angestammtsein“ und dem „Monolithischen“, das den nationalistischen Westgebietediskurs kennzeichnet, und betonen stattdessen Vielfalt sowie Veränderlichkeit der Identität von MirgantInnen und EinwohnerInnen im Grenzland, heben aber auch die Gemeinsamkeit der sie mitunter verbindenden historischen oder gesellschaftlichen Erfahrung hervor.
Schlesien und Schlesischsein als Rich Point
Schlesien erfuhr im 20. Jh. als Stück für Stück der Republik Polen einverleibtes Gebiet eine kulturelle Kolonisation, die u. a. zu einer instrumentalisierenden und selektiven Auslegung seiner Geschichte und seines kollektiven Gedächtnisses sowie einer Unterordnung seiner Sprache, Gebräuche und Glaubensbekenntnisse unter die gesamtnationalen Normen führte (Siehe z.B. Smolorz 2012). Die polnische Literatur verbreitete in dieser Zeit die Überzeugung von seiner Zugehörigkeit zu den urslawischen Landen und bestimmte zugleich, was im regionalen Selbstverständnis der Schlesier einheimisch („unser“) war, was fremd, vor allem germanisch, preußisch, deutsch. Nicht nur die vom westlichen Nachbarn ausgehende militärische Aggression, sondern sogar natürliche Wanderungsbewegungen und Kulturtransfer wurden als Bedrohung wahrgenommen, wodurch eine offizielle Akzeptanz des Bildes von Schlesien als mitteleuropäische „Brücke“ oder „Passage“ ausgeschlossen war. Viel gefährlicher als die kulturelle Vielfalt der polnischen Ostmarken, wo katholische Polen die (politisch und kulturell) vorherrschende Gruppe ausmachten, erschien aus dieser Sicht die ethnische und religiöse Diversität der Westgebiete, deren Bevölkerung – aufgrund der territorialen Expansion Deutschlands und seiner Nationalitätenpolitik – Proletarisierung und Verlust der nationalen Identität drohte. Die Ostmarken und das westliche Grenzland wurden mithin bis ins ausgehende 20. Jh. in der Literatur ungleich behandelt. Die Ostgebiete wurden im Sinne des landadelig-gebildeten Mythos oft als Arkadien republikanischer Traditionen und der Toleranz gegenüber Minderheiten idealisiert, während der Westen in der nicht weniger mythischen Sichtweise des „tausendjährigen Ringens“ (Zygmunt Wojciechowski) oder eines volkstümlich-bäuerlichen, von Preußen schikanierten Polentums dargestellt wurde. Begünstigt wurde dieses Ungleichgewicht dadurch, dass das Erbe der Ostmarken nach 1945 zum Kanon der Nationalkultur gehörte, während die aus polnischer Sicht maßgeblichen historischen Errungenschaften Schlesiens und anderer „wiedergewonnener Gebiete“ außerhalb des Kreises der Fachleute gänzlich unbekannt oder nur oberflächlich bekannt waren. Der kaum zu überschätzende zivilisatorische und wirtschaftliche Nutzen, den der polnische Staat und die Gesellschaft aus der Grenzverschiebung nach dem Krieg zogen, wurde nicht nur durch den tatsächlichen Verlust von Gebieten sowie staatlichem und privatem Besitz in den Ostmarken aufgehoben, sondern ebenso durch das Gefühl, das nationale Erbe sei enteignet worden.
Je nach politischer Konjunktur und Zensurbeschränkungen bekräftigten Literatur und Publizistik nach dem Zweiten Weltkrieg die polnische Präsenz an Oder und Ostsee oder potenzierten die Sehnsucht nach den durch die UdSSR vereinnahmten Gebieten, indem sie ein ambivalentes Bild der Landstriche an der Oder, in Pommern und Masuren als schlechteres „Polen aus russischer Hand“ (Wojciech Grabowski) zeichneten und eine Mythologie des Ersatzes schufen, beispielsweise durch die Darstellung von Gleiwitz oder Breslau als ein nach Westen verlegtes Lemberg. Dieser Ambivalenz entsprachen Probleme, die die neuen EinwohnerInnen Schlesiens mit der regionalen Identität hatten, weil sie trotz kultureller Unterschiede ihr ideologisches Polentum im Allgemeinen akzeptierten, sich jedoch über offizielle Erklärungen hinaus kaum mit dem Schlesiertum identifizierten. Sowohl umgangssprachlich als auch im öffentlichen Diskurs wurde der Schlesienbegriff nämlich auf den schlesisch-kleinpolnischen Grenzbereich verengt; zum konstitutiven Merkmal des Schlesischen wurden Arbeiter- und Aufständischentraditionen und -folklore, und zwar aufbereitet für die Massenkultur. Dieser Zustand wurde durch die Verwaltungsgliederung des Staates verfestigt. Das Schlesiertum erlangte in der Volksrepublik und danach nicht den Status einer regional-staatsbürgerlichen Identität, sondern blieb vor allem eine ethnische Kategorie; Schlesien als räumliche Vorstellung blieb unverrückbar mit der typischen Industrielandschaft assoziiert, die zwar symbolisch in „Heimat“ verwandelt wurde (z. B. in den Werken Gustaw Morcineks), jedoch gesamtnational nicht denselben Rang innehatte wie die Ostmarken, Krakau oder Warschau. U. a. deswegen bezeichneten LiegnitzerInnen oder BreslauerInnen in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. die alteingesessene Bevölkerung in und um Kattowitz, ja gar Sosnowiec, als SchlesierInnen und erachteten diese Bezeichnung weder als ihre eigene noch als adelnd. Eine Alternative zu diesem Identitätsmuster war das ideologisch verstandene Schlesiertum als intergraler Teil eines monolithischen Polens oder das Niederschlesiertum als „schwache“, uneinheitliche, einheimische und zugleich fremde Identität, aufbauend auf örtlichen kulturellen oder religiösen Traditionen, die offiziell erst nach 1989 ausgelebt werden durften.
Das kulturschöpferische Potenzial Schlesiens offenbarte sich in der letzten Dekade des 20. Jhs. sowie in den Jahrzehnten danach, als der multikulturelle und Grenzlandcharakter, der der Vergangenheit der Region innewohnt, sowie die gesellschaftliche Offenheit ihrer Einwohnerschaft anfingen, ihr kollektives Zugehörigkeitsgefühl zu formen, das heißt zu wesentlichen Bestandteilen des Bildes wurden, „das eine Gruppe von sich aufbaut, und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren“(Assmann 1992, S. 132). ( Bei diesem Wandel spielte die Literatur eine bedeutende Rolle, da SchriftstellerInnen wie Olga Tokarczuk, Andrzej Sapkowski, Marek Krajewski, Henryk Waniek, Szczepan Twardoch oder Filip Springer, indem sie die Beschränkungen der ethnozentrischen Geschichtsschreibung überwanden, den Kanon des lokalen kulturellen Gedächtnisses erweiterten; er umfasste nun u. a. die Weltsicht des ehemaligen Bürgertums und seinen Lebensstil, böhmische und deutsche religiöse Bewegungen, die Wirtschafts-, Verwaltungs- und Wissenschaftsbeziehungen zwischen Breslau und Prag oder Berlin, preußische Rechtsbegriffe und Staatsreformen, endlich auch das Alltagsleben der Provinz. Ein solch rekonstruiertes Schlesiertum kann erfolgreich mit den – noch immer vorhandenen – fremdenfeindlichen Darstellungen der Geschichte Schlesiens und der Identität seiner BewohnerInnen wetteifern, die sich in den Tagen zwischen den Weltkriegen und der Volksrepublik festgesetzt haben. Das Schaffen dieser AutorInnen begünstigt einen „Wiedergewinn“ der Region als inklusiver symbolischer Raum, der das gemeinsame Erbe mehrerer einheimischer Völker und Bekenntnisse darstellt, jedoch stets den Einflüssen anderer Gemeinschaften oder Kulturen offensteht, die sich über die mitteleuropäische „Brücke“ bewegen und länger in Schlesien bleiben.
Aus dem Polnischen von Hans Gregor Njemz
Literatur:
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Browarny, Wojciech, Dr. habil., verfasste den Beitrag „Literarische Bilder Schlesiens 1945–2012“. Als Professor ist er Leiter der Abteilung für polnische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts sowie der Arbeitsgruppe für Regionalforschung am Institut für Polnische Philologie an der Universität Wrocław. Er arbeitet in den Bereichen der zeitgenössischen polnischen Prosa, der literarischen Kultur in Schlesien nach 1945 und der anthropologischen Probleme der Gegenwart.