Dariusz Wojtaszyn
Deutsche Geschichte in polnischen Geschichtslehrbüchern
Nach dem demokratischen Umbruch in Polen 1989 waren sich die politischen Eliten und der überwiegende Teil der Gesellschaft darin einig, dass das Bildungssystem reformiert werden müsse. Allerdings war die Bildung kein zentrales Politikfeld, und die vorgenommenen Maßnahmen bewirkten keine grundlegenden Veränderungen. Erst 1999 erfolgte eine tiefgreifende Reform des Schulwesens, in deren Rahmen die seit 1968 bestehende zweistufige Struktur aus Grundschule (szkoła podstawowa, 8 Jahre; Stufe I) und drei Typen von weiterführenden Schulen – Gymnasium (liceum, 4 Jahre), Technikum (technikum, 5 Jahre) und Berufsschule (szkoła zawodowa, 3 Jahre; Stufe II) – innerhalb eines Übergangszeitraums von drei Jahren durch ein dreistufiges Modell abgelöst wurde: Grundschule (6 Jahre, Stufe I), Mittelschule (gimnazjum, 3 Jahre; Stufe II) sowie Gymnasium (3 Jahre), Technikum (4 Jahre) und Berufsschule (3 Jahre, Stufe III). Dieses System hatte fast zwanzig Jahre Bestand, bis die PiS-Regierung 2017 die Rückkehr zur Schulstruktur der Volksrepublik Polen und des ersten Nachwendejahrzehnts beschloss. Von 2019 an wurden sukzessive die Mittelschulen abgeschafft und das alte zweistufige System (mit acht Jahren Grundschule und daran anschließend 4 Jahren Gymnasium und 5 Jahren Technikum) wiedereingeführt. Aktuell kommen die ersten Abschlussjahrgänge der neuen Grundschulen in die weiterführenden Schulen. Neben diesen grundlegenden Systemreformen wurden die Rahmenlehrpläne umgestaltet und modifiziert. Die Auswirkungen auf den Lehrstoff sind in den Lehrbüchern für das Fach Geschichte besonders deutlich erkennbar.
Trotz der vielen Veränderungen im polnischen Schulwesen, der Einführung neuer didaktischer Instrumente (problemorientierte Lernsituationen, didaktische Spiele, Filme, Simulationen und Animationen unter Einbezug neuer Technologien) und der Recherchemöglichkeiten des Internets sind Schulbücher immer noch eine grundlegende Quelle von Wissen und ein wichtiges Medium zur Vermittlung eines Wissen- und Wertekanons. Über die Selektion und Interpretation historischer Ereignisse und Prozesse nach den Vorgaben der Rahmenlehrpläne schaffen sie ein bestimmtes Bild von der Vergangenheit. Die Gestaltung von Schulbüchern wird durch mannigfaltige didaktische, gesellschaftliche, kulturelle, politische und wirtschaftliche Faktoren beeinflusst. Aus didaktischer Sicht besteht die Aufgabe von Schulbüchern in der Vermittlung eines grundlegenden, dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprechenden und den kognitiven Möglichkeiten der SchülerInnen angemessenen Wissensbestands sowie in der Vermittlung und Festigung gesellschaftlicher Werte und Normen, die die SchülerInnen zur aktiven Partizipation an einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft befähigen. Im polnischen Schulsystem sollen Schulbücher die SchülerInnen zu bewussten Mitgliedern der Nationalgemeinschaft heranbilden, weshalb der Lehrstoff sich auf die Geschichte des polnischen Staates und der polnischen Nation konzentriert. Die Prüfung und Zulassung von Schulbüchern erfolgt über ein institutionalisiertes Verfahren.
Die endgültige Gestalt eines Schulbuchs hängt von den Schulbuchverlagen ab, die aus den Vorschlägen von Autorenteams oder einzelnen AutorInnen eine Vorauswahl treffen. Grundlegende Kriterien der Verlage sind wirtschaftliche Rentabilität und die Bedürfnisse des Schulbuchmarkts. Von Relevanz sind deshalb eine ansprechende Darbietung der Lerninhalte sowie eine attraktive grafische Gestaltung.
Die Geschichte Deutschlands und der deutsch-polnischen Beziehungen wird in Polen nach der Schulreform von 2019 auf zwei Lernstufen unterrichtet: in der Grundschule sowie in den weiterführenden Schulen – Gymnasium und Technikum. Bis dahin durchliefen die SchülerInnen seit der Schulreform von 1999 im Fach Geschichte drei Lernzyklen auf unterschiedlichen Niveaus: Grundschule (Grundwissen), Mittelschule (Aufbauwissen) und Gymnasium/Technikum (fortgeschrittenes Wissen). Das hielten zahlreiche Fachleute für den besten – wiewohl von Mängeln nicht freien – Weg der schulischen Vermittlung von Geschichtswissen. Im Jahr 2009 wurde ein neuer, ab September 2012 verbindlicher Rahmenlehrplan eingeführt, der die Art des Geschichtsunterrichts modifizierte (ausgenommen die Grundschule, wo in den Klassen 4–6 der Block „Geschichte und Gesellschaft“ unterrichtet wurde). Sein Ziel war die Integration und Vereinheitlichung des Geschichtsunterrichts in Mittelschule und weiterführenden Schulen im Rahmen eines einzigen Zyklus und eines einzigen Geschichtskurses, der in der Mittelschule begann und in Gymnasium und Technikum fortgeführt wurde. Im Einklang mit diesem Rahmenlehrplan endete der Geschichtsunterricht in der Mittelschule beim Ersten Weltkrieg, den SchülerInnen der weiterführenden Schulen wurde die Geschichte Polens und der Welt nach 1918 vermittelt. In der 1. Klasse des Technikums und des Gymnasiums wurde neueste Geschichte unterrichtet, in den Klassen 2 und 3 das Fach Geschichte und Gesellschaft, das sich ausschließlich mit ausgewählten Aspekten – wie etwa „Krieg und Militär“, „Das polnische Pantheon“, „Regierende und Regierte“ – befasste. In der Praxis endete somit der Geschichtsunterricht für die Mehrzahl der SchülerInnen mit der 1. Klasse der weiterführenden Schule (im Alter von 16 Jahren). GeschichtslehrerInnen kritisierten die Reform wegen der signifikanten Reduktion des Lehrstoffs und der Abwertung des Geschichtsunterrichts. Eine vom Verfasser des vorliegenden Textes durchgeführte Umfrage unter niederschlesischen LehrerInnen weiterführender Schulen sowie zahlreiche Gespräche mit PraktikerInnen (LehrerInnen, DidaktikerInnen und SchulbuchautorInnen) aus den Woiwodschaften Großpolen, Masowien und Schlesien stützten diese Auffassung.
Die Darstellung deutscher Themen in polnischen Schulbüchern wird durch einen deutsch-polnischen Dialog mitbestimmt, der bis in die 1930er Jahre zurückreicht. In der kurzen Phase der politischen Entspannung zwischen dem Dritten Reich und Polen gab es erstmals einen Austausch über das in Schulbüchern vermittelte Wissen vom jeweils anderen Land. Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen machten eine Fortsetzung des Dialogs unmöglich. Zu den ersten Versuchen einer Wiederaufnahme gehörten Enno Meyers 1956 veröffentlichte – und – in der Bundesrepublik Deutschland breit diskutierte Thesen zur Darstellung der deutsch-polnischen Beziehungen in Schulbüchern sowie die von Georg Eckert (dem Präsidenten der westdeutschen UNESCO-Kommission) initiierten Kontakte unter dem Dach der UNESCO. Ein Ergebnis dieser Initiativen war die Gründung der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission der Historiker und Geographen im Jahr 1972 (→ Zusammenarbeit polnischer und westdeutscher Historiker polnischer und westdeutscher Historiker). Diese Kommission war nicht nur für den Schulbuchdialog, sondern auch für die (west)deutsch-polnischen Beziehungen insgesamt von enormer Bedeutung – sie war eines der wenigen Gremien, in denen gesellschaftliche und politische Kontakte zwischen Polen und Westdeutschen möglich waren. Die Kommission versammelte die besten Kenner der historischen und geographischen Aspekte der deutsch-polnischen Beziehungen, Didaktiker, Lehrer, Vertreter von Bildungseinrichtungen und Verlagen sowie Schulbuchautoren. Im Rahmen von Präsidiumssitzungen und turnusmäßigen wissenschaftlichen Tagungen besprach man strittige Punkte in der Wahrnehmung der gemeinsamen Vergangenheit. Zu den wichtigsten und bedeutsamsten Ergebnissen der Kommissionsarbeit zählten die Empfehlungen für Schulbücher der Geschichte und Geographie in der Bundesrepublik Deutschland und in der Volksrepublik Polen von 1976. In der Bundesrepublik lösten sie eine breite gesellschaftliche Debatte über die deutsch-polnischen Beziehungen aus, in Polen fanden sie – aufgrund von Zensur und unzureichender Verbreitung – keinen öffentlichen Widerhall. Die Schulbuchkommission erarbeitete ein Modell des Umgangs mit schwierigen Fragen der bilateralen Beziehungen, bei dem man nicht ausschließlich nach Kompromisslösungen strebte, sondern sich darum bemühte, auch abweichende Standpunkte zu präsentieren.
Auf dem Wege des offiziellen Prüfverfahrens wurden nach 1999 59 Geschichtsbücher für die Grundschule (Lehrblock Geschichte und Gesellschaft, Klassen 4–6), 70 Geschichtsbücher für die Mittelschule sowie 66 Geschichtsbücher für Gymnasium und Technikum zugelassen (Angaben des polnischen Bildungsministeriums von 2012). Die eingeführten Titel bestanden meist aus drei Bänden, die jeweils für eine Klasse und die entsprechende Lernstufe bestimmt waren. In Übereinstimmung mit dem seit 2012 geltenden Rahmenlehrplan wurden 16 Geschichtsbücher für die Grundschule (Block Geschichte und Gesellschaft, Klassen 4–6), 29 Geschichtsbücher für die Mittelschule (Angaben des Bildungsministeriums vom November 2012) sowie 22 Geschichtsbücher für die weiterführenden Schulen (Angaben des Bildungsministeriums von September 2020) eingeführt. Auf Grundlage der Reform von 2018 wurden für die Grundschule (Fach „Geschichte“, Klassen 4–8) 28 Geschichtsbücher zugelassen, für die weiterführenden Schulen jedoch lediglich 14 Bücher für die Klassen 1–2 (Angaben des Bildungsministeriums von September 2020). Die Schulbücher für die übrigen Klassen (3–4) sind noch in Arbeit.
Die folgende Analyse umfasst sieben Schulbuchreihen, die auf Basis des Rahmenlehrplans von 1999 für den Unterricht in weiterführenden Schulen (Gymnasium/Technikum) zugelassen und bis 2012 eingesetzt wurden. Ihre Inhalte entsprechen dem Grundwissen, das alle SchülerInnen unabhängig von den für die Abiturprüfung gewählten Themen beherrschen mussten. Diese Bücher prägten – zusammen mit dem didaktischen Handeln der LehrerInnen – das Geschichtsbewusstsein einer Generation, die inzwischen ihre Ausbildung abgeschlossen hat und im Berufsleben steht. Die im Jahr 2009 beschlossene und 2012 in Kraft getretene Reform veränderte den Geschichtsunterricht in den polnischen Schulen, Umfang und Lehrinhalte wurden signifikant eingeschränkt. Der Hauptgrund für die Auswahl der analysierten Stichprobe von Schulbüchern war in erster Linie die von PraktikerInnen und FachdidaktikerInnen geäußerte Kritik an den Lehrplänen der Jahre 2012–2019, die sich gegen die Reduktion des vermittelten Wissens sowie gegen die Begrenzung der Zahl der vom erweiterten Geschichtsunterricht erfassten SchülerInnen richtete. Eine Untersuchung der neuen Geschichtsbücher, die momentan in die Schulen kommen, ist aufgrund des Mangels vollständiger Reihen vorerst nicht möglich – bisher wird lediglich die Zeit von der Antike bis zur frühen Neuzeit abgedeckt. Die weiteren Bände sind noch nicht erschienen.
Das Kriterium für die Zusammenstellung des Analysekorpus war die Position der Geschichtsbücher auf dem Schulbuchmarkt: Berücksichtigt wurden die beliebtesten und in polnischen Schulen am häufigsten eingesetzten Titel der größten und wichtigsten Schulbuchverlage. Die Geschichtsbücher für die Grundschule enthielten grundlegende Informationen über die wichtigsten für das deutsch-polnische Verhältnis relevanten Ereignisse zumal im Bereich der politischen Geschichte und der Sozialgeschichte (etwa über die mittelalterlichen Staatsgründungen, den Deutschen Orden, religiöse Konflikte, ökonomische Veränderungen, Preußen, die Teilungszeit, den Ersten und Zweiten Weltkrieg). Die Geschichtsbücher für die Mittelschule boten weitergehende Informationen zu den behandelten Themen, während die Bücher für die Oberschulen recht detailliert ausgewählte Aspekte der politischen Geschichte sowie der Sozial- und der Wirtschaftsgeschichte Deutschlands behandelten.
Themen mit Bezug zur deutschen Geschichte finden sich in den Schulbüchern für die weiterführenden Schulen zu allen historischen Epochen ab dem frühen Mittelalter, angefangen mit den Karolingischen Teilungen und damit verbunden der Entstehung eines deutschen Staatswesens. Der Abschnitt zum frühen Mittelalter behandelt darüber hinaus das Kaiserreich der Ottonen einschließlich der Frage, welche Rolle Polen in der universalistischen Vision Ottos III. spielte. In den Kapiteln zum Hochmittelalter wird die deutsche Thematik in einen breiteren europäischen Kontext eingeordnet, etwa im Zusammenhang mit dem Investiturstreit und der Rivalität zwischen Kaisertum und Papsttum. Besprochen werden außerdem die Struktur des Deutschen Reiches und die Rolle der Mark Brandenburg. In diesem Kontext steht die Frage nach den Verbindungen zu den polnischen Territorien, die mit der Besprechung des Deutschen Ordens (→ der Kreuzritter) und der deutschen Ostsiedlung fortgeführt wird.
Exemplarisch lohnt sich ein genauerer Blick auf die Darstellung der Geschichte des Deutschen Ordens, ein bis heute für die deutsch-polnischen Beziehungen und die gegenseitige Wahrnehmung relevantes Thema. In den vergangenen Jahren hat sich die Bewertung des Deutschordensstaates gewandelt. Es ist zweifellos ein Verdienst der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission, dass die früher dominierende dezidiert negative Sicht des Deutschen Ordens aufgegeben wurde. Die untersuchten Schulbücher thematisieren nicht mehr ausschließlich die Aggressivität und den Expansionsdrang des „deutschen Elements“. Sie zeigen auch auf, welchen Einfluss der Konflikt mit dem Orden auf die Herausbildung der europäischen Dimension in der polnischen Politik hatte. Fast alle analysierten Geschichtsbücher beleuchten die diplomatische Offensive mehrerer polnischer Könige (Władysław I. Ellenlang, Kasimir III., Władysław II. Jagiełło), die auf eine „Europäisierung“ des Streits mit dem Deutschen Orden und auf eine friedliche Lösung auf dem Gerichtswege oder durch die Vermittlung anderer europäischer Monarchen bzw. des Konzils von Konstanz abzielte. Vervollständigt wird der Abschnitt zum Mittelalter durch Einheiten zum Hundertjährigen Krieg sowie zur spätmittelalterlichen Struktur des Deutschen Reiches (Goldene Bulle, die Habsburger).
Die Geschichte Deutschlands in der Neuzeit wird in polnischen Schulbüchern im Zusammenhang mit sozialen und wirtschaftlichen Prozessen und Phänomenen behandelt, darunter der Dualismus in der ökonomischen Entwicklung Europas, die Entwicklung des Druckwesens und des sozialpolitischen Denkens. Das wichtigste deutsche Thema, dem meist ein eigenes Kapitel gewidmet wird, ist die Reformation mitsamt der durch sie hervorgerufenen religiösen und gesellschaftlichen Konflikte. Die Darstellung der deutsch-polnischen Kontakte in dieser Zeit fokussiert die Rolle der Ordensstaaten, die Beziehungen zu den Hohenzollern sowie Aspekte des Zusammenlebens von polnischen und deutschen Bevölkerungsgruppen auf dem Gebiet der Königlichen Republik [Rzeczpospolita]. Für das 18. Jh. werden vor allem die – für den polnischen Staat mit bedeutsamen Konsequenzen verbundenen – Entstehung und Expansion des Königreichs Preußen, der aufgeklärte Absolutismus, der Wandel der politischen Kräfteverhältnisse in Europa und die polnisch-sächsischen Beziehungen thematisiert.
Zentrale Fragen der deutschen Geschichte des 19. Jhs. werden im Kontext der Ausführungen zum Wiener Kongress und der Restitution der „alten Ordnung“ sowie des sogenannten Völkerfrühlings besprochen. Ein wichtiger Punkt sind auch die Reichsgründung und deren Folgen. Die Innenpolitik Preußens und später des Deutschen Kaiserreichs (etwa die Person und das Handeln Otto von Bismarcks) wird im Zusammenhang mit der Situation der polnischen Bevölkerung im preußischen Teilungsgebiet besprochen. Dabei dominieren zwei Perspektiven – einerseits wird die antipolnische Germanisierungspolitik der preußischen Behörden betont, andererseits die Gesetzlichkeit des Widerstands, die Modernität der mit geltendem preußischen Recht konformen polnischen Proteste. Gleichwohl determiniert das Nationalitätenproblem die Darstellung der bilateralen Beziehungen im 19. Jh. Es wird betont, dass die preußische Vereinheitlichungspolitik mit einem Germanisierungsdruck einherging, der jedoch für Polen insofern einen positiven Aspekt hatte, als er zum Erstarken des polnischen Nationalbewusstseins beitrug. Nahezu unberücksichtigt bleiben in den Schulbüchern auf Basisniveau die polnischen Beziehungen zu den – neben Preußen – anderen deutschen Staaten. Der grundlegende Erzählstrang konzentriert sich auf politische Fragen. Die Phase der deutsch-polnischen Solidarität nach dem Novemberaufstand wird in den Schulbüchern meist ausgelassen. Eine Ergänzung der deutschen Thematik des 19. und des beginnenden 20. Jhs. sind Ausführungen zum Aufkommen neuer geistiger Strömungen und Weltanschauungen (Romantik, Kommunismus) sowie zu sozioökonomischen Veränderungen, zur Entwicklung des Parlamentarismus und zur kolonialen Expansion.
Die Darstellung des Ersten Weltkriegs bietet eine breite Auseinandersetzung mit deutschen Themen. Den SchülerInnen werden die Vorgeschichte, der Verlauf und die Nachwirkungen des Krieges vermittelt (Versailler Frieden, politische Neuordnung Europas). Bei der Betrachtung der Kriegsursachen wird nicht ausschließlich auf das Agieren Deutschlands verwiesen, sondern man berücksichtigt auch den europäischen Kontext, etwa die Interessenskonflikte der Großmächte, die koloniale Rivalität sowie die erstarkende nationalistische Propaganda. Stark betont werden deutsch-polnische Themen dieser Zeit – der Posener Aufstand, die Volksabstimmungen und die Aufteilung Oberschlesiens sowie die Grenzziehung in Pommern, Ermland und Masuren. Die Problematik der europäischen Totalitarismen in den Zwischenkriegsjahrzehnten wird unter Berücksichtigung der nationalsozialistischen Politik in Deutschland und der Person Adolf Hitlers besprochen. Etwas weniger ausführlich ist die Darstellung der demokratischen Prozesse in der Weimarer Republik, die zumeist unter dem Aspekt der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Polen abgehandelt wird. Keine besondere Erwähnung findet die vorübergehende Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen nach der Machtübernahme Hitlers. Die Abschnitte zur internationalen Situation und zum Zusammenbruch der Versailler Ordnung werden von der Darstellung der Politik des Dritten Reichs dominiert. Ein breites Spektrum an deutschen Themen bieten die Kapitel zum Zweiten Weltkrieg, der unter den Aspekten des militärischen Geschehens, der Besatzung und der Auslöschung der Zivilbevölkerung betrachtet wird. Einen wichtigen Teil dieses Themenkomplexes bilden die Kriegsfolgen, die Konferenzen der Regierungschefs der Siegermächte sowie die Abrechnung mit dem Nationalsozialismus (die Kriegsverbrecherprozesse). Eine vergleichsweise neue Problematik, die sich in den untersuchten Schulbüchern dauerhaft etabliert hat, ist die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie wird im Kontext der Verschiebung der polnischen Grenzen und der damit verbundenen Massenumsiedlungen meist in den Kapiteln zu den Folgen des Krieges angesprochen. In semantischer Hinsicht ist hier eine Vereinheitlichung zu beobachten – dieser Prozess wird mit den Begriffen „Aussiedlung“, „Umsiedlung“ oder „Zwangsumsiedlung“ bezeichnet. In einigen Fällen fehlt eine eindeutige moralische Wertung, zugleich wird auf internationale Beschlüsse verwiesen (Potsdamer Konferenz), wiewohl gelegentlich vom „inhumanen“ und „brutalen“ Charakter der Aussiedlungen die Rede ist. Die deutsche Problematik bildet ein wichtiges Element in den Ausführungen zur Zeit des Kalten Kriegs. Die BRD wird unter dem Aspekt der Einigungsprozesse in Westeuropa und des europäischen „Wirtschaftswunders“ behandelt. Die Ausführungen zu den deutsch-polnischen Beziehungen konzentrieren sich auf die Beziehungen Polen zu den beiden deutschen Staaten – der BRD und der DDR. Ein eigenes Kapitel (oder häufiger Unterkapitel) bildet in den meisten Lehrwerken die deutsche Wiedervereinigung, die sowohl im internationalen als auch im polnischen Kontext betrachtet wird. In den meisten Titeln finden sich Abschnitte zu den Beziehungen Polens zum wiedervereinigten Deutschland. Diese Etappe des bilateralen Verhältnisses wird in fast allen Fällen sehr positiv bewertet, Deutschland wird als „wichtigster“ oder „strategischer“ Partner Polens präsentiert.
In den analysierten polnischen Schulbüchern für das Fach Geschichte spielen deutsche Themen eine wesentliche Rolle in der Vermittlung von allgemeinem Geschichtswissen, insbesondere wenn es darum geht, über die politische Geschichte hinaus wichtige kulturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Prozesse zu veranschaulichen. Die gegenseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten im deutsch-polnischen Verhältnis bilden ein überaus wichtiges und ausführlich behandeltes Element in der Darstellung der Geschichte Polens. Die einzigen Etappen der deutschen Geschichte, die keine breite Beachtung finden, sind das Deutsche Kaiserreich (Zweites Reich), die Weimarer Republik und die DDR. Die deutsch-polnischen Themen beschränken sich nicht auf Konfliktsituationen oder auf die Konstruktion einer Dichotomie zwischen Polen und Deutschland, die früher (zumal in der Zeit der Volksrepublik Polen) den Filter für die Wahrnehmung des bilateralen Verhältnisses bildete. Die untersuchten Schulbücher versuchen, aus diesem Schema auszubrechen. Sie behandeln Aspekte der Kooperation in Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft (unter anderem den Transfer ökonomischer Erfahrungen, neuer Technologien, juristischer Lösungen, Ideen und geistiger Strömungen). Auch die Form der Darstellung der besprochenen Fragestellungen gewährleistete, dass polnische SchülerInnen im Unterricht mit den meisten für Polen und Europa relevanten Ereignissen und Entwicklungen der deutschen Geschichte bekannt werden konnten. In einem Teil der Lehrwerke sorgte die Auswahl des didaktischen Instrumentariums dafür, dass ein Teil der Schulbücher die Vielfalt, Heterogenität und Komplexität historischer Prozesse vermittelte, wenngleich in vielen Fällen weiterhin mit Axiomen und in traditionellen Darbietungsweisen von Schulbuchwissen operiert wurde.
Zusätzlich zu den im Einklang mit traditionellen didaktischen Methoden präsentierten Inhalten erhielten GeschichtslehrerInnen die Möglichkeit, das Programm durch zusätzliche Themen zu ergänzen, etwa durch die Nutzung regionaler Bildungspfade. Diese waren potenziell besonders für Schulen in Nord- und Westpolen interessant, wo SchülerInnen in ihren Heimatorten täglich den materiellen Überresten der deutschen Kultur begegnen (Friedhöfe, protestantische Kirchen, sonstige erhaltene Gebäude usw.) und deshalb sensibilisiert sind für die ethnischen und konfessionellen Veränderungen der Bevölkerungsstruktur infolge des Zweiten Weltkriegs. Ein anderes häufig genutztes didaktisches Element im Geschichtsunterricht waren Besuche von Erinnerungsorten, etwa Museen auf dem Gelände ehemaliger NS-Konzentrationslager oder Jugendbegegnungsstätten.
Die schulische Bildung spielt eine wesentliche Rolle für die Konstruktion des Bildes vom Nachbarn im kollektiven Bewusstsein beider Gesellschaften. In Polen wurden auf diesem Gebiet nach dem demokratischen Umbruch von 1989 und insbesondere am Beginn des 21. Jhs. viele wichtige Schritte unternommen. Der Jugendaustausch zwischen polnischen und deutschen Schulen wurde ausgeweitet, es gab eine wachsende Zahl gemeinsamer deutsch-polnischer Bildungsprojekte. Als weiterer bedeutender Schritt zur qualitativen Verbesserung der Wissensvermittlung über die bilateralen Beziehungen war das in den Jahren 2009 –2020 unter Ägide der Regierungen beider Länder und der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission erarbeitete deutsch-polnische Geschichtsbuch gedacht. Die in zwei Sprachfassungen publizierte vierbändige Schulbuchreihe sollte in den weiterführenden Schulen beider Länder als inhaltlich identisches, polnischen und deutschen Lehrplänen entsprechendes reguläres Lehrwerk eingesetzt werden. Das Geschichtsbuch sollte nicht nur die Geschichte der beiden Länder und der deutsch-polnischen Beziehungen behandeln, sondern diese in einen globalen Kontext einordnen und als spezifisch perspektivierter Zugang zur allgemeinen Geschichte dienen. Die Auseinandersetzung mit den historischen Verflechtungen in den deutsch-polnischen Beziehungen sollte die SchülerInnen darüber hinaus für die Tatsache sensibilisieren, dass die Geschichte Polens und Deutschlands (nicht anders als die Geschichte der meisten benachbarten Staaten auf dem europäischen Kontinent) eng miteinander verknüpft ist und sich wechselseitig bedingt. Das Schulbuch sollte aus der Perspektive der deutsch-polnischen Beziehungen unterschiedliche und gegensätzliche historische Prozesse sowie miteinander konkurrierende Geschichtsdeutungen vorstellen. Durch einen kritischen Zugang zur Geschichte sowie zu differierenden Erinnerungskonzepten sollte es das gegenseitige Verstehen fördern. Mit diesem Ansatz sollte es zur Erweiterung des historischen Wissens über den Nachbarn beitragen und – vor allem – das Bewusstsein sowohl für die gemeinsamen Wurzeln als auch für unterschiedlich verlaufene historische Prozesse schärfen. Für die im Herbst 2015 an die Macht gekommene PiS-Regierung hatte und hat das prestigeträchtige und wichtige Bildungsprojekt (das größte in den deutsch-polnischen Beziehungen) keine Priorität, weil es nicht ihrer politischen Linie entspricht. Außerdem stehen Aufbau und Struktur des Geschichtsbuchs im Widerspruch zur geplanten und inzwischen umgesetzten Schulreform. Obwohl 2020 der letzte Band des deutsch-polnischen Geschichtsbuchs auf den Markt kam, ist daher fraglich, ob es unter den neuen Bedingungen in polnischen Schulen eingesetzt werden kann.
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
Literatur:
Dziennik Ustaw 1999, Nr. 12, Pos. 96, Ustawa z dnia 8 stycznia 1999 r. – Przepisy wprowadzające reformę ustroju szkolnego.
Nasalska, Ewa: Polsko-niemieckie dyskursy edukacyjne: lata 1949–1999, Warszawa 2004.
Po dwóch stronach historii. Polsko-niemieckie inicjatywy edukacyjne, hg. von Dariusz Wojtaszyn und Thomas Strobel, Wrocław 2012.
Pick, Dominik: „Europe – Our History“. A Textbook for Poland and Germany, „Public History Weekly“, 17.5.2018, https://public-history-weekly.degruyter.com/6-2018-18/europe-our-history-a-textbook-for-poland-and-germany/ [abgerufen am 10.9.2020].
Roszak, Stanisław; Konieczka-Śliwińska, Danuta; Chorąży, Ewa: Edukacja historyczna w szkole. Teoria i praktyka, Warszawa 2009.
Schulbuch Geschichte. Ein deutsch-polnisches Projekt – Empfehlungen, hg. von Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission, Göttingen 2012.
Sondaż: Czy Polacy chcą sześciolatki w szkołach i likwidacji gimnazjów?, in: Newsweek (31.10.2015), https://www.newsweek.pl/polska/sondaz-6-latki-w-szkole-i-likwidacja-gimnazjum/4kl9yvy [abgerufen am 1.9.2020].
Strobel, Thomas: Transnationale Wissenschafts- und Verhandlungskultur. Die Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission 1972–1990, Göttingen 2015.
Schulbücher (nach Verlagen geordnet)
(1) NOWA ERA
Granoszewska-Babiańska, Dorota; Ostapowicz, Dariusz; Suchodolski, Sławomir: Historia 1. Dzieje państwa i prawa, Teil 1–2, Warszawa 2003; Historia 2. Dzieje społeczeństwa i gospodarki, Teil 1, Warszawa 2003.
Granoszewska-Babiańska, Dorota; Izdebski, Tytus; Ostapowicz, Dariusz; Suchodolski, Sławomir: Historia 2. Dzieje społeczeństwa i gospodarki, Teil 2, Warszawa 2003.
Granoszewska-Babiańska, Dorota; Izdebski, Tytus; Ostapowicz, Dariusz; Suchodolski, Sławomir: Historia 3. Dzieje kultury, Warszawa 2003.
(2) OPERON
Burda, Bogumiła; Halczak, Bohdan; Józefiak, Roman Maciej; Szymczak, Małgorzata: Historia 1, Teil 1, Gdynia 2010; Teil 2, Gdynia 2004.
Burda, Bogumiła; Halczak, Bohdan; Józefiak, Roman Maciej; Roszak, Anna; Szymczak, Małgorzata: Historia 2, Gdynia 2004.
Burda, Bogumiła; Halczak, Bohdan; Józefiak, Roman Maciej; Szymczak, Małgorzata: Historia 3, Gdynia 2004.
(3) Stowarzyszenie Oświatowców Polskich
Kozłowska, Zofia T.; Unger, Irena; Unger, Piotr; Zając, Stanisław: Historia, Teil 1, Toruń 2007, Teil 2, Toruń 2007, Teil 3, Toruń 2004.
(4) Wydawnictwa Szkolne i Pedagogiczne
Cegielski, Tadeusz; Lengauer, Włodzimierz; Tymowski, Michał: Ludzie - społeczeństwa - cywilizacje 1, Warszawa 2002.
Choińska-Mika, Jolanta; Zielińska, Katarzyna: Ludzie - społeczeństwa - cywilizacje 2, Warszawa 2002.
Szelągowska, Grażyna: Ludzie - społeczeństwa - cywilizacje 3, Warszawa 2003.
(5) Wydawnictwo Szkolne PWN
Węcowski, Marek; Węcowski, Piotr; Czubaty, Jarosław: Historia I, Warszawa 2007.
Czubaty, Jarosław; Stola, Dariusz: Historia II, Warszawa 2008.
(6) Znak dla Szkoły
Szymanowski, Grzegorz; Wilczyński, Marek: Ludzie i epoki. Historia 1, Kraków 2005.
Popiołek, Bożena: Ludzie i epoki. Historia 2, Kraków 2003.
Szymanowski, Grzegorz; Trojański, Piotr: Ludzie i epoki. Historia 3, Kraków 2004.
Wojtaszyn, Dariusz, Dr. habil., verfasste die Beiträge „Das deutsche Heterostereotyp der ‘polnischen Freiheit‘“ und „Deutsche Geschichte in polnischen Geschichtslehrbüchern“. Er ist Professor am Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Wrocław. Er arbeitet in den Bereichen: deutsch-polnische Beziehungen nach dem 2. Weltkrieg, internationale Schulbuchforschung und Sportgeschichte.