Hubert Orłowski

Generationen. Oder: Vom Ordnen der Geschichte

Generationen. Oder: Vom Ordnen der Geschichte


Die deutsch-polnische Narration zur Kategorie der Generation, zum Komplex Intellektuelle bzw. Intelligenz sowie zum Phänomen der Ungleichzeitigkeit ist auf doppelte Weise verwickelt. Neben der Frage nach den Determinanten der deutsch-polnischen Kommunikation, nach ihrer Relationalität und ihren wechselseitigen Bezügen (oder auch Einflüssen im Sinne der Beziehungsgeschichte) muss man die Welt der Begriffe betrachten, die, so unscharf und metaphorisch sie sein mögen, in diesem Diskurs eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Den roten Faden dieses Artikels bildet vor diesem Hintergrund die Fra­ge nach deutsch-polnischen Unterschieden (1) im Verständnis bestimmter Aspekte der Vergangenheit, (2) in der Bewahrung und Bewirtschaftung der „Sedimente“ kollektiver Erfahrungen sowie (3) in der kulturellen Kodierung von Phänomenen und Prozessen.

Von zentraler Bedeutung für diesen Eintrag ist die leicht überspitzte, wenngleich didak­tisch hilfreiche Formel des „Bermudadreiecks“, die hier die Funktion einer methodi­schen Provokation erfüllt. Sie verweist auf den Bereich nicht so sehr geheimnisvoller als vielmehr nur vage definierter oder definierbarer Phänomene, Begriffe und ihrer Benen­nungen, doch auch die Leitkategorien dieser Narration (Intellektuelle bzw. Intelligenz, Generation und Ungleichzeitigkeit) sind definitorisch eindeutig, weil sie alle tief in zwei national, kulturell und sprachlich verschiedenen Diskursen der „langen Dauer“ im Sin­ne Pierre Bourdieus verwurzelt sind. Und schließlich noch ein Wort zur Rechtfertigung des metaphorischen Charakters der Narration: Alexander Demandt, eine Autorität auf dem Gebiet der historiographischen Semantik, verweist zu Recht darauf, dass vier Fünf­tel des menschlichen Sprachschatzes metaphorisch ist.

Um den Charakter der Narration zu verdeutlichen, sei noch hinzugefügt, dass sich die folgenden Erörterungen nicht auf den „faktischen Istzustand“ der deutsch-polnischen Diskrepanzen oder Ungleichzeitigkeiten beziehen, sondern auf die Vorstellungen von bestehenden Unterschieden in der Wahrnehmung und Bewertung bestimmter „Vermitt­lungen“ oder – anders gesagt – der kulturellen Rahmungen sozialer Verhaltensweisen.

Einen ergänzenden Kommentar verlangt auch die Kategorie Beziehungsgeschichte, die nicht als „Geschichte der Beziehungen“ oder „Geschichte der Relationen“ zwischen Staaten, Völkern oder Kollektiven verstanden wird, sondern als Geschichte der gegenseitigen Beeinflussungen. Dies hat Implikationen auch für die analytische Anwendung der genannten Kategorien aus dem „Bermudadreick“, ohne dass damit die Gegenseitig­keit als gleichrangig bewertet wird. Man muss Peter-Piotr Lachmanns harte Bewertung des deutsch-polnischen Verhältnisses nicht teilen, um in der angriffslustigen Poetik des deutsch-polnischen Schriftstellers einen innovativen Zugang zum Kern des Problems zu erkennen. Im Gespräch mit Teresa Torańska konstatierte Lachmann vor Jahren: „Sie fragen, warum die Deutschen die Polen hassen. Sie hassen euch nicht. Ich suche nach dem passenden Wort … Jetzt habe ich es … Sie pfeifen auf euch“ (Peter-Piotr Lachmann in Gazeta Wyborcza, Duży Format Nr. 34, 30.8.2004). Diese oft zitierte, verlachte wie begeistert affirmierte Äußerung ist zweifellos bedenkenswert. Lachmann formuliert hier im „kolloquialen Paradigma“ ein knappes und drastisches Urteil über die Gestalt der „gegenseitigen“ deutsch-polnischen Beeinflussungen und die deutliche Asymmetrie im Interesse für die jeweils andere Seite. Dies sollte man im Verlauf der Narration im Hinterkopf behalten.

Betrachten wir zuerst die Kategorie der Ungleichzeitigkeit. Man nimmt an, dass sie von Wilhelm Pinder eingeführt wurde. In seinem 1926 veröffentlichten Werk Das Problem der Generationen in der Kunstgeschichte Europas prägte er im Kapitel Das Problem der geschichtlichen Gleichzeitigkeit den Begriff des „Zeitwürfels“ als Idee zur Definition der „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“. Der kontrafaktische Vergleich zweier Bewusstseinszustände in ein und demselben Menschen mit doppelter Abstammung und Zugehörigkeit und daher auch mit doppelter historischer Sensibilität und vergleichbarer Generationserfahrung ermöglicht eine doppelte Wahrnehmung, was notwendigerweise eine Konfrontation zweier Perspektiven auf die historische Zeit mit sich bringt. Pinder schreibt: „Für jeden ist die gleiche Zeit eine andere Zeit, nämlich ein anderes Zeitalter seiner selbst, das er nur mit Gleichaltrigen teilt. Jeder Zeitpunkt hat für jeden nicht nur dadurch einen anderen Sinn, daß er selbstverständlich von jedem in individueller Färbung erlebt wird, sondern – als ‚wirklicher Zeitpunkt‘, unterhalb alles Individuel­len – schon dadurch, daß das gleiche Jahr für einen Fünfzigjährigen ein anderer Zeit­punkt seines Lebens ist als für einen Zwanzigjährigen“ (Pinder 1941, S. 11). In der Wahrnehmung zweiter (benachbarter) Nationalgemeinschaften „ist die gleiche [historische] Zeit [daher] eine andere [historische] Zeit“. Das darf man nicht vergessen.

In einem Essays des polnischen Historikers und Methodologen Jerzy Jedlicki mit dem Titel Über das kollektive Gedächtnis findet sich eine Passage, die – vom Autor nicht in-tendiert – Pinders Gedanken gleichsam ergänzen: „Kollektives Gedächtnis? Es gibt kein kol lektives Gedächtnis. Das Gedächtnis ist stets und ausschließlich individuell, was nichts daran ändert, dass einige seiner Gegenstände vielen Individuen gemeinsam sein können und dass es – wie der französische Soziologe Maurice Halbwachs (1877–1945) geschrieben hat – ‚soziale Bedingungen des Gedächtnisses‘ gibt.“ Einige Jahre vor Jan Assmann formuliert Jedlicki die These vom „Redigieren der eigenen Biographien“, wo-mit er Pierre Bourdieus Diagnose der „biographischen Illusion“ bestätigt: „Die mensch-lichen Gedächtnisse addieren sich nicht, bilden keine kollektive Summe, sondern sehr oft streiten sie verbissen gegeneinander. […] was er erfährt und was sich in seinem Ge-dächtnis festsetzt, hängt nicht nur von der persönlichen Situation des Zeitzeugen und sei nem Beobachtungspunkt ab, sondern auch von seinen mentalen Gegebenheiten. Ein er schütterndes Erlebnis muss schließlich – und sei es auch nur für den eigenen Ge-brauch – in die sprachlichen Kategorien gefasst werden, über die sein Teilnehmer, Zeuge oder Opfer verfügt, und es muss dem System seiner moralischen, religiösen und nationalen Überzeugungen eingefügt werden bzw. zu dessen Revision führen. […] Insbesonder in Augenblicken historischer Krisen kommt es bekanntlich zu radikalen Veränderungen der historischen Perspektive, mit der sich auch ganze autobiographische Erzählungen verändern können“ (Jedlicki 2013, S. 175f.).

Bei der Betrachtung des ersten Begriffs unserer Untersuchung darf Ernst Bloch nicht übergangen werden, ein Klassiker auf diesem Forschungsgebiet. In Erbschaft dieser Zeit (1935) verwendet er die Kategorie „Ungleichzeitigkeit“ als ideologisch-politisches Ana­lyseinstrument, um die Anziehungskraft des Faschismus in Deutschland zu erklären; Bloch meint damit das Nebeneinander unterschiedlicher Stufen (oder Geschwindigkei­ten) des gesellschaftlichen Fortschritts in ein und derselben Gesellschaft. Für Bloch ist das Deutschland seiner Zeit „das klassische Land der Ungleichzeitigkeit“.

Blochs These wurde in der wissenschaftlichen Literatur ausführlich diskutiert – von Soziologen, Anthropologen oder Historikern. In den 1980er Jahren gewann der Be­griff reactionary modernism des amerikanischen Historikers Jeffrey Herf eine gewisse Popularität, der sich definitorisch auf den (nach Herfs Auffassung) für die deutsche Situation entscheidenden Konflikt zwischen technisch-ökonomischem Fortschritt und menschlich-moralischem Regress bezieht (Herf 1984. r). Der dem Marxismus anhängende britische Historiker Eric J. Hobsbawm betrachtete die Ungleichzeitigkeit als Formel oder auch Gesetzmäßigkeit von weitaus größerer Reichweite, die alle neuzeitlichen (modernen?) sozialen Prozesse betreffe (dies gegen die „Webersche“ These von der Monokausalität des ökonomischen Handelns des Menschen).

Aus neueren Arbeiten zur Problematik der Ungleichzeitigkeit sind vor allem die über­wiegend (wiewohl nicht ausschließlich) auf die semantische „Rahmung“ sowie die auf die durch das Stichwort „Ungleichzeitigkeit“ evozierten Assoziationen ausgerichteten Überlegungen erwähnenswert. In aktuellen Ansätzen wird die „semantische Multidimensionalität“ des Begriffs Ungleichzeitigkeit im Sinne von Unzeitgemäßheit – Asyn­chronizität – getrennte Erinnerungen thematisiert. Besondere Aufmerksamkeit verdient Achim Landwehrs semantische Analyse Von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, die beispielhaft aufzeigt, dass die zentrale Kategorie der „Ungleichzeitigkeit“ zwar einen normativen und damit teils „unwissenschaftlichen“ Charakter hat (Landwehr 2012, S. 6, S. 30f.), dass sie wegen ihrer Anschaulichkeit heute aber auch in der Geschichtswissenschaft verwendet – und weiter­hin verwendet werden – wird.

Es fehlt zu guter Letzt auch nicht an Ansätzen zur semantischen Entwicklung des Kon­zepts der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen in seiner paradigmatischen Gestalt, etwa in Form von Verweisen auf die überraschende Ko-Präsenz vermeintlich heterogener oder dyssynchroner Phänomene an einem bestimmten Ort (Schäfer 1994; Schlögel, 2011). Ebenso finden sich Versuche, das Phänomen der Ungleichzeitigkeit interpretatorisch mit der Kategorie der Generati­on zu verbinden (Giesen 2009).

Die Anwendung der Kategorie „Generation“ erfreut sich in der deutschen Kultur gegenwärtig einer signifikanten Beliebtheit. Sie wird außergewöhnlich häufig schon durch thesenhafte Titel (von Monographien, Studien oder Essays) definiert und oszilliert gemäß dem Prinzip der Partizipation an der generationalen Erfahrung zwischen den Polen Triumph und Trauma. Die Generation als Erinnerungsort verbinden Forscher unter anderem mit den folgenden Vorstellungen, Kategorien und analytischen Formeln: Leitbegriffe der politischen Kultur, Fragen nach dem kollektiven Selbstbewusstsein, aus Umbruchs- oder existenzellen Erfahrungen resultierende Diskontinuität.

Ich nenne zunächst einige deutsche Titel, Thesen und Formulierungen, deren historischer „Ursprung“ nicht oder nur schwer nachzuweisen ist. Zum Repertoire der Formulierungen „von jenseits der Geschichte“ gehören etwa die verlorene Generation, die vergessene Generation, die stumme Generation, die enterbte Generation, die skeptische Generation (im Sinne des Soziologen Helmut Schelsky), die ausgefallene Generation, die gespaltene Generation, die junge Generation (nach der schwedischen Pädagogin und Schriftstellerin Ellen Key), die zerrüttete Generation oder die Sandwich-Generation. Nicht alle dieser Begriffsetiketten haben einen „reinen“, von konkreter Vergangenheit ungetrübten Sta­tus – man denke an die Begriffe der verlorenen oder der skeptischen Generation.

Eine zweite Gruppe bilden Generationsbenennungen in einem historischen Kontext. Es geht um Anwendungen wie Hitlerjugend-Generation, Napola-Generation, betrogene Generation, vaterlose Generation, 68er Generation, geschmähte Generation (im Sinne des CDU-Politikers Hans Filbinger), Generation Marienborn, Generation der Wende, Generation der Wiedervereinigung, Generation Einheit (http://test.magazin-deutschland. de/de/themen/generation-einheit.html 2010), Generation Berlin (nach dem Soziologen Heinz Bude), Generation Golf/Golf zwei (nach dem Schriftsteller Florian Illies), Europa der zweiten Generation, Generation Bologna, Generation Schrott, Generation Ost, Ge­neration Internet, Computer-Generation oder Generation .

Darüber hinaus erscheint die Kategorie der Generation auch in der erhellenden oder ergänzenden Kombination mit anderen Begriffen. Auch hierfür gibt es eine Fülle von Beispielen: Generation und Identität, Generation und Kollektivität, Generation und Kommunikation, Generation und kollektive Verständigungen, Historisierung von Generationsentwürfen, Biographisierung und Generation, generationell geordnete Vergangenheitsaufarbeitung, Generation als „Zeitheimat“ (nach dem Schriftsteller W. G. Sebald).

Im Sichtfeld der Forschungen zur Kategorie der Generation erscheinen darüber hin­aus weitere Fragen, Zugänge, Angebote. Neben der Frage nach generationsstiftenden Ereignissen stehen die Infragestellung von „Generation“ als hegemonialer Begriff in politischer Kultur und kollektivem Selbstbewusstsein, die Möglichkeit einer – aus der Erfahrung eines Bruchs oder eines Ereignisses von extremer Kontingenz geborenen – Generation als Intermezzo im Strom der historischen Zeit und schließlich das Konzept der Generation als enträumlichter (eigener, abgetrennter, separater) Erinnerungsort.

Eine schier unendliche Fülle von Möglichkeiten zur Anwendung der Kategorie der „Ge­neration“ bietet die Historikerin Ulrike Jureit in ihrem Buch Generationenforschung. Ich nenne einige, die der Narration eine bestimmte Perspektive geben: Generation als Kollektivbegriff mittlerer Reichweite, Generation als Selbstthematisierungsformel, Ge­neration als zeitlicher Ordnungsbegriff, Generation als Erfahrungsbegriff, Generation als Erfahrungsgemeinschaft, Generation als Erinnerungsgemeinschaft, Generation als Gedächtniskategorie, Generation als Ergebnis kollektiver Verständigung, Generation als Etikett.

Die sogenannte klassische Literatur zur Generationenproblematik – gemeint sind kano­nische und referenzbildende Texte – ist zwar nicht überbordend umfangreich, doch sie versammelt AutorInnen von Texten mit hohem Erkenntniswert. Das muss im Kontext der Anmerkungen zur Besonderheit der deutschen Reflexion über das Generationen­problem betont werden. Es zeugt nämlich von ihrer besonderen Stellung in der Bestim­mung der Grenzen von Gruppenbewusstsein und -identität, auch der nationalen.

Ein Vorläufer dieses Denkens ist der Philosoph Wilhelm Dilthey. In drei Arbeiten – Novalis (1865), Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat (1875) und Der Aufbau der geschichtlichen Welten den Geistes­wissenschaften (1910) – verweist Dilthey als erster auf die Bedeutung sowie auf den Ort der Generationenfrage im hermeneutischen Denken. Von Pinder und seiner Rolle war schon die Rede. In der Sammlung kanonischer deutscher Texte muss auch die 1928 in Zürich publizierte Übersetzung von José Ortega y Gassets Die Aufgabe unserer Zeit (El tema de nuestro tiempo [1923]) erwähnt werden.

Ein zentraler und paradigmatischer Text – nicht nur für deutsche und keineswegs nur für vergangene, sondern auch für heutige Debatten – ist Karl Mannheims 1928 in den renommierten Kölner Vierteljahresheften für Soziologie erschienene Arbeit Das Problem der Generationen. Mannheim eröffnete im kultursoziologischen und geschichtswissen­schaftlichen Raum den internationalen Diskurs zum Thema der Generation. Sein In­teresse für die Generationsproblematik in der Weimarer Republik ist mit der für die soziale Wirklichkeit nach dem Ersten Weltkrieg charakteristischen Beschleunigung gesellschaftlicher und politischer Prozesse zu erklären. Sein Text bildet bis heute einen unbestrittenen Referenzpunkt der Generationsforschung, was auch neuere Publikatio­nen belegen (U. a. Zinnecker 2003). Das heutige Interesse an Mannheim resultiert aus der gesellschaftlichen Beschleunigung sowie aus der Wiedervereinigung Deutschlands und der durch sie aus­gelösten Verschiebungen in der politischen Klasse.

In aktuellen Studien zur Generationsproblematik in der deutschen Gesellschaft lassen sich einige Interessensgebiete unterscheiden. Insbesondere zur NS-Zeit gibt es viele Ar­beiten. Der Soziologe Heinz Bude etwa untersuchte die Schicksale einer bestimmten Alterskohorte von der Entstehung des Nationalsozialismus bis zur Zeit des „Wirtschaftswunders“. Anerkennung fand auch eine glänzende Studie über die Eliten des Dritten Reichs (Herbert 2003). Mit der Gegenwart befassen sich unter anderem Arbeiten von Heinz Bude und Aleida Assmann.

Auch die Besonderheiten der DDR-Gesellschaft wurden unter dem Generationsaspekt untersucht. Geboren im Jahr eins ist eine der ersten soziologisch inspirierten Betrachtungen zur ostdeutschen „Kollektivbiographie“ (Wierling 2002). Den wichtigsten Beitrag zum Thema verdanken wir einer Gruppe von Politologen und Soziologen unter Leitung von Thomas Ahbe. In der methodologischen Einleitung bestimmt Ahbe „Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte“ und unterscheidet für die DDR folgende Generationen: die Generation der „mißtrauischen Patriarchen“, die „Aufbau-Generation“, „die funktionierende Generation“, „die integrierte Generation“, „die entgrenzte Generation“ und schließlich „die Wende-Kinder“. An diesem Beispiel lassen sich etwa die Unterschiede zwischen dem Generationenprofil der Gesellschaften der Volksrepublik Polen und der DDR aufzeigen. Sowohl in diesem als auch in anderen derartigen Vergleichen geht es, wie schon gesagt, keineswegs um die „materielle Wahrheit“ von Thesen und Hypothe­sen, sondern um die Darstellung der Unterschiede in den Vorstellung polnischer und deutscher WissenschaftlerInnen.

Die polnische Forschung zur Generationenthematik erscheint sowohl in quantitativer Hinsicht als auch im Umfang der Analysen deutlich ärmer als die deutsche. Der Eintrag „Pokolenie“ [Generation] im Nachschlagewerk Encyklopedia socjologii [Enzyklopädie der Soziologie, 2005] verweist lediglich auf einige wenige Arbeiten polnischer AutorInnen. Die Verfasserin Barbara Fatyga nennt die Arbeiten von Józef Chałasiński und Maria Os­sowska sowie ältere Monographien von Hanna Świda-Ziemba. Darüber hinaus erwähnt sie die polnische Teilübersetzung von Mannheims Essay sowie die spanische Fassung des erwähnten Werks von Ortega y Gasset. In ihrer Übersicht fehlen Kazimierz Wykas schon klassische Arbeit Pokolenia literackie [Literarische Generationen, 1977] sowie Jan Mikułowski-Pomorskis Aufsatz Pokolenie jako pojęcie socjologiczne [Generation als sozio­logischer Begriff, 1968]. Ebenfalls ausgelassen werden literarische Generationenporträts wie etwa Roman Bratnys Roman Kolumbowie. Rocznik 20 [dt. Kolumbus Jahrgang 20]. Die Definition der Kategorie Generation beschränkt sich für die Verfasserin auf die fol­gende Formel: „Generation ist eine Gruppe von Individuen, die sich über die spezifische soziale Bindung zwischen Menschen mit mehr oder weniger gleichem Alter und mithin vergleichbarer Lebenserfahrung konstituiert“ (Fatyga 2005, S. 193).

Den bedeutendsten Teil der polnischen Generationenforschung bilden Arbeiten, die sich auf längere historische Zeitabschnitte beziehen und versuchen, die historische Zeit „als Abfolge von Generationen“ zu vermitteln. Diese Perspektivierung des Generationenkonzepts unternahmen auch deutsche Wissenschaftler, darunter Koryphäen wie Hel­muth Plessner, Helmut Schelsky oder Claus Leggewie. In den vergangenen Jahren erschienen zahlreiche zusammenfassende Studien und Sammelbände, die dieses weite Feld zu ordnen versuchen.

Der Versuch, Thesen und Hypothesen um den Begriff der Generation zu formulieren, begann mit der Kategorie der Generation selbst, denn sie bildete die Grundlage für die Frage nach dem Charakter des deutsch-polnischen Vergleichs, doch ist dies längst nicht die einzige Schwierigkeit bei dessen diskursiver Beschreibung. Die deutsch-polnischen Ungleichzeitigkeiten müssen auch in Hinsicht auf die Differenzierung von Generatio­nenerfahrungen in der unterschiedlichen (Selbst-)Bildung der Intelligenz und der Intel­lektuellen mitsamt ihrer Formationen berücksichtigt werden. Die erfordert reflektierte Entscheidungen auf dem Feld der historischen Semantik, und zwar im Polnischen wie im Deutschen. Im Umlauf befindliche Termini wie Intelligenz [inteligencja], geistige Klasse [klasa umysłowa], freischwebende Intelligenz oder selbst Intellektuelle erfordern Entscheidungen über ihre (sprachliche) Gleichwertigkeit. Für das Polnische können wir auf Arbeiten von Ryszarda Czepulis-Rastenis und Jerzy Jedlicki zurückgreifen, für das Deutsche auf Max Weber und Karl Mannheim. Jede Auswahl zieht eine entsprechende Option nach sich. In diesem Fall kann sich die Reflexion über den Begriff von Intel­ligenz im Sinne „geistige Klasse“ vs Intelligenz als Formation mit „ethischen“ (auf ein „Ethos“ bezogenen) Wurzeln oder Intentionen als hilfreich erweisen.

Wenn wir den „Charakter“ oder das „Profil“ der Intelligenz als „ethisch“ bezeichnen, schreiben wir unserer Frage schon gleich zum „Einstieg“ in diese skizzenhafte Erörte­rung eine Teilantwort ein, verengen wir das „kulturelle Feld“ dieser Formation. Zu­gleich weisen wir ihr – mit Bourdieu gesprochen – ein bestimmtes „kulturelles/symbo­lisches Kapital“ zu. Darin verbirgt sich eine spezifische normative Wertung: Die eine Intelligenz wäre besser, weil „ethischer“, eine andere hingegen schlechter, weil weniger „ethisch“. Wenn in der Ersten Republik und im besetzten Polen, also unter den Bedin­gungen der nationalstaatlichen Nichtexistenz das Bewahren und Tradieren des „natio­nalen Kodes“ besondere Bedeutung erlangte, stärkte dies zugleich die Rolle der geistigen Klasse (der Intelligenz) als solcher.

Ich bin mir der Begrenztheit der hier verwendeten Analyseinstrumente – und damit auch der Begriffe im Polnischen wie im Deutschen – vollkommen bewusst. Allerdings halte ich die – notgedrungen unscharfe – Beschreibung des Generationenbewusstseins bzw. -selbstbewusstseins der Intelligenz oder der Intellektuellen für unverzichtbar. Zur Rechtfertigung lässt sich die Autorität eines Jerzy Jedlicki heranziehen, der in Błędne koło 18321864 [Der Teufelskreis 1832–186], einem Band der Trilogie Dzieje inteli­gencji polskiej [Geschichte der polnischen Intelligenz] schreibt: „[…] die Unschärfe semantischer Abgrenzungen spiegelt die chronische Verschwommenheit realer Trennli­nien, Hierarchien und Rollen wieder“ (Jedlicki 2008, S. 9).  Das ist kein Grund zur Resignation, sondern eine realistische Perspektive für den Gesellschaftshistoriker: Er ist dazu verurteilt, mit „undichten Begriffen“ zu arbeiten. Daher ist Jedlickis Feststellung zuzustimmen, dass „die chronische Ambivalenz solcher Begriffe wie Intelligenz und bedeutungsverwandter Wörter schon für sich ein interessantes historisches Phänomen ist“. Denn sie reflektiert „sowohl den objektiven Wandel der sozialen Schichtung als auch ihre Wahrnehmung durch die Zeitgenossen, unter anderen in kollektiven Einschätzungen und Selbsteinschätzungen“ (Jedlicki 2008, S. 11). Hier liegt in meinen Augen der Sinn der auch diesen Text durchziehenden Fragen.

Wenigstens diese Fragen – es sind ihrer viele – möchte ich hier formulieren: Ist die Intelligenz eine für Ostmitteleuropa spezifische Formation? Ist es gerechtfertigt, von einer besonderen (problematischen?) Rolle der Intellektuellen (der Intelligenz) in der Volksrepublik Polen zu sprechen, zumal im vergleichenden Kontrast zur Haltung der Intelligenz in der DDR? Was bleibt vom Vorwurf des französischen Philosophen und Schriftstellers Julien Benda, die „Erbsünde“ von Intellektuellen und Künstlern liege in der Verstrickung (dem Engagement) in die Politik? Was ist das Engagement der Intelli­genz/der Intellektuellen in liberalen Formationen im Vergleich zum Engagement in na­tionalkonservativen Formationen? Was ist das Engagement von Intellektuellen für den Nationalsozialismus und was das Engagement für den Kommunismus? Die Antworten auf die letzten Fragen haben womöglich signifikante Implikationen für die Rekonstruk­tion der deutsch-polnischen wechselseitigen Beeinflussung (oder ihres Fehlens).

Kann die definitorische „Einkreisung“ einer Kategorie des Typs Intelligenz oder Intel­lektuelle, ähnlich übrigens wie im Fall der Kategorie „Generation“, über Kriterien von normativem Charakter hinausgehen? Ich denke, ja, aber nur unter der Voraussetzung, dass wir die Kontingenz als mögliches Anderssein, als Bestimmung (insbesondere) des­sen, was möglich ist, akzeptieren. Der deutsche Soziologe Niklas Luhmann hatte für derartige Situationen eine angemessene Antwort. In seinem Hauptwerk Soziale Systeme schreibt er: „Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist. In diesem Sinne spricht man neuerdings auch von ‚possible worlds‘ der einen realen Lebenswelt. Die Realität dieser Welt ist also im Kontingenzbegriff als erste und unauswechselbare Bedingung des Möglichseins vorausgesetzt“ (Luhmann 1984, S. 152). Luhmanns Auffassung ist akzeptabel, so­fern wir dieses „mögliche Anderssein“ (Anderssein) weniger auf den „Istzustand“ der deutsch-polnischen Diskrepanzen oder Ungleichzeitigkeiten beziehen als vielmehr auf die Vorstellungen über das Vorhandensein von Unterschieden in der Wahrnehmung und Wertung bestimmter (semantischer) „Vermittlungen“.

Am Ende des Vorworts zu dem von mir in der Posener Deutschen Bibliothek [Poznańska Biblioteka Niemiecka] herausgegebenen Band Pokolenia albo porządkowanie historii [Generationen oder Das Ordnen der Geschichte] habe ich unter anderem geschrieben: Die Generationenperspektive nährt sich von der Vergangenheit und nutzt zugleich die Wissens- und Erfahrungspotenziale der jeweiligen Gegenwart. Freilich unterliegt sie dabei einer ständigen Evaluierung, wenn nicht Devaluierung; Benjamins „Engel der Geschichte“ schreitet der Zukunft rückwärts entgegen, er wendet ihr den Rücken zu. In Sachen Erfahrung bleibt ihm also nur die Distanz im Blick auf die Vergangenheit. Und nichts deutet darauf hin, dass er sein Gesicht je der Zukunft zuwenden könnte. Das ist eine pessimistische, wenngleich sehr wahrscheinliche Prognose.

Schließen möchte ich mit einer Information, die als Beleg für die andauernde Präsenz der Kategorie „Generation“ im öffentlichen Diskurs in Deutschland gelten kann: Im August 2020 kündigte die renommierte Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte einen entsprechenden Themenschwerpunkt an und rief zur Einreichung von Beiträgen auf. Im Text des Aufrufs hieß es:

„,Generation‘ als sozialwissenschaftliche Kategorie steht inzwischen neben Begriffen wie ,Klasse‘, ,Milieu‘ oder ,Schicht‘ und ordnet Gesellschaften nach zeitlichen Zusammen­hängen. Innerhalb und zwischen Generationen werden der gegenwärtige gesellschaftli­che Zusammenhalt und die Grundlagen künftigen Zusammenlebens verhandelt. […] Die Ausgabe 52–53 der APuZ wird sich dem Thema ,Generationen‘ widmen. Dafür suchen wir Beiträge […], die sich historisch und/oder gegenwartsbezogen […] und aus unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Perspektiven mit dem Thema beschäftigen“ (https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/generationen-2020/, 14.4.2021).

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann

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Garewicz, Jan: Pokolenie jako kategoria socjofilozoficzna, in: Studia Socjologiczne (1983), Nr. 1.

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Giesen, Bernhard: Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit, Frankfurt am Main 1993.

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W przeszłości najbardziej interesuje mnie pojęcie „obcości“. Z Michaelem G. Müllerem rozma­wia Robert Traba, in: Zrozumieć polską historię, hg. von Michael G. Müller, Poznań 2012.

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Orłowski, Hubert, em. Prof. Dr., o. Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften, verfasste den Beitrag „Generationen. Oder: Vom Ordnen der Geschichte“. Er ist Mitarbeiter an der Hochschule für Fremdsprachen in Poznań und arbeitet in den Bereichen Stereotypenforschung, Zufallsforschung und zur Kulturlandschaft Ostpreußen.

 

 

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