Anna Kochanowska-Nieborak

Polnische Wirtschaft (Stereotyp)

Polnische Wirtschaft (Stereotyp)


Einführende Bemerkungen

 Der Terminus polnische Wirtschaft ist als Schlüsselbegriff unabdingbar, um die Regeln des modernen deutschen Diskurses über Polen und die Polen zu verstehen. Bildhaft gefasst hat seine Rolle Hubert Orłowski, indem er das mit dem Begriff polnische Wirtschaft umschriebene Stereotyp mit einer Makrodefinition im Bereich der Informatik vergleicht: „Bei allen digitalen Operationen dient die Makrodefinition dazu, die einzelnen Anweisungen widerspruchsfrei ins Hauptprogramm einzufügen. Aus der Makrodefinition ‚kommen‘ die einzelnen Anwendungen aller weiteren Definitionen“ (Orłowski 2002, S. 124). In ähnlicher Weise hat das Stereotyp, genauer ein ganzes Bündel von Stereotypen mit dem Namen polnische Wirtschaft, die Regeln des modernen deutschen Diskurses über Polen und die Polen bestimmt und ist ausschlaggebend sowohl für die Art und Weise, wie die polnische Geschichte, Kultur, Staatlichkeit und der polnische „Nationalcharakter“ interpretiert werden, als auch für die Auslassungen und Leerstellen in diesem Diskurs. Den Kern des Stereotyps polnische Wirtschaft bildet die negative Bewertung erfolglosen Handelns, mithin Handlungsunfähigkeit. Daher finden wir im Stereotypengeflecht polnische Wirtschaft eine ganze Reihe negativer Merkmale, die erfolgloses Handeln bedingen, z.B. Unordnung, Chaos, Anarchie, Durcheinander, Unzuverlässigkeit, Schmutz, Trunksucht, Faulheit. Um die Reichweite dieses Stereotyps zu untersuchen, müssen daher nicht nur direkte Verweise auf die Wendung polnische Wirtschaft in ihrer negativen übertragenen Bedeutung, sondern auch Texte, Aussagen und Bilder berücksichtigt werden, die sich auf die obengenannten Merkmale (allen voran Handlungsunfähigkeit, Ineffizienz) als eine universale, generelle Auslegung polnischer Angelegenheiten beziehen.

Genese und „lange Dauer“ des Stereotyps polnische Wirtschaft

 Nach derzeitigem Forschungsstand fällt die Geburtsstunde der Wendung polnische Wirtschaft in das 18.Jh. Bei ihrer Rekonstruktion zu berücksichtigen ist, erstens, die konkrete historische Situation: die Endphase und der Untergang der ersten Adelsrepublik Polen-Litauen, geprägt von Kriegen und inneren Unruhen, gesellschaftlicher Andersartigkeit gegenüber den westlichen Staaten, wirtschaftlichem Zusammenbruch und Verarmung der unteren Gesellschaftsschichten im krassen Gegensatz zum luxuriösen Lebensstil des Hochadels; zweitens, die Besonderheiten der polnisch-preußischen/ deutschen Nachbarschaft im 18.Jh. als eines Begegnungsfeldes zweier Gesellschaften und zweier Staatsgebilde von unterschiedlicher Dynamik und anderem Entwicklungstyp, wobei eigens zu betonen ist, dass damals, besonders auffällig im Grenzland, zwei Staatsmodelle aufeinanderprallten: die adlige Selbstverwaltung in Polen und der bürokratische Absolutismus in Preußen; drittens, die Vorherrschaft des Aufklärungs- und Modernisierungsdiskurses in der damaligen deutschen Öffentlichkeit, wodurch Diskussionen über Polen um dessen sozialpolitische Modernisierungsdefizite kreisten (wie etwa das ineffiziente Staatsmodell, Unwirtschaftlichkeit, das Fehlen eines starken Bürgertums, die Verschwendungssucht der Aristokratie, die Erniedrigung der Bauern); viertens, die starke Stellung des deutschen Bildungsbürgertums, das nach gesellschaftlichem Fortkommen durch Bildung strebte und in erster Linie Karrierewege innerhalb des entstehenden Beamtentums einschlug. Dieses aufstrebende gebildete Bürgertum gründete sein Selbstverständnis auf einen Lebensstil und ein Wertesystem, durch die es sich sowohl vom Adel als auch von Bauern und Kleinbürgern abgrenzte. Bei der diskursiven Formulierung des (positiven) Selbstbildes dieser Gruppe spielte das Bild der polnischen Schlachta und der Bauern als „Kontrastmittel“ eine wichtige Rolle für die der eigenen Gesellschaftsformation zugeschriebenen „Bürgertugenden“, allen voran Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit.

Auch wenn die ersten schriftlichen Belege der im übertragenen negativen Sinne gebrauchten Wendung polnische Wirtschaft aus der ersten Hälfte des 18.Jh. stammen, ist zu beachten, dass der Konstituierung des mit diesem Begriff belegten Stereotyps bereits seit dem 17.Jh. der Boden bereitet wurde, als in der deutschen Geschichtsschreibung, Historiosophie sowie staatswissenschaftlichen Werken eine Kritik der polnischen Staatsform (als einer Wahlmonarchie und Adelsrepublik) entfaltet wurde. Diese Kritik war damals keine Sensation: Insbesondere zur Zeit der sächsischen Könige auf Polens Thron hatten sich die politischen Kommentare über Polen-Litauen in den westeuropäischen Staaten zusehends verschlechtert, passend übrigens zur politischen Situation (besonderer Beliebtheit erfreuten sich die intelligent-boshaften Pointen Voltaires, der seinen hochrangigen aufgeklärten BriefpartnerInnen zu gefallen suchte: dem preußischen König Friedrich II. und der russischen Kaiserin Katharina II.; allein Jean-Jacques Rousseau scherte aus dem Chor der kritischen Stimmen aus).

Auch deutsche Verfasser von Werken über die polnische Staatsform bewerteten diese durchweg negativ. Eine besondere Rolle spielten dabei bekannte Historiker, Geografen, Juristen und Philosophen, z.B. Anton Friedrich Büsching, Johann Christoph Gatterer, Gottfried Achenwall, Ludwig Timotheus Spittler, Johann Christoph Krause, Arnold Herrmann Ludwig Heeren, Friedrich Saalfeld oder Karl von Rotteck, deren besondere Stellung als Universitätsprofessoren, häufig auch als Mitglieder gelehrter Gesellschaften, und damit der damaligen Gelehrtenrepublik, ihren Ansichten meinungsbildende Macht verlieh. Ein distinktives Merkmal des Diskurses über die polnische Staatlichkeit gegenüber anderen Debatten war – neben dem alsbald entwickelten, überaus regen und vielschichtigen Legitimierungsdiskurs – der deutliche Einfluss des in der deutschen öffentlichen Meinung vorherrschenden aufgeklärten Modernisierungsdiskurses, bei dem das Synonym für Modernität Effizienz lautete. Aus diesem Blickwinkel wurde der polnischen staatlichen Existenz eine schlechte Zensur vergeben. Erhoben wurden ihr gegenüber Vorwürfe: Der turbulente Verlauf der aufeinanderfolgenden Interregna und Königswahlen destabilisiere die Arbeit des Staatsapparates und provoziere die Nachbarmächte zum Eingreifen in die inneren Angelegenheiten Polen-Litauens; die „ungezwungene Freiheit“ der polnischen Schlachta beschränke die Macht des Königs; die Gesetzgebungsverfahren seien ineffizient (liberum veto). Sprichwörtlich wurde damals die Redewendung polnischer Reichstag zur Bezeichnung einer jeden turbulenten und ergebnislosen Versammlung. Jene Fixierung des Diskurses auf die Kategorie der Effizienz stand in engem Zusammenhang mit der damals an den deutschen Universitäten gelehrten Kameralistik (das heißt einer ökonomischen Doktrin, die das Hauptziel der Wirtschaftspolitik eines Staates darin sah, alle menschlichen Ressourcen und Produktionsmöglichkeiten voll auszunutzen mit dem Ziel, die Einkünfte des Herrschers zu vergrößern); eine besondere Rolle spielte dabei die verbreitete Metapher vom Staat als Maschine, deren einzelne Rädchen zur allgemeinen Glückseligkeit des Landes bestmöglich ineinandergreifen sollten. Negative Urteile über das polnische Staatswesen fielen häufig in den innerdeutschen Debatten über den Zustand des Kaiserreichs (Reichspublizistik). Man kann sich nur schwer des Eindrucks erwehren, das Anführen des Beispiels Polen in diesem Zusammenhang habe auch eine disziplinierende Dimension gehabt: Die Autoren (zumeist Lehrer und Universitätsdozenten, die als Staatsbeamte zur Loyalität gegenüber dem Staatsapparat verpflichtet waren) legitimierten de facto das Monopol der Gewaltanwendung des absolutistischen Staates, sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik; u. a. das Beispiel der polnischen Modernisierungsdefizite diente ihnen dazu als „ein faszinierender Beweis ex negativo für die Segnungen des Absolutismus“ (Schulze 2004, S. 81).

In diesem Zusammenhang etablierte sich eine Begriffstrias, die fortan mit frappierender Unbeirrbarkeit zur Beschreibung der Geschichte Polens verwendet wurde und der stereotypen Wendung polnische Wirtschaft Bahn brach: Verwirrung, Anarchie, Unordnung. „Unsagbar“ (im Sinne Michel Foucaults) blieben indes im deutschen Diskurs über die polnische Staatlichkeit Ausdrücke wie „Adelsdemokratie“, „Volkssouveränität“, „Gesellschaftsvertrag“ oder auch „Selbstbestimmungsrecht“.

Auf den so bereiteten Boden fiel im 18.Jh. die Wendung polnische Wirtschaft, deren erste schriftliche Belege bereits aus den 1720er Jahren stammen, hauptsächlich aus dem deutsch-polnischen kulturellen Berührungsgebiet (Kordel 2020). Dank des verwendeten Begriffs Wirtschaft, der zwischen 1750 und 1850 endgültig seine moderne Bedeutung erlangte und sich seitdem – dank seiner Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit – auf Verhaltensweisen und Handlungen konkreter Personen im Alltag ebenso beziehen kann wie auf hoch formalisierte Organisations- und Wirtschaftsprozesse sowie Maßnahmen staatlicher Institutionen, wurde die Wendung polnische Wirtschaft im Laufe der Zeit zu einer außerordentlich tragfähigen und weit gefassten Formel.

Mit der Verbreitung des Ausdrucks polnische Wirtschaft in den deutschen gebildeten Kreisen ist unauflöslich der Name Johann Georg Forsters verbunden – des Ethnologen, Naturforschers und Teilnehmers an James Cooks zweiter Weltumsegelung durch den Pazifik, der als Wegbereiter der modernen Reiseliteratur gilt und mit bedeutenden deutschen Aufklärern in Verbindung stand (etwa mit Immanuel Kant). In seiner Privatkorrespondenz aus den 1780er Jahren, die u. a. von seinem (für ihn enttäuschenden) Aufenthalt in Wilna handelt, wo er an der Akademie Naturgeschichte und Botanik lehrte (1784–1787), fällte er eine Reihe negativer, oft extrem abfälliger Urteile über die Polen und benutzte in diesem Zusammenhang den bereits früher existierenden Ausdruck polnische Wirtschaft (in seinem Tagebuch der Reise von Kassel nach Wilna notiert Forster unter dem 17.10.1784: „[…] Abendessen wo ich den Spleen habe, und ihn in satyrischen Reden gegen Polen auslasse“ ), (Georg Forsters Werke 1973, S. 159).

Die postum (1829) erschienene Ausgabe der Briefe Forsters stieß auf großes Interesse und trug beträchtlich dazu bei, diesen Ausdruck deutschlandweit im deutschen Schrifttum in Umlauf zu bringen. Die LeserInnen, daran gewöhnt, die Beschreibungen anderer Völker in Forsters Veröffentlichungen als unparteiische wissenschaftliche Beobachtungen zu betrachten, durften auch die Urteile über die Polen aus seiner Privatkorrespondenz als glaubwürdig ansehen. Darin erscheint die Wendung polnische Wirtschaft viermal, beispielsweise im Brief an den Berliner Übersetzer und Buchhändler Karl Philipp Spener vom Dezember 1782:

Von der polnischen Wirthschaft, von der unbeschreiblichen Unreinlichkeit, Faulheit, Besoffenheit und Untauglichkeit aller Dienstboten, von der ungeheuren Theurung aller Sachen, Brod und Fleisch ausgenommen, welches dafür aber auch sehr schlecht ist, und Wildpret ebenfalls ausgenommen, welches zwar gut, aber […] nicht immer und alltäglich zu geniessen ist, – von der Insolenz der Handwerker, ihrer über alle Beschreibung elenden Arbeit, endlich von der Zufriedenheit der Polaken mit ihrem eignen Misthaufen, und ihrer Anhänglichkeit an ihren Vaterländischen Sitten, will ich weiter nichts sagen, damit der Brief nicht zu lang wird (Georg Forsters Werke 1978, S. 225).

 Aus der Analyse aller Stellen, an denen Forster die Wendung polnische Wirtschaft gebraucht, ergibt sich die Schlussfolgerung, dass sie Wertungen enthält wie „zweckrationale Infragestellung (staats)wirtschaftlicher Ineffizienz, moralische Entrüstung über Verschwendung, Prunk und Pose sowie ästhetischer Ekel gegenüber Liederlichkeit und Unsauberkeit“(Orłowski 1996, S. 54). Obgleich seine Neigung, Unwirtschaftlichkeit und Verschwendungssucht anzuprangern, in einem bemerkenswerten Kontrast zu den Schulden steht, die er an seinem jeweiligen Wohnort zu machen pflegte, wurde Forster in späteren deutschen Texten über den „Nationalcharakter“ der Polen zu einer der führenden Referenzen. Begünstigt wurde der Anklang, den seine Urteile fanden, sicher durch die prägnante, an Überzeichnungen reiche Sprache; seine Worte über die polnischen Sitten als „Mischmasch von sarmatischer oder fast neuseeländischer Rohheit und französischer Superfeinheit“ (Georg Forsters Werke 1978, S. 491) wurden u. a. in den tonangebenden Lexika von Rotteck-Welcker (1841) und Meyer (1850) angeführt und in späterer Zeit vielfach instrumentalisiert, u. a. von der Nazipropaganda.

Das Beispiel Forsters und der Karriere, die seine Worte über die Polen machten, markiert einen wichtigen Augenblick in der Geschichte des Stereotyps polnische Wirtschaft um das Jahr 1800. Der Begriff polnische Wirtschaft wurde damals aus seinem historischen Entstehungskontext gerissen; er begann ein Eigenleben zu führen und kam den Bedürfnissen verschiedenster Personen und Gruppen entgegen, die Interesse an seiner ideologischen und politischen Instrumentalisierung hatten. Die im metaphorischen Ausdruck polnische Wirtschaft enthaltene Vorstellung der vormodernen polnischen Gesellschaft und ihres Staates, der infolge seines spektakulären Fiaskos in Form der Teilungen das Brandmal der Ineffizienz trug, hatte wenig mit späteren Formen polnischer Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsorganisation gemein. Ungeachtet dessen wurde von da an in der deutschen Öffentlichkeit sowohl der Ausdruck selbst als auch der durch das Stereotyp polnische Wirtschaft bestimmte Argumentationsstil unverändert auf den „Charakter“ und das Handeln der polnischen Nationalgemeinschaft (als Ganzes wie auch ihrer einzelnen Mitglieder) bezogen.

Die Debatte, in der die Instrumentalisierung des Stereotyps polnische Wirtschaft im 18. und 19.Jh. wohl am deutlichsten zutage trat, galt der Legitimierung der polnischen Teilungen und anschließend der Germanisierungspolitik gegenüber den polnischen EinwohnerInnen im preußischen Teilungsgebiet. Dabei wurde der Ausdruck polnische Wirtschaft relativ früh mithilfe konkreter politischer Sprachregelungen sanktioniert. Dies hing mit der Taktik der preußischen Beamten in der Provinz Südpreußen zusammen, die in ihren Berichten nach Berlin ein Bild der Rückständigkeit zeichneten, die aus Versäumnissen der früheren polnischen Herrschaft resultiere, und dabei jegliche Missstände in der Verwaltung der mangelhaften Entwicklung Polnisch Preußens vor 1772 anlasteten. Die offiziellen preußischen Kabinettsordres Friedrichs II. verfestigten dies negative Bild der polnischen Wirtschaftsweise, der Mentalität der polnischen Edelleute und katholischen Geistlichen, indem sie den alten tadelnswerten Bedingungen das neue, fortschrittliche preußische System gegenüberstellten. Ein typisches Beispiel ist das Schreiben an den Kammerdirektor von Korckwitz in Marienwerder vom 2. Oktober 1781 betreffend die Steuerexekution der polnischen Schlachta:

Das ist alles die liederliche polnsche Wirtschaft der dortigen Edelleute Schuld, die sich nicht zur Ordnung gewöhnen wollen, darum müssen sie das so machen und durchaus keine Reste gestatten, vielmehr scharf dahinter her sein und den Edelleuten Exekution geben, bis sie alles bezahlet haben, denn sonsten schicken sie das Geld doch nur noch Polen oder fressen alles auf und wem sie ihre Kontribution bezahlen sollen, so ist nichts da (Zit. nach: Bär 1909, S. 440).

 Eine weitere interessante Sichtweise auf die Beweggründe des preußischen Königs, die polnischen Lande offiziell als rückständig darzustellen, eröffnet der Brief an seinen Bruder Prinz Heinrich vom 12. Juni 1772, in dem Friedrich II. über die soeben annektierten polnischen Landstriche schreibt: „Es ist eine sehr wertvolle Erwerbung und sowohl vom politischen wie auch vom finanziellen Gesichtspunkt aus gesehen höchst vorteilhaft; um aber weniger Neid zu erregen, sage ich allen, die es hören wollen, daß ich auf meiner Reise nichts als Sand, Fichte, Heide und Juden gesehen habe“ (Politische Correspondenz Friedrichs des Großen 1908, S. 249).

Die preußische Propaganda, die die zivilisatorische Rückständigkeit und das wirtschaftliche Unvermögen der Polen herausstellte, gewann zunehmend Einfluss auf den deutschlandweiten Diskurs über Polen im Zuge der sog. Polenbegeisterung der deutschen liberalen und demokratischen Kreise nach dem Novemberaufstand 1830–1831 (→ edler Polepolnische Freiheitschöne Polin). Angesichts der in seinem Gefolge erhobenen Forderungen, den Provinzen Posen und Westpreußen ihre Eigenständigkeit wiederzugeben, versuchte die preußische Propaganda den Nachweis zu führen, dass das liberale Bild Polens und der Polen (als tapfer, freiheitsliebend und vaterlandstreu) im Grunde eine sentimentale Übertreibung sei. Aus Kongresspolen trafen damals Reiseberichte ein, „die mit haarsträubenden Beispielen vor Augen führen sollten, daß adeliger und kirchlicher Despotismus, Gesetzlosigkeit und Judenherrschaft dort noch immer nicht überwunden seien“ (Seepel 1967, S. 223). Derlei Beschreibungen, die an das Bild der polnischen Wirtschaft anknüpften, sollten in der öffentlichen Meinung Zweifel erwecken, ob die polnische Nation überhaupt zu politischer Vernunft und staatlicher Selbstbestimmung imstande sei. Diese diskursiven Anstrengungen mit dem Ziel, die Teilungen und die preußische Herrschaft in den früheren polnischen Gebieten zu rechtfertigen, können nicht verwundern, wenn man bedenkt, dass die territorialen Erwerbungen aus den Teilungen Polens, die wohlgemerkt ein Drittel des preußischen Staatsgebietes ausmachten, dem Staat Friedrichs II. den Weg zur europäischen Großmachtstellung ebneten.

Als einschneidendes Datum in der Wirkungsgeschichte des Stereotyps polnische Wirtschaft erwies sich das Jahr 1848 und die Polendebatte in der Paulskirche, die als wichtigste Etappe des Legitimierungsdiskurses gilt. In der Debatte des Frankfurter Parlaments über die nationale Neuordnung des unabhängigen Großherzogtums Posen zeichnete sich eine Wende ab, die für den deutschen Diskurs über Polen auf Jahrzehnte hinaus tonangebend sein sollte. Es zeigte sich nämlich, dass die deutschen Liberalen zwar geneigt waren, polnische Unabhängigkeitsbestrebungen bezüglich der russischen Teilungsgebiete zu unterstützen, jedoch die Aussicht, das preußische Teilungsgebiet mit seiner ökonomischen, militärstrategischen und politischen Bedeutung zu verlieren, zu einem unüberwindlichen Hindernis auf dem Weg zur weiteren Zusammenarbeit mit den Polen wurde.

Unter dem Vorwand, die Interessen der deutschen Bevölkerung im Großherzogtum zu schützen, die in der Tat lediglich 34% der Einwohnerschaft ausmachte, wurde mit großer Stimmenmehrheit (342:31) beschlossen, den westlichen Teil des Großherzogtums in den Deutschen Bund aufzunehmen (letztlich kam es nicht zur Teilung der Provinz, stattdessen erklärte der preußische Landtag ganz Posen für preußisch). Symptomatisch für den zu dieser Zeit sich vollziehenden Frontwechsel gegenüber den Unabhängigkeitsbestrebungen der Polen war die nationalistisch gehaltene Rede des ostpreußischen Abgeordneten Wilhelm Jordan, in der wir Beispiele des mehrfachen, zweckgerichteten und prägnanten Gebrauchs des Stereotyps polnische Wirtschaft und seiner Spielarten finden: schlechte Verwaltung des Staates und der Adelsgüter, Verwilderung des Volkes infolge der Anarchie, Neigung der Polen zu den Annehmlichkeiten des Lebens statt zu schwerer Arbeit und einfachem Familienleben, außerdem Gewinnung der (gutgläubigen) Herzen bei Angehörigen anderer Nationen durch Salonmanieren und Ritterlichkeit, um mit ihrer Hilfe den nächsten großen Konflikt heraufzubeschwören. Angesichts der so beschriebenen Indolenz der polnischen Herrschaftsschicht sprach Jordan von einer „revolutionären, humanistischen Bedeutung der Theilung Polens“ (Wigard 1848, S. 1147). In seiner Rede kommt auch der Einfluss der damaligen deutschen Geschichtsschreibung mustergültig zum Ausdruck, und zwar sowohl des seit dem 18.Jh. entwickelten teleologischen Gedankens (dem zufolge die Staatsform der Polen vor der Teilung sowie ihre vermeintliche Unfähigkeit, ihren Staat zu lenken, unvermeidlich zum Untergang führen mussten) als auch der oft aufgegriffenen Maxime Friedrich Schillers „die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ als Beglaubigung der These von den „selbstverschuldeten Teilungen“ – in Jordans Worten: „Mag man immerhin der Geschichte recht geben, die auf ihrem, von der Nothwendigkeit vorgezeichneten Gange ein Volksthum, das nicht mehr stark genug ist, sich zu erhalten unter ebenbürtigen Nationen, mit ehernem Fuße stets unerbittlich zertritt“ (Wigard 1848, S. 1144).

Beachtenswert sind zwei Motive in Jordans Rede, die ab der Mitte des 19.Jhs. immer öfter deutsche Äußerungen über die Polen bestimmten: das Motiv der deutschen zivilisatorischen Mission im Osten (→ deutscher Ostendeutsche Sendung im Osten ) sowie – im Rahmen sich verstärkender Nationenbildungsprozesse – die Zeichnung des polnischen Nationalcharakters als Zerrspiegel der bürgerlichen Tugenden, die die deutsche meinungsbildende Elite für „deutsche Tugenden“ hielt. Das erste der beiden genannten Motive verquickte sich in der zweiten Jahrhunderthälfte mit dem deutschen Kolonialdiskurs, der die „Ostkolonisation“ propagierte und narrative Strategien entwickelte: die Idee der deutschen zivilisatorischen Sendung, der historischen, dem deutschen Volk von allerhöchster Instanz übertragenen Mission, das Bild der polnischen Kultur als mit der deutschen absolut unvereinbar, die Anhäufung negativer Eigenschaften im Polenbild, die Nationalisierung der Landschaft in Verbindung mit geschlechtlichen Zuschreibungen (nach dem Modell „die polnische Erde, die der Pole verkommen lässt, wird von der Hand des deutschen Kolonialherrn fruchtbar gemacht“), schließlich die Diskreditierung der Polen mithilfe der Exotisierung respektive Orientalisierung („der Pole als Indianer des Ostens“). Unter denen, die diese Ideen propagierten und als „borussianische“ Schriftsteller bezeichnet werden, finden sich z.B. der Historiker Heinrich von Treitschke und Gustav Freytag, der bemerkenswerte Verfasser des Long- und Bestsellerromans Soll und Haben (1855). Dieser in den Jahren 1855–1965 in einer Auflage von circa 1,2 Mio. Exemplaren abgesetzte Roman war jahrzehntelang eine traditionelle Konfirmationsgabe und verfestigte so das Bild des polnischen Chaos und Unordnung sowie des Polen als Feind des Deutschtums, letzteres definiert durch die Tugenden der protestantischen Gesellschaft (Fleiß, Arbeitsamkeit, Bescheidenheit, Redlichkeit, Ordnung und Verantwortungsbewusstsein) und verkörpert durch die Hauptfigur Anton Wohlfart. Für die Leserschaft bildete der Roman damit „eine ahistorisch verallgemeinernde Lektion zivilisatorischmoralischer deutsch-polnischer Asymmetrie“ (Orłowski 1996, S. 178).

Erstaunlich ist, in welchem Ausmaß diese Sichtweise von einem Großteil der gebildeten Oberschicht im Deutschland des 19.Jhs. kritiklos übernommen wurde. Nicht einmal in den literarischen Werken eines Heinrich Heine oder Theodor Fontane entkommen polnische Figuren dem eindimensionalen infantilisierenden Schema des unbeständigen, affektgesteuerten, unzuverlässigen Polen, der sich lieber vergnügt, anstatt hart zu arbeiten. Dass die Stigmatisierung der Polen nach dem Muster polnische Wirtschaft deutschlandweit Eingang ins allgemeine Denken fand, spiegeln auch die auflagenstarken deutschen Enzyklopädien und Lexika wieder. Das typische, auf der Charakteristik der Ausgrenzung gründende Polenbild bringt etwa Herrmann Wagners Staats- und GesellschaftsLexikon seiner Leserschaft dar:

Der Pole, der Franzose des Nordens, ist rasch entzündbar für alles Schöne, Große, Erhabene: Ehre, Ruhm, vor allem sein Heimathland liebt er mit Hingebung und Leidenschaft, und er ist opferfreudig […] Jene Rührigkeit, Reizbarkeit und Entzündlichkeit seiner Natur birgt aber zugleich die Nachtseiten des Polen in sich: seine Gefühle verflackern so leicht, wie sie entflammt wurden, die Eindrücke sind einem jähen, fast unheimlichen Wechsel unterworfen: die Grenzen des Patriotenthums und des Egoismus, der Hochherzigkeit und der Blasirtheit, des Edelsinns und der Gemeinheit liegen im Charakter des Polen dicht bei einander: der Drang zur Freiheit wird zur Zügellosigkeit und Ungebundenheit, der leichte Sinn verwandelt sich in Leichtsinn […] so scheut sein Patriotismus die Arbeit und Anstrengung, seinem romantischen Sinne fehlt jede praktische Bethätigung, sein Vaterlandsgefühl entbehrt der rechten Basis, der Liebe zum Gesetz, zum Recht, zur Gerechtigkeit und zum staatlichen Oberhaupt und den Behörden des Staates (Wagener 1864, S. 676).

 Die in beliebten Zeitschriften wie dem Kladderadatsch veröffentlichten Karikaturen veranschaulichen hingegen die breite Zustimmung der Öffentlichkeit zu verleumderischen Polensatiren sowie das gesellschaftliche Bedürfnis, sich seiner selbst durch fortwährende Aktualisierung des einmal getroffenen Stereotypenkonsenses zu versichern. 

Der im „langen 19. Jahrhundert“ entwickelte, in der deutschen Gesellschaft weit verbreitete Mythos der zivilisatorischen Überlegenheit gegenüber den Polen vereitelte die Aufnahme partnerschaftlicher Beziehungen zu Vertretern des 1918 neu geschaffenen polnischen Staates. Die allgemeine Weigerung, ein souveränes Polen in neuen Grenzen anzuerkennen, und das politische Streben nach Revision dieser Grenzen hatten zur Folge, dass die Rhetorik der polnischen Wirtschaft aggressiv genutzt wurde, um Polen zu diskreditieren, auch auf internationaler Bühne. Dass das deutsche Stereotyp die britische Polenpolitik der Zeit zwischen den Weltkriegen beeinflusste, wie früher u. a. schon Adam Zamoyski und Gerd Behrens nahelegten, bestätigen Stefan Dyroffs Untersuchungen (Dyroff 2013).

Den tragischen Höhepunkt der Instrumentalisierung des Stereotypengeflechts polnische Wirtschaft bildete die die Polen entmenschlichende Propaganda des Dritten Reiches; sie unterstützte Ziele der Hitlerpolitik wie Unterwerfung der polnischen Gebiete im Zuge der „Lebensraumgewinnung“ sowie Ausbeutung und Vernichtung der polnischen Bevölkerung als „Untermenschen“. Um dieses Ziel zu erreichen, musste ein so starkes Feindbild konstruiert werden, das allein schon die Existenz des Feindes Ablehnung und Hass hervorrief. Die goebbelssche Propaganda setzte auf das Bild des Polen als Peiniger der in Polen lebenden Deutschen. Dieses bereits ein halbes Jahr vor Kriegsbeginn verbreitete Bild wurde u. a. durch die Filmkunst verstärkt, besonders durch den Film Heimkehr (1941), in dem die Polen suggestiv als wilde Bestien und erbarmungslose Degenerierte dargestellt werden, die unschuldige Deutsche verfolgen. Schnell wurde der Pole zum „Synonym des Mörders Wehrloser“ (Madajczyk 1984, S. 394), und der psychosoziale Einfluss dieser Propaganda ermöglichte eine Rationalisierung der verbrecherischen Handlungen des Dritten Reiches gegenüber Polen.

Ein Blick in die Weisungen des goebbelsschen Propagandaapparates veranschaulicht, auf welch direkte Weise die Konstrukteure dieses Feindbildes an das tief im kollektiven Selbstverständnis der Deutschen verwurzelte Stereotyp polnische Wirtschaft anknüpften, das eine Minderwertigkeit der Polen implizierte. So lieferte die Anweisung vom 30. August 1940 zum Jahrestag des sog. Bromberger Blutsonntags eine Vorlage für die erwünschte ursächliche Gedankenverbindung zwischen der Minderwertigkeit der Polen und ihrer Neigung zu Verbrechen an Deutschen: Es dürfe „im Bewusstsein des Volkes nicht einschlafen, dass das Minderwertigkeitsgefühl der Polen gegenüber dem kulturell und moralisch stärkeren Deutschen […] die Polen immer wieder zu Massakern [zwinge]“ (Zit. nach Madajczyk 1984, S. 394).

Verwendet wurde die Bezeichnung polnische Wirtschaft in ihrer eindeutig negativen übertragenen Bedeutung dabei sowohl in einer offiziellen Ansprache Hitlers vom 6. Oktober 1939, der den Angriff auf Polen mit der Unfähigkeit der Polen und dem fragilen Zustand des polnischen Staatswesens rechtfertigte („Wer zum ersten Mal dieses Land zwei oder drei Wochen lang besichtigt, der erhält erst einen Begriff vom Sinn des Wortes: ‚Polnische Wirtschaft‘!“), (Klöss 1967, S. 222) als auch z.B. in der Anweisung Nr. 1306 vom 24.10.1939 über die Behandlung der polnischen Bevölkerung als Untermenschen, die das Propagandaministerium bereits am selben Tag an die Presse gab. Bezeichnungen wie polnische Wirtschaft oder polnische Verkommenheit sollten demnach so oft wie möglich und so lange wiederholt werden, bis jeder Deutsche jeden Polen im Unterbewusstsein als Ungeziefer behandele (Madajczyk 1984, S. 249).

Die so beschaffene Propagandabotschaft betäubte nicht nur das Gewissen und reduzierte die Reaktionen der deutschen Bevölkerung auf Verbrechen an Polen, sondern spielte – erweitert um die Rassenideologie – eine Rolle bei der Anbahnung des verbrecherischen Tuns der SS-Einheiten sowie der fortschreitenden Depravierung der Wehrmacht bei der Eroberung und Besetzung Polens. In der Folge forderten Krieg und Besatzung in Polen eine erschreckende Bilanz: circa 6 Mio. Tote, hauptsächlich Zivilisten (davon ungefähr die Hälfte Juden), deren große Mehrheit der brutalen deutschen Besatzungspolitik in Polen zum Opfer fiel (und der Rest der Sowjetunion und anderen Parteien). Höchst aussagekräftig ist ein Vergleich der demografischen Angaben über die Verluste in Polen (157 bis 171 Tote je tausend EinwohnerInnen), der UdSSR (124 Tote), Jugoslawien (108), Griechenland (35), Albanien (24), Holland (22), der Tschechoslowakei (21), Luxemburg (16), Frankreich (13) und Belgien (12 Tote je tausend EinwohnerInnen), (Bömelburg; Musial 2000, S. 102f.).

Eine frühe deutsche Betrachtung über den Zusammenhang der Kriegsfolgen mit dem seit langem angelegten Polenbild stellte 1960 beim Kongress der katholischen Friedensbewegung Pax Christi der Vizepräsident der deutschen Sektion, Wilhelm de Schmidt, vor, der im Hinblick auf die sog. Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten sagte:

Wenn ich als Deutscher in diesem Kreis diese Frage angehe, dann kann ich dies nur, wenn vorher ein ‚mea culpa‘ gesprochen ist. Wir glauben, dass in dieser Hinsicht die deutschen Katholiken und insbesondere die deutsche Pax-ChristiBewegung sich in einer geschichtlichen Stunde befinden. Unsere Aufgabe ist es zunächst jedem redlichen Deutschen zu sagen, dass die in Polen begangenen Untaten ohne Zahl auf dem Gewissen jedes einzelnen lasten. Wir müssen ohne Scheu mit Scham sagen, dass das Unrecht nicht erst im Jahre 1939 begonnen hat. Unser Schuldbekenntnis muss in die Vergangenheit über Jahrzehnte und lange Perioden der gemeinsamen Geschichte hinausgreifen. Wir sind in diesen Zeiten schuldig geworden durch Geringschätzung und durch Verachtung. Ein Herrenstandpunkt hinderte uns daran, die Brüder in Polen als ebenbürtig anzuerkennen. Wir waren zu dieser Anerkennung nicht bereit von Mensch zu Mensch, noch weniger von Volk zu Volk … Es geht nach diesem Schuldbekenntnis darum, das Polenbild bei uns neu zu erarbeiten (Wilhelm de Schmidt 1975, S. 146).

 Ausgehend von der Annahme, dass das Denken unser Handeln bestimmt, wies de Schmidt indirekt auf die Rolle der Stereotype bei der mentalen Vorbereitung der deutschen Gesellschaft auf den totalen Krieg hin: Gerade die schon Jahrzehnte vor Entstehung des Dritten Reiches im deutschen Polendiskurs präsenten Stereotype vermochten jene Geringschätzung und Verachtung zu wecken, die in ihrer extremsten Form dazu verleitete, den Polen die Menschenwürde (Untermenschen) und im Zuge der sog. Vernichtungspolitik das Lebensrecht abzusprechen.

Gleichzeitig ergibt sich die Frage, inwieweit die auf das Stereotyp polnische Wirtschaft sich berufende Propaganda Einfluss auf die Entscheidungen über die von Deutschen verübten Zerstörungen in Polen gehabt haben mag. Der in Gleiwitz geborene zweisprachige Dichter, Essayist, Regisseur, Hörspiel- und (Video-) Theaterautor Peter-Jörg (Piotr) Lachmann stellte mit Blick auf die Schönheit Warschaus vor dem Krieg folgende Hypothese auf:

Ich erwähne […] auch, wie Hitler am 5. Oktober 1939 die Militärparade auf der Ujazdower Allee abnahm. Kaum bekannt ist, dass anschließend ein Abschiedsempfang in Okęcie stattfinden sollte. Doch Hitler verzichtete darauf. Er geriet in Wut, verlangte augenblicklich ein Flugzeug und flog nach Berlin. Ich interpretiere das so, dass dem Führer in Warschau der zivilisatorische Mythos zusammenbrach, wonach es Deutschlands Aufgabe sei, den Osten europäisch zu machen. Womöglich weniger ein Mythos als ein Vorwand für den Angriff. Vielleicht beschloss er schon damals, Warschau dem Erdboden gleichzumachen (Piotr Lachmann, Europejski mit Warszawy, in: Rzeczpospolita vom 17.3.2007).

 Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die stereotype Wahrnehmung und Darstellung Polens in der deutschen Öffentlichkeit keineswegs vorbei. Einer der Gründe dafür war die unzureichende Entnazifizierung, die es PolitikerInnen, RichterInnen, LehrerInnen, DozentInnen und anderen „WissensmultiplikatorInnen“ ermöglichte, das negative Polenbild zu verbreiten. Von entscheidender Bedeutung für die ungebrochene Vitalität des Stereotyps polnische Wirtschaft in der bundesrepublikanischen Gesellschaft waren in den ersten Nachkriegsjahren zudem polenfeindliche Stimmungen aufgrund des Verlusts der deutschen Ostgebiete sowie der verbreiteten Weigerung, die neue Grenzziehung anzuerkennen. Die vor diesem Hintergrund entwickelte Praxis der Vertriebenenorganisationen und dann des Bundes der Vertriebenen (BdV), Polen als „Vertreiberstaat“ zu diskreditieren, berief sich bewusst auf die bereits im vorausgehenden Jahrhundert entstandenen Elemente des negativen Polenbildes. Wachgehalten wurde die Kenntnis des Stereotyps polnische Wirtschaft auch vermittels der Literatur, z.B. Freytags bereits genannten Romans Soll und Haben, der auch nach 1965 häufig wieder aufgelegt wurde. Dadurch bereitete es weder im Westen noch im Osten der innerdeutschen Grenze Schwierigkeiten, im Zusammenhang mit der Diskreditierung der Gewerkschaft „Solidarität“ in den 1980er Jahren dieses Stereotyp erneut aufzugreifen. Die Karikaturen in der westdeutschen Presse jener Zeit hatten ihre östliche Entsprechung in boshaften, von der DDR-Propaganda verbreiteten Ansichten und Witzen über faule, anarchistische Polen, die lieber streiken, statt zu arbeiten.

Auch eine Reihe von Problemen, welche die Gesellschaft und die PolitikerInnen beider deutscher Staaten im Zusammenhang mit dem Untergang des Kommunismus und der Wiedervereinigung zu bewältigen hatten, bewirkten oft Bezugnahmen auf die polnische Wirtschaft. Der Aufhebung der Visumpflicht für Polen 1991 gingen etwa in der ostdeutschen und Berliner Presse geäußerte Befürchtungen vor einem „Ansturm der Barbaren“ voraus. Auch negative Phänomene wie Autodiebstahl, Schmuggel und Prostitution, die bald darauf im Grenzgebiet beobachtet wurden, galten den Deutschen als Bestätigung ihrer Befürchtungen, die aus der Wahrnehmung der Polen unter dem Gesichtspunkt der polnischen Wirtschaft resultierten. Zu fragen ist lediglich, ob diese Phänomene, die im Grunde Randgruppen der polnischen Gesellschaft betrafen und in der Regel an den Grenzen zu solchen Staaten auftraten, zu denen ein starkes Wohlstandsgefälle bestand, in den deutschen Medien in so großem Ausmaß aufgegriffen worden wären (etwa in der Kultserie Tatort oder der beliebten Fernsehsendung Die Harald-Schmidt-Show), hätte es nicht die lange Tradition der positiven Selbstdarstellung der deutschen Gesellschaft auf Kosten der Polen gegeben.

Gleichzeitig hat allerdings der 1991 unterzeichnete deutsch-polnische Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit Rahmenbedingungen für die Bemühungen geschaffen, das Stereotyp polnische Wirtschaft zu dekonstruieren, was in zahlreichen Forschungsinitiativen, Publikationen und wissenschaftlichen Konferenzen zum Ausdruck kommt, die mitunter gemeinsam von Deutschen und Polen ausgingen. An Institutionen, die diese Bestrebungen fördern, sind sowohl einzelne Universitäten zu nennen (darunter die 1991 in Frankfurt an der Oder eröffnete Europa-Universität Viadrina und das Collegium Polonicum in Słubice als Gemeinschaftseinrichtung der Viadrina und der Adam-Mickiewicz-Universität Posen), als auch Organisationen, die ausdrücklich zur Verbesserung und Festigung der deutsch-polnischen Beziehungen ins Leben gerufen wurden, beispielsweise die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit oder das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt.

Allerdings gerieten die deutsch-polnischen Beziehungen schon kurz nach der im Zeichen der Versöhnung stehenden Ära der „goldenen neunziger Jahre“ erneut unter Spannung; in den Medien dominierte die Kritik des polnischen Militäreinsatzes im Irakkrieg und sodann eine Welle von Veröffentlichungen, die die unterschiedlichen Interessen Polens und Deutschlands hinsichtlich der EU-Osterweiterung, die hohen Kosten der Integration und die Bedrohung durch billige Arbeitskräfte hervorhoben. Die Publikationen der damaligen Zeit (→ Presse), die sich nicht selten aus dem Vorrat der Stereotype von der polnischen Rückständigkeit und dem Chaos im Inneren bedienten, verursachten eine tiefe Skepsis der deutschen Bevölkerung gegenüber der EU-Osterweiterung. Viele Kommentatoren meinen, hätte es damals in Deutschland ein Referendum zur EU-Erweiterung gegeben, so wäre Polen nicht Mitglied geworden.

Zur vorherrschenden Figur in den Mediendiskussionen jener Zeit wurde Polen als anarchischer, unvorhersehbarer Veto-Spieler, ein Bild, das auf das „Gift des liberum veto“ (Weißenhorst 1850, S. 245) zurückgeht, das deutsche Kommentatoren das ganze 19.Jh. hindurch unermüdlich bemüht hatten. Die Aura, in der damals polnische Angelegenheiten kommentiert wurden, veranschaulicht exemplarisch der Artikel Ab in die Schmollecke, der im Januar 2004 im Wochenmagazin Der Spiegel erschien und Polen die Hauptschuld am Scheitern des Brüsseler Gipfels zur EU-Verfassung gab (es sei erwähnt, dass z.B. britische Medien als einen Grund für das Scheitern die unnachgiebige Haltung der Regierungen Deutschlands und Frankreichs anführten). In einem Tonfall, der gelegentlich zwischen Missbilligung, Ironie und Spott changiert, aktivieren die Autoren in dem Spiegel-Artikel Assoziationen aus dem Komplex polnische Wirtschaft: Polen sei als Land „auf dem besten Wege, in der EU zum notorischen Störer zu werden“ und bedrohe die künftige EUAußen- und Verteidigungspolitik. Als Beweggrund der polnischen PolitikerInnen, die auf einer für sie vorteilhaften Stimmenverteilung bestanden, wurden nicht rationale Argumente gesehen, sondern Nationalstolz: „Über Stolz […] kann man nicht verhandeln“, zitierten die Autoren den deutschen EU-Abgeordneten Elmar Brok. Selbst die Äußerung des EU-Erweiterungskommissars Günter Verheugen erhielt in diesem Kontext einen Doppelsinn, da er „die Substanz der polnischen Argumente abenteuerlich“ nannte. Besonders bissige Bemerkungen galten dabei Polens Teilnahme am Irakkrieg, so als verursache es den Autoren besonderes Unbehagen, das feste Bild Polens als ewiger Verlierer revidieren zu müssen: Ihrer Ansicht nach habe sich „das kleine Polen“ an der Seite „der großen Amerikaner“ überhoben, zumal sein Gemeinwesen zerrüttet sei (Korruption, schlecht funktionierende Justiz, kollabiertes Gesundheitssystem), und das alles nur, um endlich ihr durch die Geschichte gebeuteltes Selbstwertgefühl aufzubessern, nach dem Motto: „Wir sind wieder wer“. Die Autoren schließen ihren Artikel mit Umfrageergebnissen: Polen (das ihrer Ansicht nach Deutschland vor allem zu Dankbarkeit verpflichtet ist) sollte nach Meinung von 43% der Befragten für die Verhinderung der Annahme der EU-Verfassung durch Kürzung der Finanzzuschüsse bestraft werden (Ralf Beste, Winfreid Didzoleit, Jan Puhl, Ab in die Schmollecke, in: Der Spiegel 2004, Nr. 3). Schon allein die Formulierung der Umfrage erinnert an den Kolonialdiskurs des 19.Jhs., bei dem der Hegemon das Recht usurpierte, über alle grundlegenden Angelegenheiten der unterworfenen Gesellschaft zu entscheiden, die als unreifes, infantiles, zu rationalem Handeln unfähiges und der Disziplinierung bedürfendes Kind dargestellt wurde. Dass der Titel sich auf das kindliche Schmollen bezieht, lässt zudem an das Bild denken, das deutsche Karikaturisten in der Zwischenkriegszeit propagierten: Polen als lautes, verzogenes, abstoßendes Gör (Szarota 1996, S. 114).

Auch in den ersten Jahren nach dem EU-Beitritt Polens kam es zu einer Reihe von Missverständnissen zwischen den beiden Staaten (z.B. über das Zentrum gegen Vertreibungen oder auch den Inhalt des Lissabonner Vertrages), die beiderseits der Oder und Lausitzer Neiße unter Bezugnahme auf tief im kollektiven Gedächtnis verwurzelte Stereotype kommentiert wurden (→ Stereotype). Nicht unbedeutend war dabei das weithin von sowohl deutschen als auch polnischen Medien eingesetzte „Infotainment“(Ociepka 2005, S. 223) zur Erhöhung der Lese- oder Einschaltquote auf Kosten journalistischer Redlichkeit. Dieses Phänomen bewirkte, dass Massenmedien die Äußerungen von Politikern und Diplomaten an Schärfe übertrafen.

Im Falle der deutschen Medien, die sehr kritische Bewertungen über polnische PolitikerInnen abgeben, sind nicht nur die Art der Formulierung und das Ziel dieser Kritik zu beachten, sondern auch die Tatsache, dass man grundsätzlich „Themen in den Vordergrund rückt, die mit Stereotypen und Vorurteilen über Polen in Verbindung stehen“ (Gatzke 2010, S. 72). Betrachtet man die typischen Urteile, die nach dem EU-Beitritt über Polen formuliert wurden, so ist man geneigt, Niels Gatzkes These zuzustimmen, dass die Kritik in den Massenmedien darauf abzielte, „die Unvereinbarkeit der polnischen politischen Kultur mit den in Westeuropa zugeschriebenen Standards zu entlarven“ (Gatzke 2010, S. 72). Das Bild, das sich aus den Medienberichten dieses Zeitraums ergibt, ist im Prinzip eine Neuauflage der etablierten Stereotypenkonstellation aus der Matrix polnische Wirtschaft, erscheint doch die polnische Politik darin als irrational, unverantwortlich, anarchistisch, nur aufs Geld bedacht. So wurde beispielsweise in der Wochenzeitung Die Zeit, die die „nationalistische[n] Töne“ in Polen kritisierte, festgestellt, man habe es in diesem Falle mit einem „besonderen Neo-Sarmatismus und einer barocken Politik der Würde“ zu tun, die „sehr national“ sei, „die sich für Konsequenzen nicht interessiert“ (Gunter Hofmann; Ach, Kaczyński, in: Die Zeit 2006, Nr. 11).

Ein anderer Autor der Wochenzeitung resümiert: „Dem Land geht es zu oft um eine rühmenswerte, zu selten um eine rational zu gestaltende Zukunft“ (Christian Schmidt-Häuser, Der Held der Neinsager, in: Die Zeit 2003, Nr. 52). In den in paternalistischem Tonfall vorgetragenen Ausführungen über Polen erscheint zudem überaus oft die aus dem 19.Jh. stammende Figur Polens als ungestümes, unberechenbares Kind: „Schon sind Stimmen zu hören, die bedauern, dass es keinen Weg für EU-Mitglieder gibt, sich hinauszuwählen. Polen könne ja gehen. Man spürt: die Geduld geht zu Ende. Polen, sagen wir es ruhig offen, ist zum Sorgenkind Europas geworden“ (Gunter Hofmann, Bizarres Theater, in: Die Zeit 2007, Nr. 25.). Was die Intensität der „Medienschelte“ angeht, hat Polen im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends eine Sonderstellung in den deutschen Medien erhalten. Berechtigt erscheint hier die rhetorische Frage von Kazimierz Wóycicki und Waldemar Czachur:

Als 2007 hitzige Diskussionen über die Zukunft des EU-Reformvertrags geführt wurden, druckte ‚Der Spiegel‘ auf seiner Titelseite ein Bild der KaczyńskiBrüder mit der Aufschrift ‚Wie die Polen Europa nerven‘, und deutsche Medien schrieben allenthalben, was für ein großer Bremser Polen für den europäischen Einigungsprozess sei. Nach dem gescheiterten Referendum in Irland, das in der Tat die Integration der EU gebremst hat, fragen dieselben Medien, wie man aus dieser Situation wieder herauskommen und wie man Irland helfen könne. Kann man hier von Objektivität sprechen, von Empathie oder von Verantwortung? (Wóycicki; Czachur 2009, S. 78).

 Die Kritik der polnischen Europapolitik, garniert mit Berichten über die Rolle der erzkonservativen katholischen Kirche und des polnischen Antisemitismus, und ebenso die zahlreich in den Medien verbreiteten Aufnahmen von Pferdefuhrwerken auf den polnischen Straßen sowie anderer Relikte aus alten Zeiten, haben allgemein den Eindruck erweckt, Polen sei (nicht nur mental) rückständig und hinterwäldlerisch. Dieser umfangreiche Polendiskurs hatte ein besonderes Merkmal: „Bei den Deutschen sedimentieren sich diese Berichte meist nicht als differenzierte Urteile zu spezifischen deutsch-polnischen Problemen, sondern gliedern sich unmittelbar in das bereits bestehende stereotype Polenbild ein“ (Gatzke 2010, S. 73) – nämlich in das Bild der polnischen Wirtschaft.

Und auch wenn die von Gatzke verwendete Kollektivform „die Deutschen“ die Gefahr birgt, allen Deutschen generalisierend und en bloc die Neigung zu unterstellen, Polen und die Polen in den Kategorien der polnischen Wirtschaft zu denken, so bleibt doch festzuhalten, dass in der deutschen Öffentlichkeit zu Beginn des 21.Jhs. nach wie vor – unabhängig vom Grad der Akzeptanz dieses Denkschemas – das Stereotypengeflecht polnische Wirtschaft allgemein bekannt war und sich sowohl Kabarettisten in ihren Sketchen und Polenwitzen darauf bezogen, als auch Fernsehwerbungen, die prinzipiell den Massengeschmack bedienen (→ Popkultur).

Ein interessanter Augenblick in der Geschichte des Stereotyps polnische Wirtschaft war zweifelsohne die Zeit um das Jahr 2010, als eine Reihe von Ereignissen die Reflexion auslöste, inwieweit positive Erfahrungen imstande sind, ein negatives Stereotyp zu entkräften. Zu den spektakulären Ereignissen, die damals die stereotype Sichtweise Polens als ineffizienter Staat widerlegten, gehören z.B. die außergewöhnliche Stabilität der polnischen Wirtschaft in der EU während der globalen Finanzkrise (2008), das reibungslose Funktionieren des Staats nach dem Flugzeugabsturz bei Smolensk (2010), bei dem u. a. Staatspräsident Lech Kaczyński und dessen Ehefrau sowie zahlreiche Parlamentsabgeordnete, Regierungsmitglieder und ranghohe Offiziere ums Leben kamen, oder auch Polens erste EU-Ratspräsidentschaft (2011). Man könnte sich ferner fragen, inwieweit das Stereotyp polnische Wirtschaft auch durch andere Tatsachen geschwächt wurde, etwa den Wegfall der Grenzkontrollen und der Visumpflicht zwischen Polen und Deutschland, die Modernisierungen in Polen oder auch die Förderung einer gemeinsamen europäischen Identität sowie der Toleranz gegenüber der kulturellen Vielfalt innerhalb der EU.

Die statistischen Untersuchungen sind eindeutig: Weder der wirtschaftliche Erfolg Polens während der Finanzkrise noch die von vielen deutschen Medien vermeldete Tatsache, dass die polnische Wirtschaft im Jahr 2009 als einzige in der EU eine positive Entwicklung zu verzeichnen hatte (mit einem Wachstum von 1,6%, während das BIP in der Eurozone durchschnittlich um 4,4% sank), vermochten Polens Ansehen in Deutschland spürbar zu verbessern; nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Jahr 2011 meinten lediglich 8% der Befragten, es gehe der polnischen Wirtschaft gut. Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass Stereotype sich äußerst langsam verändern und darüber hinaus höchst resistent gegenüber Erfahrungen sind, die ihnen widersprechen – der Nutzer eines Stereotyps deutet sie oft als „Ausnahme, die die Regel bestätigt“, ignoriert sie oder interpretiert die entsprechende Erfahrung um, so dass sie zu der bisherigen Überzeugung passt. Illustriert wird dieser Mechanismus z.B. in manchen Internetkommentaren, in denen das außergewöhnliche Wirtschaftswachstum Polens innerhalb Europas lediglich als Resultat der von Polen erhaltenen hohen Zuschüsse aus dem EU-Haushalt angesehen wurde – ganz zu schweigen davon, dass die Zuschüsse um ein Vielfaches niedriger waren als die westdeutschen Mittel für die ostdeutsche Wirtschaft, das Wirtschaftswachstum in Polen sich aber dennoch deutlich schneller vollzog. Zugleich begann sich im zweiten Jahrzehnt des 21.Jhs. die Berichterstattung über Polen zu diversifizieren. Neben traditionellen Berichten im Stile des Stereotyps polnische Wirtschaft – Meldungen, die von Polen begangene Verbrechen herausstellten, Reportagen über die Arbeit der Verkehrspolizei, die polnische Lastwagen mit technischen Mängeln anhielt, Sendungen (z.B. landeskundlichen Inhalts), in denen das Bild der zivilisatorischen Rückständigkeit Polens verstärkt wurde (Leiterwagen, Brunnen, Menschen in extremer Armut) – erschienen nun zunehmend Medienberichte über Polen in neutraler oder gar positiver Diktion, in denen die Anstrengungen und Erfolge der Polen bei der wirtschaftlichen Modernisierung des Landes gewürdigt wurden, die zwar nicht ohne Verzicht und große gesellschaftliche Opfer, aber unter Wahrung eines relativen sozialen Friedens durchgeführt wurde. Besonders Nachrichten über das stetige Wirtschaftswachstum, die wettbewerbsfähige und krisenfeste Wirtschaft sowie die Haushaltsdisziplin (zumal vor dem Hintergrund der Krisen in südeuropäischen Ländern), die gelungene Ausrichtung der Fußballeuropameisterschaft (2012, zusammen mit der Ukraine) oder auch über die hohe Qualifikation neuer Gruppen polnischer EinwanderInnen (InformatikerInnen, ÄrztInnen usf.) brachten neue Töne in das mediale Polenbild in Deutschland. Der sich damals abzeichnende Wandel in der medialen Darstellung Polens zeigt deutlich, dass es nicht so sehr diskursive Versuche der Infragestellung von Stereotypen (wissenschaftliche Veröffentlichungen, Konferenzen, Vorträge) sind, sondern grundlegende Veränderungen des Handelns auf der Makroebene (z.B. die engere Zusammenarbeit Polens und Deutschlands in der EU, insbesondere in der Finanzpolitik, sowie die Aussicht, gemeinsam demografischen, ökonomischen, energetischen etc. Herausforderungen begegnen zu müssen), die eine Revision der Stereotype ermöglichen. Der Wandel in der Polendarstellung in einem Teil der deutschen Medien spiegelte somit einerseits größere Prozesse wider, andererseits sind jedoch ebenso der gute Wille und der originäre Beitrag der Medien zur Dekonstruktion negativer Interpretationsmuster aufgrund der Langlebigkeit des Stereotyps polnische Wirtschaft zu würdigen. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang Gesten, wie die Veröffentlichung von Texten polnischer PublizistInnen in deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in denen Ursprung und Wirkungsweise des Bedeutungsüberschusses des Begriffs polnische Wirtschaft in der Geschichte erläutert und eine Neubewertung dieses Ausdrucks als Synonym für Dynamik und Flexibilität vorgeschlagen werden (so z.B. Adam Krzemiński in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder Piotr Buras in der Zeit).

Daran, dass das Stereotyp polnische Wirtschaft indes keineswegs völlig überholt ist, erinnerte 2013 der Historiker Hans Henning Hahn und wies nebenbei auf die Bedeutung der individuellen Sichtweise der AuslandskorrespondentInnen hin, die für deutsche Medien über Polen berichten. In seiner Polemik gegen einen Artikel des deutschen Korrespondenten der Welt in Polen, der einen Gastbeitrag für die Schweizer Tageszeitung Neue Zürcher Zeitung verfasst hatte, stellte er fest: „das wohl bekannte Bild vom gewohnten Chaos der ,polnischen Wirtschaft‘ brauchen wir nicht leichtfertig als überholtes Stereotyp ad acta zu legen“. In dem Polenbild des Korrespondenten gebe es demnach „nur Liberale und Nationalisten, Nuancen sind nicht der Rede wert. Zwischen ihnen tobe ein Kampf voller Hass, denn es gehe nicht um Argumente oder Wertvorstellungen, sondern um starke Emotionen – wo kämen wir denn da hin, wenn wir slawischen Gesellschaften rationale Argumentationen zubilligen würden …“ (Leserbrief von Hans Henning Hahn, in: Neue Zürcher Zeitung vom 25.1.2013). Die Argumentation aus dem Bezugsrahmen polnische Wirtschaft erweist sich nämlich nach wie vor als attraktive gedankliche Vereinfachung zur Reduzierung der Komplexität der Welt im Zeitalter des Informationsüberflusses und entspricht – wenn man den zeitgenössischen Medien eine Tendenz unterstellt, dem Publikum nach dem Munde zu reden – dem Bedürfnis eines Teils der Gesellschaft nach Sensation und Selbstaufwertung.

Polnische Wirtschaft heute

 Das Datenmaterial über die jüngste Geschichte des Stereotyps polnische Wirtschaft erzeugt ein Bild, das reich an Licht und Schatten ist. Sowohl der Bekanntheitsgrad des Stereotyps als auch sein Anwendungs- und Wirkungsbereich scheinen in der ethnisch, religiös und national zunehmend diversen deutschen Gesellschaft einem komplexen Wandel, aber auch politischen Einflüssen zu unterliegen. Zu verzeichnen sind einerseits Aktivitäten von Personen und Milieus, die sich für den deutsch-polnischen Dialog einsetzen, um die deutsch-polnischen Beziehungen von der Last alter Stereotype zu befreien, sowie Untersuchungsergebnisse, wonach sich ein Teil der Gesellschaft von alten nationalen Stereotypen distanziert; andererseits belegen Situationen die Kontinuität der Bekanntheit des Stereotyps polnische Wirtschaft, der Tendenz, Ereignisse gemäß den in diesem Stereotypengeflecht enthaltenen Interpretationsmuster zu deuten (gelegentlich zu instrumentalisieren), sowie der Attraktivität des Stereotyps als Mittel zur Aufbesserung des eigenen Selbstwertgefühls auf Kosten des „Anderen“.

Dieser Zwiespalt ist schon mit Bezug auf die Bekanntheit der Formulierung polnische Wirtschaft ablesbar. In didaktischen Materialien für deutsche SchülerInnen, die das Deutsche Polen-Institut herausgegeben hat, schreiben die AutorInnen, insbesondere die jüngste Generation der Deutschen kenne die metaphorische Bedeutung des Ausdrucks polnische Wirtschaft nicht mehr: „Über das Thema ‚Stereotype‘ wird unter den Schülerinnen und Schülern oft stark und heftig diskutiert. Manchmal geistern alte Bilder in den Köpfen herum, ohne dass heute noch jemand weiß, was zum Beispiel mit dem Ausdruck ‚polnische Wirtschaft‘ gemeint ist. Der polnische Wirtschaftsboom der letzten Jahre, oder war da noch etwas anderes?“ (https://www.poleninderschule.de/assets/polen-in-der-schule/downloads/arbeitsblaetter/g-stereotype-00-gesamt.pdf, 31.1.2022).

Auch eine Durchsicht deutschlandweiter Tageszeitungen und Internetportale legt den Schluss nahe, dass die Wendung polnische Wirtschaft gegenwärtig überwiegend neutral und gleichbdeutend mit „Polens Wirtschaft“ gebraucht wird, was als Normalisierung angesehen werden darf. Die historische Bedeutung des Ausdrucks wird jedoch weiterhin (wie schon ein Jahrzehnt zuvor) reflexhaft im Vorspann (sog. Lead) von Artikeln über das Wirtschaftswachstum in Polen während der Pandemie angeführt, exemplarisch etwa 2021 im Handelsblatt: „‚Polnische Wirtschaft‘ war einst ein Schimpfwort. Inzwischen ist es zum Begriff für einen außergewöhnlichen und fast unbemerkten ökonomischen Erfolg geworden: Seit dem EU-Beitritt 2004 hat sich Polens BIP mehr als verdoppelt. Die Wachstumsraten waren jedes Jahr höher als die Deutschlands“ (Mathias Brüggmann, Polens EU-Austritt wäre „desaströser als der Brexit“, in: Handelsblatt (https://www.handelsblatt.com/politik/international/.., 4.10.2021).

Die AutorInnen derartiger Texte bezeichnen den negativ konnotierten Ausdruck polnische Wirtschaft als der Vergangenheit angehörig, was in gewissem Grade eine Folge der Verbreitung politischer Korrektheit sein mag. Gleichwohl fehlt es auch 2022 nicht an offiziellen Veröffentlichungen, die eine gute Kenntnis der übertragenen Bedeutung dieses Ausdrucks bei den LeserInnen voraussetzen; als Beispiel kann die Internetseite der Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern dienen, wo sich in Informationsmaterialien über Polen die Kapitelüberschrift findet: Die ökonomische Transformation – von der „Polnischen Wirtschaft“ zum Europa-Primus (https://www.lpb-mv.de/themen/polen-eine-kleine-politische-landeskunde/, 19.3.2022 r). Der zugehörige Text erläutert jedoch an keiner Stelle, wie der in Anführungszeichen gesetzte Begriff zu verstehen sei, was den Schluss zulässt, dass der Autor dieses Wissen für allgemein verbreitet hält.

Unabhängig davon, wie weit tatsächlich das Wissen über die Formel polnische Wirtschaft als stereotype Metapher verbreitet ist, ergeben sich gewisse Anhaltspunkte dafür, ob die damit bezeichneten Vorstellungen weiterhin die Wahrnehmung Polens und der Polen beeinflussen, aus Umfragen des Deutsch-Polnischen Barometers, die das Institut für Öffentliche Angelegenheiten in Warschau in Zusammenarbeit mit der Konrad-AdenauerStiftung in Polen, der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und dem Deutschen Polen-Institut 2020 durchgeführt hat. Selbst unter Einbeziehung des Effekts „sozial erwünschter Antworten“ frappieren die sichtbare Zunahme der Sympathie für die Polen, die gestiegene Akzeptanz von Polen in verschiedenen sozialen Rollen und der Rückgang freier Assoziationen mit Begriffen aus dem Zusammenhang der polnischen Wirtschaft.

Die Umfrageergebnisse zeigen, dass die deutschen Befragten trotz der in der öffentlichen Berichterstattung vorherrschenden Auseinandersetzungen zwischen den Regierungen Polens und Deutschlands (u. a. um die Gaspipeline Nord Stream 2, die Flüchtlingskrise, die Debatte über Reparationsforderungen für deutsche Weltkriegsverbrechen oder den Abbau des Rechtsstaates in Polen) klar zwischen der Bewertung der polnischen Regierung und der polnischen Bevölkerung unterscheiden. Eines der überraschendsten Resultate der Umfrage von 2020 ist, dass die Sympathie der Deutschen gegenüber den Polen innerhalb der zurückliegenden 20 Jahre von 31% auf 55% gestiegen ist; die AutorInnen der Umfrage betonen besonders: „Zum ersten Mal seit Beginn der BarometerBefragungen übersteigt der Anteil der Deutschen, die die Polen sympathisch finden, denjenigen der Polen, denen die Deutschen sympathisch sind; […] Der Sympathiewert für die Polen erfährt dabei […] einen geradezu drastischen Anstieg seit 2018 von 29 auf 55 Prozent, was ein Plus von 26 Prozentpunkten bedeutet“ (Kucharczyk; Łada 2020, S. 65).

Die Tatsache, dass derzeit lediglich noch vier Prozent der Deutschen bei freien Assoziationen mit Polen Bezeichnungen aus dem Themenbereich „Kriminalität“ nennen oder Polen als „Land der Unordnung“ bezeichnen (die meisten freien Assoziationen mit Polen betreffen den Themenbereich Tourismus, Urlaub und schöne Landschaften – 29 Prozent aller genannten Assoziationen), haben den Autor des Deutschland-Portals gar dazu veranlasst, optimistisch zu verkünden: „Die Zeit der Witze ist überwunden“ (Ulrich Krökel, Heiter bis wolkig, in: deutschland.de (https://www.deutschland.de/de/topic/politik/deutsch-polnisches-barometer-2020-licht-und-schatten, 15.3.2022).

Trotz der oben dargelegten positiven Veränderungen verliert das Stereotypengeflecht polnische Wirtschaft nicht sein Hauptmerkmal eines Stereotyps von „langer Dauer“, was sich darin zeigt, dass es jederzeit leicht aktiviert werden kann, wenn es sein muss, auch um politisches Handeln zu legitimieren. Ein Beispiel dafür ist der deutsch-polnische Streit um die Gasleitung Nord Stream. Die Geschichte des Streits um diese Gasleitung, die Deutschland und Russland unter Umgehung der Länder Ostmitteleuropas verbindet, illustriert nicht nur die Möglichkeit, das Stereotyp als vermeintliches Argument in der politischen Diskussion zu benutzen, sondern auch die weitreichenden Folgen, die dies haben kann. Das Bauvorhaben, das mit der Vertragsunterzeichnung 2005 begann, wurde von Anfang an insbesondere von Polen und den baltischen Ländern kritisiert als geopolitisches Projekt, das ökonomisch nicht gerechtfertigt sei, dafür aber eine Bedrohung für den Zusammenhalt der Europäischen Union und für die Energiesicherheit der umgangenen Länder darstelle; manchmal wurde es auch als politische und militärische Bedrohung für die Ukraine und Mitteleuropa bezeichnet.

Auffällig ist, dass sich VerfechterInnen des Vorhabens Nord Stream in ihrer Argumentation, die Polen als Gegner der Gasleitung diskreditieren sollte, auf ein in Deutschland wohlbekanntes Polenbild beriefen, das auf den traditionell zum semantischen Feld des Stereotyps polnische Wirtschaft gehörenden Eigenschaften gründet. Polen wurde als unzuverlässig und unberechenbar („unsicheres Transitland“), irrational und emotional („traditionell russophob“), auch wie gewohnt aufs Geld bedacht („Angst um ein Einbrechen der Transitgebühren“), dargestellt. Es lässt sich heute nicht mehr feststellen, inwieweit die auf dieser Stereotypenkonstellation beruhende Berichterstattung Ursache oder ausschließlich Vorwand für das Ignorieren der polnischen Argumente gewesen ist. Tatsache bleibt, dass sie bei der deutschen öffentlichen Meinung verfing: Wie die Ergebnisse einer Forsa-Umfrage zeigen, fanden 2021 75% der Befragten, der zweite Strang der Gasleitung (Nord Stream 2) solle zu Ende gebaut werden, ungeachtet des Widerstandes der Vereinigten Staaten (https://www.ost-ausschuss.de/sites/default/files/pm_pdf/OA-Forsa-Umfrage-Nord-Stream-handout%20ENG.pdf, 31.3.2022).

Der beinahe zwanzigjährige deutsch-polnische Streit um die Gasleitung Nord Stream führt vor Augen, wie erfolgreich und hoffähig in Deutschland das Narrativ ist, das Polen die Rationalität – und das Recht – abspricht. Auch wenn in Deutschland – von wenigen – die Meinung vertreten wird, dass Polen aufgrund seiner Lage, Geschichte und vor allem Erfahrung mit der Sowjetmacht eine besondere Kompetenz in der Ostpolitik („Ost-Kompetenz“), (Vgl. z.B. Wolfgang Schäuble: Deutschland und Polen – gemeinsam in Europa, Rede vom 3. November 2006 in Krakau (https://www.wolfgang-schaeuble.de/wp-content/uploads/2015/04/061103polen.pdf: „Polen war aufgrund seiner Lage und seiner Geschichte schon immer in der Ostpolitik der Europäischen Union aktiv engagiert. Und im Dialog mit den östlichen Nachbarn sehe ich Polen in einer Vorreiterrolle, die wir unterstützen und die in unserem gemeinsamen Interesse ist. In diesem Sinne ist Polen auch eine Brücke zwischen Osten und Westen. Deswegen wäre eine europäische Außenpolitik ohne Polen oder über die Köpfe Polens hinweg nicht nur eine Dummheit, sondern langfristig auch zum Scheitern verurteilt“) besitze, konnte sich diese Ansicht in der Öffentlichkeit nicht durchsetzen, ganz zu schweigen von politischen EntscheidungsträgerInnen, allen voran die gleichwohl als rationale Politikerin geltende Kanzlerin Angela Merkel. Es ist bezeichnend, dass im Laufe der letzten Jahre VertreterInnen aller nennenswerten Parteien in Polen – nicht nur der derzeit (2022) regierenden Vereinigten Rechten – die Erfahrung zum Ausdruck brachten, als politischer Partner nicht ernstgenommen zu werden (In diesem Sinne äußerte sich 2008 auch der Bruder des jetzigen Parteivorsitzenden von Recht und Gerechtigkeit, Präsident Lech Kaczyński: „Donald Tusk hat begriffen, dass für die deutsch-polnischen Beziehungen nicht der fiese Charakter der Kaczyński-Brüder von grundlegender Bedeutung ist, sondern die Haltung des deutschen Staates, der es nicht gewohnt ist, in den Beziehungen zu Polen bei wirklich wichtigen Angelegenheiten nachzugeben.“ Vgl. Lech Kaczyński, Polska musi w Unii grać ostro, in: Fakt vom 24.10.2008. Zit. nach Wóycicki; Czachur 2009, S. 65). Der ehemalige polnische Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski, der für ausgewogene Urteile bekannt ist, formulierte 2006 bitter:

Historisch gesehen sind die Beziehungen hervorragend. Wir sind Nato-Verbündete, EU-Partner, Deutschland ist Polens größter Handelspartner, immer mehr Polen lernen Deutsch. […]. Zu den deutschen Fehlern gehört die Art, wie die deutsch-russische Pipeline zustande kam, ohne Einbeziehung Polens. Generell hat man den Eindruck: Die Beziehungen zu Polen sind für Deutschland mehr Pflicht als Wunsch. Wir werden noch nicht für voll genommen („Die Deutschen nehmen uns noch nicht für voll“, in: Tagesspiegel vom 8.11.2006 (https://www.tagesspiegel.de/politik/die-deutschen-nehmen-uns-noch-nicht-fur-voll-1404370.html, 31.1.2022). 

Wie ein Echo klingen die Worte, die der ehemalige Außenminister der Regierung Donald Tusk, Radosław Sikorski, am 28. Februar 2022 äußerte, gerade einmal vier Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine:

„Deutschland hat lange wirtschaftliche Interessen über die Sicherheitsinteressen Mitteleuropas gestellt. Ich persönlich habe das deutschen Politikern 20 Jahre lang erklärt und immer zu hören bekommen, es handele sich um ein rein wirtschaftliches Projekt. Man hat uns für dumm gehalten“ (Radosław Sikorski: „Ihr Deutschen habt euch benommen, als ginge euch das nichts an“, in: Zeit Online (https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-02/radoslaw-sikorski-polen-verteidigungspolitik-russland-ukraine-krieg-interview), 28.2.2022).

Eine traurige Klammer dieses Zeitabschnitts bildet die Selbstkritik des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der nach Entdeckung der Opfer eines russischen Massakers in Butscha sagte: „Die Warnungen, das ist wahr, von unseren osteuropäischen Partnern hätten wir ernster nehmen müssen“ (Steinmeier im Interview mit dem ZDF-Morgenmagazin, 5. April 2022 https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Interviews/2022/220405-Interview-moma-vor-ort.html, 7.4.2022).

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 Polnische Wirtschaft in der Interaktion

Das Stereotyp polnische Wirtschaft beeinflusst unmittelbar die Wahrnehmung der Polen durch die Deutschen; es bildet gewissermaßen einen mentalen Filter für alle Informationen über Polen und die Polen und lässt nur Tatsachen und Prozesse sowie Eindrücke und Interpretationen hindurch, die zu ihm passen. Joseph Klein meint:

Schlagwörter dieses Typs wirken wie Suchsonden und Deutungsraster gleichzeitig. Sie lenken Wahrnehmung und Deutung von vornherein in eine bestimmte, bequem vorgegebene Richtung. Was da nicht hineinpaßt, wird gar nicht erst gesucht, und wenn man doch auf etwas stößt, was da nicht hineinpaßt, verleitet das stereotyp-etablierende Schlagwort dazu, es entweder zu ignorieren, oder es als erstaunliche Ausnahme zu deuten (Klein 1994, S. 131).

Beispiele für die Wirkung des Stereotyps polnische Wirtschaft auf die deutsch-polnischen Beziehungen im persönlich-individuellen Bereich finden sich vor allem in Erzählungen und Erinnerungen von Polen, die in Deutschland leben. Aus ihnen ergibt sich ein Bild mentaler Distanz zu den Polen infolge ihrer stereotypen Wahrnehmung. Oft bilden sie ein entscheidendes Hindernis, wenn nicht gar eine Blockade, für eine ungezwungene deutsch-polnische Kommunikation. Das Bewusstsein, als minderwertig und nicht achtungswürdig wahrgenommen zu werden, und das Gefühl, anhand der mit dem etablierten Stereotyp polnische Wirtschaft verbundenen Erwartungen beurteilt zu werden, wird bisweilen so quälend, dass es in Deutschland lebende Polen dazu treibt, ihre polnischen Wurzeln zu kappen. Symptomatisch ist der Bericht des deutschsprachigen Schriftstellers und Feuilletonredakteurs der Wochenzeitung Die Zeit Adam Soboczynski (Jg. 1975): „Ich erzählte, daß ich Polen verlassen hatte vor langer Zeit, daß ich von diesem Land lange Zeit nichts mehr wissen wollte. Daß ich mich früher schämte, ein Pole in Deutschland zu sein, des Bildes wegen, das man in Deutschland von Polen hatte, und mich erst spät, jetzt erst, mit 31 Jahren, daran machte, es für mich neu zu entdecken“ (Soboczynski 2008, S. 9). Auch Agnes Brugger (Jg. 1985), seit 2009 Bundestagsabgeordnete und seit 2018 stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, erklärt ihre Empfindlichkeit gegenüber Ungerechtigkeiten mit Kindheitserfahrungen nationaler Vorurteile: „Da ist der Lehrer, der im Unterricht Polenwitze reißt, die Lehrerin, die beim Elternabend zur Mutter sagt, ihre Tochter werde nie eine Eins in Deutsch bekommen“ (https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2012/37766014_wege_politik_brugger-207682, 31.3.2022). Solche Erfahrungen, die bei VertreterInnen der mittleren und alten Generation häufiger anzutreffen sind, scheinen bei den Jüngeren, die oft in Deutschland geboren sind und als gut integriert gelten, geringere Bedeutung zu haben.

Das Verblassen der Stereotype und ihres Einflusses auf die deutsch-polnischen Beziehungen zu verkünden, wäre indes verfrüht; einer vom Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat bezuschussten Broschüre des Polnischen Sozialrates aus dem Jahr 2020 zufolge sind gerade Stereotype und Vorurteile weiterhin verantwortlich für „unsichtbare Diskriminierung von Pol*innen in Deutschland“. Der Kulturwissenschaftler Erik Malchow argumentiert:

Menschen mit einer polnischen Familiengeschichte sind in Deutschland täglich mit Vorurteilen und Diskriminierung konfrontiert. Im Berufsalltag ist es oft die vermeintlich fehlende Arbeitsmoral, ein Diebstahlsverdacht und auch die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit gegenüber ihren deutschen Kolleg*innen, die Pol*innen in Deutschland belastet. Obschon sogenannte Polenwitze, wie noch in den 90ern, nicht mehr zur Alltagskommunikation gehören, sind sie weiterhin im kollektiven deutschen Gedächtnis verankert (Malchow; Schöll-Mazurek 2020, S. 6).

Vor diesem Hintergrund wird besser verständlich, weshalb Polen, die in Deutschland leben, nicht dazu neigen, ihre Präsenz im öffentlichen Raum deutscher Städte offen zu zeigen, und eine sog. „unsichtbare Minderheit“ (Peter Oliver Loew: Unsichtbar? Polinnen und Polen in Deutschland – die zweitgrößte Zuwanderergruppe, https://www.bpb.de/themen/migration-..., 31.3.2022.) bleiben, obwohl sie nach den Türken die zweitgrößte Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland darstellen. Und auch wenn die „Unsichtbarkeit“ der Polen in Deutschland auch z.B. aus mangelnder Kenntnis der deutschen Sprache herrühren mag, verweisen ForscherInnen in erster Linie auf Furcht vor Diskriminierung und Ablehnung aufgrund des wenig schmeichelhaften Polenbildes in Deutschland, das in der Öffentlichkeit stark verankert ist (Studzińska; Szmytkowska 2020, S. 26; vgl. auch: Sakson 2000, S. 404ff.). Die elterliche „Bloß nicht auffallen“-Haltung und deren Einfluss auf ihr Leben (u. a. Entwurzelung, Verleugnung von Biografien, Bruch der Identität) thematisieren polnischstämmige AutorInnen wie Emilia Smechowski, Adam Soboczynski oder die Zeit-Korrespondentin Alice Bota (Andrzej Kaluza, Migranten aus Polen im wiedervereinigten Deutschland, https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/migrantische-perspektiven/325312/migranten-aus-polen..., 31.3.2022).

Die starke Auswirkung des Stereotyps polnische Wirtschaft bekamen in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten auch polnische Unternehmen zu spüren, die den deutschen Markt betraten: „Die Deutschen konnten kaum glauben, dass die Polen neue Informatiktechnologien haben können. Das passte nicht zu ihren Vorstellungen von Polen“, erinnert sich Janusz Filipiak, Gründer der Informatikfirma Comarch, an die Anfänge der Zusammenarbeit mit den Deutschen. Geteilt wurde diese Erfahrung von Mateusz Figaszewski von der Firma Solaris Bus & Coach, die Omnibusse und Straßenbahnen auch nach Deutschland verkauft: „Vor dem EU-Beitritt Polens hatten viele Firmen, die nach Deutschland exportierten, mit dem Stereotyp ‚polnische Wirtschaft‘ zu kämpfen“ (Karolina Domagała-Pereira, Polskie firmy podbijają Niemcy, in: Deutsche Welle, https://www.dw.com/pl/polskie-firmy-podbijaj%C4%85-niemcy/a-15212371, 31.3.2022).

Der größte polnische Investor in Deutschland, der Mineralölkonzern PKN Orlen, der die Nationalfarben Weiß-Rot und ein Logo führt, das an den weißen Adler aus dem polnischen Wappen angelehnt ist, stieß bei den deutschen VerbraucherInnen nicht auf Gegenliebe. Erst nach der Umwandlung der Marke zur ökonomischeren und internationale Assoziationen weckenden Namensform Star hörte der deutsche Orlen-Zweig auf, Verluste zu machen. Denselben Weg ging z.B. auch die Firma Smyk, die nach der Übernahme des deutschen Filialnetzes von Spiele Max die deutsche Smyk GmbH schloss und unter der Marke Spiele Max am deutschen Markt blieb (bis 2017). In den letzten Jahren zeichnen sich jedoch Änderungen in diesem Bereich ab. Polen wird als deutscher Handelspartner immer wichtiger. Im Jahr 2022 exportieren nur noch China, Holland und die USA mehr nach Deutschland. Das Ansehen der polnischen Produkte ändert sich, und Business Insider berichtet: „Während die Aufschrift ‚made in Poland‘ noch vor wenigen Jahren auf Produkten in Deutschland sorgfältig versteckt wurde, wird sie heute geradezu herausgestellt. So ist auf den Tyskie-Bierflaschen beispielsweise zu lesen ‚Proudly made in Poland‘“ (Mateusz Madajski, Szukałem polskich produktów w Niemczech. Półki się od nich uginają, in:Business Insider, https://businessinsider.com.pl/wiadomosci/polskie-produkty-w-niemczech-polki-sie-pod-nimi-uginaja/62zwk03, 31.3.2022).

Schließlich sind im Zusammenhang mit der polnischen Wirtschaft auch die weitreichenden Folgen der Wirkung und Instrumentalisierung dieses Stereotypengeflechts in der Politik zu erwähnen. Das aktuellste Beispiel ist der oben genannte deutsch-polnische Streit um die Gasleitung Nord Stream. Die langjährige Diskreditierung der polnischen Argumente gegen die Gasleitung, die auf dem etablierten Bild Polens als unzuverlässiges, irrationales, nur aufs Geld bedachtes und vor allem nicht ernstzunehmendes Land basierte, hat das Misstrauen der Polen gegenüber dem Nachbarn vertieft. Die Tatsache, dass der Prozentsatz der polnischen Sympathiebekundungen gegenüber Deutschen im Deutsch-Polnischen Barometer 2020 unerwartet unter das Niveau der deutschen Sympathiebekundungen gegenüber Polen sank, was die AutorInnen der Umfrage vor allem als Folge der negativen, mitunter gar deutschfeindlichen Rhetorik von PolitikerInnen der Regierungspartei und den von ihr vereinnahmten Medien erklären, hat ihren Ursprung zumindest teilweise in der beharrlichen deutschen Geringschätzung Polens im Streit um Nord Stream.

Der polnischen Öffentlichkeit entgingen auch nicht die altbekannten paternalistischen Züge der deutschen Polenpolitik (gemäß dem Stereotyp des ewig „unreifen“ Landes), die etwa 2021 sichtbar wurden, als Bundeskanzlerin Angela Merkel dem Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki einen Warschaubesuch und ein Treffen zum 30. Jahrestag der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit absagte. Die Gründe für diese Absage reichten „vom Streit um Nord Stream 2 über den Bau von Kernkraftwerken in Polen bis hin zur Situation in der Ukraine“ (Bartosz T. Wieliński, Kulisy wizyty prezydenta Niemiec w Polsce. Kanclerz Merkel odmówiła spotkania z premierem Morawieckim, in: Wyborcza.pl (https://wyborcza.pl/7,75399,27210067,kulisy-wizyty-prezydenta-niemiec-w-polsce-kanclerz-merkel-odmowila.html, 31.3.2022), wie eine deutsche diplomatische Quelle in der Gazeta Wyborcza zitiert wurde. Genau wie im Falle der massiven Kritik an Polens Militäreinsatz im Irak zwei Jahrzehnte zuvor, so wurde Polen auch jetzt wieder als unreifes, ungezogenes Kind behandelt, dass es für seine ungebührlichen Versuche, sich vom einstigen Hegemon unabhängig zu machen, zu bestrafen gelte. Der Geschäftsführer des Zentrums für strategische Analysen (OAS) Witold Jurasz nannte den Vorgang einen Skandal und einen Beweis dafür, dass es zwischen Polen und Deutschland keine gute Nachbarschaft gebe, denn gute Nachbarschaft kennzeichne sich durch Respekt, und die von der deutschen Quelle angeführten Gründe für die Absage des Treffens zeigten, dass die Deutschen mit dem Respekt vor Polen ein Problem hätten:

Wenn […] der Grund für das Ausbleiben des Treffens Nord Stream 2 sein soll, dann haben die Deutschen ganz offenbar vergessen, wer wem in dieser Sache etwas übelnehmen darf. Es ist Deutschland, nicht Polen, das durch den Bau einer gemeinsamen Gasleitung mit dem unverändert aggressiven Russland die Interessen nicht nur Polens verrät. Deutschland, nicht Polen, missachtet die Interessen des Verbündeten. Wenn die Deutschen meinen, Polen den Bau eines Atomkraftwerkes übelnehmen zu dürfen, heißt das, dass Berlin unter einer Partnerschaft mit Warschau versteht, dass Polen allenfalls ein Anhängsel Deutschlands und höchstens ein Kunde für das von Deutschland verkaufte russische Gas sein soll, nicht aber ein unabhängiger verbündeter Staat. Die Deutschen haben keinerlei Recht, es Polen übelzunehmen, dass es eine unabhängige Politik betreiben möchte (Witold Jurasz, Skandal przy okazji 30-lecia traktatu polsko-niemieckiego, https://wiadomosci.onet.pl/opinie/witold-jurasz-skandal-przy-okazji-30-lecia-traktatu-polsko-niemieckiego/s28k2lj,31.3.2022).

 Einen Schritt weiter geht in der Bewertung der Folgen des stereotypengeleiteten Denkens der deutschen Politik Thomas Urban, der ehemalige deutsche Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Warschau, der die Rolle „einer moralisch intonierten Überheblichkeit gegenüber den unmittelbaren Nachbarn im Osten, darunter Polen“ als „eines der Leitmotive der deutschen Ostpolitik“ hervorhebt. Er meint sogar, dass der sog. Rechtsruck in Polen durch diese deutsche Politik begünstigt wurde, beispielsweise bei den Parlamentswahlen 2015:

2015 wirkte sich der Umgang der Flüchtlingskrise durch Berlin auf die Sejmwahlen in Polen aus. Es war ein Fehler Angela Merkels, hier einen europäischen Verteilschlüssel durchsetzen zu wollen, denn die allermeisten Asylbewerber gaben Deutschland als Zielland an. Auch waren die ehemaligen Ostblockländer in der EU weder institutionell noch psychologisch auf die Aufnahme einer großen Zahl von Migranten vorbereitet – und nun erweckte Berlin den Eindruck, hier über ihre Köpfe hinweg Entscheidungen zu treffen (Verstellter Blick. Die deutsche Ostpolitik, https://forumdialog.eu/2022/03/25/verstellter-blick-die-deutsche-ostpolitik/, 31.3.2022).

 Diese wenngleich überzeugende Erklärung bliebe jedoch unvollständig, berücksichtigte man nicht auch die Rhetorik der Gruppierung Recht und Gerechtigkeit (PiS) bezüglich des im September 2015 (wieder einmal „über die Köpfe“ Polens und der Länder Mitteleuropas hinweg) geschlossenen Vertrages über den Bau von Nord Stream 2, gerade einmal ein Jahr nach der russischen Annexion der Krim. Exemplarisch illustriert wird diese Rhetorik durch das Argument, das Präsident Andrzej Duda in einem Interview für den Fernsehsender TVN benutzt, indem er auf die Ungleichbehandlung der Polen durch die Bundesregierung hinweist: „Dieses Nord Stream 2 zu bauen, planen nicht Ungarn, sondern Österreicher, Deutsche … Wenn man uns zur Solidarität in der Flüchtlingsfrage auffordert, wo ist denn die Solidarität in Fragen unserer Energiesicherheit?“ (https://www.cire.pl/artykuly/opinie/105561-duda-nord-stream-2-to-uderzenie-w-nasze-bezpieczenstwo-merkel-nie-ma-zagrozenia, 31.3.2022). Beachtung verdient auch ein anderer Aspekt der von Thomas Urban hergestellten Verbindung zwischen der geringschätzenden, in stereotyper Wahrnehmung Polens befangenen Politik Deutschlands und dem Wahlsieg der PiS, nämlich die Rolle des Ergebnisses jener Politik, also der Gasleitung Nord Stream, in innenpolitischen Auseinandersetzungen Polens. Denn schon seit Jahren ist Nord Stream ein Bestandteil der Strategie, den wichtigsten politischen Opponenten der PiS, Donald Tusk, als Politiker zu diskreditieren, der trotz seiner guten Zusammenarbeit mit Angela Merkel nicht den Bau einer Gasleitung verhindert hat, die in Polen als Bedrohung der nationalen und regionalen Sicherheit wahrgenommen und von zwei ehemaligen Teilungsmächten errichtet wird. Es ist bezeichnend, dass Ministerpräsident Morawiecki noch einen Tag vor dem russischen Überfall auf die Ukraine sagte, Tusk „steht an der Spitze der Partei Nord Stream 2“ (https://wiadomosci.onet.pl/kraj/mateusz-morawiecki-atakuje-donalda-tuska-stoi-na-czele-partii-nord-stream-2/8jbvxc4, 31.3.2022).

Abschließende Bemerkungen

 Die Zeitläufte des Stereotyps polnische Wirtschaft in Geschichte und Gegenwart bestätigen seinen Charakter als ein „Stereotyp der langen Dauer“. Der Begriff wird allerdings nicht für Stereotype gebraucht, die „lange und praktisch ununterbrochen funktionieren“, sondern eher für diejenigen, welche „in jedem geeigneten Moment wieder zum Leben berufen werden können“ (Orłowski 2003, S. 278). Je nach Bedarf lassen sie sich in aktuelle Debatten beinahe nahtlos integrieren, weil sie auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens beruhen. Ein Vierteljahrhundert nach dem Erscheinen seiner für die Erforschung des Stereotyps fundamentalen Monografie „Polnische Wirtschaft“. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit hat Hubert Orłowski seine Überlegungen dazu folgendermaßen resümiert:

Langjährige Recherche und Forschung hat die Hypothese der über drei Jahrhunderte langen aggressiven Aktivität dieser besonderen, in der europäischen Kulturtradition unerhörten Denkfigur zur Bezeichnung der mentalen und praxeologischen Verfassung einer europäischen Nation, nämlich der unseren, bestätigt. In jener Figur […] sollte eine symbolische, in ihrer Aussage nur allzu grausame und erbarmungslose Gewalt triumphieren (Orłowski 2022, S. 29).

 Die bestehenden wirtschaftlichen und die soziale Praxis betreffenden Unterschiede zwischen Polen und Deutschland werden gewiss noch oft das Potenzial der Formel polnische Wirtschaft als vereinfachte Auslegung alles Polnischen abrufen, insbesondere angesichts der Weitläufigkeit des Begriffs „Wirtschaft“, die der Linguist Joseph Klein so auf den Punkt bringt: „‚Polnische Wirtschaft‘, das ist bzw. war ein ‚Totschlagwort‘, mit dem sich unregelmäßiges Treppenputzen einer polnischen Nachbarin ebenso geißeln ließ wie Defizite im polnischen Staatshaushalt“ (Klein 1994, S. 131).

Besonders wichtig bleibt in diesem Zusammenhang die Rolle der Medien sowie der führenden Intellektuellen und PolitikerInnen, die das „Meinungsklima“ und die Stoßrichtung der Polenwahrnehmung in Deutschland formen. Dass es beiden Gesellschaften nicht an Plattformen für Zusammenarbeit und Verständigung fehlt, belegen etwa die Ergebnisse der Jubiläumsumfrage Deutsch-polnisches Barometer 2021 zum 30. Jahrestag der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit. Aus ihnen erhellt, dass die deutschen und die polnischen Befragten, ungeachtet der Spannungen zwischen beiden Regierungen, in vielen Bereichen übereinstimmende Ansichten vertreten, beispielsweise bei der positiven Einschätzung der Rolle der Europäischen Union auf internationalem Parkett, der Notwendigkeit gemeinsamer Bemühungen Polens und Deutschlands zur Stärkung der Demokratie in Europa, ja sogar der Notwendigkeit einer Aufrüstung der Bundeswehr (Kucharczyk; Łada 2021). Daher gilt es gemeinsam dafür zu sorgen, dass es möglichst wenig Anlass zu einem Wiederaufleben des Stereotyps polnische Wirtschaft gibt – nach dem Motto „Nachbarschaft verpflichtet“ (Aus dem Credo der inzwischen 50-bändigen Buchreihe Poznańska Biblioteka Niemiecka [Posener Deutsche Bibliothek] von Hubert Orłowski und Christoph Kleßmann, Wydawnictwo Poznańskie/Wydawnictwo Nauka i Innowacje, Poznań 1996-2019).

Aus dem Polnischen von Hans Gregor Njemz

 

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Kochanowska-Nieborak, Anna, Dr., verfasste die Beiträge „‘Schöne Polin’ (Stereotyp)“ und „Polnische Wirtschaft (Stereotyp)”. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań. Sie arbeitet in den Bereichen deutsche Literaturwissenschaft, deutsch-polnische Beziehungen in der Literatur und historische Stereotypenforschung.

 

 

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