Monika Sus

Politische Kultur in Polen und in Deutschland (Politik)



Die politische Kultur ist seit 1989 ein Aspekt der deutsch-polnischen Beziehungen, nimmt in der Debatte zwischen Polen und Deutschland aber keine prominente Stellung ein. Bis 2015 waren andere Themen wichtiger: Erinnerungskultur und Versöhnung, die deutsch-polnische Interessensgemeinschaft oder die deutsch-polnische Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Union. Nach der Regierungsübernahme durch Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS) im Jahr 2015 haben sich die bilateralen Beziehungen verschlechtert (Kirch; Opiłowska; Sus 2021).  Die wirtschaftliche Zusammenarbeit ist nach wie vor intensiv, doch die politische Kooperation ist eingeschränkt, nachdem die polnische Regierung das Narrativ der historischen Schuld Deutschlands wiederbelebt hat und in Deutschland nach dem Bruch rechtsstaatlicher Prinzipien durch die polnische Regierung das Misstrauen gegenüber dem östlichen Nachbarn wächst (Pytlas 2021).

Die politische Kultur ist ein interdisziplinäres Thema und kann demzufolge in Abhängigkeit von der jeweiligen Disziplin oder methodologischen Orientierung ganz unterschiedlich definiert werden. Eine der bekanntesten Definitionen lieferten in den 1960er Jahren die amerikanischen Soziologen Gabriel Almond und Simon Verba (Almond; Verba 1963).  Sie begreifen politische Kultur als Gesamtheit der individuellen Einstellungen und politischen Orientierungen der Teilnehmer eines Systems, die deren politisches Handeln bestimmten und ihm Bedeutung verleihen. Almond und Verba unterscheiden drei Typen von politischer Kultur: die parochiale Kultur, in der sich die Gesellschaft nicht für das politische System interessiert; die Untertanenkultur, in der sich die Gesellschaft für das politische System interessiert, sich aber nicht aktiv daran beteiligt; sowie die partizipierende Kultur, in der sich die Bürger stark für das politische System interessieren und es aktiv mitgestalten. Andere Autoren unterscheiden darüber hinaus zwischen konfliktuellen und integrativ-konsensuellen politischen Kulturen. Charakteristisch für den ersten Typ ist häufiger Streit zwischen politischen Eliten oder sozialen Gruppen, der zu Desintegration und Dysfunktionalität des politischen Systems führt. Der zweite Typ basiert auf der Zusammenführung unterschiedlicher Standpunkte und dem Streben nach Kompromissen. In der Wirklichkeit treten die genannten Modelle meist in Mischformen auf.

Auch in Deutschland und Polen gab es sozialwissenschaftliche Versuche, Bedeutung und Bereich der politischen Kultur zu bestimmen sowie zwischen politischer Kultur und Politik zu unterschieden. Der polnische Soziologe und Politikwissenschaftler Jerzy Wiatr definierte politische Kultur als Summe der Haltungen, Verhaltensweisen und Werte im Wechselverhältnis zwischen Staatsgewalt und Bürgern (Wiatr 1977).  Elemente der politischen Kultur sind demnach politisches Wissen; Faktenkenntnis und -interesse; politische Wertungen und Einstellungen zur Frage, wie Macht ausgeübt werden soll; der emotionale Aspekt politischer Haltungen (etwa die Liebe zum Vaterland oder der Hass gegen Feinde); die gesellschaftlich akzeptierten Modelle politischen Handelns, die den Spielraum und die Grenzen konkreten politischen Handelns bestimmen. Wiatrs Definition ist nicht normativ, sondern deskriptiv, sein Begriff der politischen Kultur ist axiologisch neutral. Andere polnische Soziologen und Politikwissenschaftler plädieren für ein normatives Verständnis von politischer Kultur, das qualitative Wertungen und Einteilungen ermöglichen könnte (Garlicki; Noga-Bogomilski 2004, Janowski 2010).  Hier beschränkt sich der Begriff der politischen Kultur auf die Einstellungen der Menschen im Verhältnis zur Staatsgewalt. Das Fundament der Debatte um den Begriff der politischen Kultur in Deutschland bilden die Gedanken Max Webers, des Vorläufers und Begründers der politischen Soziologie, der unter politischer Kultur die Art und Weise verstand, wie Politik betrieben wird. Für Weber ist politische Kultur die Existenzform des Menschen, insbesondere des Politikers, in seiner jeweiligen, sich über Institutionen, Handlungen und Ideen konstituierenden politischen Wirklichkeit. Einen wesentlichen Beitrag zur Debatte um den Begriff der politischen Kultur in Deutschland leistete auch der Politikwissenschaftler Karl Rohe, der ihn in seinen Arbeiten in den historischen Kontext stellte und ihn unter Einbezug normativer Aspekte qualitativ interpretiert. Für Rohe ist politische Kultur der Handlungsrahmen, in dem Politiker und andere politische Akteure öffentlich agieren (Nach Meyer 2007, S. 14).  Breit diskutiert wird in den Sozialwissenschaften neben der Begriffsdefinition das Problem der Bestimmung und Formulierung von Wertungskriterien, das heißt die Festlegung von Parametern zur Bewertung der politischen Kultur. Die fundamentalen Fragen betreffen hier die Existenz eines Rechtsstaats, das Verhältnis der Gesellschaft zu öffentlichen Institutionen und zur Regierung, den gesellschaftlichen Rückhalt der politischen Eliten, die Rolle des Individuums im politischen Leben, das Politikwissen einer Gesellschaft sowie die Freiheit und Toleranz für geäußerte Ansichten und die Funktion der politischen Kultur (etwa die Stärkung des Gefühls der Identität und Zugehörigkeit zu einer politischen Gruppe, die Orientierung der Bürger auf dem Feld der Politik oder die Integration der Gesellschaft um bestimmte Werte und politische Ziele).

Deutsch-polnische Parallelen und Unterschiede

 Die ersten Ansätze zur Beschreibung von Parallelen und Unterschieden in der politischen Kultur in Polen und Deutschland wurden in den Jahren 1989–1990 von einer Forschergruppe der Universitäten Warschau und Tübingen unternommen. Unter Leitung von Franciszek Ryszka und Gerd Meyer untersuchte die Gruppe den Zusammenhang zwischen der Systemtransformation und dem Wandel der politischen Kultur in ehemaligen Ostblockstaaten. Schon bald erwies sich die Anwendung eines einheitlichen analytischen Begriffsrasters auf Polen, das gerade den Weg zur Demokratie begonnen hatte, und (West-)Deutschland, das schon eine stabile und gefestigte Demokratie war, als problematisch. Die Ergebnisse der fast zwanzigjährigen Forschungen der deutschpolnischen Gruppe präsentiert der 2007 erschienene Band Kultura polityczna w Polsce i w Niemczech (Politische Kultur in Polen und in Deutschland), (Meyer; Sułowski; Łukowski 2007).  Vergleichende Analysen zur deutschen und polnischen politischen Kultur finden sich auch im Kontext von Debatten um zeitgenössische Denkmäler und Gedächtnisorte (Zaborski 2011) oder um den Stellenwert der Geschichte in den nationalen politischen Kulturen in beiden Ländern (Gaber 2007).

Die vorliegende Analyse nimmt vier Aspekte der politischen Kultur in den Blick: den kognitiven Aspekt, das heißt den Grad des Politikinteresses sowie des Wissens über politikrelevante Fakten und Ereignisse; den Wertungsaspekt, das heißt politikbezogene Urteile und Ansichten; den emotionalen Aspekt, das heißt Erlebnisse und die Formen ihrer Artikulation; sowie den normativen Aspekt, das heißt Regeln und Verhaltensmodelle für das Verhältnis zwischen den politischen Subjekten.

Die polnische politische Kultur des 21. Jhs. ist ein Konglomerat von Eigenschaften, die sich im Laufe von Jahrhunderten herausbildeten – die Forschung datiert die Ursprünge der polnischen politischen Kultur auf die Wende vom 14. zum 15. Jh. (Gierowski 1977).  Wesentliche Merkmale der Adelsrepublik waren ein Übermaß an Freiheiten für eine kleine Gruppe von Staatsbürgern – die Szlachta – sowie die unantastbare Macht des Königs. Gleichzeitig war sie die erste Manifestation des Parlamentarismus, was den Usus der Debatte von Volksvertretern etablierte und das politische Bewusstsein der Szlachta wachsen ließ. Der polnische Historiker Marian Orzechowski bezeichnet die damalige politische Kultur als partizipierende Ritter- und Adelskultur, weist zugleich aber darauf hin, dass auch die Anfänge der politischen Kultur des Bürgertums in diese Zeit fallen (Orzechowski 2010, S. 33–35). Am Übergang vom 17. zum 18. Jh. führten die Einführung des Liberum Veto und die wachsende Macht der Magnaten, die den Staat als ihr Eigentum betrachteten, zur Deformation des politischen Systems. Die Zentralmacht wurde geschwächt, letzte Konsequenz waren die drei polnischen Teilungen. Die Verabschiedung der ersten Verfassung Europas am 3. Mai 1791, die das Prinzip der Gewaltenteilung und der Volkssouveränität einführte und die Rechte des Bürgertums stärkte, konnte den Untergang des Staates nicht mehr verhindern. In den mehr als 100 Jahren, in denen kein polnischer Staat existierte, entwickelte sich die politische Kultur in jedem Teilungsgebiet anders. Ein verbindendes Element war allerdings die Pflege des Nationalbewusstseins in Opposition zu den Teilungsmächten und ein tiefes Unrechtsempfinden angesichts der Politik der Besatzer. Hier liegen wohl die Wurzeln sowohl der in der polnischen öffentlichen Debatte bis heute präsenten Abneigung gegen Deutschland und Russland als auch der Wahrnehmung der bilateralen Beziehungen zu beiden Staaten. Mit der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit begann in Polen ein fundamentaler Wandel der politischen Kultur. Die parlamentarische Demokratie der Zweiten Republik basierte auf den für dieses System typischen Werten: Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit, Schutz der Bürgerrechte, Verantwortung der Regierenden gegenüber der Gesellschaft. Die schlechte Wirtschaftslage und die Zersplitterung der politischen Kräfte verursachten jedoch zahlreiche Regierungskrisen, die in den Maiumsturz und das autoritäre Sanacja-Regime mündeten. Ein wichtiges Element der politischen Kultur der Zwischenkriegszeit war zudem die Opposition zu den beiden feindlichen Nachbarn Russland und Deutschland.

Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und die Reaktion der Sowjetunion verstärkten zusätzlich das Gefühl der Bedrohung. Nach Kriegsende war Polen als Staat abhängig von der UdSSR und nur eingeschränkt souverän. Der real existierende Sozialismus zwang die Bürger zur Loyalität gegenüber dem Machtapparat, beschränkte die bürgerlichen Freiheiten, die Meinungsfreiheit und die Möglichkeit des Dialogs zwischen Gesellschaft und regierenden Eliten. Als Folge vermied die überwiegende Mehrheit der BürgerInnen politische Äußerungen und blieb politisch passiv. Neben den Symptomen von parochialer und Untertanenkultur gab es jedoch auch rudimentäre Elemente einer partizipierenden politischen Kultur wie Arbeiterproteste und Streiks (1956, 1970) oder die Entstehung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność (1980). Der Bezug auf die Werte der Unabhängigkeit und Freiheit, deren Wurzeln in der politischen Kultur der Teilungsgebiete zu suchen sind, unterschied Polen von anderen Staaten des Ostblocks. Nach der Übereinkunft zwischen Opposition und kommunistischem Regime am Runden Tisch kam es zur Transformation des politischen Systems, das Jahr 1989 wurde zur entscheidenden Zäsur in der Geschichte der polnischen politischen Kultur.

Die gegenwärtige Haltung der Polen ist durch geringes Wissen über das politische System und mangelnden Glauben an den Einfluss des Einzelnen auf den Lauf der Ereignisse geprägt. Dies ist eine Folge der beschriebenen jahrhundertelangen Beschränkung der politischen Gestaltungsmacht auf eine kleine soziale Gruppe – die Magnaten. Aus den Daten des europaweit durchgeführten European Social Survey für die Jahre 2002–2010 geht hervor, dass die Polen zu den am wenigsten politisch interessierten Nationen gehören. Nur 38 % der Befragten bekundeten Interesse an Politik. Dem entspricht die niedrige Beteiligung an Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, die nach 1990 nur in einer Präsidentschaftswahl bei über 60 % lag und ansonsten zwischen 40 und 50 % schwankte.

Ein weiteres grundlegendes Merkmal der polnischen politischen Kultur ist das geringe Vertrauen in die Regierung – laut einer Studie von 2011 haben nur 31 % der Polen Vertrauen in den Sejm und 32 % in den Senat, während 38 % erklärten, der Regierung nicht zu vertrauen. Das meiste Vertrauen (58 % der Befragen) genoss der Präsident. Die einzige Institution, der die deutliche Mehrheit der Polen Vertrauen schenkt (70 %), ist die katholische Kirche. Sie hat in Polen eine privilegierte Stellung, die nicht mit der Position der Kirche in anderen europäischen Ländern verglichen werden kann. Die Kirche ist im öffentlichen und politischen Leben unmittelbar präsent. Im Jahr 1997 hängten Abgeordnete der Akcja Wyborcza Solidarność (Wahlaktion Solidarność) im Parlamentssaal ein Kreuz auf, das trotz Protesten der Vertreter anderer politischer Parteien und Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit des Anbringens eines Kreuzes an diesem Ort nicht entfernt wurde. In einer im Auftrag einer überregionalen Tageszeitung durchgeführten Umfrage erklärten mehr als 70 % der Befragten, dass im Sejm ein Kreuz hängen solle. Dank des gesellschaftlichen Rückhalts ist die Kirche mit ihren Positionen und ihrem Handeln ein wichtiger Bezugspunkt für PolitikerInnen, die ihre politischen Entscheidungen, zumal in sozialen und moralischen Fragen, mit dem Glauben und der katholischen Lehre rechtfertigen. Die Tendenz zur Ideologisierung bestimmter Bereiche des politischen Lebens gilt in der Forschung als Merkmal einer parochialen politischen Kultur.

Das geringe Vertrauen in Volksvertreter und staatliche Institutionen korrespondiert mit den Ergebnissen der internationalen Globe-Studie, die Polen als Land mit hoher Machtdistanz (engl. power distance) ausweisen (House et al. u. a. 2004).  Die Niederländer Mauk Mulder und Geert Hofstede, die den Begriff prägten, verstehen unter Machtdistanz den emotionalen Abstand zwischen Untergebenen und Vorgesetzten, auch im Verhältnis zwischen Gesellschaft und formaler Macht. Im Rahmen der Globe-Studie wurden Länder mit geringer und mit hoher Machtdistanz ermittelt. In Ländern mit geringer Machtdistanz – etwa den USA, Australien, Deutschland oder den skandinavischen Ländern – haben Autonomie und Partnerschaft einen hohen Stellenwert, es besteht allgemeiner Zugang zu Informationen, und die Hierarchie dient vor allem der Erleichterung der Kooperation und des Zusammenwirkens unterschiedlicher Gruppen. Charakteristisch für Länder mit hoher Machtdistanz – darunter Mexiko, Indien, Frankreich oder Polen – sind eine komplexe und steife Hierarchie, ein beschränkter Zugang zu Informationen, niedrige soziale Mobilität und eine geringe Bereitschaft zum Äußern eigener Meinungen. Mit dem eingeschränkten Vertrauen in Regierung und Institutionen verbindet sich ein sehr geringes gegenseitiges Vertrauen: Nur 14 % der Befragten glaubten, dass man anderen Menschen trauen könne, während die übrigen 84 % überzeugt waren, dass man im Kontakt mit anderen vorsichtig sein müsse. Niedrig ist in Polen auch der Vereinigungsgrad, der allgemein als Indikator für den Entwicklungsstand der Zivilgesellschaft gilt. In den Jahren 2001–2007 gaben nur 13 % der Polen an, einer Organisation anzugehören. Ein weiteres Charakteristikum der polnischen politischen Kultur sind die Wahrnehmung von Geschichte als Faktor politischer Polarisierung und die häufige Instrumentalisierung historischer Symbole durch politische Parteien zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Augenfällige Beispiele sind etwa die Debatte um die NordStream-Gaspipeline, in der polnische Politiker den Vertrag zwischen Deutschland und Russland mit dem Ribbentrop-Molotow-Pakt gleichsetzten oder die regelmäßigen Vergleiche der Flugzeugkatastrophe von Smolensk mit dem Massaker von Katyn.

Wie die polnische ist auch die deutsche politische Kultur das Resultat einer jahrhundertelangen Entwicklung. Die Tradition des seit dem 13. Jh. existierenden Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation wurde durch die Reformation gebrochen, die im 17. Jh. zur Spaltung des Reichgebiets in einen katholischen und einen protestantischen Teil führte und zusammen mit dem Aufkommen des liberalen Denkens die Grundlagen für die Modernisierung des Staatswesens schuf. Zu Beginn des 19. Jhs. erhielten die Bauern die volle persönliche Freiheit, und in Süddeutschland wurden die ersten Verfassungen verabschiedet, die das Ende der Feudalwirtschaft und die Einführung der parlamentarischen Repräsentation nach sich zogen. Nach der Vereinigung Deutschlands 1871 wurde die konstitutionelle Monarchie eingeführt, in der zwar der Monarch weiterhin eine starke Position hatte, aber gleichzeitig die Gesetzgebung einem demokratisch gewählten Zweikammer-Parlament übertragen und eine unabhängige Justiz geschaffen wurde. Die Weimarer Verfassung von 1919 bedeutete den endgültigen Übergang zu einem demokratischen System. Sie enthielt einen Katalog von Bürgerrechten und beendete die undemokratische Abhängigkeit der Exekutive von der Legislative auf dem Feld der Außenpolitik. Wegen der Zersplitterung der politischen Kräfte und der mangelnden Bereitschaft zum parteiübergreifenden Konsens war die Weimarer Republik allerdings politisch instabil, was den Aufstieg der Nationalsozialisten ermöglichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die BRD einem mitunter als „Resozialisierung“ bezeichneten Prozess unterzogen: Mit Unterstützung der Alliierten wurden Grundsätze einer politischen Kultur etabliert, die eine Loslösung von der NS-Geschichte und Schatten des Zweiten Weltkriegs sowie die Errichtung eines demokratischen Staates ermöglichten, der in der Lage war, sich seiner historischen Verantwortung zu stellen (Gabriel; Zmerli 2006, S. 32).  Ein wichtiger Faktor für die Entwicklung der politischen Kultur in Westdeutschland nach dem Krieg war die Einstellung zur europäischen Integration. Im Jahr 1978 konstatierte Wolfgang Mommsen, dass die „starke Akzentuierung der europäischen Idee es den Deutschen leichter machte, sich in zunehmendem Maße von den problematischen Elementen ihrer eigenen politischen Tradition zu befreien und sich für den Einfluss des westlichen Systemideals zu öffnen“(Mommsen 1990, S. 22).  Die Europabegeisterung war in der öffentlichen Debatte bis zu den 1990er Jahren deutlich präsent, und einer der Fürsprecher der Gestaltung der nationalen Identität als Bestandteil einer gemeinsamen europäischen politischen Kultur war der große deutsche Soziologe Jürgen Habermas (Habermas 1993).  Parallel dazu entwickelte sich in der Deutschen Demokratischen Republik die politische Kultur unter dem Vorzeichen der eingeschränkten Souveränität und der Abhängigkeit von der UdSSR, wobei die offizielle Parteilinie die Zurückweisung jeglicher Verantwortung für die Verbrechen des Dritten Reichs propagierte. Die deutsche Wiedervereinigung 1990 markierte eine fundamentale Zäsur in der Entwicklung der deutschen politischen Kultur. Nach über vierzig Jahren der Parallelexistenz zweier Staatsgebilde musste das vereinigte Deutschland seine Identität, sein Nationalverständnis und seine internationale Rolle neu bestimmen. Es begann eine bis heute andauernde Debatte über den Patriotismusbegriff sowie über die Bestimmung des nationalen Interesses und der Möglichkeiten, dieses Interesse auf der internationalen Bühne zu vertreten, wo das Erbe der NS-Zeit noch immer virulent ist. Im European Social Survey belegt Deutschland hinsichtlich des politischen Interesses der Gesellschaft einen Spitzenplatz: 63 % der Befragten aus der alten Bundesrepublik und 62 % der Befragten aus der ehemaligen DDR geben an, sich für Politik zu interessieren. Diese Daten zeigen, dass für die Gesellschaften der sogenannten neuen Bundesländer die oft geäußerte These nicht gilt, dass das Interesse am politischen Leben mit der Dauer der demokratischen Erfahrung korrespondiere. In diesem Sinne wird das niedrige Politikinteresse in postkommunistischen Ländern damit erklärt, dass dort die Demokratie erst vor etwas mehr als zwanzig Jahren eingeführt wurde. In den ostdeutschen Bundesländern entwickelt sich die politische Kultur somit anders als in den übrigen Transformationsgesellschaften. Die Gründe kann man sowohl in den ins 19. Jh. zurückreichenden Wurzeln des demokratischen Systems, das die Beteiligung aller sozialen Schichten am politischen Leben impliziert, als auch in der geringen Machtdistanz in Deutschland sehen. Das Interesse am politischen Leben und das Vertrauen in die Politiker ist das Resultat der im Vergleich hohen Bereitschaft der Politiker, ihre Entscheidungen mit den Bürgern zu diskutieren, sowie der positiven Wahrnehmung von gesellschaftlicher Aktivität. Die geringe Machtdistanz zeigt sich auch in der Wahlbeteiligung in Deutschland nach 1990: In den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jhs. schwankte die Wahlbeteiligung zwischen 77 und 80 %, am höchsten war sie mit 82 % im Jahr 1998. In den letzten Jahren ist allerdings ein Rückgang zu verzeichnen: An der Bundestagswahl 2009 nahmen nur 70,8 % der Wahlberechtigten teil, an der Wahl 2013 71,5 %. Beobachter erklärten diese Entwicklung mit einer wachsenden Politik(er)- und Parteienverdrossenheit. Gleichwohl liegt die Wahlbeteiligung der BundesbürgerInnen trotz des jüngsten Rückgangs deutlich höher als in Polen.

Das Vertrauen in öffentliche Institutionen ist in Deutschland etwas größer als in Polen: Dem Bundespräsidenten schenken 74 % der BundesbürgerInnen Vertrauen, der Regierung 41 % und dem Bundestag 38 %. Weitaus höher ist der Anteil der BürgerInnen, die sich aktiv in Vereinen oder anderen zivilgesellschaftlichen Strukturen engagieren. In einer vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegebenen Studie gaben 36 % der Befragten an, sich ehrenamtlich zu engagieren, 71 % erklärten ihr Interesse an öffentlichen Themen und an der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen. Dieses hohe Maß an gesellschaftlichem Engagement resultiert möglicherweise aus der für Gesellschaften mit geringer Machtdistanz typischen niedrigen Akzeptanz sozialer Ungleichheiten und dem Wunsch, derartigen Erscheinungen entgegenzuwirken. Ein begünstigender Faktor ist auch der deutsche Föderalismus, der vorsieht, dass Entscheidungsprozesse möglichst bürgernah ablaufen sollen, was die Möglichkeiten zu politischer Einflussnahme vergrößert.

An der Schnittstelle der politischen Kulturen – Streitpunkte zwischen Polen und Deutschen

 Ein politisches Phänomen mit Auswirkungen auf die deutsch-polnischen Beziehungen ist zweifellos der in beiden Ländern (wie auch anderswo in Europa) wachsende Rechtsextremismus. In beiden Fällen resultiert der steigende Zuspruch für neonazistische Parteien und Organisationen aus dem Empfinden von Unsicherheit und Ungleichheit, der Akzeptanz von Gewalt und der Abneigung gegen Fremde. Einer der anerkanntesten Erklärungsansätze zum Ursprung des Extremismus ist die Modernisierungstheorie von Ulrich Beck. Demnach besteht eine Nebenwirkung der Modernisierung der kapitalistischen Gesellschaft in der Zerstörung der bisherigen Formen des Soziallebens. Deren Konsequenz ist die Vergrößerung der sozialen Ungleichheit, was im Endeffekt zu Exklusion und gesellschaftlicher Desintegration führt (Beck 1986).  Orientierungslose und verunsicherte Individuen finden Halt in rechtsextremem Gedankengut. Allerdings zeigten Studien zur deutschen Jugend keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Grad der gesellschaftlichen Integration und der Offenheit für radikale Ideen. Gleichwohl lässt sich feststellen, dass die Bereitschaft zur Übernahme rechtsextremer oder verwandter Positionen aus einem Zusammenwirken mehrerer Faktoren resultiert, zu denen neben der Integration in die Gesellschaft auch die familiäre Sozialisierung im Elternhaus gehört. Jugendliche, die selbst Gewalt erfahren haben, sind eher bereit, diese als Mittel der Konfliktlösung zu akzeptieren.

Einzelne rechtsextreme Gruppen der 1990er Jahre konnten im vergangenen Jahrzehnt neue Mitglieder gewinnen. Politisch werden sie durch die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) vertreten, deren Wurzeln in die 1960er Jahre zurückreichen. Versuche, die Partei zu verbieten, bleiben erfolglos. Die Verbotsdebatte gewann an Intensität, als 2011 die Existenz des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) bekannt wurde. Dieser neonazistischen Organisation wird eine Reihe von Morden an Ausländern und Bombenanschlägen auf deren Läden in den Jahren 2000–2007 zur Last gelegt. Einige NSU-Mitglieder werden mit der NPD in Verbindung gebracht, was die Einreichung eines neuen NPD-Verbotsantrags beim Bundesverfassungsgericht beschleunigte. Besorgniserregend ist die Tatsache, dass die lange kaum beachtete Partei im Jahr 2009 in sieben Landtage gewählt wurde. Das beste Ergebnis erzielte sie mit einem Stimmenanteil von 5,6 % in Sachsen. Hauptthemen des NPD-Wahlkampfs waren die schlechte Arbeitsmarktlage und die Ausländerpolitik (Mehr zum aktuellen Stand des NSU-Prozess, siehe: Graef 2022).  Darüber hinaus fordert die Partei eine Neuverhandlung des deutsch-polnischen → Vertrags über die Anerkennung der → Grenze und agitiert gegen den Zustrom polnischer ArbeitnehmerInnen nach Deutschland. Somit wirft der Rechtsextremismus insbesondere im deutsch-polnischen Grenzgebiet einen Schatten auf die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland.

Die Debatte um AusländerInnen, die Integration von Minderheiten und das Scheitern des Modells der multikulturellen Gesellschaft wird freilich nicht nur auf dem Gebiet der früheren DDR, sondern in ganz Deutschland und von VertreterInnen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und politischer Parteien geführt. Ein breites Echo fand 2010 Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen (Adam Krzemiński: Zamieszanie wokół Sarazzina, in: Polityka vom 31.8.2010) Sarrazin, SPD-Mitglied und ehemaliges Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank, unterstellt darin dem Islam eine Mitverantwortung für die mangelnde Integration von Migranten aus muslimischen Ländern. Den Migranten selbst wirft er die Bildung von Parallelgesellschaften sowie mangelnde Bereitschaft zum Erlernen der deutschen Sprache und zur Akzeptanz der in der deutschen Gesellschaft geltenden Regeln vor. Nach Auffassung des Autors integrieren sich Migranten aus asiatischen und ostmitteleuropäischen Ländern wesentlich leichter als Moslems und bilden deshalb eine geringere Gefahr für den Fortbestand des deutschen Staates als diese. Trotz heftigen Widerspruchs von Politikern und Intellektuellen, die Sarrazin Fremdenfeindlichkeit vorwarfen, wurde sein Buch mit mehr als 1,5 Mio. verkauften Exemplaren zum Bestseller und fand LeserInnen in allen Altersgruppen und sozialen Schichten.

Der Rechtsextremismus in Polen hat andere Quellen und ein anderes Wesen als in Deutschland. Seine Ursachen liegen vor allem in den Folgen der Systemtransformation, darunter die Orientierungslosigkeit bestimmter sozialer Gruppen im komplexen demokratischen System und der Mangel an politischer Partizipation, das Gefühl des Ausgeschlossenseins infolge der plötzlichen Verarmung sozialer Gruppen, die sich als Transformationsverlierer empfinden, die Sorge vor dem Verlust der polnischen Tradition und Kultur und die daraus resultierende Furcht vor der Integration mit internationalen Organisationen wie der EU sowie die Enttäuschung über die nach dem Fall des Kommunismus dominierenden gesellschaftlichen sozialen und politischen Eliten. Die polnischen Rechtsextremen wenden sich gegen alle Formen des Fremden: Menschen mit anderer Hautfarbe, anderer sexueller Orientierung, anderem Glauben oder anderer Nationalität. Gleichwohl sind AusländerInnen, von denen in Polen deutlich weniger leben als in Deutschland, für die Rechten das vorrangige Objekt der Ablehnung. Lediglich in der europäischen Migrationskrise 2015/2016 wurde die Ablehnung von Ausländern, zumal nordafrikanischer und asiatischer Herkunft, zum dominanten Motiv.

Die von der Europäischen Union geplante Zwangsverteilung von Flüchtlingen auf die Mitgliedsstaaten führte zu Protesten der polnischen extremen Rechten sowie von Vertretern rechtspopulistischer Parteien. Abgesehen davon dominieren in den Parolen der Rechtsextremisten vor allem soziale und weltanschauliche Themen wie etwa der Widerstand gegen die Gleichberechtigung Homosexueller oder die Forderung nach einem absoluten Verbot von Abtreibung und Sterbehilfe. Eine große Rolle spielen auch politische Themen wie die Flugzeugkatastrophe von Smolensk, die als Resultat eines Komplotts von polnischer Regierung und russischer Führung gesehen wird, oder der Vorwurf, die polnische Regierung habe mit dem EU-Beitritt und der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon die polnische Souveränität aufs Spiel gesetzt. Derartige Ansichten werden teils aber auch von rechtspopulistischen Parteien wie Prawo i Sprawiedliwość oder Solidarna Polska vertreten. Bei diesen handelt es sich um nationalistische Gruppierungen, die allerdings anders als die deutsche extreme Rechte keine Gewalt anwenden. Weitere signifikante Unterschiede sind die starke Unterstützung der genannten Parteien für die katholische Kirche und deren große Rolle im öffentlichen Leben sowie die Akzeptanz der Europäischen Union als Bund starker Nationalstaaten. Die polnischen Ultrarechten haben sich in Organisationen und Bewegungen von politischem Charakter wie Młodzież Wszechpolska (Allpolnische Jugend), Polska Wspólnota Narodowa (Polnische Nationale Gemeinschaft), Narodowe Odrodzenie Polski (Nationale Wiedergeburt Polens) oder Organizacja Polityczna Narodu (Politische Organisation des Volkes) zusammengeschlossen, die allerdings nur marginale Bedeutung haben und – anders als in Deutschland – nie in den Sejm oder in regionale Parlamente gewählt wurden. Im Parlament vertreten war allerdings für eine gewisse Zeit eine Partei, deren Programm zu einem großen Teil dem rechtsextremen Denken entsprach: die Liga Polskich Rodzin (Liga Polnischer Familien, LPR), die in den Jahren 2006–2007 der Regierungskoalition angehörte und über deren Liste einige Mitglieder der Allpolnischen Jugend in den Sejm gelangten. Seit den Parlamentswahlen 2007 ist die LPR weder im Sejm noch im Senat vertreten, auch die Kontakte zur Allpolnischen Jugend wurden gelöst. Obwohl die Gewaltbereitschaft der polnischen Rechtsextremen niedriger ist als in Deutschland, wo es regelmäßig zu Gewalttaten von ultrarechten Organisationen kommt, ist auch in Polen die Radikalisierung der Szene unübersehbar. Ein Beleg dafür ist die Entwicklung der jährlichen Unabhängigkeitsmärsche in den vergangenen fünf Jahren. Am 11. November 2010 nahmen zum ersten Mal nicht nur nationale Gruppen teil, sondern auch mit der Hooligan-Bewegung und der extremen Rechten verbundene Gruppen. Die Teilnehmerzahl lag bei über 10.000 und stieg in den folgenden Jahren sukzessive an. Im Jahr 2013 beteiligten sich Zigtausende Menschen. Mit der Zahl der Teilnehmer stieg auch das Ausmaß der angerichteten Schäden – im Jahr 2013 wurden mehr als 70 Personen wegen aggressiven Verhaltens (Angriff auf die russische Botschaft) sowie ausländerfeindlicher und antisemitischer Parolen festgenommen, es entstand ein Sachschaden in Höhe von 120.000 Zloty. Anfangs distanzierten sich rechte Parteien wie Prawo i Sprawiedliwość offiziell von den Organisatoren des Marschs. Mit der Zeit aber verzichtete die PiS auf eindeutige Distanzbekundungen, und ein Teil ihrer Mitglieder und erklärten Anhänger nimmt offen daran teil.

Wie die deutschen belasten auch die polnischen Rechtsextremen mit ihrem auf die Ablehnung und Feindseligkeit gegenüber den einstigen Besatzern Deutschland und Russland gegründeten Handeln die deutsch-polnischen Beziehungen. Bezugnahmen auf das nationalsozialistische Deutschland und antideutsche Rhetorik fallen in den deutschfeindlichen Teilen der polnischen Gesellschaft weiterhin auf fruchtbaren Boden. Besonders populär sind derartige Ansichten unter den Wählern von Prawo i Sprawiedliwość, und die Partei arbeitet in ihrer politischen Narration geschickt mit antideutschen Motiven (Balcer; Buras; Gromadzki; Smolar 2016).  So warf im Präsidentschaftswahlkampf 2019 der Amtsinhaber Andrzej Duda deutschen Medien vor, den Verlauf des Wahlkampfs und das politische Leben in Polen manipulieren zu wollen (Wojciech Szymański: Niemcy: Andrzej Duda ostro krytykowany za słowa o Die Welt, in: Deutsche Welle (https://www.dw.com/pl/niemcy-andrzej-duda-ostro-krytykowany-za-s %C5 %82owa-o-die welt/a-54075818), 7.7.2020).

Für Spannungen im deutsch-polnischen Verhältnis sorgen auch die Geschichtspolitik beider Länder und geschichtlich bedingte Emotionen. Auf polnischer Seite manifestiert sich der emotionale Zugang zur Vergangenheit unter anderem in Bezugnahmen auf für Polen besonders leidvolle historische Ereignisse. Ein Beispiel dafür war 2007 der aus Sorge vor einer zu starken Position Deutschlands geborene Vorschlag Lech Kaczyńskis, bei der Neugewichtung der Stimmverteilung im EU-Rat solle man zur aktuellen polnischen Einwohnerzahl die im Zweiten Weltkrieg Ermordeten hinzurechnen und erst anhand der Summe den polnische Stimmenanteil berechnen. Für Diskussionen sorgte auch der schon erwähnte Vergleich der deutsch-russischen Übereinkunft zum Bau der Nord-Stream-Gaspipeline mit dem Ribbentrop-Molotow-Pakt. Besonders wird es, wenn nach Ansicht vieler Polen (nicht nur) Deutschland versucht, die deutsche Schuld an den Ereignissen der Jahre 1939–1945 zu relativieren oder gar in Frage zu stellen oder die → Vertreibungen aus dem historischen Kontext zu lösen.

Aus diesem Grund ist auch Erika Steinbach, die frühere Vorsitzende des Bunds der Vertriebenen und Initiatorin des Zentrums gegen Vertreibungen in Berlin, eine der bekanntesten Deutschen (während sie in Deutschland allenfalls als CDU-Hinterbänklerin wahrgenommen wird). Umgekehrt reagieren die Deutschen emotional auf bestimmte außenpolitische Schritte der polnischen Regierung. So warf die deutsche Öffentlichkeit Polen wegen der Unterstützung der US-Operation im Irak blinden Proamerikanismus vor, ohne nach den polnischen Motiven zu fragen. Dies resultierte wohl aus der in Deutschland nach wie vor kritischen Einstellung zu den USA, die sich insbesondere nach dem Beginn des US-amerikanischen Kriegs gegen den Terror im Jahr 2001 manifestierte (Kelleter; Knöbl 2006). Der Antiamerikanismus gründet im Wesentlichen auf einer Reihe negativer Züge, die die Deutschen den US-Amerikanern und ihrem Staat zuschreiben, darunter hohe Kriminalität, niedriges Bildungsniveau, mangelndes Interesse an anderen Kulturen, große soziale Ungleichheit und zu stressiges Lebenstempo (Thomas Petersen: Schleichende Zunahme des Antiamerikanismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.1.2013).  Vor diesem Hintergrund stößt die USA-freundliche Ausrichtung der polnischen Außenpolitik im Nachbarland auf wenig Verständnis.

In den Jahren 2009–2015 gab es auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze Versuche, die Schwerpunkte von der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und ihren Nachwirkungen auf Kooperationsfelder wie die Energie- und Finanzpolitik (letzteres vor allem wegen der Euro-Krise) oder die außen- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit zu verlagern. Im Jahr 2008 verkündete der neu ins Amt gekommene polnische Außenminister Radosław Sikorski die Idee einer deutsch-polnischen „Partnerschaft für Europa“. Ihr Kern war die gemeinsame Unterstützung von Projekten zur Vertiefung der europäischen Integration bei gleichzeitiger Anerkennung von Interessensunterschieden, die in den Beziehungen zwischen zwei Staaten normal seien. Dieser Vorschlag bedeutete einen Bruch mit der dahin dominierenden stereotypen Sichtweise der deutsch-polnischen Beziehungen, in der die Fokussierung auf die Konflikte der Vergangenheit den Aufbau eines auf Dialog gründenden bilateralen Verhältnisses verhinderten. Sikorskis Vorstoß hatte zunächst eher symbolischen Charakter, doch mit der Finanzkrise änderten sich die Kräfteverhältnisse in Europa und damit auch die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland. Zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren entsprang die Zusammenarbeit der beiden Nachbarstaaten einem auf der klaren Definition nationaler Partikularinteressen basierenden Willen zur Kooperation: Polen brauchte die Unterstützung Deutschlands, um in den informellen engen Kreis der Entscheiderländer aufgenommen zu werden, Deutschland sah in Polen ein Land mit einer starken und relativ krisenresistenten Wirtschaft, das ähnliche finanzpolitische Vorstellungen hatte und im Kampf gegen die Krise auf Haushaltsdisziplin und Wettbewerbsfähigkeit setzte. Vor dem Hintergrund der katastrophalen Wirtschaftslage in Spanien, Griechenland, Portugal und Italien, der wachsenden Europaskepsis in Großbritannien und der politischen Unentschlossenheit Frankreichs wurde Polen für Deutschland zu einem wichtigen Partner in Europa. Durch seine Unterstützung legimitierte Polen sogar die wachsende deutsche Rolle auf der EU-Bühne und trug dazu bei, dass Deutschland die Position eines „zurückhaltenden Hegemons“ (Buras 2013, S.11) einnehmen konnte. Den polnischen Standpunkt umriss Sikorski im November in einer Rede vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin. Dort rief er Deutschland zu mehr Engagement in Europa auf und betonte die Akzeptanz und Unterstützung der polnischen Seite für eine starke Position Deutschlands in der EU. Er merkte an, dass er wohl der erste Außenminister in der Geschichte Polens sei, der weniger die deutsche Stärke fürchte als vielmehr die deutsche Passivität und ein Scheitern seiner Führung (Radosław Sikorski: Polska a przyszłość Unii Europejskiej. Wystąpienie 28.11.2011 w Berlinie, https://www.gov.pl/web/dyplomacja, 22.6.2021).  Sikorskis Angebot einer engen nachbarschaftlichen Kooperation zur Vertiefung der europäischen Integration wurde in der deutschen Politik mit großer Zustimmung aufgenommen. Ganz anderes reagierte die polnische Opposition. Die Führung von PiS und Solidarna Polska warf dem Außenminister einen Bruch der Verfassung vor; für sie stand der Vorstoß zu einer Föderalisierung der EU im Widerspruch zur polnischen Staatsräson. Der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński betonte, dass Sikorski nicht das Recht habe, Deutschland die Führungsrolle in der EU anzubieten (Piotr Jendroszczyk; Jarosław Stóżyk, PiS: Sikorski przed Trybunał Stanu, in: Rzeczpospolita vom 29.11.2011).

Mit der politischen Zusammenarbeit, die sich unter anderem im engen Kontakt von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Premierminister Donald Tusk verkörperte, ging ein gesellschaftlicher Wandel einher. Die deutsche Wahrnehmung Polens und der Polen veränderte sich sukzessive, das alte Stereotyp der → polnischen Wirtschaft wurde zunehmend mit Tüchtigkeit und Wohlstand assoziiert. Immer mehr Deutsche sehen den östlichen Nachbarn als potenziellen Partner des Dialogs und der Zusammenarbeit. Auf der anderen Seite der Oder vollzogen sich ähnliche Prozesse, auch hier hat sich die Wahrnehmung der Deutschen binnen zwanzig Jahren signifikant gewandelt. Im Jahr 1990 betrachteten 64 % der Polen die Wiedervereinigung Deutschlands mit Sorge und fürchteten eine potenzielle Bedrohung durch den westlichen Nachbarn. In Studien aus dem Jahr 2010 äußerten 68 % die Überzeugung, dass die Wiedervereinigung zur Stabilisierung der politischen Lage in Europa beigetragen habe; 72 % bezeichneten die aktuellen deutsch-polnischen Beziehungen als sehr gut oder gut (Łada 2010).  Das heißt nicht, dass in den Jahren 2009-2015 alle Streitpunkte hinsichtlich der Vergangenheit geklärt worden wären, aber die Geschichtspolitik war nicht mehr das vorherrschende, sondern eines von vielen Themen im deutsch-polnischen Diskurs. Neben dem emotionalen Zugang entwickelte sich ein vorurteilsfreier, rationaler Blick auf den Nachbarn als Kooperationspartner in Europa.

Wie eingangs erwähnt, hat sich unter der PiS-Regierung das deutsch-polnische Verhältnis signifikant verschlechtert. In der öffentlichen Debatte sind wieder historisch gefärbte antideutsche Positionen vernehmbar, die von Vertretern der Regierungspartei geschickt instrumentalisiert werden. Darüber hinaus führte die PiS mit ihrer umstrittenen Justizreform und der Einschränkung der Medienfreiheit Polen auf Konfrontationskurs zur EUKommission (Pytlas 2021).  Deutschland, das diese Veränderungen wie die EU-Institutionen als Abkehr von rechtsstaatlichen Grundprinzipien betrachtet, sieht das Vorgehen der Regierung in Warschau kritisch, was zur weiteren Abkühlung der bilateralen Beziehungen beiträgt.

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann

 

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Sus, Monika, Dr. habil., verfasste den Beitrag „Politische Kultur in Polen und in Deutschland (Politik)“. Sie ist Associate Professor an der Polnischen Akademie der Wissenschaften und Fellow an der Hertie School in Berlin und arbeitet in den Bereichen Europäische Außen- und Sicherheitspolitik sowie Foresight and methodischer Ansatz.

 

 

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