Robert Traba

Polnische und deutsche Erinnerungskultur

Polnische und deutsche Erinnerungskultur


(1) Vom 18.–20. März 2013 lief im öffentlich-rechtlichen Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) der Dreiteiler Unsere Mütter, unsere Väter (Regie: Philipp Kadelbach, Produzent: Nico Hoffmann, 2013). Die intensive Werbekampagne im Vorfeld der Ausstrahlung verhieß „eine neue Sicht der Deutschen im Zweiten Weltkrieg“. Der Film wurde zu einer der meistgesehenen historischen Miniserien in der Geschichte des ZDF. Die Produktion wurde mit renommierten Preisen ausgezeichnet und lief weltweit in mehr als 80 Ländern. Nach der Erstausstrahlung herrschte in Deutschland allerdings Funkstille. Es gab einzelne Reaktionen, kritische wie lobende, doch größere öffentliche Debatten oder Kontroversen blieben aus. Die Diskrepanz zwischen der lautstarken Ankündigung des Films und der sozialen Akzeptanz oder gar Affirmation des präsentierten Bilds vom Krieg deutet darauf hin, dass es den Erwartungen eines großen Teils der deutschen Gesellschaft entsprach. In den polnischen Medien hingegen regte sich bereits im März erster Protest. Ihren Höhepunkt erreichten die Empörung und Skepsis hinsichtlich des historischen Erkenntniswerts der Serie im Juni 2013, als Unsere Mütter, unsere Väter erstmals im polnischen Fernsehen zu sehen war. „Skandal“, „Manipulation“, „Die Deut­schen schreiben die Geschichte um“, „Die Henker setzen den heroischen polnischen Kampf gegen die Nationalsozialisten mit SS-Verbrechen und dem Judenmord gleich“ – das war der Tenor der Schlagzeilen in den meisten polnischen Medien. Wie in einem Brennglas offenbarte die Rezeption der Serie in Deutschland und in Polen die Unter­schiede in der Wahrnehmung der jüngsten Geschichte.

Stein des Anstoßes war im wesentlichen eine ca. zwanzigminütige Sequenz (von ins­gesamt viereinhalb Stunden), in der die Heimatarmee (Armia Krajowa) als Bande von Partisanen dargestellt wird, die nicht für die Freiheit ihres Landes kämpfen, sondern aus Habgier und Judenhass (→ Antisemitismus) handeln. Dabei war in Wirklichkeit die Heimatarmee neben den jugoslawischen Partisanen die größte Untergrundarmee, die in Europa gegen die deutsche Besatzung kämpfte. Im Sommer 1944 hatte sie 390.000 Soldaten. Für die deutschen Filmemacher war der Heimatarmee-Strang nur eine Ran­depisode, die das tragische Schicksal einer der fünf Hauptfiguren, des deutschen Juden David Goldstein, stärker herausstreichen sollte. Der Film kann ja letztlich als Beitrag zum innerdeutschen Diskurs über „den Irrsinn des Krieges“, die eigenen Verbrechen, aber auch die Opfer der NS-Herrschaft verstanden werden. Die polnischen ZuschauerInnen freilich empfanden die Darstellung der Heimatarmee als Schändung eines natio­nalen Symbols, des polnischen Heldenmuts und der polnischen Opfer im Kampf gegen Hitlerdeutschland und die Sowjetunion. Deutsche Ignoranz traf auf (historisch gerecht­fertigte) polnische Überempfindlichkeit. Nie in den letzten zwanzig Jahren herrschte in Polen derart einhellige Entrüstung angesichts deutscher Geschichtsschöpfung (auch unter führenden Politikern bis hin zum Außenminister). Die deutsche Presse äußerte vereinzelt Zustimmung zum polnischen Standpunkt.

Womöglich resultierte die verfälschende Darstellung der Heimatarmee aus Nachlässig­keit oder Unkenntnis der polnischen Besatzungsrealität. Die Darstellung „antisemiti­scher Polen“ weckte bei den deutschen Zuschauern ganz offenbar keine größeren Zwei­fel, obwohl es in der polnischen Gesellschaft seinerzeit ein differenziertes Spektrum von Haltungen zu den Juden gab, von selbstloser Hilfe unter Einsatz des eigenen Lebens bis hin zu aktiver Beteiligung an der „Judenjagd“. In den Mainstream der Erzählung von den sogenannten Mittätern des Holocausts ging aber das eindeutig negative Bild ein. Die Singularität des Holocausts wiederum dominiert die westeuropäische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Infolgedessen zeigt die westeuropäische Erinnerungskultur eine deutliche Tendenz zu Universalisierung und Analogisierung (Lepsius 1988), was der deutschen Ausprägung des Erinnerns an die Geschichte des 20. Jhs. eine dankbare Deutungs­grundlage bietet.

(2) Der scheinbar triviale, aber von verschiedenen Seiten immer wieder erneuerte Streit über die Frage, ob es ein kollektives Gedächtnis gibt, ist keineswegs obsolet. Auf der ei­nen Seite negieren KünstlerInnen und SchriftstellerInnen den Sinn eines kollektiven Er­innerns („denn es gibt nur das individuelle Gedächtnis“), desgleichen HistorikerInnen, die sich auf die harten Fakten der sogenannten Ereignisgeschichte stützen. Andererseits erheben PolitikerInnen unter dem Schlagwort der Geschichtspolitik das kollektive Ge­dächtnis zum Fetisch.

Verkomplizierend wirkt die Tatsache, dass Gedächtnis sowohl Erinnern als auch Ver­gessen impliziert, was schon an sich problematisch ist: Wie viel Erinnern bzw. Vergessen braucht eine Gesellschaft, um im Rahmen demokratischer Spielregeln funktionieren zu können? Indem wir die „eigene“ (individuelle oder kollektive) Erinnerung als einzig wahre ansehen, öffnen wir einen Raum für permanente Konflikte. Es gibt keine rein biologische Sphäre des kollektiven Erinnerns, doch auch das individuelle („natürliche“) Erinnern ist kein rein psychologisches Problem. Jeder Mensch, der sich in einer Gruppe bewegt, definiert sich als Individuum wie als Angehöriger „seiner“ Gruppe über seine familiäre, ethnische, regionale und soziale Vergangenheit. Somit steht das individuelle Gedächtnis zwangsläufig in ständiger Interaktion mit der vorgestellten Welt, die im Pro­zess der Konstruktion einer kollektiven Identität (etwa der nationalen) geschaffen wird und die seinen „sozialen Rahmen“ (Halbwachs 1952) bildet. Das kollektive Gedächtnis ist somit keine in­tellektuelle Fiktion, sondern ein dynamischer Prozess der Identifikation mit ausgewähl­ten historischen Phänomenen, der sich über soziale Praktiken wie politische Rituale, den Bau von Denkmälern oder die schulische Bildung sowohl in unseren Köpfen als auch im öffentlichen Raum vollzieht. Durch die Teilnahme an öffentlichen Aktivitäten, die Bilder der Vergangenheit im öffentlichen Raum erzeugen, werden wir nolens volens zu AkteurInnen der Konstruktion des kollektiven Gedächtnisses.

Die Produktion von Geschichtsbildern wird durch aktuelle Trends sowie politische und kulturelle Gegebenheiten beeinflusst. Die Vergangenheit in der Gegenwart entspricht immer den geistigen Bedürfnissen der Gegenwart und nicht dem intellektuellen An­spruch der Rekonstruktion historischer Phänomene und Prozesse. So fehlte etwa in Po­len bis zum Jahr 2000 im öffentlichen Diskurs jegliche Bezugnahme auf die unrühmliche Haltung eines Teils der polnischen Gesellschaft gegenüber den Juden, sowohl während des Kriegs – als Helfer im deutschen Programm der Shoah – als auch nach dem Krieg – im Rahmen der Errichtung eines ethnisch „reinen“ kommunistischen Nationalstaats. Erst Jan Tomasz Gross initiierte mit seinem Buch Nachbarn (2000) die öffentliche Debatte zu diesem Thema. Als Synonym für die feindselige Haltung von Polen zu Juden ging – unabhängig von ideologischen Disputen – der Ort Jedwabne ins polnische kollektive Gedächtnis ein. Offen ist nur, welchen Stellenwert es dort erhält und in welcher Form es erscheint.

Vergangene Ereignisse lebten und leben im individuellen Gedächtnis, das von Genera­tion zu Generation weitergegeben wird, unabhängig von ihrem Ort im kulturellen Ge­dächtnis. Oft aber werden sie sogar innerhalb der Familie marginalisiert, in Erwartung gleichsam eines passenden Moments im öffentlichen Raum, der ihnen interessierte Rezi­pientInnen für ihre Erzählung zu finden ermöglicht. Im individuellen Sinne wurden die Stimmen der Shoah-Überlebenden wie auch die Erinnerungen der Opfer von Besatzung und Zwangsarbeit (→ Zwangsarbeiter) oder Zwangsmigration nicht vergessen, sondern lediglich verdrängt. Die Opfer mussten ins „normale“ Leben zurückkehren und für eine bestimmte Zeit ihre traumatischen Erlebnisse vergessen. Die Gesellschaft musste dazu heranreifen, ihre Erzählungen angemessen verarbeiten zu können.

Doch auch in demokratischen Gesellschaften bestimmen mitunter aktuelle politische Bedürfnisse die Erwartungshaltung und erschweren bestimmten, zumal drastischen oder unangenehmen Tatsachen den Eingang ins Zentrum der staatlichen Erinnerungs­politik. Auf diese Weise blühten etwa in Frankreich bis in die 1990er Jahre der Kult um die heroisch gegen die Deutschen kämpfende Résistance oder der Mythos der Koloni­alsoldaten, die tapfer den Widerstand der um die Unabhängigkeit kämpfenden Algerier niederschlugen. Die peinlichen Themen der Kollaboration und der französischen Kon­zentrationslager wurden aus dem kulturellen Gedächtnis verdrängt.

Die Spannung zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis schwindet meist, sobald eine Gruppe (Wir) mit konkurrierenden Erinnerungen einer anderen Gruppe (die An­deren) konfrontiert wird. Angesichts der realen oder imaginierten Bedrohung verwandelt sich die pluralistische Erzählung in ein monolithisches „nationales Gedächtnis“. Dann entstehen – fernab vom Versuch, historische Prozesse und Phänomene zu verstehen – Bil­der und Matrizen eines „deutschen“, „polnischen“ oder „französischen“ Gedächtnisses.

(3) Deutsche und Polen leben seit dem 10. Jh. nebeneinander. Während ihrer über tau­sendjährigen Nachbarschaft unterschieden sich die beiden Gesellschaften allerdings oft im Hinblick auf ihr Potenzial und ihre Bedeutung in Europa. Das Deutsche Reich und seine herrschenden Dynastien spielten in der europäischen Politik eine zentrale Rolle. Die polnisch-litauische Rzeczpospolita war unter den Jagiellonen und ihren gewählten Nachfolgern lediglich vom 16. bis zum 17. Jh. für rund 100 Jahre ein ernstzunehmen­der Akteur auf der europäischen Bühne. Bis zum Ende des 18. Jhs. hatte das föderal regierte Polen eine gemeinsame Grenze mit den deutschen Staaten, die aber – anders als die polnisch-russische Grenze – keine jahrhundertelang umkämpfte „blutige Linie“ war. In den deutschen Staaten war der polnische Einfluss gering. In Polen entstanden bereits ab dem 11. Jh. Städte nach deutschem Recht. Zahlreiche deutsche und jüdische SiedlerInnen, die hier bessere Lebensbedingungen vorfanden, brachten bald die Muster der westeuropäischen und deutschen Stadtkultur nach Polen. Dynastische Beziehungen spielten nur eine geringe Rolle. Ein Nachbar, der nicht nur in der Realität, sondern auch im Gedächtnis von Generationen von Polen die wechselseitigen Beziehungen entschei­dend prägen sollte, war der Orden der Brüder vom Deutschen Hospital Sankt Mariens in Jerusalem, genannt die Kreuzritter (→ Kreuzritter). Der in der Zeit vom 13. bis zum 15. Jh. mächtige Ordensstaat, der nach seinem Niedergang 1525 in ein weltliches Her­zogtum umgewandelt wurde, aus dem nicht ganz zwei Jahrhunderte später (1701) das „Königreich Preußen“ hervorging, grenzte vom Norden an Polen. Er war Rivale und zugleich Symbol der „deutschen Gefahr“ (→ Drang nach Osten). Mitte des 18. Jhs. ver­schlechterten sich aufgrund der aggressiven Politik des Königs von Preußen Friedrich II. (Hohenzollern) sowie der inneren Probleme der Rzeczpospolita, die seit über einem hal­ben Jahrhundert (1697–1763) von der sächsischen Dynastie der Wettiner regiert wurde, die bilateralen Beziehungen dramatisch.

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und die polnisch-litauische Rzeczpos­polita Obojga Narodów (Republik beider Nationen) hörten fast gleichzeitig auf zu exis­tieren. Das Ende des deutschen Staates infolge der napoleonischen Aggression (1806) markierte zugleich den Beginn einer intensiven Entwicklung der fortbestehenden deut­schen Territorialstaaten (u. a. Preußen, Bayern, Sachsen, Baden) und eines Streits um den Kern der deutschen nationalen Idee, die Frage eines föderalen oder eines integra­tiven Nationalismus. Polen verlor als Folge der Teilungen (1772, 1793 und 1795) seine Unabhängigkeit und verschwand für 123 Jahre von der Landkarte Europas. Die mo­derne Idee der Nation entwickelte sich verständlicherweise in Opposition zu den beiden größten Teilungsmächten Preußen (ab 1871 das vereinigte Deutschland) und Russland. Für Deutschland war die Herrschaft über die Ende des 18. Jhs. von Preußen annektier­ten Territorien konstitutiver Bestandteil der Staatsräson, die sich konkret in einer „nega­tiven Polenpolitik“ (Klaus Zernack) niederschlug. Mental fand sie ihren sprechendsten Ausdruck im Stereotyp der „polnischen Wirtschaft“ (→ polnische Wirtschaft), das – bis hin zur Abwertung der Polen zu „Untermenschen“ während des Zweiten Weltkriegs – auf längere Sicht die koloniale Theorie von der kulturellen Überlegenheit der Deutschen festigte.

Im Jahr 1918 erlangte Polen unter anderem durch die erneute Annexion der in der zwei­ten Hälfte des 18. Jhs. von Preußen besetzten Regionen Großpolen und Westpreußen sowie eines Teils von Oberschlesien die staatliche Unabhängigkeit zurück. Deutschland und Polen hatten wieder eine gemeinsame Grenze. Von den elf nach dem Ersten Welt­krieg entstandenen Staaten Mitteleuropas hatte nach dem Zweiten Weltkrieg nur Polen grundlegende Grenzverschiebungen zu verzeichnen (die baltischen Staaten wurden von der UdSSR geschluckt). Fast die Hälfte des polnischen Vorkriegsterritoriums fiel kraft der Beschlüsse der „Großen Drei“ (UdSSR, USA, Großbritannien) an die Sowjetunion. Im Gegenzug erhielt Polen einen Teil der vor 1945 zu Deutschland gehörenden Gebiete (u. a.: Ermland und Masuren, Westpreußen und Niederschlesien), die jahrhundertelang deutsch-polnisch-(slawisches) Grenzland waren und heute ein Viertel des polnischen Staatsterritoriums bilden.

(4) Der Eiserne Vorhang, der Europa fast fünf Jahrzehnte lang teilte, war dem Dialog nicht zuträglich. Polen und Westdeutschland trennte nicht nur die von der Bundesrepu­blik bis Anfang der 1970er Jahre nicht anerkannte Deutsche Demokratische Republik, also die Grenze VRP–DDR, sondern auch die wirtschaftliche und politische Kluft in­folge der Spaltung der Welt in ideologisch verfeindete Blöcke. Die Strategie des Um­gangs mit der Vergangenheit Westeuropas oder der USA wurde von den Siegermächten bestimmt. Zur Herstellung und langfristigen Sicherung des Friedens sollte „alle Erin­nerung an die mörderischen Zwieträchtigkeiten […] durch ewiges Vergessen“ getilgt werden. Auf diese fast zweitausend Jahre alte, von Cicero nach der Ermordung Cäsars formulierte Maxime berief sich 1946 in Zürich Winston Churchill in seiner Grundsatz­rede über die Notwendigkeit einer europäischen Einigung auf dem Fundament eines „segensreichen Akt des Vergessens“ (a blessed act of oblivion), also einer Amnestie zum Wohle des künftigen Europas. In einer Analyse der unterschiedlichen psychologischen Auswege der Deutschen angesichts des Zusammenbruchs der kollektiven Identität nach der „deutschen Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) teilt Anna Wolff-Powęska die These des deutschen Intellektuellen Jörn Rüsen, dass das Bewusstsein der Niederlage und das Klima nach 1945 auf individueller Ebene ein Erinnern und Akzeptieren von Verstri­ckung und Schuld als Teil der eigenen Biographie verhinderten. Es mangelte an der in­neren Freiheit zur Selbstkritik (Wolff-Powęska 2011). In Hinsicht auf die Individuen handelte es sich weniger um die „Unfähigkeit zu trauern“ (Mitscherlich/Mitscherlich 1967) als vielmehr um die Frage des psychologischen Über­lebens unter den Bedingungen des Verlusts der kollektiven Identität. Dies änderte sich nach der 1968er-Revolte der „Kinder der NS-Täter“ und mit der ab Beginn der 1970er Jahre betriebenen Ostpolitik, der Liberalisierung der Beziehungen zur DDR und zu den östlichen Nachbarn. Auf gesellschaftlicher Ebene entwickelten sich zwei Strategien zur Überwindung des „Nichterinnerns“. In der DDR schuf man das Paradigma der „guten Deutschen“ – Antifaschisten – und eliminierte mittels der effektiven Propagandamög­lichkeiten eines totalitären Staates das Problem aus der öffentlichen Debatte. In der BRD entschied man sich für eine Politik der Verdrängung und Externalisierung der Er­innerung (die Differenzierung zwischen Nationalsozialisten als Tätern und Deutschen als Opfern), (Lepsius 1988 r.) – gleichsam der unvermeidliche Preis der erfolgreichen Demokratisierung. Über die Folgen dieser Strategie wird bis heute debattiert, unstrittig ist aber die Tatsache eines aktiven staatlichen Handelns. Das Schweigen der ersten Nachkriegsjahre dienteso Wolff-Powęska resümierend – als Cordon sanitaire, und auch die „mentale Blockade“ war eine Folge der psychologisch komplexen Situation.

In Polen kann aus zwei Gründen nur bis 1949 von einer „lebendigen Erinnerung“ ge­sprochen werden. Erstens weckte die unmittelbare Nähe der traumatischen Erfahrun­gen der Kriegszeit enorme kollektive Emotionen. Zweitens war der öffentliche Diskurs über die Verstetigung des Kriegsgedenkens noch keinem Staatsmonopol unterworfen. Ab den 1950er Jahren konzentrierte sich die staatliche Geschichtspolitik fast ausschließ­lich auf die „nationale“ Monopolisierung des Gedenkens. In ideologischer Hinsicht ma­nifestierte sich dies im Kult „des Siegs der Volksheimat“ und des Martyriums, dessen Verursacher ausschließlich die NS-Besatzer und ihre tatsächlichen oder imaginierten Koalitionäre waren, sowie in der völligen Ausblendung der sowjetischen Verbrechen und Repressionen. In nationaler Hinsicht erfolgte eine Aneignung der Kriegserinnerung als Leidensgeschichte ausschließlich des polnischen Volks.

Die polnischen und deutschen Geschichtsbilder dieser Zeit waren weniger asymmet­risch als vielmehr dichotom – orientiert allein auf die Verarbeitung der „eigenen Vergan­genheit“. Während die Okzidentalisierung ihres Wegs zur Demokratie den Deutschen die Verankerung ihrer Erinnerung in westeuropäische Diskurse ermöglichte, blieb den Polen nicht nur eine kollektive Therapie des Kriegstraumas verwehrt, sondern – unter den Bedingungen eingeschränkter Souveränität – auch die Möglichkeit, einen inneren Konsens über die Geschichtserzählung auszuhandeln und diesen in den westeuropäi­schen Kontext zu integrieren.

Schon in den 1950er Jahren kam es auf Initiative liberal-katholischer polnischer Intel­lektueller aus dem Umfeld der Krakauer Wochenzeitschrift Tygodnik Powszechny zu ers­ten inoffiziellen, fast geheimen Begegnungen mit westdeutschen PolitikerInnen. Damit begann ein Versöhnungsprozess, in dessen Zentrum sich die deutsche Aufarbeitung der fünfjährigen Besatzung Polens und der am polnischen Volk begangenen Verbrechen sowie die Aussiedlung von ca. 10–12 Millionen Deutschen aus einstmals deutschem Staatsgebiet nach 1945 (→ Vertreibung) befanden (Gniazdowski 2007/2008; Haar 2007/2008; Overmans 2007/2008). Zwei Ereignisse stehen symbolisch für die deutsch-polnische Versöhnung: → Brief der polnischen Bischöfe an ihre „deutschen Amtsbrüder“ vom November 1965 mit dem Schlusssatz: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“ sowie Willy Brandts Kniefall (→ Willy Brandts Kniefall ) vor dem Denkmal der Aufständischen des Warschauer Ghettos (1943) am 7. Dezember 1970. Am selben Tag wurde der Warschauer Vertrag unterzeichnet, der die Unverletzlichkeit der Oder-Neiße-Grenze (→ Grenzgebiete Grenze Grenze) sowie die Achtung der territorialen Integrität und der Souveränität aller Staaten in Europa bekräftigte. 1972 entstand unter UNESCO-Schirmherrschaft die Deutsch-Polnische Schulbuchkommission der Historiker und Geographen (→ Zusammenarbeit polnischer und westdeutscher Historiker polnischer und westdeutscher Histori­ker), 1976 wurde zwischen Danzig und Bremen die erste deutsch-polnische Städtepart­nerschaft geschlossen. Die Idee der Versöhnung schlug sich allmählich in praktischen Aktivitäten nieder. So viel Bewunderung und Anerkennung die Überwindung der „Erbfeindschaft“ zwi­schen Polen und Deutschen bis heute weckt, so sehr zeigt die Geschichte der beiden Symbole, die in den Kanon der nationalen Erinnerungsorte eingingen, wie viel noch zu tun ist, bis von einer Symmetrie des kollektiven Erinnerns in Polen und Deutschland gesprochen werden kann. Willy Brandts Geste ging um die Welt. Sie wurde zur Visiten­karte des demokratischen Deutschland, das die NS-Hinterlassenschaft bewältigte. In Polen ist sie ein fester Bestandteil der meisten Schulgeschichtsbücher (→ Schulgeschichtsbücher), spielt aber im kollektiven Gedächtnis keine Rolle. Der → Brief der polnischen Bischöfe ist in Polen allgemein bekannt, aber eben nur in Polen. In Deutschland kennen ihn allenfalls ExpertInnen und FreundInnen der deutsch-polnischen Zusammenarbeit. Die beiden Erinnerungsorte, die in Polen und Deutschland ähnliche Funktionen er­füllen, sind also im gesellschaftlichen Bewusstsein des jeweiligen Nachbarlandes nicht präsent.

Der Posener Germanist Hubert Orłowski hat das Phänomen der parallelen und getrenn­ten historischen Erinnerung für Deutschland und Polen treffend beschrieben. Seine In­terpretation ist – mit einer kleinen Korrektur – bis heute gültig. Die Dominanten des kollektiven Gedächtnisses der Deutschen sind: Auschwitz als Metapher der Shoah und der deutschen Verantwortung für den → Holocaust, die Schlacht bei Stalingrad als Sym­bol für Heldenmut und Opferbereitschaft der Wehrmachtssoldaten an der Ostfront, die meist mit der Zerstörung Dresdens verknüpften Bombardierungen als Sinnbild des sinnlosen Todes unschuldiger deutscher Opfer im Namen von „Sieg und Rache“ der Alliierten sowie die → Vertreibungen als Trauma der ihrer Heimat beraubten Zivilbe­völkerung. Die parallelen polnischen Erinnerungsdiskurse sind: der heroische Kampf gegen die Deutschen im Septemberfeldzug 1939, der → Warschauer Aufstand(1944) als Symbol des Widerstands gegen die Besatzer und der Bewahrung der Unabhängigkeit, Auschwitz und Katyn als Symbole für die polnischen Opfer des nationalsozialistischen und des sowjetischen Totalitarismus. Seit Beginn des 21. Jhs. dominiert in beiden Län­dern zunehmend die Abrechnung mit dem Kommunismus, aber auch hier gibt es mehr Parallelen als Gemeinsamkeiten. Wie der Sozialpsychologe Harald Welzer schreibt, beginnt gegenwärtig das Erinnern an den Kommunismus in Deutschland die in den vergangenen Jahrzehnten dominierende Aufarbeitung der NS-Zeit und des Holocausts zu verdrängen. Zugleich unterliegt die Ausformung der parallelen Gedächtnisse den universellen Mechanismen des kulturellen Gedächtnisses der „eigenen Nationalgemein­schaft“. Selbst das Symbol Auschwitz bedeutet für Deutsche und Polen nicht dasselbe. Die Tatsache, dass das Konzentrationslager Auschwitz vor der Errichtung des zur Vernichtung der europäischen Juden bestimmten Lagers Auschwitz-Birkenau im Jahr 1942 fast zwei Jahre lang der zentrale Ort der Auslöschung der polnischen Eliten war, ist in Deutschland weitestgehend unbekannt.

Abgesehen vom parallelen Nebeneinander verbinden sich mehr als neunzig Prozent der gemeinsamen historischen Erfahrungen in Polen und Deutschland mit unterschiedlichen Erzählungen, die überdies unterschiedliche soziale Funktionen erfüllen. In Deutschland mit seiner stark individualisierten Gesellschaft und seiner Hauptstadt, die keine hundert Kilometer von der Grenze entfernt liegt, spielt Polen im öffentlichen Bewusstsein eine untergeordnete Rolle. In Polen hingegen hat Deutschland noch immer identitätsstiftende Bedeutung, es ist Gegenstand politischer Auseinandersetzungen und wird – zumal vor Wahlen – zur Herausbildung oder Schärfung von Standpunkten genutzt.

Ein Beispiel für das isolierte Erinnern der Vergangenheit sind die erzwungenen Be­völkerungstransfers nach dem Zweiten Weltkrieg: die deutschen „Vertreibungen“ bzw. polnischen „Umsiedlungen [przesiedlenia]“ und „Deportationen [deportacje]“ (→ Ver­treibungen). Schon die Benennungen verweisen auf die jeweilige nationale Spezifik der Wahrnehmung und Rezeption der Zwangsmigrationen in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre. Das Problem ist heute nicht mehr das „Ob“ des Thematisierens und Erinnerns, sondern das „Wie“, die Frage, nach welchen Kriterien die Aussiedlungen in die große Er­zählung des 20. Jhs. eingebettet werden sollen. Niemand in Deutschland dekretiert die Geschichte, doch es entsteht ein hegemonialer Diskurs, dessen Kern das „ungerechter­weise vergessene Leiden“ des eigenen Volkes bildet. Zwar leugnet mit Ausnahme irrele­vanter politischer Extremisten niemand mehr die Ursache der Aussiedlungen – nämlich den von Hitler-Deutschland entfesselten Krieg –, doch gibt es regelmäßig Versuche, dieses Drama in einer der Tragödie des Holocausts angenäherten Version darzustellen.

In den Jahren 2005 bis 2006 habe ich mit polnischen und deutschen StudentInnen im ermländischen Dorf Purda (heute Nordpolen) geforscht. Der Ort gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg zu Deutschland, es lebten aber Deutsche und Polen dort. Die einzi­gen „Vertriebenen“ nach 1945 waren hier ausnahmslos „importierte“ Beamte der lokalen NSDAP-Strukturen, die in Wahrheit vor ihrer Verantwortung und vor der Justiz flüch­teten. Sie und ihre Nachkommen dürfen sich im heutigen Deutschland als „Heimatver­triebene“ organisieren. Die Massenauswanderung aus Purda begann erst in den 1950er Jahren, ihr Höhepunkt fiel in die 1970er Jahre. Damals reisten nicht nur Deutsche aus, sondern auch Polen, die sich im Westen bessere Lebensbedingungen erhofften. Die für das kulturelle Gedächtnis charakteristische Tendenz zu Vereinfachungen und Ge­neralisierungen ist so stark, dass in den Erinnerungen vieler heutiger BewohnerInnen auch diese Personen als „Vertriebene“ bezeichnet werden. In der innerdeutschen Debatte wird heute zwar nichts dekretiert, doch zunehmend ist mit einer staatlich sanktionier­ten Formel vom 20. Jahrhundert als „Jahrhundert der Vertreibungen“ die Rede. Was sollen angesichts dessen die Nachbarn empfinden, die sowohl die deutsche als auch die sowjetische Besatzung erlebten, die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und zweier Totalitarismen? Birgt diese Formulierung nicht das Risiko einer Verzerrung von Propor­tionen und Bedeutungen historischer Ereignisse? Der Dominanz des „Gedächtnisses“ über die „Geschichte“? In jüngster Zeit gab es zahlreiche Projekte, in denen polnische und deutsche „Vertriebene“ entlang der Grenzflüsse Oder und Neiße einander vom tragischen Verlust der Heimat erzählten. Die Tatsache, dass nach 1945 Polen aus von der Sowjetunion einverleibten polnischen Gebieten die von den Deutschen verlassenen Gebiete übernahmen, eröffnet die Möglichkeit einer gemeinsamen Erzählung vor dem Hintergrund eines vermeintlichen „gemeinsamen“ Schicksals. Eine solche Erzählung blendet aber aus, dass bis 1945 ein durchschnittlicher Pole und eine durchschnittliche Polin mehr als vier Jahre unter einer oft tragischen deutschen Besatzung lebte und dass dies seine/ihre primäre Schicksalserfahrung war. In dieser Zeit erlebten die heutigen deutschen Vertriebenen die „Stunde der Frauen“ (Christian Graf von Krockow), die auf ihre an der Ostfront kämpfenden Ehemänner und Söhne warteten.

Ein anderes offensichtliches Merkmal des westeuropäischen Erinnerungsdiskurses ist die schon angesprochene Tendenz zu Universalisierung und Analogisierung (Lepsius 1988), die zu­gleich eine dankbare Deutungsbasis für die deutsche Sicht der Geschichte des 20. Jhs. darstellt. Zentral ist hier die öffentliche Anerkennung des „Opfers“ als zentrales Motiv der europäischen Geschichte. Auch der Holocaust als singuläre Tragödie kann damit im Bezug auf deutsche Schicksale – die alliierten Bombardierungen deutscher Städte und das Drama Millionen deutscher Ausgesiedelter/Vertriebener aus Mitteleuropa – zur be­quemen Metapher werden. Die Holocaustisierung deutscher Schicksale geht einher mit dem sogenannten Tu-quoque-Argument („auch du“), „andere“ hätten „ähnliche Dinge getan“. Ereignisse von moralisch unterschiedlichem Charakter werden unter abstrakten Begriffen wie Leid und Unrecht zusammengefasst, wodurch die kausale Dimension der Geschichte aus dem Blickfeld verschwindet. An ihrer Stelle erscheint – wie in Unsere Mütter, unsere Väter – der soziotechnische Kniff der Geschichtserzählung und Selbst­rechtfertigung durch den Verweis auf die universellen Mechanismen des Kriegs oder der psychologischen Gewaltspirale. Das trotz hoher Einschaltquoten geringe Echo des TV-Dreiteilers deutet darauf hin, dass diese Erzählung die deutsche Perspektive auf die Vergangenheit dominiert.

In Polen trifft sie heute auf ein Gegennarrativ. Nachdem sich zwischen 1993 und 1999 für den öffentlichen Diskurs neue Perspektiven aufgetan hatten, setzte am Beginn des neuen Jahrhunderts eine bis heute andauernde Kehrtwende ein. In der ersten Zeit domi­nierte eine Entwicklung hin zu kritischer Selbstreflexion, zur Beschreibung und Analyse der „dunklen Seiten“ der polnischen Geschichte. Im Jahr 2000 kamen zwei Themen in die öffentliche Debatte, in denen Polen nicht als Opfer, sondern als Täter im Zentrum standen: die polnische Beteiligung an den Zwangsaussiedlungen von Deutschen – dies vor allem im Kontext der Errichtung des „Zentrums gegen Vertreibungen“ – sowie die Verstrickung eines Teils der polnischen Gesellschaft in den Holocaust – als „willige Helfer“ im deutschen Programm der Auslöschung der europäischen Juden. Das Zusam­mentreffen dieser beiden negativen Bilder der polnischen Geschichte verursachte eine Explosion des affirmativen Gedächtnisses, die erneute Betonung des Heldentums und der Opferrolle des polnischen Volkes und eine Sakralisierung des Mythos der an die So­wjetunion verlorenen einstigen polnischen Ostgebiete. Zusätzlich verstärkt wurde diese Verschiebung durch den Absturz einer polnischen Regierungsmaschine am 10. April 2010 in der Nähe von Smolensk, bei der 96 Menschen ums Leben kamen. An Bord des Flugzeugs befanden sich führende polnische Politiker, darunter Staatspräsident Lech Kaczyński und Gattin, die an den Feierlichkeiten zum siebzigsten Jahrestag der Ermor­dung polnischer Kriegsgefangener durch die Sowjets in Katyn (1940) teilnehmen woll­ten. Die authentische menschliche Tragödie wird bis heute von politischem Kalkül und Mythologisierungen der Geschichte überlagert. Vor diesem Hintergrund sprengte die historische Debatte über Unsere Mütter, unsere Väter in Polen die Grenzen des Dialogs und wurde zum Schauplatz eines Kampfs um die „einzige historische Wahrheit“ gegen die „deutschen Lügen“.

Derartige Äußerungen werden in Deutschland entweder gleichgültig aufgenommen („es ist doch nur ein Film“, „das ist doch nicht so schlimm“) oder mit dem Vorwurf der „Überempfindlichkeit“ oder gar „Hysterie“ in historischen Fragen erwidert. Die Pola­risierung der beiden Hauptströmungen der Geschichtswahrnehmung in Deutschland und Polen zeigt eines: Für beide Gesellschaften ist es ein langer Weg zu einem nicht nur gemeinsamen, sondern dialogischen Erinnern (Assmann 2013). Freilich wäre es naiv, eine neue koperni­kanische Wende zu erwarten, ein Erinnerungserdbeben, das einen völlig neuen Zugang zur Geschichte eröffnete.

(5) Die größte Dynamik im deutsch-polnischen Dialog zeigt sich im Bereich der topo­graphischen Erinnerungsorte. Seit 1991 die deutsch-polnische Grenze rechtlich fixiert wurde und nicht mehr Gegenstand revanchistischer Forderungen ist, konnten sich – weiterhin isolierte, aber von politischem Druck freie – Erzählungen über Gdańsk und Danzig, Wrocław und Breslau oder Ermland und Masuren (das südliche Ostpreußen) entwickeln. Die „Wiedergewinnung“ der sogenannten → Wiedergewonnenen Gebiete durch das kommunistische Polen nach 1945 manifestierte sich vor allem in der Betonung ihrer polnischen oder slawischen Geschichte und im Verwischen der Spuren deutscher Präsenz in der Kulturlandschaft dieser Gebiete (→ das ehemals DeutscheInschriften). Dies war einerseits eine Legitimationsstrategie des neuen Regimes, andererseits ein na­türlicher Prozess der Aneignung des Raums durch eine Bevölkerung, die unter der NS-Herrschaft besonders gelitten hatte. Während Besatzung und Krieg waren mehr als fünf Millionen polnische BürgerInnen umgekommen (darunter drei Millionen polnische Juden), (Materski/Szarota 2009; Gluza 2007/2008, S.103-107). Wie hätte man nach dieser Katastrophe, nach Flucht und Zwangsumsiedlung die mit dem deutschen Kulturerbe „belasteten“ Regionen konfliktfrei besiedeln können?

Wegen des psychologischen und kulturellen Bedürfnisses des „Heimisch-Werdens“ und aus schlichtem Unwissen wurde die Polonisierungspolitik der kommunistischen Regierung von den neuen Bewohnern der „Wiedergewonnenen Gebiete“ überwiegend als „Entschädigung für die Geschichte“ akzeptiert. Schon in den 1980er Jahren freilich plädierte der in der demokratischen Opposition aktive polnische Intellektuelle Jan Józef Lipski dafür, das deutsche Kulturerbe in Polen als „Depositum“ zu betrachten, also die in Polen verbliebenen deutschen Denkmäler nicht ideologisch zu polonisieren, sondern sie als „zurückgelassenes Erbe“ anzusehen und mit derselben Sorgfalt zu behandeln wie das eigene (→ das ehemals Deutsche). Angesichts der damals noch bestehenden politi­schen Ansprüche von deutscher Seite war dies ein mutiges Manifest, aber kein utopi­sches. Nachfolgende Generationen fügten an der Wende vom 20. zum 21. Jh. ein neues Kapitel hinzu: Das deutsche Erbe in Polen ist Teil des europäischen Kulturerbes. Die deutsche Kunsthistorikerin Gabi Dolff-Bonekämper spricht im Hinblick auf die Über­nahme eines kulturellen Erbes von „Miterbenschaft“ (Dolff-Bonekämper 2012/2013, S. 269–272).Damit ist gemeint, dass jeder Ort unabhängig von Veränderungen hinsichtlich der politischen Grenzen, der Bevölkerung oder der sogenannten nationalen Zugehörigkeit seine historische Kontinuität bewahrt. In diesem Sinne besteht eine natürliche Kontinuität zwischen dem deutschen Breslau und dem polnischen Wrocław. Zum Erbe gehören hier sowohl das Schloss der Hohenzollern aus dem 18. Jh. als auch das in den 1960er Jahren von Jadwiga Grabowska- Hawrylak entworfene „Manhattan Wrocławs“.

Ein weiterer fördernder Faktor für die Entwicklung eines Raums für den Erinnerungs­dialog ist das Verständnis der Aufgabe der gegenwärtigen Bewohner der ehemals deut­schen Gebiete als kulturelle Sukzession. Um sich an einem Ort heimisch zu fühlen, darf man das vorgefundene „fremde“ Erbe nicht als vorübergehendes Depositum betrachten. Der Sinn der Bewahrung des fremden Erbes liegt darin, ihm für die Gegenwart Bedeu­tung zu verleihen. Auf diese Weise, nicht durch die Einverleibung in die „eigene“ Kultur, kann gleichzeitig die Tradition fortgeführt und um neue Werte und Erfahrungen späte­rer Generationen bereichert werden. Dieser neue Zugang zum deutschen Erbe in Polen hat seine Wurzeln in der Heideggerschen Identitätsphilosophie, die von der Philosophin Barbara Skarga weiterentwickelt wurde. Das Bewahren der individuellen Identität und der Identität einer Gruppe konzentriert sich ganz natürlich „auf das Eigene, das wirklich Meinige. Das Nichteigene, Fremde, Nichtmeinige, zerschlägt die Identität, verursacht den Fall“ (Skarga 1999, S.245). Damit also das deutsche Erbe in Polen nicht „fremd“, nicht nur ein von der Geschichte aufgezwungenes Depositum bleibt, sondern zum praktischen und bewuss­ten Miterbe wird, muss es zuerst „meinig“ werden. Diesen wesentlichen Aspekt der Be­wahrung individueller Identität bezeichnet Heidegger als „Jemeinigkeit“ (frz. mienneté, poln. mojość). Auf die Gesellschaft übertragen heißt das, dass wir der Kulturlandschaft zuerst einen „eigenen“ Sinn geben und sie ins soziale Gedächtnis integrieren müssen, um später ohne Furcht von ihren „nicht eigenen Wurzeln“ sprechen zu können, sie als deutsches oder gemeinsames Kulturerbe betrachten zu können. Dieses Verständnis des Erbes als Summe der vorgefundenen Kulturlandschaft und des Familiengedächtnisses verschwand seit den 1990er Jahren nur aus dem intellektuellen Diskurs. Im Alltag wur­de und wird es – zunächst intuitiv und gegenwärtig zunehmend bewusst – mit Hilfe von Stiftungs- und Staatsmitteln in hunderten lokalen und regionalen Projekten in die Praxis umgesetzt.

(6) Der deutsch-polnische Dialog war auch in den letzten zwanzig Jahren ein dynami­scher Prozess. Wichtig ist, dass nicht nur die politischen Eliten beider Ländern daran interessiert sind, sondern auch die Gesellschaften eine Zusammenarbeit auf zahlreichen Feldern für notwendig erachten: von Wissenschaft und Kultur bis hin zu kommunaler Verwaltung und individuellen Kontakten. Doch die Geschichte trennt noch immer. Das Wissen über die Kriegsschicksale der Polen dringt nur langsam ins Bewusstsein der deutschen Gesellschaft. Generell ist der Mangel an Wissen über die östlichen Nach­barn noch immer ein großes Manko der schulischen und bürgerschaftlichen Bildung in Deutschland. Das Problem der Asymmetrie und der Missverständnisse betrifft je­doch nicht allein die deutsch-polnischen Beziehungen. In Europa konkurrieren heu­te verschiedene Geschichtsbilder miteinander, und die zentrale Konfliktlinie verläuft zwischen den historischen Narrativen West- und Osteuropas, zumal in Bezug auf die Katastrophen des 20. Jhs. Abgesehen vom jeweiligen Stellenwert der Geschichte und innergesellschaftlichen Debatten haben wir es mit einem europäischen Spiel um die Erinnerung zu tun, an dem die Nationalstaaten ebenso mitwirken wie die Europäische Union. Das westeuropäische Narrativ, dessen Konstitutenten Holocaust und „Vernichtungskrieg“ bilden, schließt einen wesentlichen Teil der mittel- und osteuropäischen Erfahrungen aus.

  • In Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern ist kaum bekannt, dass Po­len und große Teile Osteuropas eine doppelte Aggression erlebten: die deutsche und die sowjetische. Der vom Europäischen Parlament eingeführte Europäische Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus am 23. August (dem Datum der Unterzeichnung des sogenannten Ribbentrop-Molotow-Pakts im Jahr 1939, der die deutsch-russische Aufteilung der Einflusssphären im besetzten Po­len festschrieb) wird in Westeuropa allenfalls am Rande wahrgenommen. In vielen linken Kreisen sorgt man sich, ein allgemeines Gedenken an die Opfer der beiden Totalitarismen könne den am 27. Januar (das Datum der Befreiung von Auschwitz im Jahr 1945) begangenen Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Ho­locaust aus dem Bewusstsein der Europäer verdrängen. Dabei erzählen in Wirklich­keit beiden Daten zusammen die tragischsten Kapitel der europäischen Geschichte nicht nur des 20. Jhs.
  • In den Jahren 2008–2020 entstand ein deutsch-polnisches Geschichtsbuch für die Sekundarstufe. Die Dichotomie der deutschen und der polnischen historischen Er­fahrungen eröffnete eine riesige Chance: Gemäß den „Empfehlungen“ der Exper­tenkommission (2012) basierte jeder der insgesamt vier Bänder auf den didaktischen Prinzipien der Multiperspektivität der Quellen und der Kontroversität, das heißt der Gegenüberstellung verschiedener Interpretationen eines Ereignisses, einer Per­son oder eines Phänomens aus der zeitlichen Perspektive und von unterschiedlichen Standpunkten. Das hat nichts von „Relativismus“ oder „Geschichtsrevision“, sondern schützt vor Vereinfachungen und Ideologisierungen. Auf diese Weise schufen wir einen Lernraum, der vor allem den Schülern statt dogmatischem ein kritisches histo­risches Denken vermitteln soll. 
  • Das deutsch-polnische Geschichtsbuch ist das weltweit zweite bilaterale Lehrwerk für den Geschichtsunterricht. Bei der Vorstellung des ersten Bandes des deutsch-französischen Geschichtsbuches (das dreibändige Pionierwerk erschien in den Jahren 2006–2011) sagte der Kultursoziologe Wolf Lepenies, die wahre Herausforderung, nicht nur für Polen und Deutschland, sondern für ganz Europa, sei ein deutsch-polnisches Geschichtsbuch. Denn mit Polen und seiner geschichtlichen Erfahrung werde ein großer Teil der bis heute in den westeuropäischen Narrativen nicht prä­senten Geschichte Osteuropas in die deutsche Geschichtsrezeption einfließen. Dies eröffne die Möglichkeit, Fragen wie die asymmetrische Nationenbildung oder die unterschiedliche Erfahrung des Zweiten Weltkriegs in einem breiten Kontext zu behandeln.
  • Vergleicht man die Aufgabe, vor der die Verfasser des deutsch-französischen Ge­schichtsbuchs standen, mit der Aufgabe der Autoren des deutsch-polnischen Pro­jekts, so fällt als erstes die Differenz der Potenziale ins Auge. Sie ergibt sich schon allein aus der Rolle Frankreichs und Deutschlands in der Geschichte Europas. Beide Staaten waren und sind wichtige Akteure der europäischen Politik. Die deutschen und französischen HistorikerInnen waren sich der daraus erwachsenden Problematik bewusst und sie bemühten sich (mit unterschiedlichem Erfolg), die Geschichte nicht aus rein deutscher und französischer Perspektive zu erzählen. Die Schwierigkeit für die deutschen und polnischen AutorInnen ergab sich nicht zuletzt aus dem weitge­hend asymmetrischen Verlauf der deutsch-polnischen Geschichte: Deutschland war Zentrum der europäischen Politik, Polen war Peripherie – insbesondere im 19. Jh., als es keinen polnischen Staat gab, während Deutschland zum Imperium aufstieg. Der Begriff der „Peripherie“ ist dabei wertneutral zu verstehen, Peripherie und Zentrum müssen keineswegs „besser“ oder „schlechter“ sein. Vor diesem Hintergrund ging es darum, einen neuen Fragenkatalog zu erstellen, der als Grundlage für ein Schulbuch taugt, das Erscheinungen und Prozesse beschreibt und nicht lediglich die Politik der Machtzentren. Nach zwölf Jahren gemeinsamer Arbeit am Projekt „Deutsch-polni­sches Geschichtsbuch für die Sekundarstufe“ kann festgehalten werden, dass es ein Erfolg war. Das fertige Werk ist frei von engstirnigen und durch nationale Interessen motivierten Darstellungen und Argumentationen.

Seit der Niederschrift der zentralen Passagen dieses Artikels sind fünf Jahre vergangen. Das ist keine Epoche, und doch hat sich mit dem politischen Wandel in Polen auch der Pulsschlag des Erinnerns an die gemeinsame Vergangenheit verändert. Die Flaggschiffe des deutsch-polnischen Austauschs in Wissenschaft und Bildung, die das dialogische Erinnern gestalten sollten, sind fertiggestellt worden und – in den Hintergrund gerückt. 2018 erschienen der zehnte und der elfte Band (ein sogenanntes „Best of“) der zwei­sprachigen Deutsch-polnischen Erinnerungsorte (poln. Polsko-niemieckie miejsca pamięci), 2020 der vierte und letzte Band des Geschichtsbuchs für die Sekundarstufe Europa. Unsere Geschichte (poln. Europa. Nasza historia). Sie werden nicht politisch boykottiert, doch sie haben beiderseits von der Oder- und Neiße-Grenze keine ausreichende Wirk­macht entwickelt, um zu Vehikeln der deutsch-polnischen Debatte zu werden.

Die konservativ-katholische Regierung in Polen verfolgt einen nach außen konfrontati­ven Diskurs, der im Inneren den Zusammenhalt des Regierungslagers sichern soll. Inte­graler Bestandteil dieser Strategie ist die Reaktivierung „der Deutschen“ als sogenannter Erbfeind. Auf deutscher Seite ist nur reaktives Handeln zu beobachten. In der Praxis verstärken sich dadurch die oft schon verdrängten negativen gegenseitigen → Stereotype. Paradoxerweise entstehen aber auch interessante neue bilaterale Initiativen.

In den drei Jahrzehnten nach den revolutionären Umwälzungen der Jahre 1989/1990 gab es in den deutsch-polnischen Beziehungen zwei mediale und politische Debatten über die Vergangenheit, die europaweit ein breites Echo auslösten. Im Jahr 2004 for­derte die sogenannte Preußische Treuhand auf dem Höhepunkt des Konflikts über die Vertreibungen von Deutschen aus Polen vom polnischen Staat Entschädigungen für den 1945 von deutschen StaatsbürgerInnen zurückgelassenen Besitz. Die Spannungen waren so stark, dass von einem „deutsch-polnischen Medienkrieg“ die Rede war und eine deutsche Tageszeitung polnischen PolitikerInnen eine „Vergangenheits-Hysterie“ unterstellte. Bevor Bundeskanzler Gerhard Schröder und Ministerpräsident Marek Bel­ka den Streit beilegten, verabschiedete der polnische Sejm mit der regierenden liberal-sozialdemokratischen (!) Mehrheit einstimmig eine Resolution mit der Forderung nach deutschen Reparationen für Besatzungs- und Kriegsschäden. Im August 2017 erneuerte die derzeit in Polen regierende Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS) diese Forderung und hält sie bis heute aufrecht.

Ich werde nicht auf die komplizierten deutsch-polnischen und polnisch-polnischen Kontroversen um Reparationen eingehen. Ich will nur auf zwei Aspekte hinweisen. Ers­tens rechneten die DurchschnittsbürgerInnen beider Länder weder 2004/2005 noch 2017 mit dem Ausbruch eines Streits um die Vergangenheit. Gleichwohl zeigte sich, dass trotz der fast musterhaften Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen nach 1989 noch genug Konfliktpotenzial besteht, das zu politischen Zwecken aktiviert wer­den kann. Zweitens lehnt aktuell eine Mehrheit der Deutschen (68 %) Reparationszah­lungen an Polen ab, während eine Mehrheit der Polen (57 %) die Forderungen der polni­schen Regierung unterstützt. Der größte Zuspruch kommt interessanterweise nicht aus der Generation 60+, also von den Zeugen der deutschen Besatzung und deren Kindern, sondern aus der Gruppe der EnkelInnen, das heißt der 25- bis 34-Jährigen (67 %). Und damit gewissermaßen aus der Generation der „Verständigung“, der „Festigung der nach­barschaftlichen Beziehungen“ und – zugespitzt formuliert – des deutsch-polnischen Ju­gendaustauschs! Dies gibt Anlass zur Frage: Wie werden die Kinder dieser Generation, die heutigen SchülerInnen, reagieren? Werden sie angesichts des Übermaßes an Ge­schichte rebellieren und sich ganz von der Vergangenheit abwenden?

Die beiden Konflikte der letzten dreißig Jahre sind keine Ausnahme, sondern bestä­tigen die Regel, dass uns Erinnerung – individuelle wie kollektive – nicht ein für alle Male gegeben, sondern vielmehr aufgegeben ist. Dass sie äußeren Einflüssen unterliegt, ergänzt, re- und dekonstruiert wird. So lange das kommunikative Band drei Generatio­nen umfasst (Großeltern – Eltern – Enkel), so lange bleibt das emotionale Potenzial der Erinnerung lebendig. Weiter zurückliegende Ereignisse unterliegen nur selten den hier wirksamen Mechanismen. Mehr als sechzig Prozent der lebendig erinnerten, also für unser Handeln und unsere Identität relevanten Orte der gemeinsamen Geschichte in Deutschland und in Polen sind mit dem Zweiten Weltkrieg und dessen unmittelbaren Folgen verknüpft. Folglich können Themen des Zweiten Weltkriegs noch mindestens ein halbes Jahrhundert lang (bis zum Aussterben der Enkelgeneration) wellenartig in die öffentliche Debatte zurückkehren.

Ein Beispiel hierfür ist die Diskussion um das Konzept eines Gedenkorts für die polni­schen Opfer der deutschen Besatzung im Zentrum Berlins. Sie nahm konkrete Gestalt an, nachdem im November auf Initiative des deutschen Architekten Florian Mausbach die BefürworterInnen zur Errichtung eines „Polendenkmals“ aufriefen. Noch fünf Jahre zuvor war ein ähnlicher Appell von Władysław Bartoszewski folgenlos geblieben. Auch die in den Jahren 2013–2018 vom Zentrum für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften (Centrum Badań Historycznych PAN) in Berlin veran­stalteten Podiumsgespräche zur NS-Besatzung als zentralem Aspekt des Zweiten Welt­kriegs fanden bei den Entscheidungsträgern keinen Widerhall. Dabei ereignete sich im besetzten „Generalgouvernement“ neben dem Holocaust das größte verbrecherische Ex­periment der Menschheitsgeschichte: die Vernichtung des polnischen Volks und dessen heftiger Widerstand gegen die deutschen Besatzer. Heute stehen – nicht ohne politische Inspiration durch Teile der polnischen Rechten – sowohl das Denkmal als auch die NS-Besatzung in Deutschland wieder auf der politischen und gesellschaftlichen Agenda. Am 30. Oktober 2020 stimmte der deutsche Bundestag für einen Antrag zur Errichtung eines „Ortes des Gedenkens und der Begegnung mit Polen“ in Berlin. Rita Süssmuth und die Mehrheit der Parlamentarier der Regierungskoalition sowie die Grünen sehen darin eine wegweisende Entscheidung. Süssmuth sagte: „Endlich entsteht in der Mitte Berlins ein Ort, an dem wir uns mit Polen beschäftigen können, mit den schrecklichen Folgen der deutschen Besatzung ebenso wie mit den überaus engen Beziehungen zwi­schen unseren Ländern heute und in der Vergangenheit.“

In Polen und in Deutschland ist seit mehr als einem Jahrzehnt eine starke Tendenz im Umgang mit der Vergangenheit erkennbar: Die zunehmende Dominanz „positiver“ oder „affirmativer“ Geschichtsbilder. Es ist natürlich, dass Menschen vor allem „gute“ Erinnerungen bewahren wollen. In Polen wurde daraus ein „Entweder – Oder“, das heißt eine Pädagogik entweder der Scham oder des Stolzes, was im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg bedeutet, dass man entweder die Westerplatte oder Jedwabne erin­nert. In Deutschland tendiert man neuerdings – interessanterweise in linken Milieus – dazu, das positive Gedächtnis zu betonen, das in der zentralen Erzählung die „wenig effektive“ Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ergänzen soll.

Die Hervorhebung der positiven Tradition der deutschen Demokratie resultiert unter anderem aus dem demographischen Wandel. Die deutsche Gesellschaft besteht heute zu einem Viertel aus Menschen mit Migrationshintergrund, für die der Zweite Weltkrieg keinen familiären Bezug hat. Als Symbol für die deutsche Gegenwartsgesellschaft kann Navid Kermani dienen, ein bekannter deutscher Journalist, dessen Eltern Ende der 1950er Jahre aus dem Iran emigrierten. Kermani bezeichnet sich als deutschen Schrift­steller und Publizisten und ist stolz auf die deutsche Erinnerungskultur, deren Symbol der Kniefall des Bundeskanzlers Willy Brandt vor dem Denkmal für die Helden des Warschauer Ghettos ist. Dieser Stolz lässt keinen Raum für eine kritische Aufarbeitung des Schweigens und der Verdrängung der deutschen Verbrechen von 1945 bis 1968, die außerhalb von Kermanis Erfahrung liegen. In Polen bewirkt das affirmative Erinnern unter anderem ein konfrontatives Gebaren im Erinnerungsdialog mit den Nachbarn. Eine führende Rolle spielen hier regierungsnahe Institutionen wie das Institut für Na­tionales Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej), das Nationale Zentrum für Kultur (Narodowe Centrum Kultury, NCK) oder das Witold-Pilecki-Zetrum für Totalitaris­musforschung (Ośrodek Badań nad Totalitaryzmami im. Witolda Pileckiego). Sinnbild­lich für deren Ausrichtung ist die jüngste NCK-Publikationsreihe Kulturkriege gegen Po­len, die zwei Jahrhunderte der „bewussten Diffamierung Polens“ durch seine Nachbarn thematisiert. Ein solches Konzept öffnet sicher keinen Raum für den Dialog, könnte aber – paradoxerweise, wie im Fall des Polendenkmals – zur Entstehung interessanter neuer, nichtkonfrontativer Initiativen beitragen.

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann

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Traba, Robert, Prof. Dr. habil., verfasste den Beitrag „Polnische und deutsche Erinnerungskultur“. Er ist Professor am Institut für politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warszawa und arbeitet in den Bereichen Erinnerungskultur,  Kulturgeschichte und deutsch-polnischen Beziehungen.

 

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