Maria Wojtczak

Pole gleich Katholik vs. Deutscher gleich Protestant (Religion)

Pole gleich Katholik vs. Deutscher gleich Protestant  (Religion)


Die christlichen Wurzeln der deutschen und der polnischen Kultur wurden zur wesentlichen Basis des kulturellen Transfers zwischen beiden Völkern. In der Vergangenheit waren sie jedoch nicht selten mitverantwortlich für den Kulturtransfer zwischen Polen und Deutschland. Die zwei christlichen Konfessionen, der Protestantismus und der Katholizismus, von denen jede eine überragende Rolle im jeweiligen Land in der Vergangenheit gespielt hatte, bilden weiterhin ein Identifikationsmuster für beide Nationen. Die seit mehr als vier Jahrhunderten fest fixierte Schablone: „Pole – Katholik“ versus „Deutscher – Protestant“ war mitentscheidend bei der Entstehung von (heute schon zum Teil überkommenen) Bildern der Symbiose zwischen Konfession und Nation der Deutschen und der Polen. Trotzdem scheint die Vorstellung von entgegengesetzten konfessionellen und nationalen Referenzen weiterhin ein gängiges Stereotyp zu sein – ein Hetero- und Autostereotyp für beide Kulturen zugleich. Ein Stereotyp, das immer wieder belebt, vervielfältigt oder entsprechend modifiziert wird, also von langer Dauer ist (Orłowski 2003, S. 302ff.). Diese stereotype Identifikation – ein Pole sei Katholik, dagegen ein Deutscher Protestant – charakterisiert wie jedes Vorurteil eine janusköpfige Struktur, die zwei Wahrnehmungen zugleich beinhaltet: das Bild des Anderen und das Bild von sich selbst.

Der durch Jahrhunderte hindurch in gegenseitiger Konkurrenz fortschreitende Prozess der Entwicklung des polnischen Katholizismus und des deutschen Protestantismus zu einem nationalen Identifikationsmuster beginnt schon im 16.Jh. Auf dem Gebiet der sog. Polnischen Adelsrepublik (Realunion Polen-Litauen 1569–1795) lebten bis zur dritten Teilung im Jahre 1795 unter verschiedenen nationalen Siedlergruppen zahlreiche Deutsche. Bereits im 13.Jh. kamen Kaufleute, Bauern, Geistliche, Handwerker, vor allem aber Vertreter des Bürgertums. Im alltäglichen Miteinander und Nebeneinander entwickelten sich gegenseitige Beziehungen zwischen den VertreterInnen beider Nationen. Bald bildete man eigene Vorstellungen vom deutschen Nachbarn, dem Mitbewohner derselben Stadt und desselben Ortes, der eigene Sitten pflegte, eine andere Sprache sprach und der, seit dem 16.Jh., auch einer anderen Konfession angehörte. Die deutschen Patrizier in den Städten unterhielten kaum Beziehungen zu dem polnischen Volk, was mit der Zeit zu einem gesellschaftlichen Gegensatz führte, der wiederum im Laufe des 16.Jhs. zum aufkommenden nationalen Gegensatz wurde (Labuda 1968, S. 17ff.).

Aus dem Jahr 1650 stammt die erste schriftliche Fixierung der damals gängigen Redensart: „So lange Welt bleibt Welt, kein Pole brüderlich es mit dem Teutschen helt“, veröffentlicht vom schlesischen Dichter und Übersetzer Wenzel Scherffer von Scherffenstein (1603–1674). Ungefähr 20 Jahre später erschien ein historisches Werk des polnischen Dichters der Barockzeit Wacław Potocki (1621–1696), Transakcyja wojny chocimskiej, über die Schlacht des polnischen Königs Władysław IV. Wasa gegen die Türken in Chotyn (1621), in dem dieselbe Redensart in der polnischen Sprache auftaucht: „Jak świat światem, nie będzie Niemiec Polakowi bratem“ (Labuda 1968, S. 17ff.). In den folgenden zwei Jahrhunderten, insbesondere zur Zeit der Teilungen Polens (1772, 1793, 1795), wurde diese Redensart zum festen Stereotyp (Wajda 1991, S. 16). Schon in der Reformationszeit haben zahlreiche Redensarten und Sprichwörter, deren inhaltliche Konstruktion auf der Gegenüberstellung von Polen und Deutschen gründete, eine neue, konfessionelle Komponente bekommen. Es wurden Sprüche gebildet wie etwa: „Pole Katholik, Deutscher Protestant“ (Polak katolik, Niemiec protestant), oder „Jeder Deutsche ist ein Abtrünniger“ (Co Niemiec to odmieniec), „Wer bei einem Deutschen dient, wird vom Teufel belohnt“ (Kto Niemcowi służy, temu diabeł płaci), „Ein Luther bist du, kein Mensch“ (Luter jesteś, nie człowiek). Nach Polen kamen drei Reformationswellen: Die erste in den zwanziger Jahren des 16.Jhs., als Luthers Lehre in der Adelsrepublik durch schriftliche Zeugnisse und Predigten verbreitet wurde. Die zweite Welle erfolgte während des 30-jährigen Krieges, als nach Großpolen, Königlich Preußen und Masowien viele SiedlerInnen aus Böhmen, Brandenburg, Pommern und vor allem aus Schlesien kamen. Die dritte Welle setzte Mitte des 17.Jhs. ein. Die Auswirkung der protestantischen AuswanderInnen, insbesondere auf das polnische Bürgertum, war stark. Zahlreiche Städte und Ortschaften wurden damals nicht nur von katholischer, sondern auch von einer lutherischen Bevölkerung bewohnt. Beide Gruppen wurden zu Rivalen, sowohl im konfessionellen als auch im kulturellen Bereich. Konfessionelle Unterschiede bildeten zugleich die Kulisse für fortschreitende sprachliche Disparität. Die deutschen BewohnerInnen neigten zum Protestantismus, der ihnen sowohl sprachlich als auch kulturell vertrauter war. Viele deutsche BewohnerInnen Schlesiens, Großpolens oder von Königlich Preußen entschieden sich gerade deswegen für den neuen, reformierten christlichen Glauben.

Die Verbreitung des Luthertums in der polnischen Königlichen Republik nahm einen bedeutenden Einfluss auf die Verfestigung der Überzeugung vom ‚polnischen‘ Charakter des katholischen Glaubens im Gegensatz zum ‚deutschen Glauben‘ (also dem lutherischen-häretischen zugleich) und dem ‚russischen‘, dem orthodoxen.

Mit der Zeit bedeuteten die konfessionellen Unterschiede beinahe so viel wie die Standesunterschiede: Kaufleute und Stadtbewohner wurden eher Lutheraner, der Adel blieb katholisch, dagegen fand die orthodoxe Kirche ihre meisten Anhänger unter den Bauern. In der Zeit der wiederholten Invasionen durch die Heere der benachbarten Mächte, denen Polen-Litauen in der zweiten Hälfte des 17.Jhs. ausgesetzt war, erlebte das Land geradezu eine „Sintflut“ von kosakischen, tatarischen, schwedischen, russischen, brandenburgischen, habsburgisch-österreichischen und siebenbürgischen Heeren. Im engeren Sinne bezog sich die „Sintflut“ nur auf die Invasion der Schweden und ihrer Verbündeten im polnisch-schwedischen Krieg von 1655 bis 1660. Polen, seltener die Litauer, bezeichnen diese Episode in der Geschichte als „schwedische Sintflut“. Die Kampfhandlungen und die damit einhergehenden Plünderungen und Verwüstungen weiter Landstriche während der Kriege der „blutigen Sintflut“ hatten für Polen-Litauen verheerende Folgen. Dies trug wesentlich dazu bei, dass sich das polnische Misstrauen anderen Konfessionen gegenüber verstärkte. Da der schwedische König Protestant war, war man auch überzeugt, die ProtestantInnen seien den Eindringlingen wohlwollend gestimmt. Die Polonisierung des Katholizismus verlief hier also in Abgrenzung zum Protestantismus.

In ganz Europa tritt zu diesem Zeitpunkt eine Wandlung in Gang, nämlich der Konfessionalisierungsprozess, der das Ineinandergreifen der Kirchen, Staaten und Gesellschaften mit sich brachte. Es war ein gesellschaftlicher Vorgang, der das öffentliche und private Leben in Europa tiefgreifend beeinflusste: Auf der einen Seite kam es zur Herausbildung des frühmodernen Staates und auf der anderen formierte sich parallel eine neuzeitliche disziplinierte Untertanengesellschaft (Schilling 1988, S. 1ff.). Infolge der Konfessionalisierung kam es zur Verstaatlichung der Religiosität im Sinne der Territorialisierung der konfessionellen Identitäten (im Kontext der politischen Ereignisse), zugleich auch zur Auferlegung bestimmter Wertemuster und religiöser Praxen, so dass sie ein konkretes politisches, kulturelles und gesellschaftliches Profil zum Ausdruck brachten (Müller 2012, S. 158).

Im 17.Jh. erschütterten Polen wiederholte Angriffe durch die benachbarten Mächte und zahlreiche Katastrophen, Epidemien und ökonomische Probleme. Die polnische Bevölkerung verlor ihr Sicherheitsgefühl und „verschanzte“ sich mental gegen ihre Nachbarn, selbstverständlich auch gegen die Deutschen. Sie wurden nicht selten mit dem Sammelbegriff „Lutry“ („Die Luthers“) bezeichnet, wobei Martin Luthers Name hier stellvertretend einfach für alle Deutsche stand. Im Laufe der Zeit bezog man diese Bezeichnung auch auf jegliche ausländische militärische Truppen, nicht nur die schwedischen oder die deutschen. Es verbreitete sich die Überzeugung, dass ein Andersgläubiger zugleich ein Fremder sei. Die AusländerInnen wurden schlicht für Eindringlinge gehalten, die die Kirchen plündern und das Land überfallen. Selbst diejenigen Polen, die keine KatholikInnen, sondern ProtestantInnen waren, wurden als Fremde stigmatisiert. Man ging nach dem Modus vor: Fremder gleich Lutheraner gleich Deutschsprechender. In den Texten von damaligen polnischen politischen Publizisten, wie z.B. von Jan Ostroróg (1561–1622) und Andrzej Maksymilian Fredro (1620–1679), Jan Potocki (1621–1696), oder von den Dichtern: Mikołaj Rej (1505–1569), Jan Kochanowski (1530–1584) und Sebastian Klonowic 1545–1602 (Wajda 1991, S. 16f.) sind zahlreiche Schilderungen der deutschen Feinde der Polen zu finden.

Ursprünglich bezogen sich jegliche religiöse Unterschiede auf die christlich-jüdischen Beziehungen, doch nach der Reformation kam es zu Spannungen innerhalb des Christentums, zwischen beiden Konfessionen. Der immerhin strenge und nüchterne Protestantismus hat primär die StadtbewohnerInnen angesprochen, weniger die Landbevölkerung. Katholischen Rituale dagegen fanden stärkere Resonanz insbesondere bei den Bauern, sie übten eine starke Wirkung auf Emotionen, auf Vorstellungskraft und auf ästhetische Empfindungen aus. Diese besondere, „verzaubernde“ Wirkung des Katholizismus war namentlich in der Zeit der deutschen Romantik zu beobachten, als zahlreiche protestantische Intellektuelle zum Katholizismus konvertierten, weil sie sich von dem bunten Zeremoniell und der ausgeprägt emotionalen ästhetischen Erfahrung stark angezogen fühlten.

Martin Luther, so die Meinung von HistorikerInnen, war im Bewusstsein der Polen viel fester verankert als mancher polnische Volksheld. Der Grund dafür lag zum einen im ökonomisch erfolgreichen Wirken der Deutschen in Polen, zum anderen darin, dass die meisten Deutschen für die neue Konfession plädierten und „Rom gegen Wittenberg“ getauscht hatten. Man war bereit, jeden Deutschen für einen Lutheraner zu halten (Tazbir 2002, S. 155). Martin Luther wurde also zum Inbegriff eines Deutschen, der sich u. a. durch Vorliebe für Bier, für derbe Feste, gebrochenes Polnisch und eine Abneigung gegen seine Nachbarn auszeichnete und der zusätzlich noch zum Wirtschaftskonkurrenten wurde. Ihm wurden ausschließlich negative Eigenschaften zugeschrieben. Letztendlich bezog man die Bezeichnung „Lutry“ („die Luthers“) sogar auf diejenigen Nicht-Katholiken, die schon lange vor 1517 aktiv waren, wie z.B. die Böhmischen Brüder. Gängig wurde die Redensart: „Luthers und Calvinisten sind gottlose Söhne“ Lutry i kalwiny – bezbożne syny (Wajda 1991, S. 30). Martin Luther wurde von der katholischen Propaganda als Teufel bezeichnet oder als derjenige, der bei Teufel „jegliche Argumente gegen die heilige Messe“ (Skarga 1972, S. 164) gelernt habe. Im polnischen Volksmund bezeichnete man ihn auch als einen Teufelssohn, der vom Luzifer großgezogen und von ihm sogar zu einem „Höllenminister“ ernannt wurde (Dzikowski 1946, S. 48f.). Es verbreitete sich auch die Überzeugung, dass sowohl Teufel als auch Ketzer Deutsche seien. Nicht ohne Bedeutung für die Verwurzelung eines solchen Bildes von den Deutschen war die gegenreformatorische Bewegung. Polnische katholische Geistliche verkündeten von der Kanzel „das katholische Wort“, beeinflussten die polnische Bevölkerung dank zahlreicher Schriften und seelsorgerischer Aktivitäten. Sie erwiesen sich als viel wirksamer als die „protestantische Verkündung“. Der Reformator und Theologe Martin Luther wurde zuletzt mit dem gesamten Protestantismus, mit jeder Ketzerei und dann schlicht mit dem „deutschen Glauben“ gleichgesetzt. Der Begriff „Ketzer“ bzw. „Häretiker“ wurde also nicht nur mit einem Andersgläubigen, sondern auch mit dem Fremden und schließlich einfach mit dem Protestanten gleichbedeutend. Dieser Wandel ist u. a. in solchen Sprüchen wie etwa: „schlimmer als ein Luther“ oder „Schlimmer als ein Kalvinist“ sichtbar (Tazbir 2002, S. 154).

Infolge der Gegenreformation wurden die nicht-katholischen religiösen Gemeinschaften in Polen an den Rand gedrängt. Das stereotype Bild eines polnischen katholischen Adligen fand sein ‚Gegenmuster‘, nämlich die Vorstellung von einem fremden häretischen Plebejer (Tazbir 2002, S. 158). Spruchverse wie etwa „Deutscher, Schwabe – Teufelsbruder“ oder „Jeder Pole – Katholik“ verursachten, dass man auch die außerhalb Polens, in Schlesien oder im Herzogtum Preußen, wohnhaften polnischen ProtestantInnen als Fremde betrachtete. Im Laufe des 17.Jhs. schrumpfte die Zahl der protestantischen Gemeinden auf polnischem Gebiet auf 10% im Vergleich zum 16.Jh. Die Gegenreformation stärkte auch wesentlich die konfessionelle Einheit des polnischen Adels (Szlachta) und begünstigte die Herausbildung einer dominanten katholischen Kultur der Eliten (Müller 2012). Nach der Gegenreformation (und der Kirchenunion von Brest, 1596) wurde der Katholizismus zur dominanten Religion in der Republik Polen-Litauen und das in einem viel stärkeren Grade als vor der Reformation (Müller 2012, S. 158). Eine Erklärung hierfür liefert Carl Schmitts FreundFeind-Theorie von der Konstitution des Volkes durch seine Feinde und vom Feind als Voraussetzung für das Begreifen der eigenen Einheit (Vgl. Hoffmann 1992, S. 24f.). Nach Schmitt besteht das Wesen des Feindes darin, dass er „in einem besonders intensiven Sinne existentiell etwas anderes und Fremdes ist. Sein Anderssein kann im konkret vorliegenden Konfliktfalle die Negation der eigenen Art Existenz bedeuten, so dass es in Frage gestellt wird, um die eigene Art von Leben zu bewahren“(Schmitt 1963, S. 27). Die Formierung kollektiver Identitäten „vollzieht sich nicht schlagartig, sondern im Verlauf allmählicher Änderung des Bewusstseins, während derer der Feind immer deutlicher zum Gegenspieler der sich herausbildenden kollektiven Identität wird“ (Schmitt 1963, S. 27). Der zuerst verkannte, dann am Ende des 19.Jhs. richtig entdeckte, großartige polnische Dichter Cyprian Kamil Norwid (1821–1883) betonte, dass ein Volk sich nicht nur darauf verlassen kann, was es von anderen unterscheidet, sondern auch darauf, was es mit den anderen verbindet. Jahrzehnte später lobte Kazimierz Przerwa-Tetmajer (1865–1940), ein „jungpolnischer“ Dichter, als einen wahren Patrioten, nicht denjenigen, der seine Feinde hasst, sondern den, der fähig ist, seine Landsleute zu lieben. Der Prozess der Konstitution des Volkes kann also auch aus dieser dichterischen Perspektive betrachtet werden.

Ende des 18.Jhs. lebten im polnisch-litauischen Staat über 200.000 ProtestantInnen (vor allem Lutheraner), zumeist Deutsche, die über etwa 80 Gotteshäuser verfügten. Beeinflusst von aufklärerischen Ideen schrumpfte die gegenreformatorische Vorstellung von dem mit Katholizismus identischen Polentum. Die Lutheraner erfreuten sich polnischerseits großer Toleranz, so war es ihnen in den Jahren 1777–1781 möglich, in Warschau eine prächtige Hauptkirche der evangelisch-augsburgischen Gemeinde zu errichten, die Dreifaltigkeitskirche, entworfen von Szymon Bogumił Zug, einem herausragenden Architekten. In dieser Zeit wurden zahlreiche Lutheraner deutscher Abstammung, die nach Kongresspolen kamen, zu Polen. Eine Reihe von polonisierten Protestanten wie z.B. der bereits erwähnte Architekt Szymon Bogumił Zug (1733–1807), der Sprachwissenschaftler Samuel Bogumił Linde (1771–1847), der Ethnograf und Komponist Oskar Kolberg (1814–1890), der Historiker Wojciech Kętrzyński [Adalbert von Winkler] (1838–1918), die Familie des Verlegers Gustav Adolf Gebethner (1831–1901), der Konditor und Unternehmer Emil Wedel (1841–1919) sind Persönlichkeiten, ohne die man sich die polnische Kultur heute nicht vorstellen kann. Sie trugen wesentlich dazu bei, dass die polnischen Vorurteile gegenüber den „Lutry“ abgebaut wurden. Im 18.Jh. entwickelte sich auch ein günstiges Klima für die Herausbildung einer nationalen Identität der polnischen ProtestantInnen. Auf dem Olsagebiet (Teschener Schlesien) existierte das Identifikationsmuster „Pole-Katholik“ oder „Deutscher-Protestant“ nicht. Hier identifizierte man den Katholizismus mit den Habsburgern, und zum Synonym für das Polentum wurde der Protestantismus. Das polnische Nationalbewusstsein wurde hier gerade von den evangelischen Gemeinden und ihren Pastoren gefördert.

Eine grausame Zeit kam für viele polnische ProtestantInnen während des Zweiten Weltkriegs, als sie in den Konzentrationslagern ums Leben kamen, weil sie sich zum Polentum bekannten oder die sog. deutsche Volksliste nicht unterschreiben wollten. So wurde der evangelische Landesbischof von Polen, Juliusz Bursche (1862–1942), von der Gestapo der Polonisierung seiner Kirche und deswegen des Verrats am Deutschtum beschuldigt. Er verstarb im Gestapogefängnis in Berlin-Moabit. Seine evangelische Mission in Polen fasste er als eine Idee auf, für die er seine ganze Kraft aufgeopfert hatte: „Ich wollte unsere Kirche in Polen heimisch machen, ich strebte ihr Bürgerrecht an. […] Ich musste immer und muss auch heute weiterhin mich denjenigen widersetzen, die das Prinzip verkünden: ‚ein Pole sei Katholik‘. Mein Widerstand besteht nicht nur darin, dass ich davon spreche, sondern auch, dass ich konkret etwas dagegen unternehme“ (Zit. nach: Gespräch mit Pfarrer Dr. Dariusz Chwastek, Evangelisch-Augsburgische Dreifaltigkeitsgemeinde in Lublin 21.10.2021).

Heute leben etwa 80.000 Lutheraner in ganz Polen, die meisten in der Heimat von Bischof Bursche, auf dem sog. Olsagebiet. Bezeichnend ist, dass all das, was man Jahrhunderte lang als evangelische Identität aufgefasst hat, heute von den polnischen ProtestantInnen als Hindernis im Entwicklungsprozess der evangelischen Kirche in Polen betrachtet wird. „Jahrhunderte lang identifizierten wir uns negativ: Wir sind keine Katholiken und keine Deutschen. Heutzutage sei es viel besser, unsere Identität aufgrund eines positiven Programms zu bestimmen: Wir sind Protestanten und Polen zugleich“ (Gmyz, Cezary: Ewangelicy polscy, 21.10.2021). Um die Verflechtung zwischen Religion und nationaler Identität zu verstehen, darf man nicht den Einfluss der Religion auf die Modernisierungsprozesse außer Acht lassen. Der historische Prozess, der zur Herausbildung moderner Gesellschaften führte, bedeutete, dass die die Gesellschaft integrierende Rolle eben die Idee von der Nation übernommen hat. Jahrhundertelang spielte diese Rolle die Religion. Von nun an wandelte sich die Religiosität der Einzelnen. In Polen wurde der zur Zeit der Aufklärung ansetzende Prozess der Säkularisierung, also Verselbständigung von Staat, Gesellschaft und Kirche (durch das Heraustreten der Religion aus diesem Zusammenhang) durch die Zeit der Teilungen unterbrochen. Mit der Verfassung vom 3. Mai 1791 verabschiedete der Sejm der Republik Polen das erste aufgeklärte Grundgesetz Europas, das Regierungsgesetz für Polen-Litauen. Polen wurde damit, ohne seine Staatsform zu ändern, zu einer modernen konstitutionellen Monarchie. Infolge der Teilungen jedoch scheiterte die zusammen mit der legislativen Leistung vorbereitete Reform der Privilegien der katholischen Kirche.

Als Polen Ende des 18.Jhs. infolge der Teilungen von der politischen Landkarte Europas verschwand, gewann die seit der Gegenreformation festgelegte Identität: „Pole gleich Katholik“ an fundamentaler Bedeutung. Im westlichen Europa profilierte sich damals das Verständnis von Nation und Staat, und Polen verlor nicht nur seine Unabhängigkeit, sondern auch seine Chance, die nationale Identität (im Sinne der im Westen vorherrschenden) zu formen. Indem in Westeuropa die Staaten von Nationen getragen wurden, strebten die Polen ihre Staatsgründung erst an. Im geteilten Polen entwickelte sich die nationale Identität u. a. aufgrund der Konfession und der Sprache, die sich von der Staatsreligion und der Sprache der Teilungsmächte unterscheiden sollte. Das Fundament hierfür bestand vor allem aus der Ethnizität und weniger aus der politisch organisierten Nation (Marody; Mandes 2006, S. 1–3).

Im preußischen Teilungsgebiet, wo „die Polen nicht die Nachbarn ‚nebenan‘ [next to], sondern Nachbarn ‚mittendrin‘ [amongst] waren“ (Serrier 2012, S. 66), wurde der Katholizismus ganz bewusst von den Preußen bekämpft und der Protestantismus privilegiert. Der Kampf gegen die katholische Kirche war hier mit dem Kampf gegen das Polentum gleichzusetzen – man bevorzugte eine Politik der Zurückdrängung der polnischen Sprache und der polnischen Kultur zugleich. Angestrebt wurde die Neuansiedlung deutscher (vor allem protestantischer) ZuwanderInnen in den Provinzen Posen und Westpreußen. Selbst in den Jahren 1886 bis 1907 kamen in die Provinz Posen aus dem Westen 13.617 deutsche AnsiedlerInnen, darunter 13.080 ProtestantInnen, aber nur 537 KatholikInnen (Erzberger 1908, S. 56). Es war damals ein enormer Kulturtransfer, den man sich wortwörtlicher kaum vorstellen kann. Die preußischen Behörden nahmen auch direkten Einfluss auf die Struktur der katholischen Kirche, indem sie zahlreiche personale Entscheidungen trafen (z.B. 1872, während des Kulturkampfes, wurde aufgrund der standhaften Weigerung, dem Kanzlerparagraphen Folge zu leisten, der Erzbischof von Gnesen und Posen Mieczysław Ledóchowski verhaftet). Der Publizist und Politiker der deutschen Zentrumspartei, Matthias Erzberger (1875–1921), urteilte über den Kulturkampf und seine „Unglücksgesetze“, dass sie gerade in der polnischen Bevölkerung besonders scharf angewendet wurden und viel böses Blut machten. Er machte sie zum Verursacher der Auffassung, dass deutsch = protestantisch und polnisch = katholisch sei: „[D]enn der Deutsche trat dem Polen fast nur als Gegner der katholischen Kirche gegenüber“ (Erzberger 1908, S. 7). Die Auseinandersetzung war in erster Linie gekennzeichnet durch Verdrängung der polnischen Sprache im öffentlichen Gebrauch. Der polnische Schulunterricht wurde systematisch abgeschafft. 1873 hat man in der Provinz Posen und in Westpreußen Deutsch als alleinige Unterrichtssprache in den Volksschulen eingeführt, obwohl Zehntausende von SchülerInnen diese Sprache nicht verstanden.

Die 1886 ins Leben gerufene Königlich Preußische Ansiedlungskommission trug stark zur Schwächung des Katholizismus im Osten bei, indem sie jahrelang ausschließlich Ansiedlungen von ProtestantInnen in der Provinz Posen begünstigte. Ihre Aktivitäten bestärkte der 1894 gegründete Ostmarkenverein (Verein zur Stärkung des Deutschtums im Osten), als „Vorkämpfer des Protestantismus gegen den Katholizismus“ (Krysiak 1919, S. 57) bezeichnet, der eine protestantische Organisation war, die mit besonderem Engagement für Arbeitsstellen für evangelische deutsche Juristen, Richter, Pastoren und Lehrer in der Provinz Posen sorgte. Der Ostmarkenverein setzte sich zum Ziel, dass „preußisches Staatsbewusstsein und deutsches Nationalgefühl, deutsche Sprache und Gesittung nicht zugrunde gehen“ (Erzberger 1908, S. 30). Einer seiner Begründer, Heinrich von Tiedemann-Seeheim, bezeichnete die Berufung des Vereins, „Vorkämpfer für die evangelische Sache“ (Aus einem Brief von H. v. Tiedemann-Seeheim an den Generalsuperintendenten Dr. Hesekiel in Posen, in: Krysiak 1919, S. 55) zu sein. An der Tätigkeit dieses Vereins beteiligten sich freudig und engagiert evangelische Geistliche, die – neben Lehrern, Unternehmern und leitenden Angestellten – als „Multiplikatoren“ der in der Satzung des Vereins formulierten Idee der „Hebung und Befestigung deutsch-nationalen Empfindens“ galten (Artikel 1 der Satzung des Deutschen Ostmarkenvereins. Zit. nach: Grabowski 1998, S. 65).

Die polnische Bevölkerung im preußischen Teilungsgebiet betrachtete die Lutheraner und Vertreter der reformierten Kirche als Fremde, nicht selten als Feinde. Katholische Geistliche nannten sie „Renegaten“, „Wölfe im Schafspelz, die an Christus nicht glauben“. Populär wurde hier ein Volkslied: „Wenn ein Pole eine Deutsche heiraten will, bald kommt ein Pastor, der sie segnen wird. Der Teufel in der Hölle freut sich, da er den Ketzer benötigt“ Gdy Polak z Niemką się brata, tam wnet pastor do ślubu wyswata. Diabeł w piekle się raduje, bo heretyków tam potrzebuje (Dzikowski 1946, S. 52. Zit. nach Stenger, Tadeusz 2018, S. 316).

Dem gegen die deutsch-polnischen Ehen (sog. Mischehen) entgegengebrachten Misstrauen lag die Furcht zugrunde, durch die Heirat den katholischen Glauben und damit die nationale Zugehörigkeit zu verlieren. Sprüche wie „Zwei Gewissen sollen nicht ruhn auf einem Kissen“, die sich auf die Mischehen bezogen, drückten eigentlich den Wunsch nach Verteidigung der eigenen nationalen Identität aus. Auch die Deutschen waren den Mischehen gegenüber misstrauisch. Zum Katholiken durch die Eheschließung zu werden, bedeutete so viel, wie die eigene Verwurzelung zu verlieren, „denn katholisch sein in dieser Gegend, heißt polnisch werden“ (Bock 1898, S. 150), wie in einem Roman von 1898 von Annie Bock zu lesen ist.

1906 erschien in Lublin die erste Nummer eines polnischen Tageblattes mit dem Titel Pole – Katholik (Polak – Katolik), das jahrelang vom katholischen Priester Ignacy Kłopotowski herausgegeben wurde. Er setzte sich zum Ziel, das Bewusstsein des Glaubens und die Zugehörigkeit zum Vaterland unter den Polen zu beleben, was im Titel und im Motto des Blattes seinen Ausdruck fand: „Mit Gott und Nation“ (Banaś 1986, S. 54). Die katholische Kirche pflegte die Frömmigkeit unter den Polen, um damit ihre nationale Identität zu stärken. Indem sie ihnen diesen Halt bot, wurde sie zum festen Hort für die gesamte Nation.

Der Zwiespalt zwischen Polen und Deutschen, den das Sprichwort: „So lange Welt bleibt Welt, kein Pole brüderlich es mit dem Teutschen helt“ ausdrückt, wurde gerne von manchen Geschichtsschreibern, Schriftstellern und Publizisten gerade auf der konfessionellen Ebene thematisiert und verarbeitet. Sowohl die deutsche als auch die polnische Literatur fokussieren diese Spannungen und verfestigen die nationalen Rollen-Vorbilder.

Der polnische Literaturnobelpreisträger Władysław Reymont (1867–1925) erzählt im Roman Die Bauern (Chłopi, 1904) von einem polnischen Priester, der den Bauern Antek belehrt, nachdem dieser einen Jäger umgebracht hat, dass der Tote „ein Schurke und ein Lutheraner war, und daher es ein geringer Verlust sei“ (Reymont 1977, S. 320. Im Original: „Był to łajdus i luter, to niewielka stała się szkoda“). Martin Luthers Name wurde hier zum Schimpfnamen und als Rechtfertigung der angeblichen konfessionellen Minderwertigkeit verwendet. In Max Bergs (eigentlich Max Kaeseberg, 1857–1908) Roman Am Alten Markt zu Posen (1907), dessen Handlung 1886 ansetzt, wird der Werdegang dreier Schulfreundinnen – Cosima Mannstein, Frida Mulleg und Jadwiga Kochanowska – dargestellt. Sie gehören den drei Religionsgemeinschaften an, die „Posen in Stadt und Land bevölkern“ (Berg 1907, S. 2), also dem Protestantismus, dem Judentum und dem Katholizismus. Bezeichnend sind dabei die Worte der Polin, Jadwiga Kochanowska:

O, wenn er doch tot wäre, der Bismarck! Wie hasse ich ihn, diesen lutherischen Teufel! Die polnische Religion will er vernichten. Deswegen hat er uns auch einen Deutschen hier zum Erzbischof gegeben. Wir wollen keinen Deutschen haben; der hat nicht den richtigen Glauben für die Wiederherstellung unseres Vaterlandes. O, brennen muss der Bismarck dafür (Berg 1907, S. 28).

Annie Bock 1867–1905 (Eigentlich: Annie Neumann-Hofer) sieht in ihrem Roman Der Zug nach dem Osten (1898) das konfessionelle Problem mit den Augen eines Protagonisten, der ein deutscher Ansiedler im Posener Land ist:

Katholisch und Polnisch ist hier an der Grenze ohnehin schon fast ein und dasselbe […] sowie auch evangelisch und deutsch […] ein polnischer Pfarrer jedoch bietet die allerbeste Garantie dafür, dass die Leute wieder polnisch werden. […] Katholiken und Lutheraner hier in dieser Gegend kennen keine Übereinstimmung, kennen keinen Frieden (Bock 1898, S. 45).

 Für Hans von Poncet, einen deutschen Verfasser und Offizier von hohem Rang zugleich, ist in seiner Erzählung aus der Ostmark (Untertitel) mit dem aussagekräftigen Titel Unvereinbar (1908) die Ehe zwischen einer Polin und einem Deutschen, die mit einer „realen Koexistenz“ der Deutschen mit den Polen gleichzusetzen ist, unakzeptabel, eben unvereinbar. Max Berg, Annie Bock und Hans von Poncet sind heute kaum bekannte deutsche AutorInnen, die in ihren Romanen (in dem Zeitraum zwischen 1890 und 1918) deutsch-polnische Spannungen literarisch verarbeitet haben (Mehr dazu: Wojtczak 1998). Während ihre Texte verkauft und gelesen wurden, legte man in Berlin, genau am 22 März 1891, am Geburtstag Kaiser Wilhelms I., den Grundstein für den Bau der evangelischen KaiserWilhelm-Gedächtniskirche. Die Anregung, eine Gedenkstätte zu Ehren seines Großvaters zu errichten, kam vom Kaiser Wilhelm II.

Bereits am 1. September 1895, dem Vorabend des sog. Sedantages, konnte die Einweihung gefeiert werden. Das Gebäude, in einer der Hauptstraßen Berlins (Kurfürstendamm) erbaut, wirkte mit seinen fünf Türmen erdrückend monumental. Von den fünf Turmglocken trugen vier Namen der Mitglieder der kaiserlichen Familie, die fünfte dagegen hieß „Deutschland“. Dieser Kirchenbau verkörperte den engsten Bund zwischen dem Protestantismus und dem hohenzollernschen Imperialismus: „Der Deutsche“ sollte eben so viel wie „der Protestant“ bedeuten. In der damals preußischen Stadt Posen, ca. 240 Kilometer östlich von Berlin entfernt, errichtete man um die Jahrhundertwende zahlreiche evangelische Kirchen, die das Stadtbild prägen sollten. Gestiftet und eingeweiht wurden die meisten von ihnen mit der regen Beteiligung von Kaiserin Auguste Victoria, der Gemahlin Wilhelms II.

Nach 1918, als Polen seine Unabhängigkeit wieder gewonnen hatte, bildete die Idee der Einheit zwischen dem Polentum und dem Katholizismus ein solides und damals selbstverständliches Fundament für den Aufbau des Staates und der in der Zeit der Teilungen unterdrückten nationalen und religiösen Identität der Polen. Sie wurde sowohl von Politikern als auch katholischen Geistlichen vertieft und gestärkt.

Einer der Hauptakteure der polnischen National-Demokratischen Partei (endecja), Roman Dmowski (1864–1939), sah in der Religion die staats- und nationbildende Kraft, die Grundlage moralischer Haltung und Quelle nationalen Bewusstseins, eine Disziplin- und Erziehungsmaßnahme, den Hort der sozialen Ordnung und, was besonders zu betonen ist, Schutz vor den Feinden. In seiner Schrift Kościół, naród, państwo (Kirche, Nation, Staat, 1927) setzte er Polentum mit Katholizismus gleich. Der damalige Erzbischof von Posen und Gnesen und dann Primas von Polen, Kardinal August Hlond (1881–1948), verkündete in seinen (hinreißenden) Predigten und Aufrufen innerste Überzeugung davon, dass ein ethisch handelnder Pole zugleich Katholik sein solle.

In der Zeit der Volksrepublik Polen (1944–1989) wurde die polnische katholische Kirche weiterhin zum Zufluchtsort für die unterdrückte Idee der polnischen Nation. Hier durften Rituale gepflegt werden, die diese romantisch-ethnische Idee aufrechterhielten und nährten. Feierliche religiöse Vollzüge wurden zum Mittel, sich über den tristen und farblosen sozialistischen Alltag zum Überirdischen zu erheben. Als 1978 Karol Wojtyła zum Papst gewählt wurde, herrschte unter den Polen die Überzeugung, dass er alle positiven Eigenschaften der polnischen Nation verkörpere und dass seine Wahl „eine verdiente Aufwertung des polnischen Volkes“ (Marody; Mandes 2006, S. 2) bedeute. Die Soziologin Mirosława Marody betont, dass dieses Gefühl der nationalen Aufwertung eben aus dem religiösen Glauben hervorkam:

Die Polen waren überzeugt, dass sie es sich verdient haben, weil sie trotz der kommunistischen Unterdrückung dem katholischen Glauben treu geblieben waren. Johannes Paul II. betrachtete die Nation als autonome Grundform der polnischen Identität. Dabei fasste er die Religiosität der Polen als ihre Haupteigenschaft auf. Der Papst wurde zur Ikone und zum Bürgen der Identität der Polen und solange er lebte, konnte die polnische Identität vor allem dank der religiösen Rituale zu Worte kommen. […] Der Tod von Johannes Paul II. bedeutete das Ende des seit der Frühmoderne andauernden Bündnisses zwischen der nationalen und der religiösen Identität der Polen (Marody; Mandes 2006, S. 3).

 In den Nachkriegsjahren gingen mehrere deutsch-polnische (→ Versöhnung)sinitiativen von den deutschen und polnischen Kirchen aus. Sowohl von der protestantischen als auch der katholischen Kirche wurde ein enormer Beitrag zur deutsch-polnischen Verständigung geleistet. Nicht zu überschätzen ist die Rolle von solchen Organisationen und Gruppen wie u. a. „Aktion Sühnezeichen“, „Stiftung Kreisau“, „Polenseminar“, „Anna-Morawska-Gesellschaft“ und dem Wochenblatt Tygodnik Powszechny, das für seine Verdienste um die deutsch-polnische Aussöhnung mit dem DIALOG-Preis des Bundesverbandes deutsch-polnischer Gesellschaften ausgezeichnet wurde. Nach der Wende spielte die Gemeinschaft von Taizé (Frankreich) eine ganz besondere Rolle, insbesondere in der deutsch-polnischen ökumenischen Verständigung. Tausende polnische katholische Jugendliche, die Woche für Woche in den Sommermonaten in Taizé (Frankreich) an ökumenischen internationalen Treffen teilgenommen haben, konnten eine in Polen bisher unbekannte Qualität der deutsch-polnischen interkonfessionellen Begegnung erleben. Da gerade die zwei Nationen u. a. zu den in Taizé am stärksten vertretenen gehören, ist es unschwer zu berechnen, dass im letzten Vierteljahrhundert eben dank Taizé die deutsch-polnische Verständigung für Zehntausende möglich wurde.

Die Wahl des „deutschen“ Papstes Benedikt XVI. (2005) als Nachfolger des „polnischen“ Papstes Johannes Paul II. brachte einen tiefen Wandel mit sich, insbesondere in den konservativen kirchlichen Kreisen, in der polnischen Vorstellung vom „deutschen“ Glauben, doch das Stereotyp des deutschen Protestanten blieb dabei unversehrt. Es bleibt, wie eingangs betont wurde, ein Stereotyp der langen Dauer.

Die stereotype Vorstellung vom (nur) katholischen Polen beeinflusst immer noch, obwohl im letzten Jahrzehnt deutlich geringer, die polnische Auffassung vom Patriotismus, von mentaler Verbundenheit mit dem polnischen Staat und die Wirkung des polnischen nationalen Mythos. Dieser kulturelle Zusammenhang zwischen Polentum und Katholizismus obwohl immer geringer, ist heutzutage weiterhin vorhanden. Nicht selten unter denjenigen Polen verbreitet, bei denen die katholische Identität eher gering ist, aber auch unter solchen, die keine Katholiken sind. Es ist eine mythische Vorstellung, die ihren Anfang im 19.Jh. hat, die in der Zeit der Volksrepublik Polen fortgesetzt wurde. So stark, dass sie ab und zu sogar Zweifel am Patriotismus polnischer ProtestantInnen beziehungsweise VertreterInnen anderer Konfessionen zu wecken vermag.

Die immer häufiger vorkommende Abwendung von der katholischen Kirche und eine antiklerikale Stimmung, die insbesondere im Zusammenhang mit der (politischen) Instrumentalisierung der Religion und den Missbrauchsskandalen in Polen zunimmt, bezieht sich in ihrem Urgrund eben auf die Verbindung zwischen der nationalen Zugehörigkeit und dem Katholizismus. Vor 1989, also vor der Wende, identifizierten sich viele Polen mit der katholischen Kirche, weil sie sich damit zur Freiheit und Unabhängigkeit bekannten – nicht aus Glaubensgründen. Den Grund für zahlreiche Kirchenaustritte, die seit Ende der 1990er Jahre stattfinden, bildet u. a. wiederum der Wille sich zur Freiheit zu bekennen, sich von der national-religiösen „Umarmung“ zu lösen.

Von ihren deutschen Nachbarn werden Polen häufig pauschal mit dem Katholizismus identifiziert, was nicht zuletzt in solchen Schlagzeilen Ausdruck findet wie: „Ein richtiger Pole muss ein Katholik sein“ (Die Welt vom 20.3.2012), „Polnisch, katholisch, verkracht“ (Die Zeit vom 12.5.2009), „Polnisch, katholisch, normal“ (Die Welt vom 28.7.2005), „Der Pole – ein merkwürdiger Katholik“ (Süddeutsche Zeitung vom 2.4.2010) oder im Titel des Romans von Monika Cordewener Lesbisch, polnisch-katholisch (2018).

Das Identifikationsmuster „Pole = Katholik“ und „Deutscher = Protestant“ bedingen sich im gewissen Sinne gegenseitig, indem sie als Verstärkung und Exemplifizierung füreinander funktionieren. Es ist unschwer zu sehen, dass dieses Muster seit Jahrhunderten vor allem die Erfahrung ausdrückt, dass Polen, westlich vom protestantischen Deutschland, östlich vom orthodoxen Russland und nördlich von protestantischen Schweden – seine einzige Chance für unabhängige Identität im Katholizismus fand.

Ein populärer polnischer Zweizeiler, dessen Autorschaft dem Nationaldichter Polens, Adam Mickiewicz, fälschlicherweise zugeschrieben wird, lautet: „Nur unter dem Kreuze, nur vor diesem Symbol, vermögen das Land Polen und die polnischen Staatsbürger zu bestehen“ (Im Original: „Tylko pod tym krzyżem, tylko pod tym znakiem, Polska jest Polską, a Polak – Polakiem.“ Unbestimmte Autorschaft. Gazeta Wyborcza vom 18.7.2010 nennt den Politiker, Marek Jurek, als Autor des Zweizeilers. Andere Quellen weisen auf eine anonyme Eintragung in einem Lemberger Kirchenbuch vom Jahre 1886 hin). Selbst diese falsche Zuschreibung der Autorschaft zeugt von einer bewussten Aufwertung der Aussage, von einem verborgenen Anliegen, diesem Satz mehr Bedeutung zuzuschreiben, als er selbst ausdrückt. Dieser Spruch erlebte in Polen Anfang der 1990er Jahre, kurz nach der Wende, seine Renaissance, als man debattierte, wie der neue, nicht mehr kommunistische, „freie“ Adler im polnischen Staatswappen aussehen sollte: mit oder ohne ein Kreuz in seiner Krone. Er sollte von nun an auf „die richtige Beheimatung“ der Polen hinweisen(Henzler, Marek: Jak orzeł w polskim godle odzyskał koronę (https://www.polityka.pl/tygodnikpolityka/historia/1603605,1,jak-orzel-w-polskim-godle-odzyskal-korone.read), 21.6.2022). Zweifelsohne drückt er Polens untrennbare Identifikation mit dem (als katholisch aufgefassten) Christentum aus – doch die polnische Adlerkrone hat letztendlich kein Kreuz bekommen.

 

 

Literatur:

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Bock, Annie: Der Zug nach dem Osten, Berlin 1898.

Dzikowski, Stefan: Niemiec wyszydzony, Warszawa 1946.

Erzberger, Matthias: Der Kampf gegen den Katholizismus in der Ostmark, Berlin 1908.

Grabowski, Sabine: Deutscher und polnischer Nationalismus. Der Deutsche Ostmarken-Verein und die polnische Straz 1894–1914, Marburg 1998.

Hoffmann, Lutz: Die Konstitution des Volkes durch seine Feinde, in: Jahrbuch für Antisemitismus, 2 (1992), S. 13–37.

Krysiak, Franciszek: Hinter den Kulissen des Ostmarkenvereins. Aus den Geheimakten der preußischen Neben-Regierung für die Polenausrottung, Posen 1919.

Labuda, Gerard: Geneza przysłowia „Jak świat światem nie będzie Niemiec Polakowi bratem“, in: Zeszyty naukowe UAM. Historia, 8 (1968), S. 17–32.

Marody, Mirosława; Mandes, Sławomir: Polak katolik. O związkach religijności z tożsamością narodową, in: Europa. Tygodnik idei (2006), S. 1–3.

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Reymont, Władysław: Chłopi. Bd.II. Warszawa 1977.

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Skarga, Piotr: Kazania sejmowe, Wrocław 1972.

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Wojtczak, Maria, Dr. habil., verfasste die Beiträge „Drang nach Osten“ und „Pole gleich Katholik vs. Deutscher gleich Protestant ”. Sie ist Professorin an der Universität Poznań und arbeitet in den Bereichen deutsche Literatur- und Kulturgeschichte, Literatur und Religion, literarischer Regionalismus.

 

 

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