Agnieszka Pufelska

Die Macht der Feindbilder: Der Stereotyp des „Juden“ in Polen und Deutschland



Der Stereotyp des „Juden“ ist ein Produkt antisemitischer Fantasie. Er hat Eingang in viele Darstellungen gefunden, die im ersten Moment nicht immer als antisemitisch er-kenn bar sind, besonders dann nicht, wenn die stereotypen Vorstellungen positiv konno-tiert sind. Ein grundlegendes Motiv ist bei jedem einzelnen Bild, bei jedem Stereotyp fest zustellen: ein Gegensatz zu der „reinen“, idealen Welt. Vor dem Hintergrund dieser idealen, irrealen Welt erscheint „der Jude“ bzw. „die Jüdin“ als fremd, als störend, als an dersartig. Dieses Vokabular von Bildern und Stereotypen manifestiert sich heute in erster Linie nicht in offen antisemitischen Äußerungen und Handlungen. In den Köp-fen der Menschen existiert aber nach wie vor – ohne dass es immer als solches formuliert werden muss – ein bestimmtes Vorstellungssystem darüber, wie Juden angeblich sind oder zu sein haben, welche körperlichen Merkmale, charakterlichen Eigenschaften, Ver-haltens-, Rede- und Reaktionsweisen als „typisch jüdisch“ gelten. „Dasein und Erschei-nung der Juden kompromittiert die bestehende Allgemeinheit durch mangelnde Anpas-sung“, heißt es bündig bei Horkheimer und Adorno (Adorno/Horkheimer 1992, S. 193).

Notwendig zugrunde liegt solchen Pauschalisierungen ein mehr oder weniger bewusster Reduktionswille, der seine Kraft kaum aus den Ereignissen selbst, als vielmehr aus den tradierten negativen Vorstellungen von den Juden schöpft. Im Laufe der Jahrhunderte verselbständigten sich diese antisemitischen Stereotype und Vorurteile, lösten sich aus ihrem historischen Entstehungskontext, begannen ein Eigenleben zu führen und wur­den Teil des kollektiven Bewusstseins unserer Gesellschaft. So gesehen, stellen sie einen festen Bestandteil unserer kulturellen, sozialen oder ökonomischen Entwicklung dar und müssen immer als historisch gewachsene Phänomene betrachtet werden. Das Bild des „Schacher- und Wucherjuden“ wurde in der Neuzeit durch das Bild des Hausierers, des unredlichen Kaufmanns sowie des Bankiers und Börsenspekulanten ergänzt und erweitert; das Bild des „ewigen“, „wandernden“ Juden wurde später dahingehend modifiziert, dass die Juden als „fremde Nation“ oder auch als „fremde Rasse“ stigmatisiert wurden.

Antisemitische Vorurteile geben dabei keine Auskunft über die jüdische Kultur und Geschichte. Sie erlauben aber, kritisch analysiert, durchaus Rückschlüsse auf das Welt-und Menschenbild der Träger des Vorurteils. Als historisches Produkt, das sich nicht im menschenleeren Raum entwickelt, setzen sie sich aus einem Mosaik sozialer und mentaler Erfahrungen zusammen, die für die jeweilige Gruppe charakteristisch sind und in den Gewichtungen differieren. Obschon die meisten „Judenbilder“ eine generelle Botschaft enthalten, wurden und werden sie doch niemals isoliert und kontextfrei benutzt. Es sind einerseits immer konkrete Umstände und Zielsetzungen, unter denen die Erfahrungen der Akteure zu quasi mythischen Denkbildern von „den Juden“ verdichtet werden. Andererseits gibt es immer Gründe für das Bestreben, diese dann als Erklärungsmuster zu gebrauchen und politisch zu funktionalisieren. Bei der Analyse der stereotypen Vorstellungen muss daher gefragt werden, welche historischen und menta­len Vorgänge bzw. Wertesysteme nichtjüdischer Gesellschaft zur Etablierung und Funktionalisierung bestimmter jüdischer Denkfiguren führten und welchen Einfluss diese (Feind-)Bilder ihrerseits auf diese Vorgänge und Wertesysteme ausübten. Weder der Ste­reotyp von „Juden“ selbst noch die Bedingungen seiner Etablierung und Reproduktion sind ja fertige und statische Gegebenheiten. Ganz im Gegenteil: Sie bedingen einander, und Veränderungen sind durchaus nachvollziehbar.

Vor dem Hintergrund dieser Auffassung muss auf ein wichtiges Problem hingewiesen werden. Obwohl in der vorliegenden Darstellung durchgehend die Begriffe „Stereotyp“, „Vorstellung“, „Denkfigur“ oder „Vorurteil“ abwechselnd verwendet werden, werden sie hier im Sinne von „Feindbild“ verstanden, ohne dass die semantische Differenz zwischen ihnen weiter vertieft wird. Im Unterschied zur Ebene einer bloß stereotypen Abneigung gegen Juden werden nach Hans-Michael Bernhardt im Feindbild „alle Ebenen der Wirklichkeit einbezogen und auf einen einzigen, unüberbrückbaren Gegensatz von These und Anti-These reduziert“ (Bernhardt 1994, S. 13). Bezeichnend für Feindbilder ist ihre Tendenz zum Totalitären, zur Entgrenzung, weil sie die Welt auf eine einzige, antagonistische Formel von Gut und Böse reduzieren. Diese „Totalität“ macht gleichzeitig deutlich, warum es wichtig ist, den Antisemitismus von Fremdenfeindlichkeit abzugrenzen. Antisemitische Feindbilder oder eben Stereotype bilden eine nur für sie selbst reservierte Kategorie. Während es fremden­feindliche Vorurteile schwer haben, ohne Fremde auszukommen, können die antisemi­tischen „Judenbilder“ als kollektives Phänomen in Polen, Deutschland oder anderswo sehr gut ohne Juden existieren. Explizit biologistisch-rassistische Ausformulierungen sind nicht notwendig, um judenfeindliche Artikulationen als antisemitisch zu klassifizieren. Das ist zunächst möglich, weil die zum Feindkollektiv erklärten Juden gerade nicht als ein Kollektiv unter vielen, nicht als feindliche Gruppe neben anderen, dafür als Gegen­prinzip zur einheitlich gedachten und häufig religiös definierten Gemeinschaft über­haupt gelten. Darüber hinaus kommt ein antisemitischer Diskurs auch ohne Personen, die sich als Juden definieren, aus. Grundlegendes Charakteristikum der judenfeindlichen Stereotypisierung ist die Schöpfung von Verallgemeinerungen, die dann auf ein abstrak­tes Konstrukt des „Juden“ übertragen werden. Er gilt dann als Repräsentant der ganzen jüdischen Gemeinschaft und als Verkörperung von deren negativen Eigenschaften. Als „Jude“ kann dann auch jemand gesehen werden, der sich nicht als solcher bezeichnet und der nicht zur jüdischen Gemeinschaft gezählt werden will. Bekanntermaßen setzt der Antisemitismus keine physische Existenz der Juden voraus; er entwickelt sich vielmehr selbständig, hält sich durch den eigenen Schwung in Bewegung, so dass jegliche Bezüge zur Wirklichkeit bloß das geschaffene und gepflegte Bild stören.

Die religiösen Wurzel: Der „Gottesmörder“

Das christliche Erbe in Form von Antijudaismus bildet den Grundstock, die Ausgangs­basis der judenfeindlichen Vorurteile. Das zentrale Anliegen der antijudaistischen Argu­mentation ist es, den Nachweis zu führen, dass das Judentum spätestens nach der Zer­störung des Tempels im Jahre 70 keinerlei Anspruch mehr auf die biblische Tradition hat, mithin im Sinne der christlichen Deutung der Bibel keine biblische Religion mehr ist. Die Zerstörung Jerusalems samt seinem Tempel wurde in der frühchristlichen Dog­matik als ein sichtbarer Beweis dafür betrachtet, dass Gott sein Volk Israel verworfen hat und dass er mit dieser Tat die Juden für ihre Verwerfung und Kreuzigung des „Messias“ strafen wollte. Mit diesem Anspruch begründeten die Christen die Dominanz ihrer Religion und stempelten das Judentum zu einem konkurrierenden falschen Glauben ab, der den „wahren“ Erlöser nicht erkannt hatte und dadurch nur antichristlich orientiert sein kann. Noch in der Spätantike wurde die Antichristtradition entwickelt, die bis heute die Basis für alle möglichen judenfeindlichen Verschwörungen bietet. Sie besagt: Der Antichrist ist die vollkommene Gegenfigur zu Jesus Christus, er ist Jude aus dem Stamme Dan, ist unter der Aufsicht des Satan von Zauberern und falschen Propheten erzogen, er verfolgt die Christen, gibt sich als Sohn Gottes aus, baut den Tempel zu Jerusalem wieder auf und beherrscht zusammen mit seinen jüdischen Anbetern die gan­ze Welt. Die vom Johannesevangelium erstmals erhobene Beschimpfung der Juden als Teufelskinder, von denen nur Böses zu erwartet ist, feiert in der Antichristtradition ihre dramatisch weltgeschichtliche Darstellung. Sie ebnete den Weg für die fast monotone Beschuldigung der Juden für jedes Missgeschick, das die Christen trifft, und desavou­ierte das Judentum als eine Anti-Religion im Dienste des Teufels. Seit dem Mittelalter war der so definierte Antijudaismus dann nicht mehr alleine auf die klerikalen Kreise beschränkt, sondern wurde im weiten Maße von allen Gläubigen geteilt. Zu den Trä­gern der Verleumdungen avancierten nun immer mehr einfache Priester und Gläubige, die das Motiv des Antijudaismus, die Juden als Agenten des Teufels, sehr real auffassten und in Gewaltexzessen münden ließen.

Eins der populärsten antijudaistischen Vorurteile, die die Verteufelung der Juden ma­nifestieren sollten, war die Ritualmordbeschuldigung. Sie wirft den Juden vor, dass sie, aus Hass gegen Christus und die Christen, gemäß ihrer Lehre, unter Anleitung von Rabbinern, alljährlich in der Osterzeit zur neuerlichen Verhöhnung der Passion Jesu ein unschuldiges christliches Kind (meist einen Knaben) in ritueller Form ermorden. Im Kern besagt die Legende: Ein Kind würde entführt oder gekauft, um ihm in langwie­rigen Martern unter Schmerz das Blut zu entziehen. Dieses Blut diene nach Ansicht der Verfolger verschiedenen religiösen, magischen oder medizinischen Zwecken und finde bei der Zubereitung des Mazza-Brotes Verwendung. Manche Überlieferungen berich­ten davon, die Juden benötigen das Blut, um die Hörner zu beseitigen, mit denen alle Judenkinder geboren werden, als Gegenmittel, um ihren ureigenen Judengestank zu lin­dern, oder eine kleine Dosis Christenblut helfe als Medizin bei komplizierten Geburten.

Bestärkt wurde diese Fiktion durch die Meinung, dass das Blut der unschuldigen Men­schen der Gottheit besonders angenehm sei. So lösten den Vorwurf nicht nur ermordete, sondern auch ertrunkene Kinder aus, nicht selten versuchten auch Kindesentführer, die Schuld auf die Juden abzuwälzen, oder es wurden Kinder versteckt, um Juden durch den Vorwurf erpressen zu können.

Die erste nachantike Beschuldigung, der vorgebliche Mord an Wilhelm von Norwich (1144), stammt aus England und griff im Laufe des 13. Jhs. nach Deutschland über. Um 1221 lässt ein Massaker in Erfurt, wo 26 Juden von christlichen Einwohnern erschlagen wurden, bereits auf den Ritualmordvorwurf schließen. Um die Mitte des Jhs. häuften sich dann die Vorwürfe und in immer kürzeren Abständen folgten immer neue Ritual­mordanklagen. Die Namen Fulda (1235), Pforzheim (1267), Mainz (1283 und 1286), München (1285), Bacharach (1287), Troyes (1288) bezeichnen Ausbrüche einer sich immer weiter ausbreiteten Epidemie. In Polen lässt sich die Ritualmordbeschuldigung viel später registrieren. Erst seit der Mitte des 16. Jhs. oder erst seit der Kontreformati­on kann man über die Synchronisierung der antijudaistischen Vorurteile in Polen und Deutschland sprechen. Die erste Erwähnung eines Ritualmordes findet man in Histo­riae Poloniae (1455–1480) von Jan Długosz. 1547 in Rawa (Masowien) wurde die erste Anklage wegen dieses Vorwurfs erhoben. Bis Ende des Jhs. fanden noch 8 Verfahren statt, wobei 4 von ihnen mit einem Freispruch für die Juden endeten. Bis Mitte des 17. Jhs. wurden in Polen 62 Verleumdungen und 28 Prozesse notiert. In 13 Fällen kam es zu Exekutionen und in 8 zu einer Freisprechung. Den Vorwurf des Ritualmords ver­band man dabei häufig mit der Beschuldigung des Hostienfrevels, die eine andere Va­riante des Mordvorwurfs darstellt. Den Juden wurde unterstellt, sich geweihte Hostien beschafft und diese zerschnitten oder anderweitig geschändet zu haben, um die Marter Jesus bei der Kreuzigung nachzuvollziehen. Sowohl die Ritualmordbeschuldigung als auch die Hostienfrevellegende implizieren eine permanente Tötungsabsicht der Juden an den Christen. Das Vierte Laterankonzil (1215), das die Transsubstantiationslehre de­finiert hatte, begünstige die Entwicklung dieser kollektiven Schuldigsprechung. Gleichwohl trat der Vorwurf der Hostienschändung in Polen und Deutschland viel seltener auf als der des Ritualmords, wobei sich auch bei der Verbreitung dieses Vorwurfs gewisse Unterschiede in den beiden Ländern beobachten lassen. Während in Deutschland die meisten Ritualmordbeschuldigungen, soweit Leichen vorhanden waren, auf die Heiligsprechung der angeblichen Opfer zielten, lässt sich in Polen die Propagierung eines Kultes selten beobachten. Die antijudaistischen Beschuldigungen, die in Polen seit den Chmielnicki-Pogromen um 1648 bis hin zur Mitte des 18. Jhs. ständig zunahmen und zuletzt fast jährlich erfolgten, übertrafen an Zahl bei weitem die der spätmittelalterli­chen in Deutschland. Dennoch führten sie nicht wie dort zu flächendeckenden Ver­folgungen, sondern blieben in der Regel lokal begrenzt und betrafen meist nur die, die in den von der Geistlichkeit angestrengten Prozessen verurteilt wurden. Das letzte gerichtliche Verfahren mit Beschuldigung um Ritualmord erfolgte in der Rzeczpospo­lita im Jahre 1786, sein Schuldspruch wurde aber auf Anraten von Stanisław August Poniatowski nicht vollzogen.

Mit der Emanzipation der Juden und dem Aufkommen des säkularen, sich immer mehr mit rassistischem Gedankengut aufladenden Antisemitismus im 19. Jh. gewann der Aberglaube der Blutbeschuldigung auch in Deutschland neue Virulenz. Jetzt sind die Opfer primär nicht mehr Knaben und junge Männer, sondern Christenmädchen und Jungfrauen. Die Anschuldigung lautete: sexuelle Perversion, Blutschande und Schächt­mord. In den mittelalterlichen Legenden waren Beweise für rituellen Mord der von Wunden übersäte Körper des Opfers, der Wohlgeruch, den seine Leiche verströmte, und die Mirakel, die von ihm ausgingen. In der neueren Zeit gehörten zu den „typischen Merkmalen“ der Leiche die Blutleere des Körpers und der „Schächtschnitt“. Das Bild von den Juden als Vampire, die das „arische Blut“ aussaugen, beherrschte die antisemi­tische Propaganda. Der Nationalsozialismus konnte mit Artikeln des Stürmer und dem pseudowissenschaftlichen Wälzer Hellmut Schramms Der jüdische Ritualmord unmit­telbar daran anknüpfen. Eine ein wenig andere Entwicklung nahm die Ritualmordbe­schuldigung in Polen an. Hier blieb ihre im 16. Jh. etablierte religiöse Ausrichtung ne­ben den politischen Implikationen bestehen. Die Verbindung der katholischen Religion mit dem polnischen Nationalbewusstsein führt dazu, dass der Antisemitismus in Polen seine religiöse Prägung niemals verloren hat. Man kann sogar über einen polnisch-ka­tholischen Antisemitismus sprechen, in dem die politisch motivierten Vorurteile mit den katholischen eng verbunden sind und je nach Bedarf aktiviert werden können. Ein Beispiel dafür liefert der in Polen populäre heilige Maximilian Kolbe, der sein Leben in Auschwitz freiwillig hingab, aber dennoch ein frommer, volkstümlicher Antisemit gewesen ist. Das von ihm herausgegebene Presseorgan Mały dziennik kann als Fundgru­be für die Anschuldigungen des Gottesmordes und Ritualmordlegenden dienen. Dass dieser religiöse Einfluss auf den polnischen Antisemitismus eine wichtige Rolle spielt und unerschüttert die Schoa überstand, zeigt der Pogrom von Kielce im Jahre 1946. Als die der Ausrottung entgangenen Juden nach Polen zurückkehrten, genügte das Gerücht von Kindesentführung, um chauvinistischen Mob, eben noch unmittelbar Zeuge des Genozids, unter den Augen der Miliz zu erneutem Judenmassaker aufzuwiegeln. In geringerem Ausmaß hatte sich ein ähnliches Szenario schon ein Jahr früher in ande­ren Orten wie z.B. Rzeszów, Lublin, Sosnowiec, Tarnów oder Krakau abgespielt. Dort diente ebenfalls die Ritualmordbeschuldigung als direkter Anlass für judenfeindliche Ausschreitungen. Gerade diese „Profanversion eines verbreiteten mittelalterlichen Aber­glaubens“ (Hannah Arendt) bestätigt erneut, dass in Polen der traditionelle Judenhass nicht vom modernen (politisierten) Antisemitismus zu trennen ist und dass mit dem Feindbild des „Gottesmordes“ die Vorgabe gemacht ist, an der sich andere Stereotype und Vorurteile gegen Juden orientieren.

Die Träger der Moderne: Der „Weltherrscher“

Die Säkularisierung des christlichen Judenbildes, die mit der zunehmenden Politisie­rung Hand in Hand geht, trat bereits am Ende des 18. Jhs. mit voller Kraft auf. In der Zeit der Aufklärung ging man nicht nur von der Möglichkeit der „Verbesserung“ der Juden aus, sondern auch von deren „Unverbesserlichkeit“. Die Gegner der jüdischen Assimilation und Emanzipation argumentierten mit religiösen Argumenten und er­ gänzten diese mit weiteren: Die Juden seien feig, niederträchtig, fremd, treulos, faul, rachgierig oder herrschsüchtig. Das sind nur einige Beispiele für die später durchgehend wiederholten Darstellungen eines angeblich stabilen, kollektiven jüdischen Charakters. Solche Abgrenzung erschien im Zuge der Judenemanzipation, als die rechtliche Gleich­stellung der Juden und ihre Homogensierung mit der Mehrheitsgesellschaft voran­schritten, besonders wichtig. Das Gros der Gesellschaft, insbesondere Institutionen wie die Kirche und bestimmte Berufsgruppen, etwa Kaufleute und die Landbevölkerung, stand der Emanzipation der Juden ablehnend gegenüber, da es in jeder Verbesserung der rechtlichen und sozialen Position eine weitere Stärkung des als übermächtig ange­sehenen Judentums sah. In der Diagnose eines „verdorbenen Nationalcharakters“ der Juden herrschte breiter Konsens. Im Zuge der Nationalisierungsprozesse diente die Konstruktion eines „jüdischen Nationalcharakters“ als Gegenbild zu dem positiv besetzten eigenen Nationalbewusstsein. Mit dem Bild einer jüdischen „Anti-Nation“ konnte die Zurückweisung einer angeblichen Beherrschung der eigenen Nation durch die Juden legitimiert werden. In diesem binären Denkschema gerieten die Juden auf die Seite des Negativen, wo sie als Kontrapunkt fungieren sollten gegenüber Deutschen, Polen oder anderen Nationalitäten, Christen und später sogenannten „Ariern“. Antisemitische Ste­reotype und Feindbilder offerierten hinzu ein Erklärungsmodell für die komplizierten und unüberschaubaren Entwicklungstendenzen des 19. Jhs. (Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie, Atheismus, Materialismus, Kosmopolitismus, Entsittlichung usw.) und suggerierten damit zugleich Lösungsmöglichkeiten für die wirtschaftliche, politische und kulturelle Krise der Gegenwart. Die Juden waren zum Symbol der modernen Welt geworden und der Antisemitismus zur Waffe, die die modernen Gefahren abzuwehren versprach. Alleine durch die Zerstörung und Vernichtung der Juden erhoffte man sich, die heile, nationale Welt wiederherstellen zu können.

Um den eigenen Antisemitismus als eine dringend notwendige Massenbewegung und -überzeugung zu begründen, wurde besonders intensiv auf die judenfeindlichen Stereo­type zurückgegriffen, die eine angebliche Übermacht und Herrschaftssucht der Juden postulierten. Die Globalisierung der sich vollziehenden Veränderungen und der damit zusammenhängenden Krisen erleichterte die Popularisierung der Meinung über die „jüdische Weltverschwörung“. Die Vorstellung von der jüdischen Weltherrschaft hatte schon in den früheren antijudaistischen Dokumenten ihren Niederschlag gefunden. Im Laufe des 19. Jhs. aber wurden die Juden zur Weltmacht erhoben. Die Flut der antise­mitischen Traktate, in denen die jüdische Weltherrschaft, häufig in Verbindung mit der Freimaurerei, behauptet wurde, nahm mehr und mehr zu. Besonders populär und folgenreich in Deutschland war der Roman Biarritz von Hermann Goedsche, den er unter dem Namen John Retcliffe 1868 herausbrachte. Der erste Band enthielt das Ka­pitel Auf dem Judenfriedhof in Prag, eine Schilderung, wie einmal im Jahrhundert zur Zeit des jüdischen Laubhüttenfestes je ein Vertreter der zwölf Stämme Israels sowie ein Repräsentant der Verstoßenen und Wandernden (Sichtwort: „der ewige Jude“) zusam­menkamen. Eine zentrale Stelle dieses Kapitels lautet:

„Wenn alles Gold der Erde unser ist, ist alle Macht unser. […] Das Gold ist das neue Jerusalem – es ist die Herrschaft der Welt. […] Achtzehn Jahrhunderte haben unseren Feinden gehört – das neue Jahrhundert gehört Israel. […] Darum dürfen wir glauben, dass die Zeit nahe ist, nach der wir streben, und dürfen sa­gen: unser ist die Zukunft!“ (Zit. nach Benz 2007, S. 34).

Bei ihrem nächtlichen Treffen nennen die Vertreter der Stämme Israels auch die Me­thoden, mit denen sie die Weltherrschaft erreichen wollen: Staatsverschuldung, Erwerb von Grundbesitz, Herabdrücken der Handwerker zu Industriearbeitern, Untergraben der christlichen Kirchen, Schwächung des Militärs, Stärkung jeder Art von Revolu­tion, Eroberung allen Handels, des öffentlichen Dienstes, der Kultur, Zerstörung der Moral. Mit dieser Aufzählung gelang es Goedsche, die großen Gegenwartsprobleme auf einen Nenner zu bringen und seinen Schauerroman zum Nukleus der modernen Verschwörungsmythologie zu erheben. Sicherlich war er dabei nicht der erste, der die Legende von der jüdischen Weltherrschaft in literarischer Form thematisiert hat. Breits 30 Jahre früher erschien in Paris Nie-Boska komedia von Zygmunt Krasiński, in der er die konvertierten und assimilierten Juden als revolutionäre Brandstifter aller Revolutio­nen darstellte. Religiöse Assimilation bedeutete nach Krasiński eine nicht hinnehmbare Entfaltung des Bürgertums, die eine Beeinträchtigung des Adels darstelle. Getauft und unauffällig versuchten die Neophyten in der Nie-Boska komedia die göttliche Ordnung zu revolutionieren, mit ihrem Hass das Christentum zu vergiften und die Welt zu be­herrschen. Ausgedrückt hatte es in dem Drama von Krasiński der frisch getaufte Um­stürzler „Przechrzta“:

„Noch ein paar Augenblicke, noch ein paar Tropfen des Schlangengifts und die Welt gehört uns, uns, o meine Brüder […]! Alle werden Brüder, die aus Talmud-seiten wie aus der Mutterbrust saugten […] und die über die Freiheit ohne Ord-nung, über die Schlächterei ohne Ende, über die bösartigen Streitigkeiten und über ihre [des Adels- A.P.] Dummheit und ihren Stolz die Macht Israels setzen“ (Krasiński 1974, S. 63f.).

Die Diffamierung des Talmuds zur Quelle der jüdischen Weltherrschaftsphantasien war ein gängiges Motiv in der Verschwörungsphobie, auch in dem zweifellos bedeutendsten Text dieser Gattung, in den Protokollen der Weisen von Zion, spielt es eine enorm wichti­ge Rolle. Populär wurden die Protokolle durch Sergej Nilius, einem am Zarenhof höchst einflussreichen mythischen Schriftsteller, der den seit einigen Jahren bekannten Text in einer ganz neuen Version 1905 in eines seiner Bücher aufnahm. Die 1917 durch ihn her­ausgegebene und erweiterte Fassung der Protokolle wurde in mehrere Sprachen übersetzt und findet bis heute, vor allem in der arabischen Welt, Verbreitung. Nach Deutschland kamen sie 1919, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, in der Zeit also, in der das Land in die große Nachkriegsnot gestürzt und durch die Folgen der militärischen Niederlage innerlich zerrissen war. Unter dem Titel Die Geheimnisse der Weisen von Zion erschienen die Protokolle auf Initiative von dem Publizisten Ludwig Müller von Hausen für den Verband gegen Überhebung des Judentums. Rasch erreichte ihre deutsche Fassung eine Auflage von mehr als 100.000 Exemplaren. Seit 1929 erschienen sie auch im Parteiver­lag der Nationalsozialisten und dienten als Vorlage für viele NS-Propagandaschriften. Die ersten Spuren der Protokolle in Polen findet man in dem Brief von den polnischen Bischöfen an die Episkopate der Welt, der im Juli 1920, also während des polnisch-sowjetischen Krieges, herausgegeben wurde. Darin konnte man nachlesen:

„Die Rasse, welche den Bolschewismus leitet, hat sich schon vorher die Welt mit­tels Goldes und Banken untertan gemacht, und heute, angetrieben von einem ewigen imperialistischen Verlangen, das in ihren Adern fließt, wendet sie sich direkt zur letzten Eroberungstat, um die Nationen unter das Joch ihres Regimes zu bringen“ (Zit. nach Drozdowski 1996, S. 71ff.).

Nach Norman Cohn verführte der „überall auf der Welt in Kirchen“ verlesene Brief „viele Katholiken, an den Mythos der jüdischen Weltverschwörung zu glauben. Und in Polen selbst kam zweifellos ein Teil der Verantwortung für die vielen Judenmorde auf sein Konto, die während der russischen Invasion begangen wurden“ (Cohn 1998, S. 170).  Bis 1945 sind mindestens 9 Auflagen der Protokolle in Polen erschienen; die erste von ihnen gab die antisemitische Organisation Rozwój heraus. Alle diese Ausgaben wurden mit entspre­chendem Kommentar versehen und halfen den antisemitischen Autoren aus der Vor­kriegszeit ihre These von der jüdischen Weltverschwörung zu bestätigen. Genannt seien an dieser Stelle nur Program światowej polityki żydowskiej von Pater Franciszek Trzeciak, Dziedzictwo von Roman Dmowski, Antychryst von Karol Hubert Rostworowski oder Zamach von Jędrzej Giertych. Auch wenn die Protokolle bereits 1921 in der Londoner Times als Fälschung entlarvt werden konnten, lassen sich die Anhänger dieser Theo­rie von der Weltverschwörung nicht beirren. Sie brauchen für ihr Weltverständnis das „Geheimnis“. Sowohl in Deutschland als auch in Polen tauchen in den antisemitischen Kreisen bis heute immer wieder neue Theorien darüber auf, wie die Juden angeblich die Welt beherrschen wollen. Ihr bevorzugtes Argument bleibt die althergebrachte Verbin­dung von Juden und Amerika, wonach die jüdisch-amerikanische Lobby sich verschwo­ren habe, um die arabische und christliche Welt der Vormacht Israels zu unterstellen.

Die Träger der Moderne: Der „Kapitalist“

Schwerpunkt aller antisemitischen Verschwörungstheorien bildet seit Jahrhunderten die Überzeugung vom „jüdischen Kapital“. Von Judas Ischariot, der für dreißig Silberlinge den Herrn verriet, über die Figur des Shylock bis zu den Rotschilds ist kaum ein Stereotyp in der Geschichte des christlichen Abendlandes derart virulent wie der des geldgierigen Juden. Mit der Zeit schlug sich diese Denkfigur in Begriffen wie die „goldene Internationale“, das „raffende Kapital“ oder schlicht der „Wucherjude“ und „Schacher“ nieder. Die ökonomische Spezialisierung der Juden im mittelalterlichen Eu­ropa auf Geldverleih, was den Christen durch das kirchliche Zinsverbot verschlossen war, liegt zugrunde dieser Verschwörungslegende. Die Identifizierung der Juden mit der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung entwickelte sich seit der Mitte des 19. Jhs. zu den dominierenden Stereotypen des säkularisierten modernen Antisemitismus. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch soziale Verwerfungen und ökonomische Umwälzungen der Industrialisierung, verbunden mit der Monetarisierung des Alltagslebens. Der Bank- und Börsenzusammenbruch von 1873 trübte die optimisti­schen Zukunftsaussichten und den Glauben an die freie Marktwirtschaft. Nun grif­fen antisemitische Einstellungen um sich, insbesondere unter Handwerkmeistern, der bäuerlichen Bevölkerung und Teilen des alten Adels und Stadtbürgertums, die von den sozioökonomischen Umwälzungen am stärksten betroffen waren. Juden waren für sie nicht nur Vertreter des Kapitals, sondern Personifikationen der unfassbaren und zerstörerischen Macht des Kapitals. Der soziale Aufstieg einiger Juden in Bereichen des Handels, einiger Industriebranchen und der Geldwirtschaft bestätigte den tradierten Stereotyp und wurde auch als politisches Mittel instrumentalisiert. Die gegen die Ju­den gerichtete antikapitalistische Argumentation tauchte ebenso in den sozialistischen wie in der konservativen und nationalistischen Propaganda auf. Die Haltung von Karl Marx zur „Judenfrage“ hat dazu beigetragen, judenfeindliche Vorurteile innerhalb der Arbeiterbewegungen zu bewahren und den Juden mit dem kapitalistischen Ausbeuter gleichzusetzen. Gemeinsam war diesen politischen Richtungen die Ablehnung der libe­ralen freien Konkurrenz als Ursache der Verunsicherung und des sinkenden Einkom­mens breiter Bevölkerungsschichten. Die alternativ postulierten Systeme waren eben der Sozialismus oder, wie es im Fall der konservativ-nationalistischen Gruppierung hieß, das „schaffende Kapital“. Die Zeitschrift, die Judenfeindlichkeit und den Stereotyp vom „jüdischen Kapitalisten“ in Deutschland gesellschaftsfähig machte, war die Gartenlaube mit einer Auflagehöhe von etwa 400.000 Exemplaren im Jahre 1875. In einem ihrer Artikel brachte sie die antisemitische Kapitalismuskritik auf den Punkt, als sie schrieb: „Die ganze Weltgeschichte kennt kein zweites Beispiel, das ein heimatloses Volk, eine physisch wie psychisch entschieden degenerierte Rasse bloß durch List und Schlauheit durch Wucher und Schacher über den Erdkreis gebietet“ (Zit. nach Pross 1983, S. 259).

Auch in den polnischen Zeitschriften fehlte es nicht an ähnlichen Formulierungen. Die Vorreiterrolle in derartiger antisemitischer Propaganda spielte das 1883 von Jan Jeleński gegründete Wochenblatt Rola, das sich auf Aufrufe zum Kampf gegen die jüdische Kon­kurrenz in der Wirtschaft spezialisierte. In ihrem in der ersten Nummer abgedruckten und dreißig Jahre durchgehaltenen Programm machte sich die Zeitschrift zur Hauptaufgabe „auf dem weiten Feld der wirtschaftlichen Aktivitäten“ die Säuberung von „fremden Elementen“ zu erreichen (Zit. nach Cała 1985, S. 358f.). Der wirtschaftliche Antisemitismus wuchs sich seit dem Ende des 19. Jhs. zu einer feststehenden Größe aus und fand Niederschlag nicht nur in der politischen Propaganda und antisemitischen Presseartikeln, sondern auch in den unzähligen Sachbüchern und literarischen Werken. Die Figuren des jüdischen Ka­pitalisten im populären Roman Soll und Haben von Gustav Freytag oder in dem Drama Aktien von Otto Glagau unterscheiden sich semantisch kaum von ihren polnischen Pen­dants in Nasza szkapa von Maria Konopnicka, W żydowskich rękach von Michał Błucki oder Placówka von Bolesław Prus. Der Stereotyp des „Geldjuden“ spielte schließlich eine zentrale Rolle im Weltbild rechtsextremer und nationalistischer Gruppierungen und ihrer Anhängerschaft. Durch die Unterscheidung zwischen dem „schaffenden“ Ka­pital in „arischem“ bzw. „polnisch-nationalem“ Besitz und dem „raffenden“ jüdischen Finanzkapital konnten die Antisemiten in Polen und Deutschland sich „antikapitalis­tisch“ gebären und gleichzeitig die Unterstützung kapitalstarker und einflussreicher Un­ternehmerverbände genießen. Der Kampf gegen die „jüdischen“ Warenhäuser und das „jüdische Finanzkapital“ gehörte zum Parteiprogramm der antisemitischen Parteien in den beiden Ländern. Nach 1945 ist dieser Vorwurf keinesfalls verschwunden. Während sich in Deutschland die antisemitische Kapitalismuskritik vorwiegend gegen die „golde­ne Internationale“ und die „jüdische Weltbank“ richtet, kommt der Stereotyp des „geld­gierigen Juden“ in Polen zumeist in Gestalt eines Ausbeuters wieder, der aus Amerika oder Israel zurückkehrt, um seine Restitutionsansprüche auf Kosten der Ärmsten und mithilfe seiner Verbündeten in der polnischen Politik durchzusetzen.

Die Träger der Moderne: Der „Ostjude“

Die Explosion der Marktwirtschaft und die Industrialisierung im 19. Jh. sind in den bei­den Ländern allerdings nicht identisch verlaufen. Die sozioökonomischen Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung zwischen Deutschland und Polen hatten auch einen Einfluss auf die länderspezifische Präsenz von bestimmten antisemitischen Feind­bildern. Das beste Beispiel dafür liefert der Stereotyp des „Ostjuden“, das in Deutsch­land völlig andere Abkunft und Konnotation erfahren hatte als die polnischen Vorur­teile gegen die „Schtetl-Juden“ oder „Litwaki“. Der Begriff „Ostjude“ ist erst seit der Wende zum 20. Jh. verbreitet und wurde von dem österreichisch-jüdischen Schriftsteller und Aktivisten Nathan Birnbaum erstmals gebraucht. Bis dahin nannte man die durch die Pogrombewegung im zaristischen Russland seit den 1880er Jahren in größe­rem Umfang nach Deutschland einwandernden osteuropäischen Juden einfach „Aus­länder“ oder genauer „russische“, „polnische“ oder „galizische Juden“, aber auch „Pollacken“ oder „Schnorrer“. Der zusammenfassende Oberbegriff „Ostjude“ setzte sich erst im Ersten Weltkrieg im Zusammenhang mit der deutschen Okkupation Polens durch, vor allem auch in Verbindung mit „Ostjudengefahr“ und „Ostjudenfrage“. Doch lange bevor es einen eindeutigen Begriff für die Juden aus Osteuropa gab, existierten schon dezidierte, antisemitische Vorurteile gerade dieser Gruppe von Einwanderern gegenüber. Es entwickelte sich früh ein Stereotyp, der noch nicht auf den Begriff gebracht war. Heinrich von Treitschke, der mit seiner Parole „Die Juden sind unser Unglück“ das Sig­nal für den modernen rassisch begründeten Antisemitismus in Deutschland gab, sprach 1879 von den „hosenverkaufenden Jünglingen“, die aus dem russischen Teilungsgebiet Polens ins Deutsche Reich einwanderten. Die Ressentiments gegenüber den „Ostjuden“ und ihrer Migration steigerten sich zu Invasionsszenarien, in denen Deutschland von jüdischen Einwanderern aus dem Osten „überflutet“ wurde. Sie galten im Allgemeinen als schmutzig, laut, roh, unsittlich, kulturell rückständig, faul, körperlich degeneriert und krank. Dieses Feindbild des „Ostjuden“ wurde häufig als das Gegenbild des „mo­dernen“, emanzipierten und akkulturierten deutschen Juden betrachtet und das nicht nur durch die Antisemiten. Auch das Verhältnis der deutschen Juden gegenüber ihren Glaubensgenossen aus dem Osten war zunächst durch starke Abneigung geprägt. Bis sie in den osteuropäischen Juden zunehmend das ursprüngliche authentische Judentum erblickten, galten die „Ostjuden“ für sie als Widersacher der von ihnen angestrebten Emanzipation und Assimilation. Den Antisemiten dienten die „Ostjuden“ dagegen als eine Art Katalysator. An ihrer Existenz wurden in der Weimarer Republik die Welt­kriegsniederlage, wirtschaftliche Depression, politische Krisen oder sogar die revoluti­onäre Gefahr in Form vom „jüdischen Bolschewismus“ festgemacht und damit zusam­menhängende Fragen ventiliert. In den antisemitischen Hetzkampagnen, den sich zum Teil auch die staatlichen Organe anschlossen, wurden die „Ostjuden“ gleichzeitig auch als eine homogene Gruppe betrachtet und mit unveränderlichen negativen Eigenschaf­ten behaftet, die sich in Kriminalität, kultureller und biologisch-körperlicher Rückstän­digkeit äußerten. So gesehen tritt in dem Stereotyp des „Ostjuden“ sehr deutlich die rassische Komponente des deutschen Antisemitismus zutage.

Auch in Polen fehlte es nicht an den jüdischen Einwanderern aus dem Osten. Am Ende des 19. Jhs. drängte besonders nach Warschau eine große Anzahl Russisch sprechender Juden. Ausgewiesen aus den Gebieten außerhalb des Ansiedlungsrayons kamen die soge­nannten „Litwaki“ über Litauen nach Kongresspolen. Nach Berechnungen von Kaplun- Kogan waren es ca. eine Viertelmillion. Anhand ihres Dialekts, ihrer Kultur und ihrer russisch orientierten Assimilierung (sofern sie sich assimilierten) wurden die jüdischen Zuwanderer von den Polen als „russisch“ erkannt und für Werkzeuge zaristischer Int­rigen gehalten. Das verstärkte den Verdacht, die Juden hätten die Russifizierung und gänzliche Unterwerfung Polens zum Ziel, obwohl die neu zugezogenen Juden de facto eher in Konkurrenz zu polnischen Juden standen. Im Gegensatz zu dem stark rassistisch orientierten Antisemitismus in Deutschland, der gegenüber den „Ostjuden“ besonders stark ausgeprägt war, wies die polnische Judenfeindschaft gegenüber den Auswanderen aus Russland kaum rassistische Konnotationen auf. Sie galten vor allem als Handlanger der Teilungsmacht und verstärkten den bereits fest etablierten Vorwurf, die Juden wür­den sich immer mit den Feinden Polens verbrüdern. Was nicht bedeutet, dass der pol­nische Antisemitismus frei von Stereotypen ist, die die Juden als Schnorrer, religiöse Fa­natiker, schmutzig, schlecht riechend, zudem kulturell unterentwickelt oder körperlich verkümmert beschreiben. Diese auf Abgrenzung, Verdrängung und Ausschluss zielen­den Vorurteile bezogen sich allerdings weniger auf die zugewanderten als vielmehr auf die einheimischen Juden aus den jüdischen Vierteln. Die nichtassimilierte Mehrheit des polnischen Judentums, die ihrer kulturellen und religiösen Tradition treu blieb, war sehr häufig Zielscheibe von antisemitischen Schmähungen. Für breite Bevölkerungsschich­ten stellte sie ein öffentliches Ärgernis dar, eine ständige Provokation, die sich nach und nach zu einer „Gefahr“ entwickelte. Die Pläne der Auswanderung von Teilen des polni­schen Judentums nach Madagaskar waren in den 30er Jahren des 20. Jhs. genauso von den Antisemiten wie von der polnischen Regierung forciert, womit sie in einigen Punk­ ten an die nationalsozialistische Judenfeindlichkeit in Deutschland anknüpften. Im öf­fentlichen Diskurs, vor allem in der Massenkultur, wurden die polnischen und an ihrer Tradition festhaltenden Juden häufig zum Objekt des Spotts und der Schmähung. Ein tollpatschiger, ungeschickter und mit starkem jiddischem Dialekt sprechender chassidi­scher Jude wurde zum Thema von mehreren Pamphleten, Theaterstücken, Vaudevilles oder Cabarets. Nicht immer hatten diese humoristischen Darstellungen einen direkten antisemitischen Charakter, zumal sie häufig von Juden selbst verfasst oder positiv aufge­nommen wurden. Dennoch bestätigten sie durch ihren bis ins Lächerliche ausartenden Ton die stereotypen antisemitischen Bilder und trugen wesentlich zur Diffamierung der polnischen Juden als eine fremde und sich von der Mehrheit der Gesellschaft un­terscheidende Gruppe bei. Bedauerlicherweise haben aber gerade diese lächerlichen und stereotyp besetzten Judenbilder die Shoah überlebt. Die Figur eines in Kaftan und Jar­mulke angezogenen Juden aus dem Schtetl dominiert bis heute die polnische Erinnerung an das Judentum; nicht nur in Form von geldbringenden „Judenfigürchen“, die bei den Straßenhändlern und in jedem Geschäft mit der Volkskunst zu kaufen sind, sondern auch durch die Wiederbelebung der jahrzehntelang ins Vergessen geratenen Judenviertel in den Städten wie z. B. „Kazimierz“ in Kraków. In zahlreichen Restaurants servieren bei Klezmermusik die für orthodoxe Juden verkleideten Kellner koschere Gerichte, es finden zahlreiche Lesungen über die jüdischen Bräuche und Traditionen statt, die mehr oder weniger professionellen Theatergruppe führen ununterbrochen Stücke von jiddi­schen Autoren auf. Gegen derartige „Wiederentdeckung des Judentums“ wäre auf den ersten Blick nichts einzuwenden, solange die Erinnerung an die polnischen Juden nicht alleine auf dieses Versatzstück der gemeinsamen Vergangenheit reduziert wird. In Polen scheint aber heutzutage eine Erinnerungstendenz zu herrschen, die darauf zielt, das heterogene polnische Judentum als eine homogene, exotische Märchenwelt zu präsentieren, um sie dann aus der polnischen Geschichte zu isolieren oder als Beleg für die friedliche Koexistenz der beiden Volksgruppen zu instrumentalisieren. Dass die Juden ein fester Bestandteil der polnischen Gesellschaft waren und sich häufig als Polen begriffen, wird dabei genauso unterschlagen, wie die Tatsache, dass die heute so idealisierte und verklärte „jüdische Welt“ zu keinem Zeitpunkt ein unbeschwertes Dasein führte und stets Anfeindungen und Verfolgungen seitens ihrer nichtjüdischen Nachbarschaft ausgesetzt war.

Die Träger der Moderne: Der „jüdische Körper“

Zum entscheidenden Grundzug der antisemitischen Darstellung von den „Ostjuden“ in Deutschland oder nichtassimilierten Juden in Polen gehörte die Pervertierung des jüdischen Körpers. Das Konzept eines spezifisch jüdischen Körpers gewann mit dem Übergang von christlich geprägtem Antijudaismus zum rassistischen Antisemitismus an Bedeutung. Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden, die bis dorthin religiös begründet waren, wurden nunmehr vornehmlich im Körper lokalisiert und zumeist als auch unwandelbar dargestellt. Seit dem Beginn der Anthropologie im 18. Jh. verstärkte sich der Drang nach der körperlichen Ausdifferenzierung der Juden. Eine der ersten anthropologischen Klassifizierungen der Juden stammt vom deutschen Zoologen Johann Friedrich Blumenbach, der behauptete, die Juden seien an der Schädelform erkennbar.

Als weitere „typisch jüdische“ Merkmale galten die Lippen, die Augen bzw. ein eigen­artiger Blick, Plattfüße, die O-Beine und damit verbunden ein besonderer, hinkender Gang oder auch eine geringe Körpergröße. Doch keines dieser Merkmale erreichte so eine große Popularität in der antisemitischen Propaganda wie die jüdische Nase. Bis heute lässt die jüdische Nase das jüdische Gesicht in der Diaspora sichtbar machen. Schon früh wurde die jüdische Nase als afrikanische Nase gesehen und als Verbindung zwischen den Afrikanern und den Juden betrachtet, nicht aufgrund einer offenkundi­gen Ähnlichkeit in der stereotypen Darstellung der beiden idealisierten Nasenformen, sondern weil diese Eigenschaften als Rassenmerkmale betrachtet wurden und als solche ebenso das den Juden bzw. Afrikanern zugeschriebene innere Leben wie ihre Physio­nomie widerspiegeln sollten. Die angeblichen jüdischen Körpereigenheiten dienten zur Unterscheidung von Nichtjuden und wurden gleichzeitig mit bestimmten physiognomi­schen Funktionen und medizinischen Verfassungen gebracht. Die Nase sollte beispiels­weise die Ursache für eine eigenartige Sprechweise der Juden sein, der hinkende Gang wiederum konnte durch Diabetes und Nervenkrankheit hervorgerufen werden und der angeblich durchdringende Blick der Juden wurde als Signifikat für die verkommene mo­ralische Gesinnung betrachtet. Der antisemitischen Diffamierung des jüdischen Körpers in Polen kam die im ausgehenden 19. Jh. populäre Positivismus-Bewegung entgegen, die Nation als Abbild eines einheitlichen Organismus begriff. In diesem Zusammenhang verstärkte sich die Phobie vor einer Infizierung mit „jüdischen Fremdkörpern“. Sowohl assimilierte als isoliert in den Ghettos lebende Juden galten generell als unerwünscht, wurden als Verbreiter von Seuchen und als „Parasitenbrut, die seit sechs Jahrhunderten auf unserer Haut lebt und unseren Schweiß und unser Blut aussaugt“, zu „Kratzern“ (parchy). Der jüdische Körper galt als anders und krank. Unzählige Bücher, Pressear­tikel und Broschüren beinhalteten antisemitische Karikaturen, die ein verzerrtes Bild des jüdischen Körpers popularisierten. In einem engen Zusammenhang mit der Vor­stellung einer spezifischen jüdischen Krankheitsneigung stand das verbreitete Vorurteil des verweiblichten Juden. Als Indikatoren für diese Verweiblichung galten ein geringer Brustumfang oder das intermittierende Hinken. Häufig wurden sie als Argument ge­nutzt, um die Militärtauglichkeit der Juden in Frage zu stellen. Andererseits fehlte es in der antisemitischen Propaganda nicht an Bildern, die jüdische Sexualität als Pervers anprangerten. Der jüdische „Fremdkörper“ wurde zum „Rassenschänder“ erhoben, der die Reinheit der germanischen Rasse oder der polnischen Nation bedroht. Der Jude wird beschuldigt, sich am arischen oder christlichen „Volkskörper“ zu vergehen, indem er mit der Frau in Sexualbeziehungen tritt. Er wird als Verführer, als Vergewaltiger und Mädchenhändler beschrieben, weil sich in diesen Stereotypen das Bild von der „Rassen­schande“ oder von der missbrauchten Polonia bzw. Respublika deutlich wiederfindet. Diese Gefahr des jüdischen „Fremdkörpers“ entwickelte sich im Laufe des 19. Jhs. zum Hauptparadigma des Rassenantisemitismus in Deutschland, der die Geschichte der Ju­den und die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften aus ihrer „Rasse“ heraus erklärte und den Juden damit ein spezifisches, rassistisch bedingtes Verhalten zugrunde legte. Der biologische Determinismus der antisemitischen Rassentheorien erklärt jede religiöse Konversion und gesellschaftliche Assimilation der Juden von vornherein als unmög­lich und apostrophiert eine „blutsbedingte“ Minderwertigkeit des Jüdischen durch seine nicht zu ändernde Rassenzugehörigkeit. Die deutschen Rassenantisemiten forderten da­her die Erhaltung und Pflege der „arischen Rasse“, die durch strenge Ehegesetzgebung, einem in der Gesellschaft verankerten Arierparagraphen und Zuchtprojekte gewähr­leistet werden sollten. Mit Hilfe eines alle Lebens- und Gesellschaftsbereiche durch­dringenden Programms zur Rassenerneuerung sollte ein Rassestaat erreicht werden und ein gesunder, starker, „neuer Mensch“ entstehen, frei von allen Merkmalen und Eigen­schaften, die mit Judentum und jüdischem Körper in Verbindung gebracht wurden. Unterstützt durch Eugenik und pseudowissenschaftliche Rassentheorien führte dieser Anspruch im Nationalsozialismus zur Massenvernichtung der Juden.

Trotz vieler Überschneidungen weisen die Instrumentalisierung und Konstruktion des jüdischen Körpers in der antisemitischen Propaganda in Polen und NS-Deutschland einige Unterschiede auf. Zwar fanden die Nürnberger Gesetze in Polen der 30er Jahre ein positives Echo und wurden zur Nachahmung empfohlen. In Städten wie Kielce kam es sogar zu Versuchen, über Juden „Rassengesetzte“ zu verhängen. Dennoch trug der polnische Antisemitismus – abgesehen von den Standpunkten extremer rechter Krei­se – mehrheitlich wenig rassistischeliminatorische Züge. Es war die Kirche und die ka­tholisch-nationalen Gruppierungen, die sich in gewissem Maße von der „Materialität“ des Rassismus in NS-Deutschland distanzierten. Nachvollziehbar wird das bei Jędrzej Giertych, einem führenden Theoretiker des Nationalen Lagers und Vorstandsmitglied der Endecja, der in seiner Schrift Wyjście z kryzysu die Nähe der nationalsozialistischen Bewegung zum polnischen Nationalismus unterstrich und gleichzeitig betonte, dass das nationalsozialistische „neuheidnische und materialistisch-rassische“ Religionsverständ­nis die Nazis in eine gefährliche Richtung treibe und zum „moralischen Zerfall“ der Na­tion führe; es könne sogar der Grund einer künftigen Schwächung Hitlers sein. Sollten sich die Deutschen ein Beispiel an Polen nehmen, verständen sie, dass die Nation durch eine seelische und nicht durch eine biologische Verbindung charakterisiert ist. Den Be­griff „jüdische Rasse“ benutzten die Polen bloß „wegen des Fehlens eines besseren“; er beziehe sich nicht auf die Hautfarbe, den Bau des Schädels oder des Skeletts und schon gar nicht auf die Nasenform (Zit. nach Kotowski 2000, S. 229–245). Man sieht: Der nationalsozialistische Judenhass schien der katholischen Rechten nicht tiefsinnig genug, er war ihr zu materialistisch und zu we­nig geistig. Die Distanzierung vom biologistischen Programm der Nationalsozialisten kann aber keineswegs zur Entschuldigung oder Relativierung der Judenfeindschaft bei den katholischen und nationalistischen Gruppen herangezogen werden. Sie erklärt lediglich, weshalb der Antisemitismus in Polen kein rassenideologisches Staatsziel gewor­den ist und warum die stereotyp-rassistischen Darstellungen des jüdischen Körpers in Polen häufig anders begründet waren als die in Deutschland. Was nicht bedeutet, dass der Rassismus bis heute keine Rolle im polnischen Antisemitismus spielt. Gerade, weil Polen ein Land geworden ist, in dem kaum noch Juden leben, bzw. kaum Juden, die der klischeehaften Vorstellung von dem orthodoxen Judentum entsprechen, genießen die rassistischen Stereotypen starke Popularität. Auf der Suche nach den „Juden“ in allen Lebensbereichen, allen voran in den Medien, werden rassistische Karikaturen und Schriften veröffentlicht, die sich alttradierter rassisch orientierter Metaphorik be­dienend die bekannten Persönlichkeiten als „Juden“ entlarven. In den rechtsnationalen und rechtsnationalistischen Presseorganen fehlt es jedenfalls nicht an Porträts von pol­nischen Politikern, Künstlern oder Journalisten mit der jüdischen Nase.

Die Träger der Moderne: Die „schöne Jüdin“

Die judenfeindlichen Stereotype vom jüdischen Körper beziehen sich natürlich nicht nur auf die Männer. Zum Topos der antisemitischen Überzeugungen gehören auch die jüdischen Frauen. Ihre Funktion war jedoch selten eigenständig, sondern Teil der Dar­stellung des jüdischen Mannes, denn über eine negative Darstellung der Frau konnten die männlichen Repräsentanten der jüdischen Gemeinden diffamiert werden. Galt doch seit alters her der Mann, der seine Frau oder Tochter nicht im Zaum hielt, als verach­tenswerter Schwächling, der seinen von Gott bestimmten Pflichten nicht genügte und die (männliche) Ordnung der Welt auflöste. Auch wenn die jüdischen Frauenbilder, sei es in der Literatur, Film oder Publizistik, positiv konnotiert zu sein schienen, z.B. in Gestalt der „schönen Jüdin“, blieben sie durch ihr Aussehen, Verhalten oder Charaktereigenschaften immer anders als die christlichen Frauen. Dieser Vor- und Darstellung der jüdischen Frauen liegen im Kern christliche Sündenmetaphern zugrunde: die weibliche Umkehr der Geschlechtsrollen, d. h. das Erstreben der männlichen, überlegenen Rolle durch die Frau, die sexuelle Hemmungslosigkeit, die traditionell besonders Frauen zu­geschrieben wurde und für sie den Verlust ihrer Ehre zur Folge hatte, und die Geldgier. In Abgrenzung zu weiblichen Emanzipationsbestrebungen im Laufe des 19. Jhs. wurden die jüdischen Frauen immer stärker zu einem Mannweib, also zu einem Negativstereo­typ und Gegenbild von einer weiblich unterwürfigen, christlichen Frau. Schon 1877 vermutete der Berliner Hofprediger und Politiker Adolf Stoecker in deutschen Jüdin­nen einen wirtschaftlich selbständigen alttestamentarischen Frauentyp, der sich zum Ziel setzt, durch atheistisch-jüdische Einflüsse die traditionellen „deutschen Werte“ zu zerstören. Dass Antisemitismus nicht nur mit Sexismus, sondern auch mit politischem Antifeminismus in Deutschland verbunden wurde, formulierte am deutlichsten Hitler, als er behauptete, das „Wort Frauenemanzipation“ sei ein „vom jüdischen Intellekt erfundenes Wort“ (Zit. nach Jakubowski 1995, S. 207). Diese Verbindung von antisemitischen und antiemanzipatorischen Stereotypen trat in Polen dagegen kaum auf, was mit der durchgehenden Dominanz des patriarchalischen Modells in der polnischen Gesellschaft und relativ schwachen Präsenz der Frauen im politischen Geschehen zusammenhing. Vor allem aus diesem Grund entwickelte sich in Polen viel stärker der Stereotyp der „schönen Jüdin“, bzw. der „orientalischen Verführerin“. Sie galt als Gegenpart zum Vorurteil des „hässlichen, krummnasigen Juden“ und war in der Literatur, auf der Bühne und in der Bilden­den Kunst weit verbreitet. Wie sehr dieser Stereotyp in Polen verankert war, zeugt der Schlachtruf der Antisemiten aus der Vorkriegszeit: Die Juden ab nach Palästina, die Jüdinnen bleiben bei uns! Die Vorstellung von der „schönen Jüdin“ war allerding kein politisches Argument und wurde sowohl in Deutschland als auch in Polen vor allem durch die Literatur popularisiert. Genannt seien an dieser Stelle solche Frauengestalten wie Sara aus Faraon von Bolesław Prus, Mirtala aus dem gleichnamigen Roman von Eliza Orzeszkowa, Irma aus Gabriela Zapolskas Romanskizze Antysemitnik, Lucy Zuker aus Reymonts Ziemia obiecana, Rachel aus Hochzeit von Wyspiański oder Kazia aus Iwaszkiwiczs Roman Pasje błędomierskie. Die Bearbeitungsbeispiele dieses Motivs in der deutschsprachigen Literatur sind die Dramen Judith von Friedrich Hebbel, Die Jüdin von Toledo von Franz Grillparzer, Gabriel Schilling von Gerhart Hauptmann oder die Novelle Jud Süß von Wilhelm Hauff sowie der Roman Judith Finsterwalderin von Peter Dörfler. Obwohl sich die jüdischen Frauenfiguren in allen diesen literarischen Werken stark voneinander unterscheiden und in verschiedenen Kontexten auftreten, lässt sich ihre Vielfalt durchaus unter den Stereotyp der „schönen Jüdin“ subsumieren. Fast alle von ihnen sind jung, haben lange dunkle oder rote Haare und werden häufig zum Op­fer der Gewalt. Sie strahlen auf Männer eine große erotische Anziehungskraft aus und stellen für den nichtjüdischen Mann eine große Versuchung dar, seine gute Reputation zu verlieren. Es sind hauptsächlich ihre physischen Reize und ihre Schutzbedürftigkeit, die den christlichen Mann jeweils von einer zielstrebigen Verfolgung seines vorbestimm­ten Weges abhalten. Als Verkörperung von Irrationalität ohne Geist, Erinnerung und Gewissen stellen sie eine enorme Gefahr für seine sittliche Existenz und Zukunft dar, auch wenn sie persönlich gutmütig erscheinen. Doch meistens findet sich für ihn eine nichtjüdische Frau, deren Schönheit zwar nicht so atemberaubend sein mag, die dafür aber eine umso verlässlichere Gefährtin auf dem rechten Lebensweg ist. So bleiben die „schönen Jüdinnen“ mit ihrer Schönheit oder unausgelebten sexuellen Lust häufig allein und im Sinne der christlichen Majorität unerlöst. So oszilliert die „schöne Jüdin“ auf unterschiedlichen historischen Hintergründen zwischen Opfer- und Täteringestalt, als Heldin oder Verführerin. Diese stereotype Schönheit und verführerische Kraft der jüdi­schen Frau wurden durch die Antisemiten aber ins Negative verkehrt, da sich mit ihrer Gestalt für die Judenfeinde Gefahr verband, und so haben sie Weisheit und Klugheit als bösartige List und Tücke ausgelegt. Auf diese Weise wurde den jüdischen Frauen eine eingeborene bzw. seit Generationen geerbte Gefährlichkeit im Sinne vom femme fatale unterstellt, die darauf ausgerichtet ist, den christlichen Mann in den Abgrund zu stürzen. Gerne wurde dabei auf die biblischen Frauenfiguren wie Salome, Rachel oder Esther zurückgegriffen, die die konstruierte Verbindung von opferbereiter Heldin und gefährlicher Verführerin am besten wiederspiegeln. Sehr wohl bleiben nicht nur die antisemitischen oder christlichen Autoren für die Popularisierung des Stereotyps von der „schönen Jüdin“ verantwortlich. Seit Jahrhunderten wird es auch durch die jüdisch-polnischen oder jüdisch-deutschen Autoren und Autorinnen perpetuiert. Wobei gleich zu ergänzen ist, dass das jüdische Eigenbild der Jüdin aus vielfältigeren Komponenten besteht und die körperliche Schönheit nicht in Vordergrund stellt. Das Ideal einer jüdi­schen Frau bedeutet, eine tugendhafte Hüterin des Hauses und der Familie, der zusätzli­che Attribute wie fromm, keusch, gütig, tüchtig, gerecht, arbeitsam, mildtätig, eine gute Mutter (jiddische Mame), treue Ehefrau, fürsorgliche Tochter zugesprochen werden. Bei den nichtjüdischen Autoren oder Künstlern aus Polen und Deutschland sind solche Zuschreibungen bis heute eine Rarität. In den Büchern von Martin Walser oder Andrzej Szczypiorski sowie in den Filmen von Andrzej Wajda, um nur prominente Beispiele zu nennen, dominiert nach wie vor ein klischeehaftes Bild einer verführerischen Jüdin, die vielleicht nicht allezeit schön ist, dafür aber immer anders und fremd.

Die Täter-Opfer-Umkehr: „Żydo-komuna“

Mit dem Topos „żydo-komuna“ wird unterstellt, die Juden würden den Kommunismus (und heute die Postkommunisten) instrumentalisieren, um mit ihrer Hilfe die Weltherr­schaft zu errichten. Er verbindet Antisemitismus und die in Polen durch die Teilungszeit geprägte Russlandfeindlichkeit mit Antisowjetismus und Antikommunismus. Mit seiner Hilfe können die sowjetische Besetzung Polens während des Zweiten Weltkrieges, das kommunistische System der Nachkriegszeit und die Regierungsperiode der Postkom­munisten als Kontinuität dargestellt werden. Darüber hinaus wird eine polenfeindliche Bedrohung namhaft gemacht, die in Gestalt des „allmächtigen Juden“ versucht, die pol­nische Nation von innen her zu zersetzen. So gesehen zeugt die Präsenz dieses Stereotyps mehr von vorhandener Judenfeindschaft als von Antikommunismus oder Antisowjetis­mus, denn der grundlegende Gedanke ist die kollektive Schuldzuweisung, Juden seien nichts anderes als eine „umstürzlerische Kraft“. Man kann das als moderne Fortentwick­lung und geschichtsmächtig gewordene Variante der Verschwörungsthese vom Juden als Inbegriff des Bösen schlechthin verstehen. Die Ursprünge dieses Stereotyps reichen bis in die polnische Teilungszeit, als nicht nur die Teilungsmächte, sondern auch die in Polen lebende jüdische Bevölkerung als der nationalen Wiederentstehung Polens feind­lich gegenüberstehende Akteure identifiziert wurden. Dies führte zunehmend zu einer vermuteten Zusammenarbeit zwischen den „Gegnern Polens“ und zur Festigung des Vorwurfs des „jüdischen Verrats“ an polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen. Nach der Oktoberrevolution 1917 wurde dieses bereits tief verankerte Bild um die Vorstellung von den Juden als Träger des Kommunismus erweitert. Ziel der Unabhängigkeitsbewe­gung war ein ethnisch-homogenes und national-katholisches Polen, das als unvereinbar mit der Existenz einer kommunistischen Bewegung sowie einer jüdischen Minderheit gesehen wurde. In dem antisemitischen Diskurs der Zwischenkriegszeit blieb der Stereo­typ der „żydo-komuna“ bzw. des „jüdischen Bolschewismus“ ständig präsent. Er verfes­tigte sich zu einem Feindbild, das sich ablehnend auf Personen und Menschengruppen wie auf politische Sachverhalte und historische Prozesse bezog. Im Zweiten Weltkrieg verschärfte sich die gängige Überzeugung einer jüdischen Kollaboration mit der sow­jetischen Besatzungsmacht im östlichen Polen. Hintergrund war, dass viele Juden in den sowjetisch besetzten Gebieten Hoffnungen in mehr gesellschaftliche Partizipation unter den neuen Machthabern setzten, die ihnen Anerkennung und Gleichberechtigung versprachen. Die Fälle von jüdischer Zusammenarbeit mit den Sowjets, die sich mühe­los in das vorhandene Denkschema der „żydo-komuna“ einpassen ließen, wurden zum Mythos des kollektiven Verrats der Juden an Polen überhöht und dienen bis heute zur Entschuldigung für antisemitische Ausschreitungen der polnischen Seite oder auch ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem jüdischen Schicksal während des Zweiten Weltkrieges. Die kollektive Verurteilung der Juden als „Handlanger Moskaus“ half den Antisemiten sich als unvergleichliche Opfer, als glühende Antikommunisten, heldenhafte Wider­ständler, aufrichtige Patrioten und der Sache treuer als andere ergebene Soldaten zu füh­len. Zu den Schattenseiten dieser antisemitischen Selbststilisierung gehörte schließlich, dass es den Besatzern oft leicht gemacht wurde, jüdische Mitbürger zu liquidieren. Nach dem Krieg wurden die Juden in den Augen der nichtjüdischen Bevölkerung zu Symbo­len des als fremd und aufgezwungen empfundenen sozialistischen Systems. Mit dem Feindbild der „żydo-komuna“ wurde der antikommunistische Widerstand mobilisiert und der unerschütterliche Antisemitismus moralisch legitimiert, unter dem jüdische Überlebende in den ersten Nachkriegsjahren zu leiden hatten. Erneut stempelte man die Juden zum nationalen Gegenspieler einer nichtjüdischen Wir-Gruppe und das galt nicht nur für Antikommunisten. Spätestens mit der um 1948 erfolgten Etablierung der kommunistischen Partei als der allein herrschenden Macht in Nachkriegspolen sahen auch Anhänger der neuen Macht in der Chimäre „żydo-komuna“ ein nützliches Feind­bild. Es ließ sich ohne große Schwierigkeiten, unter leicht veränderten Bezeichnungen, als Folge innerparteilicher Konflikte im eigenen Interesse instrumentalisieren. Leicht zu manipulieren war die vertraute Argumentation in Anbetracht des Engagements etlicher Juden im Parteiapparat. Jüdische Genossen wurden der Spionage, des „Zionismus“ oder des „Trotzkismus“ bezichtigt und zu Gegnern des nationalpolnischen Kommunismus erklärt. Antisemitische Argumentationen begleiteten die innerparteilichen Machtkämp­fe und „Säuberungsaktionen“ innerhalb der polnischen kommunistischen Partei in den Jahren 1948, 1956 und 1968. Nach dem politischen Umbruch von 1989 sank die poli­tische Bedeutung des Feindbildes der „żydo-komuna“. Allerdings benutzen es national-katholische Kreise weiterhin zur Diffamierung von postkommunistischen Politikern wie z. B. Aleksander Kwaśniewski. Gleichzeitig dient es ihnen, sich mit ihren weltanschau­lichen Gegnern auseinanderzusetzen. Alle, die dem katholisch-nationalen Model nicht entsprechen und den polnischen Opferstatus in der Geschichte und Gegenwart in Frage stellen, werden automatisch als Kinder oder zumindest Diener der „żydo-komuna“ ab­gestempelt. Dass solche prominenten Persönlichkeiten wie Adam Michnik tatsächlich jüdischer Abkunft und mit ehemaligen kommunistischen Funktionären verwandt sind, bestätigt das gepflegte Kollektivurteil. Nicht der Stereotyp der „żydo-komuna“ wird an die Realität angepasst, sondern die Realität wird nach diesem Feindbild interpretiert und wahrgenommen. Auch in den Kampagnen gegen die EU-Beschlüsse wird auf das Denkmuster der von Juden unter dem Deckmantel des Internationalismus angestrebten Unterwerfung Polens zurückgegriffen. Damit wird der Antisemitismus sowohl in den heutigen Alltag als auch in die polnische Geschichte integriert und als Bestandteil der nationalen Selbstbehauptung gerechtfertigt.

Die Verbindung von Juden und Kommunismus gehört auch zu den gängigen Feindbil­dern des deutschen Antisemitismus. Zwar wird es dort unter dem Begriff des „jüdischen Bolschewismus“ verwendet, doch ähnlich wie die „żydo-komuna“ geht die deutsche Variante davon aus, die Juden instrumentalisieren den von Marx erfundenen Bolschewismus, um mit seiner Hilfe die Weltherrschaft zu errichten. Er sei neben dem Kapitalismus eine „jüdische Methode“, die christliche Zivilisation zu vernichten. Vor allem nach der kommunistischen Machtetablierung in Russland nutzten die rechten Gruppierun­gen in Deutschland den Vorwurf des „jüdischen Bolschewismus“, um die Idee des Kommunismus zu diskreditieren und ihre linke Opposition als Juden und somit auch als kommunistische Staatsfeinde zu diffamieren. Während des Zweiten Weltkrieges half dieses Schlagwort den Nationalsozialisten die eigene Aggression als Verteidigung ge­gen die Sowjets und Juden zu legitimieren. Im heutigen Deutschland entwickelte sich das Feindbild des „jüdischen Bolschewismus“ zu einem bevorzugten Legitimationsargument der Revisionisten, die bemüht sind, den Nationalsozialismus einem angeblich von Juden beherrschten Bolschewismus gleichzusetzen. Dies hilft ihnen dann, wie im „Historikerstreit“ in den 1980er Jahren, eine mittelbare Verantwortung der jüdischen Kommunisten für die Folgen der antisemitischen Vernichtungspolitik der Nationalsozi­alisten zu suggerieren und auf diese Weise eine antisemitische Entsorgung der deutschen Vergangenheit durch die Täter-Opfer-Umkehr zu betreiben. Antisemitismus wird somit zu einem Problem des Bolschewismus und nicht zum integralen Bestandteil der eigenen Geschichte und des nationalen Selbstverständnisses.

Die Täter-Opfer-Umkehr: Der „jüdische Täter“

Jeder antisemitischer Stereotyp des „Juden“ zielt auf die Verkehrung von Tätern und Opfern. Die Deutschen und Polen sind Opfer, und die Juden sind die schuldbelasteten Täter oder zumindest Mittäter. Die auf eine lange religiöse Tradition zurückblickende Dämonisierung der Juden wird dadurch fortgesetzt, wenngleich in zum Teil anderen Formen. Das Bild vom „zersetzenden Juden“, der abendländisches Denken, christliche Religion, nationale Kultur und Politik zerstört, geistert stets in einschlägigen Kreisen und ihren Publikationen herum. Der populärste Stereotyp auf diesem Gebiet der Dämo­nisierung der Juden ist heutzutage die Vorstellung vom „Weltjudentum“, dem Allmacht, Verschwörungsabsichten und Weltherrschaftspläne zugeschrieben werden. Die zuneh­mende Internationalisierung vieler politischer, gesellschaftlicher sowie ökonomischer Bereiche und damit wachsende Intransparenz und Komplexität begünstigen die Ver­breitung internationaler Verschwörungstheorien, die insbesondere im Zusammenhang mit der EU, Weltbank, NATO oder UNO zum beliebten Thema der antisemitischen Argumentation avancierten. Dabei wird die „jüdische Weltverschwörung“, vielfach aus Legalitätsgründen als „anonyme internationale Mächte“ umschrieben, mit einem ande­ren antisemitischen Feindbild, den „jüdischen Kapitalisten“, verbunden und durch den Antiamerikanismus ergänzt. So wird in der antisemitischen Propaganda nicht nur in Deutschland oder Polen ständig über die Machtabsichten des „jüdischen Dollarkapita­lismus“ oder über die Dominanz des „jüdischen Lobbys“ im Weißen Haus gesprochen. Unterstützt wird diese Verschwörungstheorie durch die rassistischen Stereotype, die sich auf die Physiognomie der Juden beziehen. Karikaturen im Stil der NS-Hetzschrift Der Stürmer findet man immer wieder nicht nur in den radikal rechtsextremen Organen und Medien. Vor allem das Internet trägt wesentlich zur Popularisierung der antise­mitischen Stereotype bei. Auf unzähligen Internet-Seiten kann man erfahren, wie die „Juden“ waren, wie sie sind und was die Nichtjuden in der Zukunft erwartet, wenn sie ihre Kräfte nicht mobilisieren, um die „jüdische Gefahr“ rechtzeitig abzuwehren. Mit dieser angeblichen Verteidigungsdringlichkeit vor den „jüdischen Tätern“ hängen un­mittelbar die Versuche zur Leugnung bzw. Bagatellisierung der Shoah zusammen. Die Shoah-Leugnung (oder auch Auschwitz-Leugnung) stellt einen zentralen Bestandteil und zugleich die extreme Ausprägung des thematisch breit angelegten, geschichtsverfäl­schenden Revisionismus dar, der die NS-Geschichte unter Vortäuschung wissenschaft­licher Arbeitsweisen von Kompromittierenden zu reinigen versucht. Die Anhänger von diesem historischen Revisionismus zweifeln die Tatsache der planmäßigen industriell durchgeführten Massentötung von Menschen mittels Giftgases an. Selbst wissenschaft­liche Pseudogutachten werden bemüht, um die Unmöglichkeit der Gaskammermorde zu „beweisen“. Der Relativierung des Völkermordes dienen dabei pejorative Wortspiele, die zu Assoziationen anregen, der inflationäre Gebrauch des Ausdrucks „Auschwitzlü­ge“ und die usurpatorische Übernahme des Begriffs Holocaust für andere historische Sachverhalte. Der „Judenmord“ wird im Vergleich mit den Hexenverfolgungen, den britischen oder französischen „Kolonialverbrechen“ oder der Ausrottung der Indianer marginalisiert und aufgerechnet. Besonders intensiv (allen voran durch die extremen Linken) wird der „Revisionismus“ im Zusammenhang mit dem israelisch-palästinen­sischen Konflikt eingesetzt. Von dem „palästinischen Holocaust“ oder „Terror im Na­men Israels“ ist die Rede, und unaufhörlich wird vorwiegend von rechts berichtet vom deutschen Martyrium unter alliierten Luftangriffen sowie bei der Vertreibung aus dem Osten oder von den polnischen Opfern der „żydo-komuna“. Die antisemitische Stoß­richtung der Shoah-Leugnung, die in Deutschland und Polen strafbar ist, weist zwei Richtungen: Zum einen geht es darum, durch die Leugnung des Massenmords an den europäischen Juden den eigenen Opferstatus zu begründen. Zum anderen intendieren die „Revisionisten“ damit eine Diffamierung der Juden der ganzen Welt (und besonders Israel), indem diese als Betrüger und Schwindler, die sich auf diese Weise bereichern wollen, hingestellt werden. Der Vorwurf ist eindeutig: „Juden“ instrumentalisieren die Shoah, um Deutschland und Polen zu unterjochen und zugunsten Israels finanziell auszupressen. Anhand jener Kennzeichnung kann jede Art von Antisemitismus sich selbst rechtfertigen; an seiner Judenfeindschaft ist der Täter (moralisch) unschuldig, er handelte ja im Namen und zugunsten seiner Nation oder wie auch immer begriffener „Wahrheit“. So verkehren sich Schuld und Unschuld: Täter nahmen sich selbst als Opfer der Vaterlandsverteidigung wahr, womit die Rolle der Polen und Deutschen als Opfer der Juden erneut bestätigt wird. Auf der Grundlage solch zirkulärer Binnenlogik kann sich der scheinbar legitimierte Antisemitismus bald subtiler, bald offener entladen. Der Stereotyp des „Juden“ dient den Antisemiten als Bestätigung des positiven Selbstbildes, was zugleich auch erklärt, wieso man ihn so schwer aufgeben kann und das nicht nur in Deutschland oder Polen.

Literatur:

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Pufelska, Agnieszka, PD Dr., verfasste die Beiträge „Die Ähnlichkeit im Unterschied: Antisemitismus in Polen und Deutschland“ und „Die Macht der Feindbilder: Der Stereotyp des „Juden“ in Polen und Deutschland“. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an dem Nordost-Institut an der Universität Hamburg in Lüneburg und arbeitet in den Bereichen deutsch-polnische Beziehungen, jüdische Kulturgeschichte und Theorie der Geschichtsschreibung.

 

 

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