Maria Wojtczak

"Drang nach Osten"


Im Kontext der deutsch-polnischen Wechselbeziehungen ist Drang nach Osten ein allgemein geläufiges politisches Schlagwort. Auch in polnischen oder anderen fremdsprachigen Texten erscheint es meist in der deutschsprachigen Variante. Ins Polnische wird der Begriff üblicherweise als „parcie na Wschód“ oder „napór na Wschód“ übersetzt. Er fungiert als Bild des deutschen Einflusses auf die Geschichte Polens.

Die Herkunft des Begriffs ist unklar. Zum ersten Mal wurde er vermutlich 1849 von dem polnischen Literaturkritiker, Historiker, Publizisten und Politiker Julian Klaczko (1825–1906) verwendet. Als Reaktion auf die negativen Beschlüsse des Frankfurter Parlaments (1848) in der Polenfrage schrieb Klaczko einen offenen Brief an Georg Gervinus, die Überschrift lautete: Die deutschen Hegemonen. Offenes Sendschreiben an Herrn Georg Gervinus (Die deutschen Hegemonen. Offenes Sendschreiben an Herrn Georg Gervinus von J. K., Berlin 1849. Zitiert nach: Lawaty 1986, S. 24f.). Der nationalliberale Politiker und Historiker Georg Gervinus (1805–1871) stand Bismarck kritisch gegenüber, deshalb wandte sich Klaczko an ihn.

Im Sendschreiben formuliert er seine Enttäuschung über die deutsche Revolution von 1848 und stellt dem „echte[n], wahre[n] Deutschland, das da im Namen des Kreuzes kreuzigt, im Namen der Zivilisation depraviert, im Namen der Freiheit knechtet“ (Lawaty 1986, S. 44 und S. 48) die Slawen gegenüber, die nach der Gleichberechtigung der Nationen strebten. In diesem Kontext verwendet Klaczko die Formulierung „Zug nach dem Osten“, die später die Form Drang nach Osten annahm. Schon bald wurde sie, allerdings unter unterschiedlichen Vorzeichen, zum festen Bestandteil sowohl der polnischen als auch der deutschen nationalen Ideologie (Lawaty 1986, S. 25).  Klaczko setzt den Ausdruck „Zug nach dem Osten“ in Anführungszeichen, was darauf hindeuten könnte, dass er ihn von anderen Autoren übernahm. Das durch ihn bekannt gemachte und in die polnische Geschichtsschreibung eingeführte Schlagwort machte mit der Zeit eine beeindruckende Karriere. Schon 1861 wurde es von Karol Szajnocha übernommen, der in seinem Werk Jadwiga i Jagiełło (Hedwig und Jagiełło) die These vertrat, die polnisch-litauische Union sei eine notwendige Reaktion auf den deutschen Drang nach Osten gewesen, weil weder Polen noch Litauen allein in der Lage gewesen wären, sich den Deutschen entgegenzustellen. Henryk Sienkiewicz, der polnische Literaturnobelpreisträger des Jahres 1905, nutzte Szajnochas Werke intensiv, während er seine Trilogie schrieb. Der Einfluss seiner Romane auf die folgenden Generationen ist – entsprechend dem von in ähnlichem Geiste schreibenden Autoren wie Józef Ignacy Kraszewski, Maria Konopnicka oder Bolesław Prus – nicht zu überschätzen und lässt ahnen, wie tief der Begriff Drang nach Osten im polnischen Bewusstsein verankert ist.

Das deutsche Wort „Drang“ hatte in der ersten Hälfte des 19. Jhs. eine etwas andere Bedeutung als heute. Es bezeichnete ein inneres Wesensmerkmal, eine unbewusste Kraft, die – im Gegensatz zur Vernunft, die dem menschlichen Handeln eine kontrollierte Richtung gab – den Menschen aus unklaren Impulsen heraus tätig werden ließ. In dieser Bedeutung figuriert das Wort in der Bezeichnung einer wichtigen Strömung der deutschen Literatur: „Sturm und Drang“ 1767–1785 (Wippermann 1981, S. 4). Das Wort „Drang“ wurde insbesondere mit dem bekannten Zitat aus Goethes Faust assoziiert: „Ein guter Mensch, in seinem dunklen Drange, / Ist sich des rechten Weges wohl bewußt.“ Die polnische Übersetzung vom „dunklen Drange“ lautet „mroczna pokusa“ „Człowiek dobry w mrocznej swej pokusie świadomy jest głęboko prawej drogi“ (Goethe 2002, S. 303), was sich am ehesten als dämmerige/ düstere/finstere Versuchung zurückübersetzen ließe. Auf eine ganze Nation bezogen hat der Begriff „Drang“ eine ähnliche Funktion wie die Begriffe „Geist des Volkes“ oder „Wille des Volkes“, die letztlich individuelle psychologische Zustände beschreiben, unbewusste und nicht steuerbare Instinkte, vergleichbar den Naturkräften, die das Wachstum von Pflanzen hervorrufen.

Die Rede vom deutschen Drang nach Osten suggeriert demnach, dass die Deutschen unter dem Einfluss eines mehr oder weniger bewusst gemachten Instinkts, eines unumkehrbaren „dunklen“ Antriebs, nach Osten vordrangen. „Die Deutschen“ oder „das deutsche Volk“ werden dabei „als eine organische Einheit aufgefaßt, das [sic!] eben insgesamt die Eigenschaft aufweise, nach Osten zu drängen“ (Wippermann 1981, S. 4) Die von den Romantikern beschriebenen „Nationalcharaktere“ sind lediglich imaginierte Konstrukte, in denen sich ein Wunschdenken über sich und die anderen manifestiert. Im gegebenen konkreten Fall handelt es sich um ein „auf einer vorurteilshaften Einstellung“ beruhendes „nationales Stereotyp“ (Wippermann 1981, S. 4).  Sein Wesen und seine Dynamik werden durch die Annahme bestimmt, dass sich alle deutsch-polnischen Antagonismen durch das – gleichsam als darwinistisch grundierter historischer Zwang verstandene – deutsche Streben nach einer Ausweitung des Lebensraums nach Osten erklären ließe.

In der deutschen Geschichtsschreibung taucht der Begriff Drang nach Osten später als in der polnischen auf. In der Historischen Zeitschrift erschienen in den Jahren 1860–1863 zwei umfangreiche Aufsätze zum geteilten Polen und zur Germanisierung der Ostmark, in denen die Historiker Georg Waitz und Wilhelm Wattenbach im Geiste der von Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Ludwig Jahn propagierten Besonderheit des deutschen Volksgeists die Germanisierung des Ostens als gleichsam natürliche und unvermeidliche Folge der Schwäche Polens und des slawischen Geistes darstellten. Waitz sah es als Bestimmung der deutschen Kultur an, „sich gegen den Osten hin auszubreiten“. Ähnlich äußerten sich in der Folge weitere deutsche Historiker wie Heinrich von Sybel oder Georg von Below, die auf der Basis des nationalstaatlichen Denkens des 19. Jhs. den Herrschaftsanspruch der Deutschen im Osten rechtfertigten. In deutschsprachigen Nachschlagewerken – vom Konversationslexikon bis hin zu den Geschichtlichen Grundbegriffen – finden sich gleichwohl allenfalls rudimentäre Informationen zum Drang nach Osten (Leuschner 2002).

Auch heute noch wird in bestimmten Situationen von historisch oder politisch engagierten Publizisten oder von Politikern sehr gern die These vom deutschen Drang nach Osten aufgerufen; sie erscheint in sich wissenschaftlich gerierenden Texten zu nationalen Themen (etwa in der polnischen christlich-nationalen Presse) oder auch in der schönen Literatur.

Das Schlagwort Drang nach Osten wird gemeinhin auf jede Art von Präsenz der Deutschen und der deutschen Kultur in Polen bezogen, was einerseits von mangelndem Bewusstsein für sein Wesen und seinen historischen und mentalen Kontext, andererseits aber auch von seiner Tragfähigkeit zeugt. Künstler und Publizisten greifen gern auf den Begriff zurück, verwenden ihn aber immer unpräzise und den jeweiligen Umständen angepasst. So trug etwa ein Artikel über den 2012 gefassten Beschluss des Warschauer Stadtrats zur Umbenennung der bisherigen ulica Ludwika van Beethovena in ulica Ludwiga van Beethovena den Titel Pełzające Drang nach Osten na ul. Beethovena (Marcin Gogulski, Pełzające Drang nach Osten na ul. Beethovena. in: Salon 24 Niezależne forum publicystów vom 3.7.2012 (https://www.salon24.pl/u/gugulskim/431229,pelzajace-drang-nach-osten-na-ul-beethovena, 10.11.2021). Schleichender Drang nach Osten auf der ulica Beethovena. Weitere Beispiele sind eine Siebdruck-Ausstellung in Warschau (2012), die unter dem Titel Drang nach Osten Ergebnisse einer Kooperation mit Berlin und die positiven Einflüsse aus Deutschland präsentierte (http://www.kulturalna.warszawa.pl/wydarzenia,1,73933,Otwarcie_polsko-niemieckiej_wystawy_sitodruku_quot %3BDrang_nac....html?locale=pl_PL, 27.1.2021), oder die Fotoserie Drang nach Osten (poczwara [Monstrum]) der polnischen Künstlerin Alina Szapocznikow (1963). Zahlreiche Pressetexte zu wirtschaftlichen oder politischen Ereignissen im deutsch-polnischen Kontext trugen entsprechende Titel: Drang nach Osten. Deutsche Bahn baut Bahnhof in Swinemünde, Drang nach Osten in der Delight- und Deluxe-Version, Neuer schleichender deutscher Drang nach Osten, Drang nach Osten. Auf der Flucht vor dem Westen kolonisiert Deutschland den Osten oder Drang nach Osten – Version 2.0. In eine andere Kategorie fällt der 2019 in Deutschland erschienene Roman Drang nach Osten des deutsch-polnischen Schriftstellers Artur Becker. Der Titel stellt das Werk zwar in den Kontext der Publikationen, die das im 19. Jh. geprägte Schlagwort multiplizieren, doch Becker verwendet es rein ironisch und zur wörtlichen Bezeichnung der Richtung des Wegs seines Protagonisten.

Ähnlich wie die „Geschichte“, die neben dem eigentlichen historischen Prozess immer eine zweite Dimension hat – nämlich die ihrer Darstellung in Erzählungen und Texten –, so müssen auch politische Schlagworte in ihrer Dualität betrachtet werden (Lemberg 1992). Einerseits bezeichnen, deformieren oder suggerieren sie eine vermeintliche Realität, die der Verifizierung bedarf, andererseits verlangen sie als Begriffe, Mythen oder Vorstellungen nach wissenschaftlicher Analyse und Dekonstruktion. In der polnischen, tschechischen und sowjetischen Geschichtsschreibung des 20. Jhs. nutzte man den Begriff Drang nach Osten gern zur Darstellung des deutschen Expansionsstrebens in der jüngsten Geschichte, während er sich im Preußen bzw. Deutschland des 19. und 20. Jhs. auf eine ferne Vergangenheit bezog. Aus diesem Grund reichen die als Beleg für die These vom deutschen Streben nach Ausdehnung in Richtung Osten angeführten Argumente vom Mittelalter über das 19. und 20. Jh. bis in die Gegenwart.

Als Wendepunkt und Beginn des Drangs nach Osten gilt gemeinhin die Rückkehr der Germanen ans östliche Ufer der Elbe am Beginn des 10. Jhs. Viele Historiker halten dies für ein Leitmotiv der Geschichte Mitteleuropas im folgenden Jahrtausend (Davies 1991, S. 81–83; Bobrzyński 1927).  Während die Germanen versuchten, über die Elbe zu kommen, rückten die Franzosen vor in Richtung Rhein und die Polen in Richtung Dnjepr. Ab Ende des 12. Jhs. strömten Siedler aus dem Deutschen Kaiserreich in den Osten. Im späten Mittelalter holten die schlesischen Herrscher Kolonisten aus Süd- und Mitteldeutschland ins Land, die mit der Zeit auch nach Groß- und Kleinpolen gelangten. In den Quellen finden sich schon 1210 die ersten Erwähnungen deutscher Siedler in Großpolen. Die Kolonisten siedelten sich in Städten an, seltener auch in Dörfern, und trugen durch ihre Arbeit zum Wandel der städtischen und ländlichen Kultur bei. Erst im 14. und 15. Jh. begannen sie sich zu assimilieren – dabei spielten Eheschließungen ebenso eine Rolle wie der Zuzug von Polen in die Städte (Brückner 1990, S. 12).  Eines der ersten weltlichen Sprachdenkmäler des Polnischen ist das anonyme 21-strophige Lied über den Krakauer Vogt Albert, das nach der Rebellion des deutschen Vogts Albert gegen die polnische Herrschaft (1312) geschrieben wurde und mit den Worten beginnt: „Kto w fortunie ma nadzieję“ (Wer auf Fortuna seine ganze Hoffnung setzt), (A. d. Ü.: Ich zitiere hier und im Folgenden (mit geringen Abweichungen seitens der Autorin) die unter https://www.herder-institut.de/digitale-angebote/dokumente-und-materialien/themenmodule.. zugängliche deutsche Übersetzung des Liedes, Zugriff 3.9.2021). Der zwischen 1317 und 1320 entstandene Text ist ein Zeugnis deutsch-polnischer Spannungen:

Natura niemiecka do tego mnie wiodła.
Niemiec gdziekolwiek stąpi swoją nogą,
Trzyma się stale zawsze tego godła:
Wszystkich poniżyć, nie słuchać nikogo.
Żaden natury swej zmienić nie zdoła (Szczur 2003, S. 468).

(Hierzu verleitete mich mein Wesen,
welches das Bemühen der Deutschen (Alemannen) ist,
dort, wohin sie auch immer kommen,
 jeden demütigen und keinem unterlegen sein zu wollen.
Unfähig, ihr Wesen zu verändern.)

 Im Laufe der Zeit unterwarfen sich die deutschen Fürsten und Könige neue Provinzen im Osten. Das spektakulärste Beispiel ist die Entstehung des Deutschordensstaats im 13. Jh. (→ Kreuzritter). Gerufen, um die Evangelisierung der Prussen zu unterstützen, eroberte der Orden das Territorium des späteren Ostpreußens sowie Teile Polens und Litauens. Im 14. Jh. besetzte er widerrechtlich Pommerellen und griff Kujawien und Großpolen an. Die militärische Niederlage gegen das polnisch-litauische Heer in der Schlacht bei Tannenberg /Grundwald (1410) und der Frieden von Thorn (1411) zwangen den Orden zur Einstellung der Angriffe. Die vor allem an der südlichen und östlichen Ostseeküste erfolgte Expansion des Deutschen Ordens im 14. und zu Beginn des 15. Jh. beschleunigte die Ansiedlung von Deutschen im Osten.

Das 15. Jh. brachte eine intensive Polonisierung der deutschen Emigration. In den Städten, wo größere deutsche Bevölkerungsgruppen lebten, verlief dieser Prozess langsamer. Anfangs bildete die Sprache eine große Barriere in den gegenseitigen Beziehungen, im Kontakt mit den Stadtbehörden ebenso wie in den religiösen Praktiken (→ Deutsche in Polen). Die Nachbarschaft der Deutschen übte einen stetigen Einfluss auf das Polnische aus. Das Altpolnische entlehnte eine Reihe von Ausdrücken aus der deutschen Sprache: in der städtischen Verwaltung (burmistrz/Bürgermeister, gmina /Gemeinde, sołtys/ Schultheiß, wójt/Vogt), im Bauwesen (ratusz/Rathaus, rynek/Ring, plac /Platz, cegła /Ziegel, kielnia /Kelle), in der Gerichtsbarkeit (glejt/Geleit), im Handel (jarmark/Jahrmarkt), im Handwerk (kuśnierz/Kürschner, bednarz/Böttcher, ceglarz/Ziegler) und auch im Alltagsleben (taniec /Tanz). Der Bergbauwortschatz ist in großem Maße deutsch (Brückner 1990, S. 12).  Selbst das Wort ‚szlachta‘ (Adel) hat seine Wurzeln im Deutschen (Andrzej Leszczewicz, Osadnictwo niemieckie w Polsce, in: Kronikarz. Magazyn obywatelski vom 26.9.2010).

Im Laufe der Zeit konnte wie im Falle der deutschen Katholiken die Glaubensgemeinschaft zur ersten und wichtigsten Ebene der Polonisierung deutscher Kolonisten werden. Ein Beispiel sind die Posener Bamberger, katholische deutsche Siedler aus der Gegend von Bamberg, die von der Stadtregierung Anfang des 18. Jhs. nach Posen geholt wurden, damit sie die verlassenen und von Krieg zerstörten Dörfer der Umgebung besiedelten. Ende des 19. Jhs. deklarierte sich von den katholischen Einwohnern der Dörfer um Posen kein einziger mehr als Deutscher. Die Posener Bamberger sind gleichwohl eine Ausnahmeerscheinung. Die Frage nach der verbalen Kommunikation zwischen Polen und Deutschen lässt sich mit der Feststellung beantworten, dass die Polen die deutsche Sprache kannten und sich deshalb mit der deutschen Kultur befassen konnten, während in den allermeisten Fällen die Deutschen keine Polnischkenntnisse besaßen und aus diesem Grund glaubten, es gäbe eigentlich gar keine polnische Kultur.

Im 18. Jh. entstand auf dem Gebiet unter anderem des östlichen Westpreußen der Staat Brandenburg-Preußen. Ein Merkmal der Politik des preußischen Königs Friedrich II., unter dessen Herrschaft Preußen zu einem der mächtigsten Staaten Europas wurde, war das Streben nach neuen Eroberungen im östlichen Europa.

Im 19. Jh. wurde die Kolonisierung der Ostgebiete zu einer Priorität der deutschen Politik. Die bis dahin lediglich am Staat interessierte preußische/deutsche Geschichtsschreibung hatte die Ostsiedlung ignoriert, doch als in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. neben der Staats- auch die Nationalgeschichte in den Blick rückte, erhielt das Phänomen der mittelalterlichen Expansion und der deutschen Besiedlung des Ostens eine politische Dimension. Die Statistiken zeigten unerbittlich, dass die Zahl der Deutschen, die die Ostgebiete verließen, stetig anstieg.

Während der Beratungen des Frankfurter Parlaments 1848 argumentierte der Schriftsteller und Politiker Wilhelm Jordan in der dreitägigen Debatte zur Polenfrage gegen die Wiedererrichtung eines unabhängigen polnischen Nationalstaates und die Unterstützung für polnische Aufständische. Zugleich plädierte er für einen „gesunden Volksegoismus“, den er mit der Unterlegenheit Polens und der Polen begründete:

Unser Recht ist kein anderes Recht als das Recht des Stärkeren, das Recht der Eroberung. Ja, wir haben erobert, aber diese Eroberungen sind auf einem Wege, auf eine Weise geschehen, daß sie nicht mehr zurückgegeben werden können. […] Die Übermacht des deutschen Stammes gegen die meisten slavischen Stämme, vielleicht mit alleiniger Ausnahme des russischen, ist eine Thatsache, die sich jedem unbefangenen Beobachter aufdrängen muß, und gegen solche […] naturhistorischen Thatsachen läßt sich mit einem Decrete im Sinne der cosmopolitischen Gerechtigkeit schlechterdings nichts ausrichten. […] Der letzte Act dieser Eroberung, die viel verschrieene Theilung Polens, war nicht, wie man sie genannt hat, ein Völkermord, sondern weiter nichts als die Proclamation eines bereits erfolgten Todes, nichts als die Bestattung einer längst in der Auflösung begriffenen Leiche, die nicht mehr geduldet werden durfte unter den Lebendigen (Imhof 1996, S. 183).

 Das Recht des Stärkeren legitimierte hier das Recht auf Eroberung. Während die deutschen Staaten 1871 einen deutschen Nationalstaat gemäß der kleindeutschen Option gründeten (das heißt unter Ausschluss Österreichs und unter der Führung Preußens), wurde die 1866 von Preußen besiegte Habsburger Monarchie zu Österreich-Ungarn und gewährte Galizien die Autonomie (→ Mythos Österreichs). Vor diesem Hintergrund – der Liberalisierung der Nationalitätenpolitik – etablierte sich in der polnischen Geschichtsschreibung die – bis heute anzutreffende – Auffassung, der größte Feind Polens sei seit jeher nicht Österreich, sondern Preußen/Deutschland. Die Schuld am Verlust der polnischen Eigenstaatlichkeit wurde deshalb – neben dem zaristischen Russland – nur Preußen und später dem unter preußischer Führung vereinten Deutschland zugeschrieben (Krasuski 2004).

Als 1886 der preußische Landtag zur Stärkung der deutschen Präsenz in den Provinzen Westpreußen und Posen das sogenannte Ansiedlungsgesetz verabschiedete und Bismarck die Preußische Ansiedlungskommission ins Leben rief, flammte der deutsch-polnische Konflikt um die Siedlungspolitik neu auf. Prussophile Historiker beschrieben sie als große Leistung der deutschen Nation, polnische Historiker verurteilten den ewigen deutschen Drang nach Osten. Die Schlussbilanz des Wirkens der Ansiedlungskommission fiel aus deutscher Sicht negativ aus: Dass man polnische Güter zu günstigen Preisen an Deutsche verkaufte, weckte das Nationalbewusstsein der bis dahin gegen einigermaßen loyal zu Deutschland eingestellten polnischen Bauern. 1891 wurde der Alldeutsche Verband gegründet, eine nationalistische politische Organisation, deren Ideologen den Kampf um Lebensraum für Deutschland mit räumlicher Enge, Landhunger und der Notwendigkeit der ständigen Regeneration der Volkskraft begründeten. Sie stützen die imperialistische Politik Deutschlands nach dem Prinzip: „Der alte Drang nach dem Osten soll wiederbelebt werden“ (Wippermann 1981, S. 87) und propagierten die Ausweitung des Kolonialbesitzes und das Streben nach Hegemonie in Europa. Einer der führenden Vertreter der alldeutschen Ideologie, Paul de la Garde, der für eine expansive Kolonisierung des Grenzlands eintrat, forderte: „Wir brauchen Land vor unserer Tür!“ (Pross 1983, S. 283). Der Alldeutsche Verband hatte großen Einfluss auf andere deutsche Organisationen, darunter auf den 1894 gegründeten Ostmarkenverein, der zunächst Verein zur Förderung des Deutschtums in den Ostmarken hieß und nach den Anfangsbuchstaben der Namen der Gründer von Polen meist Hakata genannt wurde. Anfang des 20. Jhs. zählte der Verein rund 22.000 Mitglieder. Nachdem er von den Nationalsozialisten aufgelöst worden war, übernahm 1933 der Bund Deutscher Osten (BDO) seine Tätigkeit. Ziel des Bundes war die Stärkung der deutschen Nation im Osten, die praktische Umsetzung des Drangs nach Osten und der nationalsozialistischen Politik der Gewinnung von Lebensraum im Osten.

Im Bewusstsein der Deutschen hat der Begriff Drang nach Osten eine weitaus geringere Bedeutung. An seine Stelle trat im 19. Jh. die Angst vor dem Drang nach Westen, die sich in zahlreichen Darstellungen von asiatischen Einfällen nach Mitteleuropa manifestierte. Weil er ausschließlich mit den Interessen Preußens konnotiert war, fand es über dessen Grenzen hinaus keinen Widerhall, und im nationalsozialistischen Deutschland galt er gar als „fragwürdige Propagandalosung“. Das seit etwa der Mitte des 19. Jhs. beschworene Gespenst des Panslawismus wurde rasch zur Kehrseite des Drangs nach Osten. Als „Gefahr aus dem Osten“ fungierte es als Kompensation und fast getreues Spiegelbild zum vermeintlich angeborenen deutschen Drang nach Osten. Besonders scharf formulierte Heinrich Himmler diese Vorstellung 1941 vor dem Überfall auf die Sowjetunion, als er sich in einer Rede an die SS-Führer wandte: „Wenn Ihr, meine Männer, dort drüben im Osten kämpft, so führt Ihr genau denselben Kampf, den vor vielen, vielen Jahrhunderten, sich immer wiederholend, unsere Väter und Ahnen gekämpft haben. Es ist derselbe Kampf gegen dasselbe Untermenschentum […]“ (Zitiert nach Stein 1967, S. 114) Wie lange sich die Vorstellungen von einer Bedrohung durch die „asiatischen Horden“ im deutschen Bewusstsein hielten, zeigen westdeutsche Wahlplakate aus dem Jahr 1949, die schlitzäugige asiatische Männer mit Hammer und Amboss zeigen. Diese Plakate, die heute unter anderem im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen sind, waren während des Kalten Kriegs bis in die 1970er Jahre im Umlauf.

Im 19. Jh., das heißt in der Epoche des aufkommenden Nationalismus, in der Polen geteilt war, wurde die ganze bisherige Geschichte durch das Prisma der Nationalität betrachtet. Das Bild des Polen bedrohenden deutschen Staats des Mittelalters, der für den Beginn des deutschen Drangs nach Osten stand, lebte wieder auf. Ein Element der Beschreibung von Staaten und postuliertes Ideal waren die „natürlichen Grenzen“. Viele Denker, Geografen, Philosophen und Historiker betonten damals die Bedeutung der Lage und der geographischen Umgebung von Staaten. Man glaubte, ein Volk erfülle seine historische Rolle, wenn es seine natürlichen Grenzen bestimme und ein klares Bewusstsein seiner nationalen Stärke entwickle.

Zwei Faktoren begünstigten im 19. Jh. die Rechtfertigung der territorialen Ausdehnung Deutschlands unter Rückgriff auf geographische, politische, ökonomische und historische Argumente: Zum einen fiel der Krieg mit Frankreich in eine Zeit, in der das in vielen Ländern Europas erwachende Nationalbewusstsein den Deutschen zeigte, dass ihre territoriale Zersplitterung ein Hindernis auf dem Weg zu einem modernen Nationalstaat darstellte; zum anderen ließ sich durch den Gegensatz zum feindlichen Frankreich leichter herausstellen, was das Wesen des deutschen Volksgeists ausmachte.

Die Erschütterung der bestehenden sozialen Ordnung durch den gewaltigen Modernisierungsschub und der damit einhergehende Orientierungsverlust erleichterten die Hinwendung zu Herders Konzept des Volkes, das diesem eine besondere Kraft im Kampf gegen Industrialisierung und Urbanisierung, für den Schutz der Natur, der heimischen Landschaft und der sozialen Gemeinschaft zuschrieb. In seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte beklagte Herder das Schicksal der von den Deutschen unterdrückten Slawen, womit er zur Entstehung des Bildes des „sanften Slawen“ im Gegensatz zum „kriegerischen Germanen“ beitrug. Im Widerspruch zu Herders Ansichten steht der durch den Historiker Johann Friedrich Reitemeier Anfang des 19. Jhs. im Zusammenhang mit der mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung in die deutschsprachige Geschichtsschreibung eingeführte Begriff der Ostkolonisation. In seiner 1805 herausgegebenen Geschichte Preußens verbindet Reitemeiter den Begriff der Kolonisierung mit der Germanisierung slawischer, baltischer und ungarischer Territorien (Belzyt 2012).  Ebenfalls von Reitemeier stammt die Theorie der „Kulturträger“ (→ deutscher Kulturauftrag im Osten), auch in Bezug auf die mittelalterliche Ostsiedlung. Diese Theorie fand rasch zahlreiche Anhänger und wurde zum prototypischen Modell für die Kolonisierung im preußischen Teilungsgebiet. Unter „Kulturträger“ verstand man den seiner Mission bewussten Deutschen, den Kolonisten, dessen Anwesenheit im preußischen Teilungsgebiet ein Segen für die schwachen, preußischer Hilfe bedürftigen polnischen Bewohner sein sollte. „Der verborgene Wunsch, die Welt zu beherrschen, trat plötzlich zutage und verzehnfachte sich. Den Deutschen eröffneten sich ungeahnte Perspektiven. Es offenbarte sich das Bedürfnis nach einem Mythos, der diesen Ambitionen entsprach und der die weiten Räume abdeckte“ (Minder 1948, S. 6f.). Der Geograf August Zeune argumentierte, der Raum zwischen Nordsee und Alpen, Rhein und Oder (bzw. Weichsel) sei den Deutschen von Gott geschenkt worden; dank seiner zentralen geographischen Lage sei Deutschland „segensvoll für seine Nachbarn, für Europa, ja für die Welt“ (Zitiert nach Wolff-Powęska 2000, S. 23).  Die Ideen zur Ausgestaltung der deutschen Grenzen nahmen unterschiedliche Formen an, ihr stärkstes Merkmal war die Überzeugung, dass Deutschland den „Mittelpunkt des Norden und des Süden“ (Arndt 1912, S. 88) darstelle. Der 1815 gegründete Deutsche Bund entsprach nicht den Vorstellungen der Deutschen hinsichtlich der Grenzen ihres Staates. Zunehmend wurde die Forderung laut, Deutschland solle seine Grenzen „im Einklang mit der Natur“ ziehen. Friedrich Ratzel formulierte für die politische Geografie das „Gesetz der wachsenden Räume“, das in Gestalt des Prinzips des „Lebensraums im Osten“ schon im wilhelminischen Deutschland angewandt und später von der NS-Ideologie übernommen wurde. In der Tradition dieses Denkens stand der General, Geograf und Geopolitiker Karl Haushofer, der die Weiterentwicklung der Geopolitik als moralische Pflicht betrachtete und den Lebensraum der Deutschen als „Mysterium“ und Erfüllung aller deutschen Hoffnungen ansah (Wolf-Powęska 2000, S. 65).  Georg Wegener schrieb in der von Haushofer herausgegebenen Zeitschrift Geopolitik, der Drang zur Erweiterung des Raumes sei eines der elementarsten, absoluten Merkmale jedes energischen Staates (Wegener 1931, S. 549)  Zu den führenden Lebensraumideologen gehörte auch der Politikwissenschaftler Friedrich Naumann, der in seinem Buch Mitteleuropa eine Konzeption deutscher Politik formulierte, der zufolge Europa zu einem wirtschaftlich-politischem Gebilde unter deutscher Führung werden sollte. Ein Punkt seines Programms war die Germanisierung. Naumann argumentierte, Deutschland brauche eine moralische Erneuerung und ein neues politisches Ethos. Im Zusammenhang mit der Maxime „Wer leben will, muß kämpfen“ konstatierte er, die Wissenschaft müsse im Daseinskampf der Staaten das gesamte Leben des deutschen Volkes durchdringen. Unter dem Einfluss Friedrich Ratzels, des Begründers der „Geographie des Menschen“, vertrat er die Auffassung, jeder große politische Körper benötige ein angemessenes Ideal seiner räumlichen Ausdehnung, sofern er nicht in den Zustand der Stagnation, des Konflikts und des Pessimismus zurückfallen wolle (Naumann 1911, S. 24–26).  Die Vision von Mitteleuropa leitete im Ersten Weltkrieg die politischen Eliten Deutschlands bei der Festlegung der Kriegsziele und der Planung der neuen europäischen Ordnung nach dem erwarteten Sieg der Mittelmächte. Die Idee des Lebensraums wiederum bildete das Fundament für die Idee von der Eroberung von Gebieten bis zum Ural, die nach dem gewonnenen Krieg mit Bewohnern „rein nordischen Blutes“ besiedelt werden sollten. Diese Vision wurde in Adolf Hitlers zu Lebzeiten unveröffentlichtem Buch Das zweite Buch (1928) begründet, das die in Mein Kampf enthaltenen Ideen fortführte.

Aus der nationalsozialistischen Lebensraum-Ideologie sowie aus der Ideologie der Überzeugung vom deutschen Herrenmenschentum und Hitlers Interpretation der Idee des Drangs nach Osten entstand schon lange vor 1939 der sogenannte Generalplan Ost zur Besiedelung und Germanisierung der östlich des Dritten Reichs gelegenen Gebiete, der die Hegemonie Deutschlands von Portugal bis zum Ural, die völlige Auslöschung der Juden und der meisten Slawen sowie für die anvisierten vier Millionen überlebenden Polen die Rolle von Zwangsarbeitern vorsah.

Als problematisch erwies sich die Frage der Präsenz der Deutschen im Osten Europas zu Beginn des 19. Jhs. und in Zeiten, in denen man begründen musste, warum das Nationalgebiet sich nicht mit dem Sprachgebiet deckte. Man stützte sich auf die Erklärung, die slawischen Völker wären gewaltsam in das geschlossene deutsche Nationalgebiet eingedrungen und hätten Enklaven geschaffen, darunter die böhmische und die polnische. Im 19. Jh. festigte sich die Überzeugung, dass der Drang nach Osten als kulturgeographische Gesetzsmäßigkeit legitimiert sei und für kommende Generationen die Aufgabe beinhalte, Osteuropa vom ‚kulturzersetzenden Geist des Asiatismus‘ zu befreien. Man müsse den Deutschen ihre zentrale Lage zurückgeben und die Grenzstaaten Russlands an Deutschland anschließen, die es als ‚Lehrer‘ und ‚wirtschaftlichen Führer‘ bräuchten (Vgl. Hassinger, Hugo: Das deutsche Reich, In: Andree‘s wirtschaftliche Länderkunde, Bd. 1: Europa, hg. von Franz Heiderich, Hermann Leiter und Robert Sieger, Robert, Wien 1926, S. 148. Hier angeführt nach Wolff-Powęska 2000, S. 72).

Während des Ersten Weltkriegs äußerten sich auch nicht-deutsche Nationalpolitiker zum deutschen Drang nach Osten, darunter Tomáš Garrigue Masaryk im Buch Das neue Europa. Der slawische Standpunkt (1918) oder Roman Dmowski, der in seinem Buch Niemcy, Rosja i kwestia polska (Deutschland, Russland und die polnische Frage, 1907) Deutschland als größten Feind des polnischen Volkes bezeichnete und als Gegengewicht für eine Zusammenarbeit mit Russland plädierte. Einen ähnlichen Standpunkt vertrat Zygmunt Wojciechowski, der Gründer des West-Instituts in Poznań, in Polska – Niemcy. Dziesięć wieków zmagania (Polen – Deutschland. Zehn Jahrhunderte des Kampfs, 1945). Der Publizist und Politologe Edmund Osmańczyk formulierte 1948 in der Zeitschrift Odra eine Definition des Hitlerismus, in der er an das Schlagwort vom Drang nach Osten anknüpfte: „Der Hitlerismus ist […] ein durch Hass auf die slawischen Nationen potenzierter deutscher Nationalismus. Seine Genealogie müsse man in der Geschichte der Beziehungen Deutschlands zu seinen slawischen Nachbarn suchen. Der Hitlerismus habe sich in der deutschen Nation während eines Jahrtausends herausgebildet. Der Drang nach Osten, durch die Mordtaten Markgraf Geros unter den Elbslawen eingeleitet, sei der Beginn des Hitlerismus gewesen“ (Lawaty 1986, S. 190; Osmańczyk 1948). Für Osmańczyk manifestierte sich im Drang nach Osten nicht die Sehnsucht der deutschen Seele, er betonte vielmehr die unheilvollen Auswirkungen des als historisches Axiom begriffenen Motivs für die Entwicklung der deutschen Nation.

Zur selben Zeit entwickelte sich eine radikal andere Sichtweise. Der Mediävist Benedykt Zientara verwies darauf, dass die mittelalterlichen Fürsten nicht an eine Ausdehnung der Grenzen Deutschlands gedacht hätten, geschweige denn an eine Erweiterung des deutschen „Lebensraums“. Deshalb müsse man vorsichtig sein, wenn man moderne nationale Kriterien auf die Verhältnisse des Mittelalters übertrage. Im Mittelalter habe zwar eine deutsche Expansion stattgefunden, die jedoch im Kontext der kulturellen Kluft zu betrachten sei, die sich damals von Südwesten nach Nordosten durch ganz Europa gezogen habe. Zientara plädierte dafür, im wissenschaftlichen Diskurs auf den emotional aufgeladenen Begriff Drang nach Osten zu verzichten, denn dieser suggeriere, dass die deutsche Psyche gleichsam von Natur aus zur Aggression und zur Herrschaft über andere bestimmt sei. Den Anhängern der These vom Drang nach Osten sei vorzuwerfen, dass sie bewusst oder unbewusst an die Existenz eines spezifischen (deutschen) Nationalcharakters glaubten (Zientara 1974, S.433, S. 427–428).

Im Jahr 1960 erschien in der Wochenzeitschrift Tygodnik Powszechny Antoni Gołubiews Artikel Mit o Drang nach Osten (Der Mythos vom Drang nach Osten). Gemäß der damaligen Redaktionslinie war der Autor um eine Entschärfung der vom kommunistischen Regime geschürten Spannungen zwischen Deutschen und Polen bemüht. Er unterstrich, dass der deutsche Drang nach Osten weder eine biologische noch eine mentale oder geopolitische Notwendigkeit darstelle. Vielmehr handele es sich um einen Mythos, den unter anderem auch die polnische Publizistik in der Gesellschaft verfestigt habe. Die deutsche Expansion nach Osten resultiere weder aus einer historischen Gesetzmäßigkeit noch aus einem konsequent umgesetzten politischen Programm.

Nach 1945 dominierte in der Forschung in Polen und den übrigen Ländern des Ostblocks das marxistische Paradigma, das die romantischen Vorstellungen von einem Nationalcharakter und aus ihm abzuleitenden Intentionen und Handlungen ablehnte. Während des Stalinismus fungierte das Motiv vom Drang nach Osten als Bestandteil des antideutschen Feindbilds. In der Deutschen Demokratischen Republik bezichtigte man Westdeutschland des „imperialistischen Drangs nach Osten“. Gestützt auf die marxistische Theorie und unter Rückgriff auf das Motiv vom Drang nach Osten verurteilte man die imperialistische deutsche Politik, die als Relikt der undemokratischen Vergangenheit Deutschlands galt. In der Bundesrepublik sprach man lieber von der mittelalterlichen Ostsiedlung und von den einstigen deutschen Ostgebieten, vermied aber eindeutig den Begriff Ostkolonisation. Im Jahr 1981 veröffentlichte der deutsche Historiker Wolfgang Wippermann (Wippermann 1981) eine Monografie zum Motiv des Drangs nach Osten. Wippermann zufolge ist die Vorstellung eines zeiten- und klassenübergreifenden deutschen Drangs nach Osten nur möglich, wenn man die Theorie von der Existenz nationaler Charaktere für zutreffend hält, was die Produktion weiterer Vorurteile nach sich ziehe. Wippermann sieht im Drang nach Osten ein Stereotyp, dessen Vitalität er auf eine Reihe deutscher politischer und geographischer Konzepte zu Grenzfragen, Staatsgebiet und Deutschlands Rolle in Europa zurückführt. Wippermann fordert, die Forschung zum Schlagwort Drang nach Osten müsse über historiografische Arbeiten hinaus auch Pressetexte und vor allem Belletristik und Trivialliteratur in ihre Quellenbasis einbeziehen, die im 19. und 20. Jh. bedeutsame Träger von Ideologien gewesen seien. Eine wichtige Rolle spielen hier auch Geschichtsbücher für den Schulunterricht sowie Heiligenstatuen, Denkmäler, Gebäude oder Bilder, die das historische Bewusstsein der breiten Massen beeinflussen. Als ideologisches Schlagwort hatte der Begriff zweifellos einen Bezug zur Wirklichkeit – die deutsche Expansion in Richtung Osten erfolgte nicht allein durch friedliche Ansiedlung, sondern auch durch Eroberungen, und war in großem Maße ein Ergebnis von Gewalt. Versuche, ihre Konkretisierung im Schlagwort Drang nach Osten ausschließlich als Mythos oder Stereotyp zu begreifen, widersprechen den Regeln der historischen Semantik, indem sie das Begriffen und Schlagworten immanente Element der Zeit ausblenden. Geschichte ist nicht nur Ereignis, sondern auch Erzählung (Koselleck; Stempel 1973), ein Zweiklang, in dem oft Schlagworte, die ins Bewusstsein späterer Generationen eingehen, die Funktion der Erzählung übernehmen.

Der Drang nach Osten war auch ein attraktives literarisches Motiv, das zunächst durch Gustav Freytags Roman Soll und Haben (1855) und seine historische Studie Bilder aus der deutschen Vergangenheit (Freytag 1888, S. 161) bekannt wurde, in denen er zur Erweiterung des deutschen Landes im Osten aufrief, die er als wunderbarste Tat der deutschen Nation ansah. Freytag war ab Mitte des 19. Jhs. bis in die 1960er Jahre einer der meistgelesenen deutschen Schriftsteller. Durch seine enorme Popularität etablierte sich das Thema Drang nach Osten dauerhaft im deutschen Roman und insbesondere in der Literatur des polnischen Grenzlands. In diesem Kontext entstanden auch Werke wie Hans Grimms 1926 veröffentlichter Roman Volk ohne Raum, dessen Titel in der Weimarer Republik und in der NS-Zeit als politischer Slogan Bekanntheit erlangte.

In den polnischen, tschechischen oder ungarischen nationalen Narrativen der zweiten Hälfte des 19. Jhs. bedeutete Drang nach Osten immer dasselbe: die ewige deutsche Lust, die Länder östlich der Elbe zu besetzen, verbunden mit sprachlicher und kultureller Zwangsgermanisierung, brutalen Kriegen, feindseliger Politik und Verachtung für die unterworfenen Völker. Der polnische Schriftsteller Stefan Żeromski machte den Ausdruck in Wiatr od morza (Wind vom Meer, 1922) zum Inbegriff für das anderen Ländern und Völkern zugefügte Leid, indem er ihn als Überschrift für eines der achtzehn Kapitel seines Romans verwendete.

Zahlreiche deutsche Romane der sogenannten Ostmarkenliteratur (Wojtczak 1998) vom Ende des 19. Jhs. beschreiben die Mühen der deutschen Kolonisten im Osten und gestalten mit Vorliebe die Figur des schon angesprochenen Kulturträgers, der den deutschen Geist und die deutsche Kultur verbreitet, meist als Einzelner unter den polnischen Bewohnern des preußischen Teilungsgebiets.

Ein Beispiel für die literarische Verarbeitung, aber auch für die Tradierung des Motivs wie in einer Zeitkapsel, ist der Roman Der Zug nach dem Osten (1898) der kaum bekann ten deutschen Schriftstellerin Annie Bock. Der Titel des Romans klingt wie Klaczkos Formulierung (Pochód na wschód), die Handlung ist in den Realien der Kolonialpolitik des Deutschen Reichs verankert. Die 1886 gegründete Königliche Ansiedlungskommission sendet Felix Graach, einen jungen Deutschen, der fest an die Kolonisierung glaubt, in die im ehemaligen Westpreußen gelegene protestantische Siedlung Buchenwalde, wo er im Sinne der Kommission zur Umsetzung des „Zuges nach dem Osten“ beitragen soll. Annie Bocks Roman enthält zahlreiche stereotype Vorstellungen über die Polen, das Land und die deutsche Kolonisierung der Gebiete östlich der Elbe, die so überaus stark die deutsch-polnischen Beziehungen beeinflussen. Graach ist überzeugt davon, dass sich mit Arbeit und Anstrengung eine ‚neue Welt‘ errichten lasse. Ordentliche deutsche Protestanten besetzen polnisches Land und übernehmen die Rolle von Missionaren und Lehrern der guten Arbeit, der Wirtschaft, des Rechts und der einzig richtigen deutschen Kultur. „Nur wer selber tüchtig mit angreift an der großen Arbeit der Menschheit – nur der hat ein Anrecht auf Erfolg, auf Glück“ (Bock 1898, S. 413) Der Protagonist des Romans scheitert. Er muss die Kolonie in Buchenwalde verlassen, obwohl es ihm gelingt, eine evangelische Kirche zu bauen und einen Pastor für sie zu finden. Er vermag jedoch den Anforderungen der Ansiedlungskommission nicht gerecht zu werden. Er ist kein vorbildlicher Kolonisator, allzu leicht beugt er sich dem Druck der polnischen Einwohner von Buchenwalde. Umso interessanter ist die Aussage von Annie Bocks Roman: Die deutschen Siedler im Osten hatten die Rolle von lebendigen Schutzschilden gegen die slawische Welle in den östlichen Provinzen des deutschen Kaiserreichs. Das von der Kolonisierungskommission erworbene polnische Land sollte dabei als heilende Initiative einer in großem Stil betriebenen Landwirtschaft dienen. „Die Stärke der Nation […] erforderte ein autoritäres, nicht pluralisiertes System, und die System-Eingeschworenen glaubten im Nationalismus die wahre Legitimation gefunden zu haben und unbewusst – wie z. B. die Agrarier – ein besonders geeignetes und populär wirksames Mittel zur Systemerhaltung“ (Nipperdey 1992, S. 595–609, hier S. 609). Wenn die Kommission einen polnischen Besitz erwarb, dann tat sie dies – nach Bocks Darstellung – nur zu dem einen Zweck, dass Deutsche den Platz der Polen einnehmen sollten, und in der festen Überzeugung, dass nur durch den Kampf für die Dominanz der deutschen Kultur, der deutschen Politik, des Protestantismus und durch die Eliminierung des durch Polentum und Katholizismus verkörperten Feindes das deutsche nationale Interesse geschützt werden könne.

Die Erzählung von Felix Graach überrascht im Kontext der Geschichte des Ortes, in dem die Handlung des Romans angesiedelt ist. Buchenwalde ist das polnische Bukowiec (ein Dorf in der Gemeinde Bukowiec am Südrand der Tucheler Heide [Bory Tucholskie]), das die Ansiedlungskommission 1894 der Besitzerfamilie Czapski abkaufte (Annie Bocks Roman erschien vier Jahre später). Obwohl das Dorf katholisch war, kam es in die Hände von Protestanten, die eine eigene Kirche errichteten.

Annie Bocks Roman ist literarisch solide geschrieben. Man erkennt den starken naturalistischen Akzent und die Meisterschaft in der Figurenzeichnung, was beides im Kontext der zahlreichen zur selben Zeit erscheinenden trivialen, ja primitiven Propagandawerke deutscher AutorInnen über die polnischen Gebiete, die preußische Kolonisation und den Drang nach Osten keine Selbstverständlichkeit ist. „Der Zug nach dem Osten“ bedeutete für Bock, dass allen Bewohnern der Kolonie Buchenwalde, Polen wie Deutschen, der protestantische Glaube aufgezwungen wurde. Der Übertritt zum Protestantismus bildete für die Autorin eine Bedingung für die Ansiedlung von Deutschen in Buchenwalde, „denn katholisch sein in dieser Gegend, heißt polnisch werden“ (Bock 1898, S. 150). Bei Annie Bock verbindet sich das Aufzwingen des einzig richtigen, nämlich deutschen Arbeitsethos mit der Überzeugung, die Polen seien verräterisch, unklug, unselbständig, abergläubisch, wenngleich mitunter auch sympathisch oder gar hinreißend (die junge polnische Magd Raska Jarezka), doch vor allem bedürften sie der Führung durch die kluge und starke deutsche Hand. Und die Aufrichtigkeit des deutschen Kolonisten, die Loyalität gegenüber der Ansiedlungskommission, der Felix Graach seine gute (missionarische) Stellung verdankt, erfordert die Treue zur protestantischen Lehre.

Annie Bocks Roman ist einerseits eine literarisierte Beschreibung der Ende des 19. Jhs. in Bukowiec ablaufenden Prozesse (Kauf eines Dorfes durch die Ansiedlungskommission, Bau einer protestantischen Kirche gegen den Willen der durchgängig katholischen Bewohner), andererseits dokumentiert er in seiner fiktionalen Ebene Stimmungen und Überzeugungen, legt Lösungen nahe und beweist vor allem, dass das Thema des Drangs nach Osten vor allem für die Bevölkerung des Grenzlands von akuter Relevanz war (auf dem gesamtdeutschen Markt konnte sich der Roman nicht durchsetzen), Emotionen weckte und eine Reihe stereotyper Vorstellungen evozierte, darunter die Idee einer untrennbaren Verknüpfung von religiösem Bekenntnis und Nationalität. Bocks Roman ist ein Beispiel dafür, wie die schöne Literatur zur Verfestigung des Begriffs Drang nach Osten sowie auch der Idee einer Deutschland vom slawischen Osten drohenden Gefahr beitrug.

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann

 

 

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Brückner, Aleksander: Encyklopedia staropolska, Bd. 2, Warszawa 1990.

Davies, Norman: Boże igrzysko. Historia Polski, Bd. 1., Kraków 1991.

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Imhof, Michael: Polen 1772 bis 1945, Frankfurt am Main 1996.

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Lemberg, Hans: Der „Drang nach Osten“ – Mythos und Realität. In: Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe, hg. von Ewa Kobylińska, Andreas Lawaty und Rüdiger Stephan, München – Zürich 1992, S. 22–28.

Leuschner, Torsten: Der „Drang nach Osten“ zwischen Publizistik und Historiographie. Neues und Veraltetes aus der Feder von Henry Cord Meyer, 2002, https://www.kakanien-revisited.at/rez/Tleuschner3.pdf, [abgerufen am 9.11.2021].

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Zientara, Benedykt: Z zagadnień terminologii histerycznej: „Drang nach Osten“. In: Społeczeństwo, gospodarka, kultura. Studia ofiarowane Marianowi Małowistowi w czterdziestolecie pracy naukowej, hg. von Stanisław Herbst, Warszawa 1974, S. 433, S. 427–428.

 

 

Wojtczak, Maria, Dr. habil., verfasste die Beiträge „Drang nach Osten“ und „Pole gleich Katholik vs. Deutscher gleich Protestant ”. Sie ist Professorin an der Universität Poznań und arbeitet in den Bereichen deutsche Literatur- und Kulturgeschichte, Literatur und Religion, literarischer Regionalismus.

 

 

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