Leszek Pułka

Literatur, Bücher und Buchhandlungen in der deutschen und polnischen Kultur – zwischen Normalität und Pandemie



Sowohl in der Publizistik als auch in der Wissenschaft ist es heute üblich, zwischen den digitalen und analogen Medien beziehungsweise zwischen den RezipientInnen/den Usern dieser Medien wählen zu müssen. Seit 1981, als Baudrillard seine Theorie des Simulakrums veröffentlichte, und spätestens seit 1993, als das Internet der Kommunikation im Netz derart charakteristische Grafikmasken überstülpte, stellen ForscherInnen und PublizistInnen gerne nicht nur mediale Gattungen, sondern auch zivilisatorische Paradigmen einander gegenüber. Während auf der Ebene der Gattungen und der Kommunikationsrituale die Distinktionen der neuen Medien leicht zu erkennen sind, führt der Vergleich zivilisatorischer Paradigmen, die vor nicht langer Zeit Stanisław Lem dazu veranlassten, futurologische Überlegungen anzustellen, zur Entropie der Schriftkultur zugunsten einer Kultur des Überflusses, das heißt der Reizüberflutung, der Informationsschwemme und – wie Paweł Nowak es nannte – der Überkommunikation. Aufgrund des Kulturwandels haben wir es nicht nur mit einem „flachen Denken“ (Nicholas Carr) zu tun, sondern wir leben – um Olga Tokarczuks Nobelpreisrede zu zitieren – „in einer Wirklichkeit polyphoner IchErzähler und werden von allen Seiten mit polyphonem Lärm konfrontiert“.

Folglich lebt der moderne Rezipient/User in einem deformierten, hybriden Informationswirrwarr. Im Spannungsverhältnis zwischen der Autonomie einer individualisierten Perspektive und dem Gefühl der Entfremdung aufgrund der Opposition zwischen dem Ich und der Welt. Tokarczuk, die den modernen Buchmarkt charakterisiert, verweist auf seine eigentümliche Algorithmizität: die kategorische Trennung in Genres, die der gegenseitigen Kommunikation nicht förderlich ist; die Fragmentierung des Buchmarktes; der thematische Determinismus von Buchmessen und -festivals; das Paradigmatische der Kategorisierung, die den BibliothekarInnen das Leben eigentlich erleichtern sollte, die AutorInnen zwingt, sich den Gesetzen von Marketing und Logistik zu unterwerfen, die Gift für literarisches Experimentieren ist und die das Grenzüberschreitende und Exzentrische – Voraussetzungen für jede Form der Kunst – ausschließt. Die Philosophie des Brandings und Targetings, erklärt Tokarczuk, die Kommerzialisierung der „gesamten Literatur“ ist das Ergebnis des Turbokapitalismus der großen IT-Konzerne. Die bezaubernde, poetische „Nichtgesellschaftsfähigkeit“ (nieprzysiadalność), die noch vor Jahren Marcin Świetlicki besang, hat sich transformiert in ein Leben in Informationsblasen, in nicht zueinander passenden Narrationen, im Bann gesellschaftlich spaltender Serien, in einer mythologisierten Welt der Verschwörungstheorien und Fake News. Keine leichte Aufgabe für den Leser von Büchern.

Fragen nach dem Stellenwert des Buches waren nie einfach zu beantworten. Die Buchwissenschaft (Bibliologie) ist die allgemeine Lehre vom Buch, wobei das Forschungsinteresse im Speziellen der Buchkunst, also der Handwerkskunst, Bücher herzustellen und zu gestalten, und der Buchhandelskunde gelten. Bis zu einem gewissen Grad auch der Bücherkunde (Bibliografie), die sich mit der Beschreibung von Büchern befasst, und der allgemeinen Geschichte des Schrifttums. Mit diesem Wissen lässt sich das Modell des Buchmarktes und des Lesepublikums für eine konkrete ökonomische Realität rekonstruieren. Allerdings sollte diese Expertise heute um das mehr und mehr dominierende mobile Instrumentarium zur Organisation von Texten, um die Analyse neuer gesellschaftlicher Bindungen und um den Vertrieb von Buchprodukten im virtuellen Raum ergänzt werden. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Kannibalisierung der Medien, womit ein verändertes Leseverhalten, die Akzentverschiebung vom gedruckten Wort zur digital vermittelten Raumzeit, gemeint ist. In Deutschland erklären 44 % der E-Book-Nutzer und 25 % der Audiobook-Hörer, gänzlich auf ein Leseerlebnis mit Papierrascheln zu verzichten.

Neben buchwissenschaftlichen Studien, die uns mit Buchwissen versorgen, sei auch an die wichtige Rolle jener Zeitschriften erinnert, die das Erscheinen, den Verkauf und die Lektüre der Bücher begleiten – zu nennen wären hier vor allem die seit Jahren erscheinenden Magazine Nowe Książki (Neue Bücher) und Książki. Magazyn do czytania (Bücher. Magazin zum Lesen). In Deutschland kaufen Literaturbegeisterte u. a. die farbige Zweimonatsschrift Bücher. Magazin, die die Liebe zum Lesen und zum Publizieren miteinander verbindet, oder die Vierteljahresschrift buchSZENE. Das Magazin für Bücherfreunde, deren professionelle Rezensionen als Leseinspirationen dienen. Beide Titel existieren auch als attraktive Internetportale.

Das Bewusstsein für Bücher und Buchhandlungen sollte im 21. Jh. ein wichtiger Teil der Reflexion über Kultur sein, ein interdisziplinäres Phänomen, das die Bereiche Buchkunde, Wissenschaftsinformation, Bibliologie und Bibliografie, Informatik und in gewissem Maße auch Literaturkritik und Kunstgeschichte umfasst – wie auf dem Portal des Rezensionsforums literaturkritik.de oder auf dem polnischen Pendant dwutygodnik. com mit seinen umfangreichen Rezensionsseiten. Was in der Regel aber nicht der Fall ist. Natürlich können wir auf viele PublizistInnen verweisen, die ihrer Sorge Ausdruck verleihen, ob der schlechten Situation des klassischen Buches und der Stagnation der nichtelektronischen Leserschaft, und zu dieser Thematik zahlreiche Branchenreports finden; schwieriger ist es jedoch auf Philosophen des Buches und Anthropologen des Lesens zu verweisen. Erwähnenswert sind jedoch die kreativen Aktivitäten der Buchhandlungen, wie z. B. der Buchhandlung Lüders auf ihrem Instagramkanal oder der Tajne Komplety („Eine echte Buchhandlung und nicht bloß ein Online-Shop“). Eine eigene und inspirierende Welt ist die Blogosphäre, u. a. mit dem 2020 ausgezeichneten Blog literaturpalast.at und dem in den Rankings polnischer Buchblogs alljährlich an vorderster Stelle rangierenden krytycznymokiem.blogspot.com.

Das moderne Buch aus Papier hat daher viele Formen, Attribute, Förderer und virtuelle Phantome. Mit seiner Gestalt beschäftigen sich VerlegerInnen und GrafikerInnen, mit ihren Attributen KritikerInnen und MarketingexpertInnen, mit ihrer physischen Existenz GroßhändlerInnen und MarktanalystInnen. Den gewöhnlichen Leser interessieren zwei Aspekte des Buches – seine Form und der Akt des Lesens. Die neuen Medien haben einen tiefgreifenden kulturellen Wandel ausgelöst. Beim Twittern und Simsen schreiben wir kürzer, bündiger, expressiver, aber auch oberflächlicher. Dabei geht die für die intelligenten RezipientInnen so attraktive Mehrdeutigkeit verloren, während der ikonifizierte Ausdruck sich auf popkulturelle Stereotype oder ironische Demotivation Poster bezieht. MedienwissenschaftlerInnen sprechen von einer kategorischen Ambivalenz der medialen Botschaft; SchriftstellerInnen der alten Schule würden sagen, dass im binären Codierungssystem der Welt die Funktionen der Werkanalyse und -interpretation eingeschränkt wurden und eine eindeutige Mitteilung sowie ein – in jedem anderen Aspekt des Kommunikationsakts – ebenso eindeutiges Urteilen übrigblieben: ein Haten oder Liken.

Die Dynamik der modernen Kommunikation simplifiziert die Welt. Das lässt sich auf symbolische Weise erklären – die elektronischen Medien haben nur einen Bildschirm, eine Seite: den Avers. Ein Revers gibt es bei ihnen nicht, es existiert nur ein Gehäuse für die Technologie. Die veränderte Funktion des Buches und des Lesers ist ihrem Wesen nach mit der spezifischen Ontologie des virtuellen Raumes verbunden. Im Zeitalter der Computerisierung, seit den 1980er Jahren, verliert das Buch – bisher langsam und nicht allzu dramatisch, aber stetig – seine „andere Seite“; die räumliche und visuelle Sinnlichkeit der Vorderseite (recto) hat im Lesegerät kein Gegenstück, keine Rückseite (verso); Buchblock (princeps) und Bund (canalis), Kopfschnitt (apex) und Fußschnitt (fundus), selbst der scheinbar banale Buchrücken (spina) sind verschwunden. Das Gewicht und die Textur des Papiers, der Geruch des Klebers, des Einbandgewebes und der Druckfarbe wurden durch einen flachen Kunststoff- oder Glasbildschirm in einem Plastikgehäuse abgelöst. Das Blättern in einem Buch, das Aufstellen der Bücher in einem Regal und das Räumliche der Bibliotheken wurden durch Scrollen, das heißt durch ein Vor- oder Zurückspulen der Bildschirme, ersetzt. Die sich auf Autorität stützende Alchemie des Werkes weicht einer Informatik, die die Vorlieben der LeserInnen algorithmisiert, nicht sonderlich kreativen Applikationen und einer mit dem Mikrokosmos Buch inkompatiblen Informationsflut.

Wir, die wir heute in einer Welt der digitalisierten Produkte leben, könnten halb im Scherz sagen, dass die Matrix, selbst im 3D-Format, flach wie eine Landkarte von Plinius dem Älteren ist. Allerdings wird dank der elektronischen Medien, der Tablets, Lesegeräte und Smartphones, insbesondere in der jüngeren Generation (der Gruppe der 18- bis 40-Jährigen), die zu den aktiven Nutzern der neuen Medien gehören, mehr als früher gelesen. Ein Paradox unserer Zeit: Während die Zahl traditioneller Buchleser abnimmt, wächst die E-Book-Leserschaft kontinuierlich. Zudem lässt sich beobachten, dass die Bestände der häuslichen E-Bibliotheken aufgestockt werden. In den USA lesen die BesitzerInnen von Tablets und E-Readern jährlich bereits fast doppelt so viel wie die Buchtraditionalisten.

Der Bericht der polnischen Nationalbibliothek über das Leseverhalten von 2018 spricht Bände: 95 % der Befragten verweigerten sich E-Books und 96 % Hörbüchern. Unter den begeisterten LeserInnen sehen die Zahlen etwas besser aus – die Vergleichswerte liegen „lediglich“ bei 52 % beziehungsweise 64 %. 2019 bekannten 6 % der polnischen LeserInnen – dies entspricht einem Bevölkerungsanteil von 2,5 % – E-Books zu lesen, während 3 % erklärten, Audiobooks zu hören. In Deutschland dagegen wurden 2018 3,6 Mio. E-Books (einschließlich Lehrbücher) für den Privatgebrauch gekauft; der Anteil der E-Book-LeserInnen wächst von Jahr zu Jahr und macht bereits 5 % des Marktes aus – in der Pandemie beschleunigte sich dieser Trend noch; der Verkauf von E-Books nahm 2020 um 43,5 % zu. Audiobooks wiederum fanden 18 Mio. HörerInnen. Auch die polnische Buchhandelskette Empik verzeichnete im Pandemiejahr 2020 beim Verkauf von E-Books einen 20 %igen Anstieg.

Da auch das Stöbern im Netz zum Lesen gezählt werden muss, bleibt es an uns, die Bedeutung des Bücherlesens zu definieren. Geht man davon aus, dass das Internet keine Bibliothek, sondern eine Textothek beziehungsweise – präziser gesagt – eine Infothek ist, lässt sich das moderne Lesen nicht mit dem Stellenwert, den das traditionelle Buch beim Leser genießt, gleichsetzen. In Polen machen die „echten LeserInnen“, die jährlich mehr als sieben Bücher lesen, etwa 9 % der Bevölkerung aus – ein stabiler Rückgang von einem Ausgangsniveau von 22 bis 24 % in den Jahren 1994–2004. Statistisch gesehen kaufen wir nur eineinhalb Bücher pro Jahr, während es bei den Tschechen oder Deutschen fast das Zehnfache ist. Obwohl die Covid-19-Pandemie 2020 zu Umsatzeinbußen in Höhe von 2,3 % führte, und die Verkaufszahlen Mitte März bis Mitte April, laut dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels, im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 65,7 % einbrachen, griffen 2020 in Deutschland 21 Mio. LeserInnen täglich oder mehrmals in der Woche zum Buch, während 30 Mio. Deutsche seltener als einmal im Monat oder überhaupt nicht lasen. In Polen lasen 2019 60,9 % der Bevölkerung keine Bücher – unabhängig von der Form des Buches. Womöglich ist dies einer der Hauptgründe für das „Nationale Programm zur Leseförderung 2.0 in den Jahren 2021–2025“ (Narodowy Program Rozwoju Czytelnictwa 2.0 w latach 2021–2025) mit seinem Milliardenbudget. Ähnlich wie deutsche Initiativen richtet sich das Programm an öffentliche Büchereien sowie an Schul- und Fachbibliotheken. Über die Bemühungen der Politik und des Deutschen Bibliotheksverbands im Zusammenhang mit der Leseförderung informiert beispielsweise der Bericht zur Lage der Bibliotheken. Zahlen und Fakten 2020/2021.

2020 hatten die stationären Buchhandlungen in Deutschland einen Umsatzrückgang von 8,7 % zu verbuchen. Interessanterweise wurden in der Pandemie deutlich mehr Kinder- und Jugendbücher verkauft (+4,7 %), während die Reiseliteratur den größten Rückgang (− 26 %) zu verzeichnen hatte. Die Situation der polnischen Buchhandlungen war prekär. Laut einer Umfrage der Polnischen Buchkammer (Polska Izba Książki) zogen 17 % der VertreterInnen des Buchhandels und der Verlagsbranche eine Betriebsaufgabe in Erwägung, 42 % hielten ein solches Szenario für möglich, und dies obwohl in Polen während der Pandemie mehr gelesen wurde, was zu einer sinkenden Verschuldung der Buchhandlungen und Verlage führte – 39 % der Polen gaben an, in der Pandemie mehr Bücher gekauft zu haben als davor. Dies ist generell der Trend in Europa, auch wenn die Situation in Polen z. B. von der in Italien, wo die Verlagsbranche in der Pandemie einen Rekordumsatz von 1,54 Milliarden Euro erwirtschaftete, weit entfernt ist. 2020 kauften die Italiener 104,5 Mio. Bücher.

Die Tradition aus dem 19. Jh., die Vorabendstunde mit einem Buch zu verbringen, hat sich in Deutschland gehalten. Bücherlesen nimmt seit Jahren einen prominenten Platz auf der Liste der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen der Deutschen ein. Eingefleischte LeserInnen machen einen beträchtlichen Prozentsatz der Bevölkerung über vierzehn Jahre aus. Die Expansion des virtuellen Raumes bedeutet jedoch nicht zwangsläufig das Ende der Gutenberg-Galaxie, sondern vielmehr ihre grundlegende, sinnliche und geistige Konvertierung, da daraus eine Marktstruktur wurde, die zu einem beträchtlichen Teil ihrer früheren Rolle und Funktion als Buchhändler beraubt worden ist. Das Konsumangebot ist – wie jede Hyperlink-Welt – das Ergebnis eines umfragebasierten Marketings und führt uns von der Wahl eines E-Readers zum Kauf eines E-Books. Produkt, Ware, Kunde, Sonderangebot, Warenkorb, Lieferung, Gutschein, Login – das sind die Grundbegriffe dieser algorithmisierten Welt. Über die Verlagspolitik entscheidet die Marktforschung und die Gewinnprognosen, die Rolle des Lesers wird von der Notwendigkeit bestimmt, online zu sein, und das Schicksal des Buches hängt vom Vertrieb ab. Das traditionelle Buch ergänzt die digitalisierte Welt um konkrete, gewissermaßen analoge Werte. Es ist immer noch ein recht bedeutendes Segment, wenngleich Amazon seit Dezember 2009 nach eigenen Angaben mehr digitale als gedruckte Bücher verkauft.

Das diffizile Gleichgewicht zwischen „Papier“ und „Ziffer“ zu bewahren – so wie es z. B. die Buchhandlung Tajne Komplety versucht –, erfordert einen strategischen Umbau der klassischen Buchhandlungen. Es geht nicht darum, dass die Buchhandlungen ihre Homepage stärker in den Vordergrund rücken, sondern dass sie angesichts der Expansion des E-Books und der digitalen Leserschaft eine neue Rolle finden und – nolens volens – zu hybriden Buchhandlungen werden.

Immer häufiger lässt sich beobachten, dass insbesondere kleinere Buchhandlungen – wie z. B. die bereits erwähnte, 1956 gegründete Buchhandlung Lüders – von dieser Hybridität profitieren. Die Hamburger Buchhandlung wurde 2020 zum wiederholten Male für ihre kundenfreundliche Atmosphäre, ihr kompetentes und engagiertes Personal, ihr gemütliches Lesesofa, für die klassischen Lesungen sowie für den witzigen und ästhetischen Auftritt in den Sozialen Medien, vor allem auf Instagram, ausgezeichnet. Eine solche – während des Lockdowns zeitweise ausgesetzte – Mikrokosmizität betreibt auch die Buchhandlung Tajne Komplety in Wrocław, die nahezu 90.000 Titel in klassischer und elektronischer Form offeriert. Die Buchhandlung veranstaltet regelmäßig Events mit SchriftstellerInnen, neben Büchern hat sie auch Grafiken, Plakate und Schallplatten im Angebot. Es sind Titel für KennerInnen – von anspruchsvoller Literatur bis zu ausgesuchten philosophischen und kulturwissenschaftlichen Büchern. Die Überzeugung, dass jedes Buch, das der Welt eine Diagnose stellt, auch seinen Leser findet, wird durch die Inneneinrichtung verstärkt – der Raum zwischen den klassischen Regalinseln ist, wie bei Lüders, mit Teppich ausgekleidet. Man kann sich auf dem Sofa niederlassen oder auf einen harten Stuhl an einen Tisch setzen. Die Möglichkeit des ausgedehnten Stöberns und die Beziehung zwischen Käufer und fachkundigem Personal schaffen in solchen Buchhandlungen ein besonderes Klima. Dies ist äußerst wichtig, da in Polen fast 9 % der Leser in kleinen Buchhandlungen Einkäufe tätigen, wenngleich in Deutschland im Zuge der Pandemiekrise ihr Marktanteil zugunsten des Internethandels von 73 % auf 57 % zurückging. Ungeachtet der Pandemie wurden jeweils eine deutsche und eine polnische Buchhandlung einer anthropologischen Beobachtung unterzogen – das eine Geschäft befindet sich im niederschlesischen Breslau (Wrocław), das andere im brandenburgischen Berlin. Es handelt sich dabei zum einen um die Empik-Niederlassung im Kaufhaus „Renoma“ in der ulica Świdnicka 40 und zum anderen um das KulturKaufhaus Dussmann in der Friedrichstraße 90.

Den klassischen Buchhandelsraum trifft man in Polen immer seltener an. Die frühere architektonische Trennung zwischen dem Leserbereich – eine Glastheke mit Neuheiten, Regalinseln – und dem Buchhändlerbereich in verhältnismäßig kleinen Buchläden wurde durch offene Räume, eigentümliche Passagen und manches Mal sogar durch Regallabyrinthe ersetzt. Die einen realisieren das Benjamin’sche Paradigma der offenen, der Stadt zugewandten Passagen im Stile der Galeries Lafayette oder – toutes proportions gardées – der Buchhandlung Empik in Wrocław, die anderen – wie zum Beispiel das Pariser Kaufhaus FNAC in der Rue de Rennes oder eben Dussmann – stellen eher gläserne Kulturbunker dar. Kleinere Geschäfte, wie die Buchhandlung Pod Arkadami in Wrocław oder der Literaturladen Wist in Potsdam, versuchen weiterhin durch das Theatrum relativ kleiner Auslagen – die im Verkehrsdurcheinander der Stadt kaum sichtbar sind (Pod Arkadami) oder von den benachbarten Fassaden und Schaufenstern erdrückt und auch im Google Street View gerne übersehen werden – unsere Aufmerksamkeit zu erregen.

Im Gegensatz zu Online-Buchhandlungen sieht man bei ihnen nicht den hybriden Charakter der Wirklichkeit, und falls doch, dann eher bei der Informationsvermittlung oder der Diskussion mit BesucherInnen der Buchhandlung. Die grundlegenden Kategorien des Netzes – die Vermischung der Rollen von Autor, Verleger, Verkäufer, Kritiker und Rezipient – kommen hier nicht zum Tragen. Außerhalb des Informationsdisplays, den wir uns aktiv erschließen können, wird die Rollenabgrenzung zwischen den Gestaltern der Raumzeit und deren Nutzern nicht verwischt. Im Übrigen erweisen sich Bildschirme als nicht allzu nützlich – zu vielen Titeln gibt es im Netz keine Informationen (das Scannen der Codes bleibt ergebnislos), man erhält zu Neuheiten in der Regel nur einen lakonischen, oft nur aus einem Satz bestehenden Werbetext oder die falsche Rückmeldung „Produkt in diesem Geschäft nicht verfügbar“.

Desgleichen lässt sich schwerlich beobachten, dass das E-Book (sowie die Apps zum Kauf, zur Lektüre und zur Herstellung von Publikationen) – analog zu der in den Medienwissenschaften postulierten digitalen Dominanz – im untersuchten Buchhandelsraum, im Vergleich zum gedruckten Buch, eine dominierende Stellung einnimmt. Zwischen der Verkaufsfläche, die für Produkte aus Papier bestimmt ist, und jener für Produkte aus Kunststoff (E-Books, Hörbücher, CDs, DVDs, Blu-ray, Computerspiele usw.) besteht häufig ein großes Ungleichgewicht. Auch die Verwandlung des Self-Publishing-Autors zum traditionellen Buchautor, von der in der Netzcommunity viel gesprochen wird, ist wenig überzeugend, da für den Außenstehenden nicht sichtbar. Stattdessen bemerken wir eine verstärkte Semiose von Produkten, die von den Buchhandelsketten mit Logos versehen werden (Bauchbinden – z. B. „Nike-Preis“ [Nagroda Nike], „Bestseller“ – bewirken, dass Designsymbole den gewöhnlichen Buchhandelsprodukten einen Zeichenstatus geben). Die Instrumente der Trends und des Publikumsgeschmacks sind für den Leser nicht zu übersehen (z. B. die Regale „Empik-Bestseller“ [bestsellery Empiku] oder „Unsere Bestseller“ bei Dussmann).

Die Distinktion der Neuheiten (Trends) scheint eine visuelle Dominante zu sein – der entsprechend große Schriftzug „Neuheit!“ (auf Buchcovern, Regalen und vertikalen Bannern) ist an vielen Stellen im Verlauf der Kommunikation zu lesen. Schwieriger ist es, die Auflösung der Traditionsstränge wahrzunehmen – ein im Konsumprozess ständig präsenter Mechanismus (Verwässerung der Kanons) ist nur an den Ständen und in den Wühlkisten mit Sonderangeboten zu erkennen (dort vermischen sich Produkte verschiedener Zeiten und Stilrichtungen), wohingegen die allgemeine Verwicklung der TeilnehmerInnen der Populärkultur in die digitale Revolution der Transaktion und Beratung durch eine klassische Face-to-Face-Kommunikation ergänzt wird, die aus Verhandlung, Beratung (seitens der Verkäufer), phatischen Äußerungen, Exkursen zum Thema zeitgenössischer Kultur und sogar Scherzen (auch über die Kompetenz der Verkäufer) besteht.

Es fällt daher schwer, den Beobachter dieser Kommunikationsrituale davon zu überzeugen, dass innovative Produkte (E-Reader oder Konsolen) die Position des Kunden verändern oder neue, zumindest metaphorische Neigungen kreieren. Buchhandlungen werden eher von NutzerInnen aufgesucht, die bereits über die neuesten Gadgets des digitalen Lesens und Spiels verfügen, oder von BesucherInnen, die an Ort und Stelle die Computerspiele ausprobieren wollen (so war es in der Empik-Filiale in Wrocław, inzwischen wurde der Raum für Computerspiele aber dekonstruiert; Dussmann wiederum bevorzugt Brettspiele). Gelegentlich konnte man in den beobachteten Objekten Kinder oder Jugendliche sehen, die ihren Aufenthalt im Spieleraum als vorübergehenden Wechsel ihres Status begriffen – aufgrund des gesellschaftlichen Status oder der Generationenkonkurrenz war dies nur eine kurzfristige Distinktion. Aufgrund der Pandemie konnten solche Erfahrungen nicht mehr gesammelt werden, beziehungsweise sie wurden andernorts gemacht, z. B. in Elektronikmärkten. Die Schlussfolgerung liegt nahe: Bei Jugendlichen scheint die Neigung zum Spielen stärker ausgeprägt zu sein als die Neigung zum Lesen – eine Feststellung, die empirische Untersuchungen bestätigen. Empik besteht – betrachtet man das Geschäft als einen Konsumtempel – aus einem Mittelschiff mit einer vielfältigen Produkt- und Dienstleistungspalette, von Schreibwaren bis zu Geschenkartikeln, einem linken Seitenschiff, das mit Büchern ausgefüllt ist, und einem Kassen-Querarm, von dem ein Seitenschiff mit Musikträgern und Filmen abgeht, mit einer schwungvoll gebogenen Abzweigung, die von einer Stoffwand mit aufgedruckten Firmenlogos verdeckt wird. Hinter ihr verbirgt sich der ehemalige Raum für DVDs und Konsolenspiele, der außer Betrieb genommen wurde. Im Grundriss ähnelt der Empik-Megastore dem griechischen Buchstaben Φ, nur in eckiger Form.

Empik nimmt fast die Hälfte der Stockwerke des Kaufhauses ein. Da das Geschäft vom übrigen Raum durch Glaswände und Fenster getrennt ist, macht es – von natürlichem Licht durchflutet – einen angenehmen Eindruck. Die grafischen Akzente des Ladeninnern wechseln. In der Regel erfüllen sie eindeutig Marketingfunktionen, die mit geschäftseigenen Werbeaktionen verbunden sind – sie stärken das Profil der Marke. Momentan bewerben sie das pandemische Sternchen-Programm „empik premium“, das das vorherige Format „mein empik“ (mój empik) ablöst. Dunkelblau-goldene Werbetafeln, auf denen „Lern unser Kulturpaket kennen“, „Gewinne 15 % auf Bücher“ oder „empik premium / kostenlose Lieferung per Kurier zu allen Abholstellen“ zu lesen ist.

„Empik premium“ ist ein Treueangebot für StammkundInnen, die lieber in stationären Geschäften einkaufen und empik.com oder mobile Apps nutzen. Dieses Angebot verspricht u. a. eine Reihe von Vorteilen, die in Prozenten messbar sind – Rabatte und Rückzahlungen in Höhe von bis zu 3 % der ausgegebenen Summe auf das Konto in empik.com – „bis zu 600 Zloty jährlich“.

Den Eingangsbereich des Geschäfts ziert ein Warensicherungssystem mit vier Sensortoren, die mit Werbeplakaten verhängt sind – die stets aktualisiert werden. Der Rhythmus, in dem diese Tore schräg aufgestellt wurden, dynamisiert den Akt des Grenzübertritts. Der Fußboden ist entweder aus grauen Keramikfliesen, also neutral, oder mit grauem Teppich ausgekleidet. Ähnlich wie der graue Teil der offenen Decke – hebt man den Blick, erblickt man verschiedene röhrenförmige Installationen.

Das Mittelschiff erweckt den Eindruck enormer Konsumfülle: vollgestellt mit Ladentischen und Regalen, an den Wänden Werbetafeln und Poster von Büchern, gefüllt mit zahlreichen Ständen für Zeitungen und Zeitschriften (auch mit anspruchsvollen Nischentiteln und deutschen Presseerzeugnissen, u. a. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt, Schöner Wohnen, Stern und Der Spiegel), für Uhren, Kalender, Ansichts- und Glückwunschkarten, Schlüsselanhänger, Spielzeug, Schreibwaren, Schmuck, Keramik und Frühstückstabletts. Das Ganze erinnert an einen Basar.

Das linke Seitenschiff ist zugestellt mit Tischen, Warengestellen, Wägelchen und Regalen mit Büchern – das Werbearsenal umfasst praktisch den gesamten Buchhandelsraum und nimmt die unterschiedlichsten Formen an: von stabilen Ständern („Buch mit Autogramm“) bis hin zu Gestellen für zeitlich begrenzte Werbeaktionen. Allerdings finden wir hier auch axiologische Dekorationen: historische Elemente, Schwarz-WeißFotografien und Zitate berühmter Politiker, Literaten und Reiseschriftsteller, u. a. von Władysław Bartoszewski und Elżbieta Dzikowska, die die kulturtragende Rolle des KMPiK (so hieß die Firma früher) loben. Auf Tafeln ist die Rede von „Königreichen der Kultur, Fürstentümern der Periodika, Kaiserreichen der Intelligenzija“, die „auf dem Zenit der polnischen Volksrepublik inmitten der heimischen Eintönigkeit“ erschienen. Die BeobachterInnen haben es daher mit einer leichten Bewusstseinsspaltung zu tun – einerseits nehmen sie ungewöhnlich positive Eindrücke mit aus dem Aufenthalt in der reichhaltigen, popkulturell bunten und zugleich einladenden, weil mit Leseplätzen angefüllten Buchhandlung (lange Tische, an denen schweigend LeserInnen sitzen, gleichsam gedanklich und phonisch voneinander getrennt, was als ungewöhnliches Verhalten anzusehen ist), andererseits befinden sie sich in einem klassischen Supermarkt, in dem in unmittelbarer Nachbarschaft Uhren, Bändchen, Becher, Döschen, Kalender, Zeitungen usw. verkauft werden. Auch dieses Schiff ist mit kleinen Schreibwarenartikeln gefüllt, es überwiegen jedoch Bücher.

Der Bücherbestand wurde im Wesentlichen auf zwei Räume verteilt – die am Eingang dominierenden Neuheiten und die thematischen Sammlungen: Reportage, ergänzt um Atlanten, Karten, Globusse und Reiseführer (darunter nur einige wenige, die deutschen Städten, z. B. Berlin oder München, oder Deutschland gewidmet sind), Kunst (darunter zahlreiche Bildbände mit deutscher Kunst, vor allem mit den Werken alter Meister; es gibt jedoch auch – zum Teil deutschsprachige – Publikationen über Werbung und modernes Design), Religion, Psychologie, Fotografie, Sport, Ratgeber und Kochbücher (ohne deutsche Küche), Wörterbücher und Fremdsprachen (Niemiecki nie gryzie [Deutsch beißt nicht] ist einer der beworbenen Titel), fremdsprachige Literatur, Geschichte (vor allem Werke über den Zweiten Weltkrieg), polnische und ausländische Literatur sowie eine große Abteilung mit Kinderbüchern. Ein Europäischsein im weitesten Sinne ist der kleinste gemeinsame Nenner. Deutschland ist in diesem Raum kaum sichtbar, WissenschaftlerInnen würden sagen: vertreten, erfüllt jedoch nicht die grundlegenden Anforderungen; bemerkbar, aber unwichtig. Tippt man den Begriff „deutsche Literatur“ in die Suchmaschine ein, erhält man als Ergebnis gerade einmal 72 Titel, 64 Hörbücher und E-Books, darunter nur zwei fremdsprachige Publikationen – eine davon sind Friedrich Nietzsches Schriften auf Englisch.

Der grundsätzliche Regulierungsmechanismus ist jedoch, würden wir das Wertesystem des polnischen Lesers rekonstruieren, ein Historismus, der stark vom Faschismus/ Nationalsozialismus, von der diabolischen Gestalt Hitlers und von den Großen Drei geprägt ist (daher Bücher wie Kaci Hitlera [Originaltitel: Hitler’s Foreign Executioners], Hitlerland, Wiek ludobójstwa [Originaltitel: Worse Than War. Genocide, Eliminationism, and the Ongoing Assault on Humanity], Noc morderców [Originaltitel: Der Lemberger Professorenmord und der Holocaust in Ostgalizien] und Wspólny wróg [Originaltitel: Der Feind steht im Osten]). Völlig unsichtbar ist der Alltag in Deutschland, dessen Mediensystem, Politik und Kultur (Biografien sind die Ausnahme), Küche und Bräuche sowie dessen Wirtschaft. Wir sprechen von dem, was zu sehen ist, nicht von dem, was sich in Katalogen finden lässt, wenngleich es den Anschein hat, dass dies – von der Klassik abgesehen – eine recht bescheidene Auswahl ist. Den Schluss dieser Narration bildet die Beschreibung der Stände, die der Popkultur gewidmet sind: Disney, Lego, Star Wars, Furby, Schleich, Angry Birds und – der in diesem Zusammenhang etwas verlorene wirkende – VW Käfer sind Konsumdistinktionen des Querarms, die die zu den Kassen oder zu den Musik- und Filmregalen eilenden LeserInnen aufhalten sollen. Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass die Musik deutscher Komponisten sowie CDs deutscher Dirigenten und Instrumentalisten zahlreich vertreten sind, und dies zu einem exklusiven Preis, während der deutsche Film, ähnlich wie die deutsche Literatur, kaum präsent ist.

Empik ist ein Selbstbedienungsladen. Wir beobachten für derartige Konsumräume auffällige Verhaltensweisen: ein Sittenspiel, das meist von jungen Menschen aufgeführt wird, die mit ihren für Nischenkulturen oder die Popkultur typischen Kostümen ihre tatkräftige, (auch sprachlich) übermäßig expressive Jugend, ihre Unabhängigkeit, ihren direkten Humor wie auch subtile Liebesgesten demonstrieren – abseits des Mittelschiffs und vor dem Eingang konnte man vor der Pandemie ruhige Plätze mit Liegestühlen finden, wo Teenager flirteten und Zärtlichkeiten austauschten.

Viele LeserInnen kommen zu Empik, um kostenlos zu lesen. In aller Stille, in sich gekehrt. Zumeist recht modisch und adrett gekleidet. Andere wiederum, häufig die Eltern kleiner Kinder, laufen wie auf einem Spielplatz durch das Geschäft, auf der Suche nach den üblichen Geschenken, Weihnachtsandenken, zurzeit gefragten Texten, Filmen und CDs. Sie repräsentieren die neue polnische Mittelschicht. Während KennerInnen, in allen Altersgruppen, mit Kennerblick die Bücherstände und Regale überfliegen, nach Sonderangeboten Ausschau halten und ihre Sammlungen vervollständigen. Eine im beschleunigten Rhythmus der Stadt pulsierende Gemeinschaft, die gelegentlich einen Gang zurückschaltet, wenn auf der kleinen Empik-Bühne ein Schriftsteller, ein Sänger oder ein Musiker auftreten.

Die Friedrichstraße ist – ähnlich wie die ulica Świdnicka in Wrocław – eine Hauptverkehrsstraße. Sie hat einen starken historischen Akzent in Gestalt des Checkpoint Charlie und kreuzt die Prachtstraße Unter den Linden. Das KulturKaufhaus Dussmann schreibt sich eindrucksvoll in die architektonische Ordnung des modernen Stadtzentrums ein. Es hinterlässt als architektonisches Konstrukt einen wesentlich stärkeren Eindruck als Empik (obwohl es nicht so beeindruckend ist wie das eklektische Kaufhaus „Renoma“, in dem Empik untergebracht ist). Das Innere des KulturKaufhauses erinnert lebhaft an das mehrdeckige Theatron eines Kreuzfahrtschiffes. Die ästhetische Dominante ist die Farbe Rot und die horizontalen Decks der Regallabyrinthe und Inseln aus Bücherpyramiden. Das Bild des Objekts verstärkt die Distinktion des KulturKaufhauses und macht aus dem Gebäude eine weitläufige Passage beliebter wie auch erlesener Buch- und Musikgattungen. Diese Distinktion wird durch Hinweistafeln mit dem Themenverzeichnis der einzelnen Etagen bekräftigt – die dort aufgeführten Büchergattungen und -sorten sind differenzierter als in Empik, die Auflistung umfasst wesentlich genauere Genrebezeichnungen. Auch die Inneneinrichtung, bei der das Firmenrot mit dem Schwarz der Regale kontrastiert, und die verglasten Rolltreppen vermitteln den Eindruck eines fast schon luxuriösen Raumes. Auf der Website von Dussmann wird ein geflügeltes Wort von Voltaire, dem Patron der Bücherwelt, zitiert: „Lesen stärkt die Seele“.

Der Blick von unten auf das rot-schwarz-gläserne Gebäude: Ebene 1 bietet klassische Musik, CDs und DVDs, sowie Noten und Musikalien. Auf der Ebene 0 findet man Bücher über Berlin und Brandenburg, Klassik, zeitgenössische Literatur, den English Bookshop, Regale mit Musik, CDs, DVDs und Schallplatten, die Abteilung mit Schreibwaren und Geschenkpapier, den Kundenservice und hinter der Sphinx-Statue eine kleine Bühne für eintrittsfreie Events sowie das Café-Restaurant „Ursprung“. Ebene 1 präsentiert die Gattungen, die eine eigene Fangemeinde haben: Comic und Manga, Fantasy, historischer Roman, Hörbuch, Kriminalliteratur und Science-Fiction. Darüber hinaus die Abteilung mit englischsprachigen Publikationen und den International Bookshop, in dem man auch zahlreiche polnische Titel findet, in erster Linie aber Kinder- und Sachbücher. Es ist auch die Etage für Filme auf DVD und Blu-ray. Und schließlich gibt es zahlreiche Leseecken, recht gemütlich arrangierte Tische und Stühlchen, die zum Schmökern einladen. Ebene 2 hat Bücher aus vielen verschiedenen Fachgebieten im Angebot: u. a. Film und Theater, Garten und Natur, Gesundheit, Hobby /DIY, Kinderund Jugendbuch, Kochen, Kunst und Architektur, Lifestyle, Musikbuch, Reiseführer und Landkarten, Spiel und Sport. Ebene 3 ist den seriösen Branchen vorbehalten – von IT bis Geschichte, Politik, Recht und Wirtschaft. Das Ganze scheint anfangs rechts unübersichtlich zu sein, doch die informativen Hinweisschilder und gut ausgeschilderten Wege, die die Kunden zu dem für die jeweilige Abteilung zuständigen Personal führen, erleichtern die Navigation. Die Namen der Themenbereiche – weiße Schrift auf schwarzem Grund – sind gut verständlich, in einem klaren Font geschrieben.

Der Eingang berauscht nicht unbedingt. Man überschreitet einfach die Schwelle des KulturKaufhauses – der Außenraum ist laut und großstädtisch, der Innenraum konzentriert, mit künstlichem Licht beleuchtet, sehr hell, ohne zu blenden. Der Rhythmus der Ebenen wird durch Kugellampen aufgelockert, die die scheinbar starre Anordnung der Kommunikationsvertikalen und Ausstellungsebenen durchbrechen. Die Stockwerkebenen und die Labyrinthe auf ebendiesen Ebenen verschlucken den großstädtischen Lärm – der Gang zu den Regalen mit Fachbüchern erstickt die Leidenschaften der Stadt. Die – scheinbar paradoxe – Stille regt zur Kontemplation an. Wie in der Empik-Filiale in Wrocław haben die Kunden auch hier Zeit, in den Regalen zu stöbern oder am Tisch in Büchern zu blättern. Fachkundige MitarbeiterInnen helfen dem Kunden bei der Auswahl. Am wenigsten sinnlich ist die Teleportation zu den Kassen – hier stehen Konsumrituale im Vordergrund, während die Aneignung differenzierter Buchinhalte in den Hintergrund rückt.

Während Empik ein klassisches Subjekt des Produkttransfers zu sein scheint und die Identifikation mit der Marke eine offensichtliche Marketingstruktur ist, erweist sich Dussmann als totales Konstrukt – das sowohl in das Gewebe der Stadt als auch in eine raffinierte, alternative Wirklichkeit eindringt. Es verlangsamt den Rhythmus der Zivilisation, offeriert eine eigentümliche, innere Welt, die aber – dank der Schaufenster – in wiedererkennbaren Alltagskontexten verankert ist. Wenn wir also nach dem heutigen Stellenwert des Buches und der Buchhandlung in der deutschen und polnischen Kultur fragen, erhalten wir keine eindeutigen Antworten. Man könnte – vereinfacht gesagt – antworten, dass Buchhandelsfirmen Modellsituationen anbieten, vom kleinen gesellschaftlichen Mikrokosmos bis hin zum großen Handelszentrum. Andererseits unterliegen Buchhandlungen und Bücher der Macht der LeserInnen, und diese lässt sich – wie es scheint – nicht als ein Modell der Welt beschreiben.

Aus dem Polnischen von Andreas Volk

 

Literatur:

Alles Rechtens? Kultur im Livestream, in: https://kultur-b-digital.de/digitale-kultur/praesentieren-vermitteln/alles-rechtens-kultur-im-livestream/, 28.10.2021.

Bericht zur Lage der Bibliotheken, Zahlen und Fakten 2020/2021, in: https://issuu.com/bibverband/docs/bericht_zur_lage_2010__2021_web_final_2, 28.10.2021.

Das Buch in Zeiten von Corona – Perspektiven für den Markt, in: https://www.boersenverein.de/markt-daten/marktforschung/wirtschaftszahlen/, 28.10.2021.

Dukaj, Jacek: Po piśmie, Kraków 2019.

https://www.borromaeusverein.de/buechereiarbeit/corona-und-buechereien/, 28.10.2021.

https://www.bvoe.at/themen/bibliotheken_und_corona, 28.10.2021.

https://www.pwc.de/de/technologie-medien-und-telekommunikation/german-entertainment-media-outlook-2020-2024-blitzlicht-buchmarkt.html, 28.10.2021.

Nowak, Paweł: Naturalny porządek rzeczy w języku, Warszawa 2020.

Szczęsna, Ewa (Hg.): Przekaz digitalny. Z zagadnień semiotyki, semantyki i komunikacji cyfrowej, Kraków 2015.

Tokarczuk, Olga: Czuły narrator, Kraków 2020.

 

 

Pułka, Leszek, Dr. habil., verfasste den Beitrag „Literatur, Bücher und Buchhandlungen in der deutschen und polnischen Kultur – zwischen Normalität und Pandemie“. Er ist Professor an der Universität Wrocław und arbeitet in den Bereichen Literatur- und Kulturgeschichte, modernes Theater, Populäre Medien/Kultursemiotik, Soziale Medien.

 

 

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