Agnieszka Pufelska
Die Ähnlichkeit im Unterschied: Antisemitismus in Polen und Deutschland
Eine Analyse der Interaktionen zwischen dem deutschen und polnischen Antisemitismus macht eine Präzisierung des verwendeten Begriffes unverzichtbar. Sicherlich ist der Antisemitismus keine homogene Geistesströmung und muss als ein komplexes Gebilde aus Diskursen, Denkformen und Praktiken verstanden werden, das je nach Land und Gesellschaft eine andere historische Abkunft aufweist. In dieser Vielschichtigkeit lässt er sich dennoch als eine historisch und kulturell bedingte Verfolgungspraxis verstehen, deren Struktur verallgemeinernd in drei Grundprinzipien fassbar ist: (1) Die Personifizierung gesellschaftlicher Prozesse mit daraus resultierender Verschwörungstheorie; (2) Die Konstruktion identitärer Kollektive; (3) Manichäismus, der die Welt strikt in Freund und Feind, Eigenes und Fremdes oder Gut und Böse teilt und die realen oder imaginierten Juden kollektiv zum Bösen oder zum Fremden (→ Stereotype) stilisiert.
Generell ist der Antisemitismus als „eine gewalttätige Praxis gegen die Juden in Wort und Tat“ zu verstehen (Claussen 2011, S. 179). Die gesellschaftliche Praxis gibt dem Begriff „Antisemitismus“ seine Bedeutung. Wobei zu betonen bleibt, dass die antisemitischen Feinddefinitionen nicht einfach mit nichtantisemitischen gleichzusetzen sind: Es handelt sich nicht um Fremdenfeindlichkeit oder gewöhnliche Xenophobie. Berührungspunkte sind gleichwohl vorhanden, dennoch ist die Geschichte des Antisemitismus wie kaum eine andere eine Geschichte des (abstrakten) Bildes vom „Juden“, das vom eigenen Selbstbild abgegrenzt und bekämpft wird. Im Falle Polens und Deutschlands (sowie in allen anderen Ländern) läuft diese gewalttätige Praxis hinaus auf stereotype Gegensatzpaare wie „kommunistisch“, „zersetzend“, „gottlos“, „demoralisierend“, „verräterisch“ versus „antikommunistisch“, „aufbauend“, „religiös“, „national“ und „patriotisch“. Beinahe alle der genannten negativen Eigenschaften werden keiner anderen Nation zugeschrieben. Deutsche, Russen, Polen, Franzosen oder Ukrainer gelten in der nationalen Apologetik und Verfolgungspraxis der beiden Länder als gefährliche Feinde, als „zersetzend“ oder „demoralisierend“ werden sie jedoch nie gekennzeichnet. Allerdings hat der moderne Antisemitismus diese Gegensatzpaare nicht selbst hervorgebracht, sondern es waren die gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklungen, die die polnische und deutsche Judenfeindschaft prägten. Mit anderen Worten: Der moderne (politisch-rassistische) Antisemitismus ist aus der universalen christlichen Judenfeindschaft hervorgegangen und ist vom Antijudaismus nicht zu trennen.
Von religiöser zur politischen Judenfeindschaft
Spätestens seit dem Hochmittelalter gab es in den christlich-abendländischen Gesellschaften auf deutschem und polnischem Gebiet Feindseligkeiten gegenüber Angehörigen der jüdischen Religionsgemeinschaft. Diese waren in Westeuropa viel stärker ausgeprägt als in Polen, wo bis zum 12. Jh. nur vergleichsweise wenige Juden lebten. In ihrem Mittelpunkt stand der Vorwurf des Gottesmordes, den die Juden angeblich regelmäßig durch Hostienschändung und symbolisch an christlichen Kindern vollzogene Ritualmorde zu wiederholen trachteten. Die antijudaistische Dämonisierung der Juden konnte unter bestimmten Voraussetzungen sogar in Gewaltexzesse münden. Sie hatte die soziale Deklassierung der Juden innerhalb einer sich christlich definierenden Gesellschaft zur Folge, die als Umsetzung Gottes gedeutet und legitimiert wurde. Die deutschen Christen hatten die Juden zunächst in spezifische wirtschaftliche Betätigungsfelder, wie vor allem die Steuerpacht und den Geldverleih, abgedrängt, die ihnen aus religiösen Gründen versperrt schienen. Nachdem sie jedoch erkannt hatten, welchen Gewinn sie dabei erwirtschaften konnten, schränkten sie die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Juden deutlich ein. Seitdem häuften sich die Verbote, die dann in Verfolgungen und Vertreibungen mündeten. Die ersten großen Verfolgungen fanden in Deutschland während der Kreuzzüge (1096, 1146/47 und 1196) statt und erreichten ihren Höhepunkt um Mitte des 14. Jhs., als „der Schwarze Tod“, die große Pest, umging. Auf der Suche nach den Ursachen des Unheils stempelte man die Juden zu Sündenböcken mit dem Argument, sie hätten die christlichen Brunnen und Quellen vergiftet. Nutznießer der antijudaistischen Verfolgungen waren vor allem die Schuldner der Juden sowie deren ökonomische Konkurrenten, die auf die religiösen Erklärungen zurückgriffen, um ihre ökonomisch bedingten Interessen zu legitimieren. Die Einführung der Sondersteuer und Kleiderordnung für die Juden sowie ihr Abdrängen in bestimmte Gassen oder Viertel machten die zunehmende Diskriminierung sichtbar.
Die religiöse und ökonomische Bekämpfung der Juden führte dazu, dass die mittelalterlichen jüdischen Gemeinden in Deutschland so gut wie vernichtet wurden. Zahlreiche Juden konnte sich rechtzeitig durch eine Flucht nach Polen retten, weil dort die Pogrome nicht die Intensität wie diesseits der Grenze hatten und weil die polnischen Herrscher ihnen wirksamen Schutz und Privilegien versprachen. Schon König Bolesław V. hatte 1264 im sog. Statut von Kalisz den Juden ein Privileg erteilt, das den Zuzug jüdischer Siedler befördern sollte. Kasimir III., der Große, hatte das ökonomische Potenzial der Juden erkannt und setzte die judenfreundliche Politik fort. Zum Wohle seines Landes gab er ihnen neue Privilegien und entzog sie damit dem deutschen Recht. Die Juden Polens konnten dann, im Gegensatz zu ihren deutschen Glaubensgenossen, eine relativ breite Autonomie genießen. Diese Maßnahmen machten Polen zu einem attraktiven Zufluchtsland für die verfolgten Juden aus Westeuropa. Die nach Osten gerichteten Migrationen aus Deutschland wurden derart umfangreich, dass sich schließlich der Schwerpunkt des aschkenasischen Judentums nach Polen verlagerte. Sie alle brachten ihre Sprache mit, die aus dem Alt- und Mittelhochdeutsch, durchsetzt mit hebräischen Elementen, hervorgegangen war, das Jiddische, auch Juden-Deutsch genannt.
Das goldene Zeitalter der Juden in Polen ging im Laufe des 15. und 16. Jhs., insbesondere in der Zeit von Reformation und Gegenreformation, allerdings zu Ende. Zur Verschlechterung der Beziehungen trugen neben den althergebrachten religiösen Konflikten die wirtschaftlichen Spannungen bei. Im feudalen Polen war die jüdische Bevölkerung zu Handel und Geldverleih gezwungen und wurde vom Adel als Finanzier, Pächter oder Unterpächter eingesetzt. Heiko Haumann weist in seiner Geschichte der Ostjuden darauf hin, dass Juden auch in anderen Ländern eine solche Rolle zugewiesen wurde, sie aber nur in Polen beinahe das Monopol auf die Pacht von Maut, Steuern, Mühlen, Brennereien, Brauereien und Schänken sowie Ländereien hielten. Juden übernahmen oft eine Mittlerrolle im Wirtschaftskreislauf zwischen Stadt und Land sowie allgemein innerhalb der Gesellschaft, wo sie als Diener der ausbeutenden Herren wenig beliebt waren. Sieht man von Anfeindungen seitens der katholischen Kirche, des verschuldeten Kleinadels und der christlichen Konkurrenz ab, dann war in erster Linie das Verhältnis zu den Bauern prekär, welche die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten. Ihnen galten die Juden als Werkzeug der grundherrlichen Unterdrückung und da sie daraus Profit schlugen, verachtete man sie besonders. Der Nexus von „Profit“ und „Jude“ wirkte herabsetzend, weil er nicht zu der die vormoderne Welt beherrschenden Vorstellung „von der existentiellen Sicherung des täglichen Lebens“ und den damit verbundenen fest „gefügten Vorstellungen über ‚Ehre‘ und Produktion“ passte (Haumann 1998, S. 35f). Dadurch erhielt die religiös motivierte gesellschaftliche Ausgrenzung der Juden eine zusätzliche wirtschaftsethische Dimension.
Zu Konflikten kam es auch auf kultureller Ebene. Die kaum integrierten, meist im Schtetl wohnenden Juden, die eine eigene Sprache sprachen, sich als von Gott auserwählt betrachteten, an eigenen Speisegesetzen festhielten und sich durch ihr äußeres Erscheinungsbild deutlich abhoben, wurden durch die christliche Majorität mehrheitlich als Fremde im Inneren des eigenen Landes angesehen. Aufgrund dieser Faktoren – durch das Jude-Sein sowie durch die wirtschaftliche und soziale Außenseiter und Mittlerrolle – erschien die jüdische Bevölkerung im doppelten Sinne fremdartig: Sie stand zwischen den Gutsherren und den Bauern, zwischen verschiedenen Religionen und Nationalitäten, zwischen Innen und Außen (Vertrautem und Unbekanntem) und geriet schließlich zwischen die Pole „Gut“ und „Böse“. Als Fremde, die zugleich als im Kontakt mit allem sonst Fremdartigen und Bösartigen stehend angesehen wurden, projizierte man auf sie die allgemeinen Ängste, die durch wirtschaftliche, politische, weltanschauliche oder sogar durch meteorologische Veränderungen ausgelöst wurden. Man unterstellte ihnen, sie hätten sich mit dem Teufel verschworen und profitierten von allem Schlechten, das Christen zustoße. Vor diesem Hintergrund konnte die Judenfeindschaft in einem vielschichtigen Prozess in die polnische Volkskultur eingehen. Während in Polen die Judenfeindschaft vorwiegend durch die unteren Schichten und Kirche getragen und praktiziert wurde, machte sie sich in Deutschland auch an königlichen und fürstlichen Höfen breit und diente den Herrschern und der wachenden intellektuellen Öffentlichkeit dazu, ihre Vorstellungen vom aufgeklärten Staat zu realisieren. Unter der leitenden Frage, „was nutzen uns die Juden“, setzte eine Politik ein, die sich zwischen einer fiskalischen Ausbeutung und kulturellen Ausgrenzung bewegte. Das beste Beispiel für die wirtschaftliche Verfolgung der Juden liefert Friedrich II., auch der Große genannt. Seiner Ansicht nach sollten sich Juden im preußischen Staat lediglich in dem Maße entfalten können, in dem sie sich in der Lage zeigten, den ambitionierten Zielen der friderizianischen Wirtschaftsentwicklung zu dienen. Um den Zustrom der „unnützlichen“ Juden nach Preußen (vor allem aus Polen-Litauen) zu stoppen, wurden sie in sechs Klassen unterteilt. Am besten gestellt waren die wenigen „Generalprivilegierten“, die christlichen Kaufleuten gleichgestellt waren und sich überall frei bewegen konnten. Dann kamen die drei Typen von „Schutzjuden“, die sich nur an festgelegten Orten niederlassen durften. Diejenigen, die kein Aufenthaltsrecht erhielten, galten als „geduldete“ Juden. Sie waren rechtlos und durften nicht heiraten, genauso wie die niedrigsten Juden, die „Tolerierten“, die mit den „geduldeten“ die Mehrheit des preußischen Judentums ausmachten. Die oberen Klassen waren auch für die Kollektivzahlungen verantwortlich, welche stets angehoben wurden und immer mehr jüdische Familien einer Verelendung aussetzten. Diese strengen Regelungen führten schließlich dazu, dass die meisten Juden aus den Städten verdrängt oder vertrieben wurden.
Das Nützlichkeitsprinzip prägte auch das kulturelle Verhältnis der Deutschen zur jüdischen Minorität seit Beginn des 18. Jhs. Den deutschen Aufklärungsphilosophen, wie z. B. Immanuel Kant, die die Offenbarungslehre verwarfen und sich für eine auf Gesetzen der Natur und universeller Moral basierte Naturreligion einsetzten, galt das Judentum als eine barbarische Religion, als moralisch verkommen, starr und intolerant. Kennzeichnend für die propagierte Kluft zwischen Judentum und Vernunftglaube war die Tendenz, dass Juden nicht mehr ausschließlich als Angehörige einer Religionsgemeinschaft betrachtet wurden, sondern zunehmend als Nation, Volk, Staat oder „Rasse“. Wobei zu betonen bleibt, dass der aufgeklärte Widerstand gegen die Aufnahme der Juden mit oder ohne Taufe zu dieser Zeit keine rassistische Begründung hatte. Bezweifelt wurde vielmehr die Fähigkeit der Juden, die Herausforderung der Assimilation zu leisten. Die Stimmen, wie die von Christian Wilhelm von Dohm, der mit seinen Überlegungen Über die Bürgerliche Verbesserung der Juden (1781) die Programmschrift der einsetzenden Emanzipationsdebatte in Deutschland verfasste und sich eine Integration der bislang ausgegrenzten, jedoch prinzipiell „verbesserungsfähigen“ Minderheit erhoffte, stoßen bei den Philosophen der Aufklärung zunächst und zumeist auf ablehnende Haltung. Die Juden trugen für sie die Merkmale einer unmündigen, durch Tradition, Sprache und Geistesgesinnung geprägten Gemeinschaft, die unfähig und unwillig sei, die Ansprüche der Aufklärung zu realisieren. Das alte religiös geprägte Vorurteil über die sittliche Verkommenheit der Juden erschien nun im neuen Gewand der Kulturlosigkeit. Somit stellten sie mit ihrem Judenbild die Grundzüge einer Rhetorik der modernen Judenfeindschaft bereit und markierten die Übergangsphase, in der sich die säkularen Argumentationsmuster aus den religiösen herauszuschälen begannen.
Antisemitismus als Herausforderung des Nationalismus
Das Ineinandergreifen von religiös und politisch bedingter Judenfeindschaft bestimmte immer stärker auch das polnisch-jüdische Verhältnis. Entscheidend für diese Entwicklung erwies sich die Stigmatisierung der Juden als Fremde, die angeblich bereitwillig mit dem Feind sympathisierten, ja sogar kollaborierten, als Polen infolge der Teilungen durch Preußen, Russland und Österreich aufgehört hatte, als eigenständige Staatsnation zu existieren. Angesichts der permanenten Bedrohung und der immer wieder versuchten Mobilisierung gegen die Unterdrücker spielte die „Judenfrage“ eine wichtige Rolle. Eine integrative Lösung war nie in Sicht, da die Haltung der Juden gegenüber dem polnischen Wunsch nach innerer Konsolidierung und äußerer Unabhängigkeit durch das gleichzeitige Streben nach nationalkultureller und sprachlicher Homogenisierung unentschieden blieb. „Judenfrage“ und nationale Problematik ließen sich nicht voneinander trennen. Wiederholt reduzierte sich die Diskussion darauf, ob der jüdische Teil der Bevölkerung nicht doch auf der Seite der russischen (oder der preußischen bzw. österreichischen) Teilungsmacht stünde. Besonders nach dem Scheitern des 1830/31 durch die Julirevolution in Paris ermutigten Freiheitskampfes gegen die russische Herrschaft, der unter dem Namen „November-Aufstand“ in die Geschichte einging, galten die Juden immer stärker als politische Feinde. Mit der Niederlage trat eine Wandlung des bis dahin vorwiegend romantisch geprägten und literarisch artikulierten Nationalismus hin zu einer dezidiert politischen Bewegung ein. Im Zuge dieser Entwicklung gestaltete sich das polnisch-jüdische Verhältnis äußerst schwierig, da „nach dem Zerfall des polnischen Staates“, so Alexander Hertz, „nur eine mystische Konzeption der Nation erhalten werden konnte“. Als Nation wurde eine „geschlossene und sich in jeder Hinsicht von anderen nationalen Gemeinschaften unterscheidende Einheit von Landsleuten“ begriffen. „In diesem Sinne akzeptierte man nur eine gänzliche Assimilation der ‚Fremden‘ an das Polentum, d. h. eine vollständige Assimilation an die geltende Definition des Polen“ (Hertz 1961, S. 191).
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Folgen die Konstruktion einer Theologie der polnischen Nation für das jüdisch- polnische Verhältnis hatte? Die unter religiösen Prämissen geformte Auffassung von der außergewöhnlichen Rolle der polnischen Nation als Opfer der fremden Unterdrückung und ihrer herausgehobenen Funktion im Rahmen des göttlichen Plans (Polen als Christus der Völker) war geeignet, die politisch-nationalen Implikationen der Okkupation zu verarbeiten, erschwerte aber, wie Józef Niewiadomski gezeigt hat, positive Beziehungen zur jüdischen Bevölkerung: „Die Kirche, die die Heilsprärogative des Volkes Israels übernommen hat, konnte im spezifisch polnisch-nationalen Kontext das erwählte Volk gewissermaßen ‚doppelt‘ enterben: als Kirche und als erwählte Nation“ (Niewiadomski 1990, S. 70). Auch wenn der polnische Messianismus in seinen Voraussetzungen nicht antisemitisch konzipiert war und auf einen slawischen Völkerbund unter der moralischen Direktion Polens zielte, ließ er sich durch diese „doppelte Enterbung“ doch leicht antisemitisch vereinnahmen. Es lag nahe, die Juden als konkurrierendes Volk im Kampf um die Einzigartigkeit der Rolle Polens als Opfer zu begreifen, wobei der christlich-katholische Alleinvertretungsanspruch die Idee von der ewigen „jüdischen Schuld“ aufgriff, die sich im Vorwurf der permanenten Tötungsabsicht Christi manifestierte. Dadurch, dass die Schuld kollektiv projiziert wurde, konnte es zu einer Unterscheidung von Opfern und Tätern kommen. Vom nationalen Selbstbild abgrenzen und systematisch verschleiern ließ sich das Judenbild, indem man „Jesusmörder“ einfach gegen „Mörder der Nation“ austauschte. Auf der Grundlage solch zirkulärer Binnenlogik konnte sich der jetzt scheinbar legitimierte Antisemitismus bald subtiler, bald offener entladen. In der Definition der Nation versinnbildlichte religiöse Vorstellungen vom „feindlichen Juden“ verdeutlichen die untergründige Langzeitwirkung und Eigenheit des polnischen Antisemitismus ebenso wie die Tatsache, dass der im 19. Jh. entwickelte Nationalismus nicht eigentlich antisemitisch gedacht war, aber durchaus eine strukturelle Affinität zu antisemitischen Inhalten aufwies. Damit sank die Akzeptanz einer jüdischen Integration in die polnische Gesellschaft, und ihre Durchführung wurde dauerhaft verhindert.
Auch im Deutschland des 19. Jhs. wurde die Frage nach der Integration der Juden in die Mehrheitsgesellschaft virulent. Sie war Ziel der Emanzipationspolitik. Ähnlich wie in der polnischen Gesellschaft war diese Integration vielen nicht-jüdischen Deutschen nur als Assimilation vorstellbar. Man erwartete, ausgesprochen oder unausgesprochen, von der Emanzipation die Auflösung der sozialen Identität der Juden. Die Juden in Deutschland sollten „entjudet“ werden, damit sie zu den „guten Bürgern“ erhoben werden können. Weite Teile der Bevölkerung waren aber nicht bereit, Juden als geleichberechtigte Bürger zu akzeptieren. Der Hass gegen Juden schlug in den süddeutschen Staaten in den „Hepp-Hepp-Krawallen“ von 1819 in gewalttätige Ausschreitungen um. Der Prozess der jüdischen Emanzipation war aber nicht mehr zu stoppen. Die liberalen und revolutionären Bewegungen in Europa, vor allem die Revolution von 1848/49, verstärkten die Forderung nach bürgerlicher und politischer Gleichberechtigung der Juden und führten zu einem grundlegenden Wandel im Selbstverständnis des europäischen Judentums. Sie griffen nunmehr aktiv in das politische Geschehen ein, übernahmen politische Ämter und wurden in die Parlamente gewählt. Unterstützung fanden sie in den demokratischen und liberalen Parteien. Die jüdische Bevölkerung war keine religiöse Randgruppe mehr, sie stand im Zentrum der Gesellschaft. In dieser Umbruchphase, in der sich nationale, religiöse und politische Selbstverortungen neu definierten, traf die Integration der Juden nicht nur auf Unterstützung, sondern auch auf Skepsis und Widerstand, die sich je nach Interessenlage eher religiöser, nationalistischer oder wirtschaftlich-politischer Argumente bediente.
Den Juden wurde im antisemitischen Diskurs des 19. Jhs. die Schuld an allen sozialen Erschütterungen und alltagsgeschichtlichen Verunsicherungen zugeschrieben, die mit der Industrialisierung und den damit einhergehenden tief greifenden Umwälzungen von der agrarisch-handwerklichen zur industriellen Welt verbunden waren. Bis dahin war die traditionelle Rolle der Juden vor allem an die einfache Warenproduktion gebunden, bei der die Juden aufgrund ihrer besonderen Rechtposition über Kredit und Tauschwesen herausragende Mittlerdienste leisteten. Mit dem Übergang zur entfalteten Warenproduktion, zur kapitalistischen Produktionsweise, verloren sie nach und nach ihre Funktion. Die Anpassung der jüdischen Oberschicht an die veränderten Verhältnisse und ihr wirtschaftlicher Erfolg nährten die antijüdische Stimmung. Das Bild des jüdischen „Wucherers“ der ständischen Gesellschaft verwandelte sich in das des „Kapitalisten“ der bürgerlichen Gesellschaft, antijüdische und antikapitalistische Ressentiments potenzierten sich gegenseitig. In schwer zu durchschauenden kapitalistischen Wirtschaftssystem wurden allzu gerne „die Juden“ als traditionelle „Sündenböcke“ für die wirtschaftlichen Nöte und Krisen verantwortlich gemacht. Die Begriffe wie „Börsenjuden“, „die goldene Internationale“ oder „Judenkapitalismus“ popularisierten die Vorstellung einer finanziellen jüdischen Weltverschwörung.
Neben der Abwehr des „jüdischen Geldes“ wurden Ende des 19. Jhs. Stimmen laut, die zum nationalen Kampf gegen den „jüdischen Sozialismus“ aufriefen. Die Reaktion der Juden auf den sozioökonomischen Umbruch und die um sich greifende neuartige Judenfeindschaft fiel nicht einheitlich aus. Neben dem Zionismus oder der Assimilation fand auch der Sozialismus einen großen Zuspruch unter den Juden. Sie glaubten, die Lösung ihrer Probleme werde als Teil der allgemeinen Lösung der Übel der Gesellschaft erfolgen, erreichbar durch Integration und die Auslöschung all dessen, was sie von der Welt ringsum trennte. Die Popularität des Sozialismus unter den Juden sensibilisierte nationalistische und antisemitische Kreise in Polen und Deutschland in hohem Maße. Ohne größere Schwierigkeiten konnten sie den als international gedeuteten Sozialismus als jüdisches Instrument abstempeln und als neuen Feind der polnischen Nation oder des deutschen Staates brandmarken. In den Augen der Antisemiten avancierte so neben dem Kapitalismus der Sozialismus (später auch der Kommunismus) zu jüdischen Waffen im Konkurrenzkampf der Nationen. Die Verbindung von „goldener“ und „roter“ Internationale erweiterte die bis dahin vorwiegend antijudaistisch definierte Verschwörungstheorie um die politische Dimension. Die jüdische „Internationale“ des jüdischen Gottes und der jüdischen Religion, die die Herrschaft dieses Gottes auf der ganzen Welt zu errichten bestrebt sei, wurde so säkularisiert. An ihre Stelle trat das „Weltjudentum“, das in allen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen im Geheimen versuchen würde, durch sozialistische oder kapitalistische Verschwörungen die Macht zu erlangen und damit die Welt zu regieren. Zur Aufforderung der Stunde avancierte nicht nur die Befreiung der politischen Bewegungen vom „jüdischen Einfluss“, sondern vor allem die Ausgrenzung der Juden aus dem Staat und der Nation.
Befördert durch die internationale Wirtschaftskrise am Ende der 1870er Jahre und Bismarcks Kurswechsel von den Nationalliberalen hin zu den Konservativen entwickelte sich der Antisemitismus zu einer politischen Bewegung im deutschen Kaiserreich. In den Pressekampagnen der konservativen Parteien und der katholischen Zeitungen wurde antijüdisches Ressentiment bewusst politisch instrumentalisiert und zur Diffamierung der herrschenden Politik benutzt. 1879 – das Jahr, in dem der Begriff des „Antisemitismus“ in Umlauf kam – brachte mit der radikalen, rassistischen Publizistik Wilhelm Marrs, mit den Massenversammlungen der „Berliner Bewegung“ des Hofpredigers Adolf Stoecker und mit dem durch Heinrich von Treitschke ausgelösten „Antisemitismusstreit“ der Intellektuellen den ersten Höhepunkt der judenfeindlichen, antisemitischen Agitation, die sich fortsetzte in der Gründung antisemitischer Organisationen und der Unterschriftensammlung für eine „Antisemiten-Petition“, die im November 1880 eine ausführliche Debatte im preußischen Abgeordnetenhaus auslöste, in der nicht wenige Konservative und Zentrumsvertreter im Sinne Stoeckers und Treitschkes argumentierten. Der moderne Antisemitismus fand die rechtliche Gleichstellung der Juden als ein Faktum vor und wandte sich gegen das emanzipierte Judentum. Seine „Judenfrage“ war nicht mehr die Frage nach der Emanzipation der Juden oder ihrer „Nützlichkeit“, sondern die Forderung der „Emanzipation von den Juden“. Die gemeinsame Basis für die Antisemiten aller Schattierungen war die Behauptung, dass das emanzipierte Judentum eine Macht darstelle, gegen die man sich in einem Abwehrkampf befinde. Damit artikulierte sich der Antisemitismus als „kultureller Code“ (Shulamit Volkov), dessen Aufgabe es war, die Juden in der deutschen Gesellschaft zu identifizieren. Das zentrale Element dieses Codes war Rassismus. Nationalistische, kulturkritische und antiliberale Tendenzen verbanden sich unter dem Schutzschirm von Joseph Arthur de Gobineau und dem Bayreuther Wagnerkreis immer stärker mit rasseantisemitischen Gedanken. Der biologische Sinn des Begriffs „Rasse“ wurde historisiert und zum obersten Erklärungs- prinzip der geschichtlichen Welt erhoben. Das deutsche Volk wurde nun nicht mehr religiös konstruiert, seine Eigenart war nicht mehr durch Geschichte, Sprache und Kultur bedingt, sondern durch die Rasse bestimmt. Im rassistischen Selbstverständnis als „Her- renvolk“ wurde der Antisemitismus nicht mehr negativ-manipulativ eingesetzt, sondern war ein integraler Bestandteil einer positiven völkischen Überzeugung.
Judenfeindschaft als Voraussetzung der nationalen Selbstbestimmung beherrschte auch die Agitation der polnischen nationalistischen Bewegung im ausgehenden 19. Jh. Die polnischen Juden wurden von polnischen Nationalisten abgelehnt, weil sie, wenn sie sich assimilierten, als Konkurrenten gefürchtet wurden und wenn sie sich nicht assimilierten, als „Nation in der Nation“ galten. Die sprachliche und geschichtliche Nähe des polnischen Judentums zu Österreich und Deutschland sowie die Abwanderung und Abschiebung von ca. einer Viertelmillion der russischen Juden („Litwaki“) nach Kongresspolen bestätigten aus Sicht der polnischen Nationalisten den unterstellten Verrat der Teilungsmächte sowie die vermutete nationale Unzuverlässigkeit. Derartige Auffassungen gehörten zu den Grundüberzeugungen der „Demokratisch -Nationalen Partei des Königsreichs Polen“ (kurz: „Endecja“), die sich 1897 gebildet hatte. Roman Dmowski, der führende Kopf der Partei, bezweifelte in seinen Gedanken eines modernen Polen, dass die Assimilation der Juden überhaupt möglich sei. Sein Schlagwort „Polen den Polen“ richtete sich nicht nur gegen die Teilungsmächte, sondern auch gegen die Minderheiten im Land, allen voran Juden. Angesichts der polnischen Staatenlosigkeit und des Wunsches nach Unabhängigkeit, angesichts einer starken jüdischen Konkurrenz in Handel und Handwerk sowie dem Aufleben jüdischer politischer Bewegungen, kamen nationalistische und antisemitische Ideen gut an. Binnen kurzer Zeit wurde die Endec ja zu einer starken politischen Kraft. Besonderen Zuspruch fand sie in der polnischen Mittelschicht. Antisemitismus war dort eine Form des Patriotismus, der den polnischen Nationalcharakter zu bestimmen habe.
Zusammenfassend konnte man festhalten: Der Antisemitismus in der Zeit der Emanzipation und Assimilation nahm in Deutschland und Polen ähnliche Erscheinungsformen an. In beiden Gesellschaften entwickelte er sich im Zuge der sozioökonomischen Veränderungen des 19. Jhs. nicht nur zu einem politischen Argument, sondern auch zu einem festen Bestandteil des nationalen bzw. nationalistischen Bewusstseins. Die Hauptdifferenz bestand dagegen in seinem Verlauf sowie in den Mechanismen seiner Verbreitung. Der Grund dafür war die unterschiedliche Struktur der polnisch-jüdischen und der deutsch-jüdischen Gemeinschaft und somit auch ihre anders definierte Bereitschaft zur Assimilation an ihre nicht-jüdische Umwelt. Während in Deutschland das Gleichheitsversprechen durch Assimilation erfüllt werden sollte, ist eine ähnliche Tendenz innerhalb der polnisch-nationalstaatlichen Bewegung schwer auszumachen. Dass die Anpassung, die der deutsche Nationalismus von den Juden forderte, letztendlich nicht zur gesellschaftlichen Anerkennung der jüdischen Deutschen führte, bleibt unbestritten. Anders verhielt es sich in den Teilungsgebieten der alten polnischen Republik. Sicherlich gab es viele Juden, die sich als „polnische Patrioten“ verstanden, doch diese waren eine Minderheit: Die bereits seit dem Mittelalter bestehende kulturelle Eigenständigkeit der polnischen Juden machte sie im Alltagsleben zumeist erkennbar. Nur ein kleiner Prozentsatz von ihnen wollte oder konnte die isolierte Welt des Schtetls oder des jüdischen Viertels verlassen, um den Forderungen nach kultureller Assimilation zu folgen. Die strikte Trennung von Innen nach Außen bestimmte häufig das jüdische Selbstverständnis. Dementsprechend entwickelte sich die polnische Judenfeindschaft zu einem Konkurrenz-Antisemitismus, es ging um die Ausgrenzung und Bekämpfung einer konkurrierenden (jüdischen) Nation, die als Bedrohung für das Polentum betrach- tet wurde. Wobei diese „jüdische Konkurrenz“ angesichts der erkennbaren Präsenz der polnischen Juden als greifbar galt und in allen Lebensbereichen, sei es in Wirtschaft, Religion, Politik oder Kultur, beseitigt werden sollte. Aus diesem Grund wurden die rassistischen Theorien in Polen seltener als in Deutschland gebraucht, denn der zu bekämpfende jüdische Feind war der Nachbar von nebenan, der durch seine Kleidung oder Sprache leicht zu identifizieren war. Die polnischen Antisemiten begriffen sich zudem als Vorkämpfer der westlichen Zivilisation gegen die Juden, ihre nationale Aufgabe sahen sie in der Verteidigung des christlichen Europa vor den jüdischen Machtansprüchen. In dieser nationalen Megalomanie ging es mehr um die Etablierung der zivilisatorischen und weniger der biologischen Hoheit der Polen.
Eine andere Entwicklung weist dagegen der deutsche Antisemitismus auf. Auch hier wurden die Juden zunächst als ein Konkurrenzfaktor betrachtet und angefeindet, doch spätestens in den 80er Jahren des 19. Jhs., als der Prozess der Emanzipation und Assimilation für abgeschlossen betrachtet wurde, avancierte die Kenntlichmachung und Isolierung der Juden aus dem „Volkskörper“ zum Ziel und Zweck der deutschen Judenfeindschaft. Dass sich der Einfluss der Juden „zersetzend“ auf die deutsche Kultur und Sitte auswirke, brauchte nicht mehr so intensiv thematisiert zu werden. Jetzt ging es viel mehr um die Frage, wie man das Jüdische im Eignen erkennt, um es dann „eliminieren“ zu können. Mit dem völkischen Rassismus hatte man eine Basis gefunden, die den Antisemitismus zur Notwendigkeit des deutschen Volkes erklärte und die stets wachsende Radikalität und Aggressivität gegen Juden als Abwehrmaßnahmen legitimierte. Im Gegensatz zu den gewaltbereiten polnischen Antisemiten, die sich die Verteidigung der westlichen (lateinischen) Zivilisation vor dem „jüdischen Nihilismus“ zur Aufgabe stellten, galt dem deutschen Rassenantisemitismus das deutsche Volk als bereits existierende Verkörperung des zivilisatorischen Ideals, die von den „jüdischen Einflüssen“ biologisch bereinigt bzw. „erlöst“ werden sollte.
Der Weg zur Vernichtung
Während des Ersten Weltkrieges verschärfte sich der Vorwurf, die Juden würden sich immer mit dem jeweiligen Feind verbrüdern und ihn gegen die Polen oder Deutschen unterstützen, obwohl sich viele der jüdischen Mitbürger als Soldaten an den Kämpfen beteiligten. Unter den nicht-jüdischen Polen war die Beteiligung an antijüdischen Maßnahmen zunächst primär von materiellen Erwägungen bestimmt. So kam es zu Plünderungen, wenn Juden aus den Frontgebieten ins Innere Russlands deportiert worden waren. Da die christlich-polnische Bevölkerung teilweise gar nicht mehr mit der Rückkehr der Juden rechnete, muss dieses Verhalten nicht unbedingt bewusst antisemitisch motiviert gewesen sein. Die existentielle Not im Krieg begünstigte die allgemeine Gewaltbereitschaft und half den antisemitischen Parolen auf einen äußerst günstigen Nährboden zu fallen. Den Antisemitismus als politisches Argument nutzen vor allem rechtskonservative Parteien und Gruppierungen, die sich mit dem Vorwurf, die Juden würden mit dem Gegner kollaborieren, den Status der „einzigen wahren Polen“ zuschrieben und ihre politische Konkurrenz von links als projüdisch und dadurch unpatriotisch diffamierten. In Deutschland schien die Kriegsbegeisterung der Juden 1914 zunächst noch deren Integration zu fördern – mehrere Tausend deutscher Juden meldeten sich freiwillig zum Kriegsdienst. Je mehr sich aber das Kriegsglück gegen Deutschland wendete, desto mehr Raum gewann die antijüdische Agitation. Im Militär machte sich auf allen Ebenen bereits 1915 Antisemitismus wieder offen bemerkbar. Dahinter stand eine Kampagne der rechtsnationalen Parteien, die Eingaben an die Regierung und das Kriegsministerium organisierte, in denen Juden vorgeworfen wurde, sie würden sich vom Kriegsdienst drücken. Die Sozialisten und Fortschrittliche protestierten dagegen im Reichstag, und eine Weile widerstand die Regierung dem Druck von rechts, bis sie schließlich im Oktober 1916 eine „Judenstatistik“ anordnete, die den Einsatz von Juden im Heer erfassen sollte. Gegen diese infame „Judenzählung“ erhob sich vor allem von jüdischer Seite Protest, so dass die Ergebnisse nicht veröffentlicht wurden, was antisemitischen Unterstellungen Tür und Tor öffnete. Durch eine besonders aggressive antisemitische Agitation trat während des Krieges der „Alldeutsche Verband“ hervor. Bereits 1917 hatte er den Krieg in einen Kampf ums Dasein zwischen Deutschtum und Judentum umgedeutet und beschuldigte die Juden schließlich, an der Niederlage schuld zu sein. Mit der „Dolchstoßlegende“ wurde ein wirksames Propagandainstrument eingesetzt, um die Wende des Krieges aus der Verantwortung des Militärs auf Juden und Sozialdemokraten abzuschieben. In diesem Zusammenhang muss aber noch auf einen wichtigen Punkt des deutschen Antisemitismus während des Ersten Weltkrieges hingewiesen werden: auf die schon vor dem Krieg debattierte „Ostjudenfrage“. Die Pogrome in Russland Ende des 19. Jhs. und die wirtschaftliche Notlage in Osteuropa lösten eine massive Emigration unter der jüdischen Bevölkerung aus. Bis 1915 sind ca. 90.000 russische Juden nach Deutschland eingewandert. Nach Kriegsausbruch, als man nun mit der Ausdehnung Deutschlands nach Osten rechnete, entfachte der Streit über die angeblich bevorstehende Gefahr einer jüdischen Masseneinwanderung. In der Broschüre Die Ostjudenfrage, Zionismus und Grenzschluss warnte das Mitglied vom Alldeutschen Verband Georg Fritz schon 1915 vor der Flut von „Millionen nicht nur armer, leiblich und sittlich verkümmerter Menschen, sondern rassefremder, verjudeter Mongolen“ (Zit. nach Bergmann 2002, S. 68). Im April 1918 kam es dann zur medizinalpolitisch mit Fleckfieber begründeten Grenzschließung, obwohl man allenthalben in Osteuropa Fremdarbeiter für die deutsche Wirtschaft anwarb. Trotz der Proteste deutsch-jüdischer Organisationen und des Auswärtigen Amtes blieb die Grenzsperre bis Kriegsende bestehen.
Insgesamt kann man also festhalten, dass der polnische und deutsche Antisemitismus während des Ersten Krieges starke organisatorische, personelle und inhaltliche Kontinuitäten besaß und seine Wurzeln vor 1914 zu suchen sind, dennoch spricht vieles dafür, im Zusammenbruch der europäischen Ordnung von 1914 und im Erleben des ersten Massenkrieges und -todes seine Zäsur zu sehen. Durch den Krieg und seine Folgen sind die Resonanzbedingungen für antisemitische Politik in den beiden Ländern grundlegend verändert worden, wobei in Deutschland mit der „Judenstatistik“ und Grenzschließung eine „von oben“ angeordnete Entscheidung getroffen wurde, die auf eine breite Anerkennung in der Gesellschaft stieß und der Propaganda der antisemitischen Gruppierungen entgegenkam. In Polen dagegen wurde der Antisemitismus „von unten“ sanktioniert, weil eine nationale Zentralmacht fehlte und die nationalistischen Parteien ihre antisemitische Gesinnung gegen die Regierungen der Teilungsmächte propagandistisch eingesetzt haben, um sich dadurch einen Beifall bei der polnischen Bevölkerung zu sichern. Das änderte sich, als Polen nach dem Ersten Weltkrieg seine Unabhängigkeit wiedergewann und die nationale Konsolidierung zu einer dringenden Aufgabe auch durch die souveräne polnische Regierung erhoben wurde.
Da das nach 123 Jahren wieder auferstandene Polen dem nationalistischen Idealbild kaum entsprach, suchten national-konservative und klerikale Kreise nach Schuldigen. Antisemitische Propaganda fiel auf fruchtbaren Boden. Zu jenem Zeitpunkt gab es keine ethnisch einheitliche polnische Nation; innerhalb der Grenzen lebten nationale Minderheiten von beträchtlicher Größe, darunter die nicht zu übersehende Gruppe der Juden (ca. 10 % der Gesamtbevölkerung). Anspielungen auf eine innere Bedrohung waren sinnfällig und erleichterten die Mobilisierung der Mehrheit zur Gestaltung des Staates nach national- konservativen Vorgaben. Hinzu kam, dass das neue Gebilde wohl nicht mehr äußeren Kräften unterworfen, aber weiter von außen bedroht war. Gefordert schien der unverzügliche Einsatz der ganzen Nation für die gerade erst wieder gewonnene Freiheit, wodurch die Nationalstaatsidee das politische Leben vom ersten Tag an bestimmte. Im Antisemitismus fanden zunächst wirtschaftliche Unsicherheit und innenpolitische Machtkämpfe ein Ventil. Mit der russischen Revolution und der Etablierung einer kommunistischen Macht im Osten wurde der Antisemitismus zur Forderung der Stunde. Jetzt ging es nicht nur um Verminderung der jüdischen Konkurrenz in Politik oder Wirtschaft, sondern auch um den Kampf gegen den „jüdischen Bolschewismus“, der in Polen dringend abzuweisen war. Hinzu kam, dass die Anerkennung der polnischen Souveränität im Versailler Vertrag von einem Minderheitenschutzvertrag begleitet war, allgemein Kleiner Versailler Vertrag (28. Juni 1919) genannt, der primär den Schutz der deutschen und jüdischen Bevölkerung bezweckte. In den Augen antisemitischer Kreise galt er als Instrument der Juden, mittels internationaler Intrigen Polen seines Selbstbestimmungsrechts zu berauben, um ungestört die kommunistische Ordnung einführen zu können. Die propagierte Gefahr einer jüdisch-bolschewistischen Verschwörung in Gestalt von „żydo-komuna“ half dann die judenfeindlichen Ausschreitungen während des polnisch-sowjetischen Krieges von 1920, die zahlreichen Pogrome an der polnischen Ostgrenze als patriotische Verteidigungsmaßnahmen zu rechtfertigen. Antisemitismus ging im Antikommunismus auf; das eine diente, das andere durchzusetzen. Seine Begründung fand die Durchschlagskraft der Argumentation in der Deutung des Kommunismus als Atheismus und Aufstand gegen Gott. Antisemitismus konnte aus einer solchen Perspektive leicht als „nicht-transzendenter Messianismus“ (Frank Golczewski) der Juden begriffen werden, dem sich die von Gott zur Wiederherstellung der göttlichen Ordnung gestiftete „Mission“ der polnischen Nation entgegenstellen musste. Da der Messias (Christus) schon gekommen sei, könne der jüdische Messias bloß der Antichrist sein. Deshalb sei Polen berufen, sich ihm in den Weg zu stellen, die Entwicklung aufzuhalten oder umzukehren, also einen ideellen und zugleich realen Krieg zu führen. Auf diese Weise nahm die Bekämpfung der Juden, vor allem in den kirchlich-katholischen Kreisen, die Form einer Heilslehre an, in der die Kreuzigung die größten Opfer forderte und zugleich das Opfer der anderen (der „Feinde“) annahm.
Der Mord am polnischen Präsidenten Gabriel Narutowicz von 1922 bestätigte, dass Polen von der Radikalisierung des politischen Lebens in Europa nach dem Ersten Weltkrieg nicht verschont geblieben war. Ermuntert durch Mussolinis und Hitlers politischen Aufstieg fühlten sich die polnischen Rechten zur Machtergreifung bereit. Obwohl Józef Piłsudski und die aus seinen Anhängern bestehende Regierung (u. a. wegen antisemitischer Ausschreitungen) die rechts orientierte Opposition verboten hatten, dauerte es nicht lange, bis die Koalition nach seinem Tod 1935 wieder zerfiel und das darauf folgende Regierungsgebilde auf der programmatischen Basis vorwiegend rechter Verbände gründete. Fast einstimmig charakterisierten die neuen Machthaber die Juden als fremdes, ökonomisch belastendes, überflüssiges und moralisch zersetzendes Element. Sie forderten unter anderem den Boykott jüdischer Geschäfte, die Polonisierung der Wirtschaft, die Einschränkung der politischen Rechte der Juden, die Einführung des Numerus clausus für jüdische Studenten an den Universitäten und den Numerus nullus für bestimmte Berufe. In diesem Sinne konnten die antisemitischen Maßnahmen in Polen während der 1930er Jahre an die deutsche Judenfeindschaft anknüpfen. Bestimmte antisemitische Tendenzen hatten zwar eine lange Tradition in Polen selbst oder unter- schieden sich wesentlich von dem deutschen Rassenantisemitismus, doch sie wurden angesichts der Entwicklungen judenfeindlicher Politik in Deutschland zu neuem Leben erweckt. In beiden Ländern schuf die Markierung des möglichen Bösen und der politischen Gegner als „jüdisch“ die notorische Manifestation eines nicht ständig sichtbaren, doch präsenten inneren und äußeren Feindes. Anhand jener Kennzeichnung konnte jede Art von Antisemitismus sich selbst rechtfertigen; an seiner Judenfeindschaft war der Täter (moralisch) unschuldig, er handelte ja im Namen und zugunsten seiner Nation. So verkehrten sich Schuld und Unschuld: Täter nahmen sich selbst als Opfer der Vaterlandsverteidigung wahr.
Die enge Verbindung des Antisemitismus mit nationalistischen Argumentations- und Deutungsmustern bestimmte die deutsche Judenfeindschaft bereits in der Zeit der Weimarer Republik. Die Juden, die knapp ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland ausmachten, galten in den politisch instabilen Nachkriegsjahren als Sündenböcke für all das, was einen Großteil der Deutschen traumatisierte: Revolution, Hyperinflation, soziales Elend. Vor allem aus der Mittelschicht und dem Bildungsbürgertum rekrutierten antisemitische Organisationen ihre Mitglieder und Anhänger. Die Angst vor vermeintlich überlegener jüdischer Konkurrenz und die Ablehnung der Weimarer „Judenrepublik“ wurde von antisemitischer Propaganda intensiv unterstützt. Sie nahm den völkischen Rassegedanken auf und setzte intensiv die Umdefinition „des Juden“ zur „Gegenrasse“ der Deutschen fort. Der Rassenantisemitismus wurde auch erfolgreich in der hemmungslosen Hetze gegen demokratische und linke Politiker der als „verjudet“ geltenden Weimarer Republik eingesetzt. Für die rechte Agitation war es nach Kriegsende nicht schwer, mit Rosa Luxemburg und Karl Radek (ost)jüdische Revolutionäre als „Sendboten des jüdischen Bolschewismus“ vorzuweisen und nach der Russischen Revolution Juden als Trägergruppe revolutionärer Unruhen schlechthin zu diskreditieren. Wobei zu vermerken ist, dass der Antisemitismus kein Monopol der politischen Rechten blieb. Zumindest die Äußerungen gegen „Ostjuden“ fanden sich auch bei den liberalen und sozialistischen Parteien. Gleichwohl führten ihre antisemitischen Stellungnahmen zu keinen direkten und gewalttätigen Aktionen gegen die Juden. Der brutale Rassenantisemitismus blieb die Domäne der radikalen Rechten, die sich mit ihren judenfeindlichen Gewalttaten zum Ziel setzten, die Weimarer Republik zu „entjuden“ und die bestehende Ordnung zu destabilisieren. Mit dem Argument, „die Juden“ seien für die verhassten Friedensbedingungen des Versailler Vertrags verantwortlich und spielen damit dem internationalen Judentum und dem westlichen Kapitalismus in die Hände, veranlassten sie mehrere Gewaltaktionen gegen die Juden. Zu nennen sind hier die Ermordung des Reichsaußenministers Walther Rathenau im Sommer 1922, der wenige Tage danach erfolgte Mordversuch am Publizisten Maximilian Harden oder der Pogrom im Berliner Scheuneviertel im November 1923, bei dem mehrere jüdische Geschäfte beschädigt, zahlreiche Juden verletzt und neun Personen getötet wurden.
Führend in den antisemitischen Agitationen und Gewalttaten war die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), deren nationalsozialistische Doktrin von radikalem Antisemitismus und Nationalismus sowie der Ablehnung von Demokratie und Kommunismus bestimmt war. Ihr Parteivorsitzender war seit 1921 Adolf Hitler. Nach seiner „Machtergreifung“ am 30. Januar 1933 bekamen die Nationalsozialisten Gelegenheit, ihre menschenverachtenden und verbrecherischen Ideen und Forderungen zunehmend Wirklichkeit werden zu lassen. Schon im April 1933 führte das NS-Regime den Judenboykott durch, der sich gegen jüdische Geschäfte, Warenhäuser, Anwaltskanzleien und Arztpraxen richtete. In schneller Folge wurden das Berufsbeamtengesetz und der „Arierparagraph“ eingeführt, die den neuen Machthabern den „legalen“ Ausschluss von Juden aus dem Öffentlichen Dienst, den Freien Berufen sowie aus Universitäten und Schulen ermöglichte. Unter dem Aufruf „Wider den undeutschen Geist“ fand am 10. Mai 1933 die Bücherverbrennung statt. Als Höhepunkt der Kampagne verbrannten Studenten in mehreren deutschen Universitätsstädten „undeutsches Schrifttum“, vorwiegend von jüdisch-deutschen Autoren. Die Nürnberger Gesetze von 1935 mit dem Blutschutzgesetz grenzten Juden weiter aus. Abhängig gemacht wurde die Zugehörig keit zur „jüdischen Rasse“ von der Konfession der Großeltern. Die Nürnberger Gesetze definierten Menschen als „Volljude“ oder „Halbjude“, von denen sich viele zeit ihres Lebens nicht als Juden empfunden hatten. Auch sie wurden nun Teil der ausgegrenzten jüdischen Gemeinschaft und Opfer von Rassentheorien, die ein grundlegendes Element nationalsozialistischer Weltanschauung bildeten. Begründet wurden zunehmende Diskriminierung und systematisch praktizierter Terror gegen die jüdische Bevölkerung ebenfalls mit Verschwörungstheorien über das Weltjudentum wie zum Beispiel in den gefälschten Protokollen der Weisen von Zion.
Mit der Abschiebung von 17.000 als „polnischstämmig“ bezeichneten Juden nach Polen erreichte die antijüdische Politik im Oktober 1938 eine weitere Verschärfung. Von den Deutschen aus dem Land getrieben und von den Polen nicht ins Land gelassen, irrten die Abgeschobenen im deutsch-polnischen Grenzgebiet, in Zbąszyn, umher. Die Ausweisungen wurden erst eingestellt, nachdem Polen seinerseits als Reaktion mit der Ausweisung deutscher Staatsbürger begonnen hatte. Im November wurden dann Verhandlungen zwischen beiden Staaten über das Schicksal der Flüchtlinge aufgenommen, die durch das Attentat auf die deutsche Gesandtschaft in Paris unterbrochen wurden. Ausgeübt wurde das Attentat von Herschel Grynszpan, dessen Eltern zu den Ausgewiesenen in Zbąszyn gehörten. Als Antwort auf dieses Attentat organisierten die NS-Behörden am 9. November 1938 einen landesweiten Pogrom, die sogenannte „Reichskristallnacht“. In der Pogromnacht sind etwa 100 Juden ermordet, Hunderte von Synagogen in Brand gesetzt und Tausende jüdischer Geschäfte und Wohnungen demoliert worden. Alle diese verheerenden Verbrechen fanden in aller Öffentlichkeit und in den Heimatorten der betroffenen Juden statt, vor den Augen ihrer Nachbarn und Geschäftspartner; viele Deutsche waren an den Angriffen beteiligt und verschwindend wenige haben versucht, der Gewalt gegen ihre jüdischen Mitbürger Einhalt zu gebieten. Nach dem Pogrom wurde der Druck zur Auswanderung erhöht. Rund 30.000 jüdische Männer wurden in Konzentrationslager verschleppt und nur wieder freigelassen, wenn ihre Angehörigen eine baldige Ausreise zusicherten. In einem Vertrag vom Januar 1939 einigte sich auch Polen mit der NS-Regierung und gestattete die Zusammenführung von in Deutschland lebenden Familienangehörigen mit ihren jüdischen Verwandten in Polen. Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 sowie die darauffolgenden Ausweisungen aus Deutschland markierten den Übergang von der Diskriminierung und Ausgrenzung der Juden seit 1933 zur systematischen Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden, von den Tätern euphemistisch als „Endlösung“ bezeichnet. Den Auftakt dafür gab der deutsche Überfall auf Polen im September 1939. Nach der NS-Rassenideologie galten nicht nur Juden sowie Sinti und Roma als „minderwertig“, sondern die slawischen Völker insgesamt, vor allem Russen und Polen. Die den Truppen der Wehrmacht folgenden Einsatzgruppen ermordeten daher neben Juden auch viele Polen, vor allem die polnische Intelligenz. Im Rahmen einer völkisch-rassischen „Flurbereinigung“ sollten die dem Dritten Reich eingegliederten polnischen Gebiete durch Deportationen der polnischen und jüdischen Bevölkerung sowie der Besiedelung mit Volksdeutschen vollständig „eingedeutscht“ werden. Im Dezember 1939 begannen die ersten Massen- deportationen und Umsiedlungen aus den annektierten Regionen in das „Generalgouvernement“. Um die dortigen jüdischen Einwohner erkennbar zu machen, mussten sie seit dem 1. Dezember 1939 eine Armbinde mit Davidstern tragen. Im nächsten Schritt richteten die deutschen Besatzer Ghettos ein, wo monatlich Tausende von Juden an schwersten Lebensbedingungen starben. Mit dem am 22. Juni 1941 begonnenen Krieg gegen die Sowjetunion erhielt die NS-Vernichtungspolitik eine neue Dimension. Anders als die militärischen Auseinandersetzungen im Westen war der Feldzug im Osten als rassenideologischer Raub- und Vernichtungskrieg konzipiert worden, und als solcher wurde er von Beginn an geführt. Im Verlauf des Jahres 1941 hatte die NS-Führung die Ermordung aller im deutschen Machtbereich lebenden Juden beschlossen. Als am 20. Januar 1942 auf der „Wannsee-Konferenz“ die hohen Funktionäre des NS-Staates die verwaltungsmäßige Umsetzung und technisch-organisatorische Details der „Endlösung der Judenfrage“ besprachen, hatte die systematische Ermordung der Juden bereits begonnen. Zentren der deutschen Massenvernichtungspolitik waren die Konzentraionslager, von denen Auschwitz das größte war und das mit vier Krematorien eine „Tageskapazität“ von über 9.000 vergaster und verbrannter Menschen erreichte. Und wer nicht im Gas erstickte, der wurde durch Zwangsarbeit getötet. Insgesamt fielen der nationalsozialistischen Massenvernichtung durch Entbehrungen, hauptsächlich Hunger und Krankheiten im Ghetto, Erschießungen und Deportationen in Todeslager über 5 Millionen Juden zum Opfer.
Vor dem Hintergrund, dass sich die deutsche Vernichtungsmaschinerie (→ Holocaust) vor allem auf den polnischen Gebieten abgespielt hatte, stellt sich die Frage, welchen Einfluss die nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Juden auf den polnischen Antisemitismus hatten und wie sie von den unfreiwilligen Augenzeugen, den nicht-jüdischen Polen, aufgenommen wurden? Zunächst ist aber festzuhalten, dass dank polnischer Hilfe zwischen 20.000 bis 40.000 Juden gerettet wurden und mindestens 1.000 Polen ausschließlich wegen ihrer Hilfsbereitschaft Juden gegenüber den Tod fanden. Anders als in den übrigen von den Deutschen besetzten Teilen Europas stand in Polen auf jegliche Hilfe für Juden die Todesstrafe. Jeder einzelne von der polnischen Bevölkerung zur Rettung von Juden geleistete Beitrag war daher eine heroische Tat, denn er geschah dem Verbot der Nazis zum Trotz und außerdem oft gegen den ausgesprochenen Willen anderer Polen. Gleichwohl ist selbst das abweisende, im Ganzen passive Verhalten großer Teile der polnischen Bevölkerung nicht mit dem aktiven Engagement der nationalsozialistischen Mörder zu verwechseln. Doch „gerade weil“, schreibt Aleksander Smolar, „der polnische Antisemitismus nicht den Makel der Kollaboration mit den Deutschen trug, konnte er während des Krieges prächtig gedeihen – nicht nur auf der Strasse, sondern auch in der Untergrundpresse, in den politischen Parteien und den bewaffneten Einheiten“ (Smolar 1987, S. 48). Dass der Antisemitismus keine Legitimationsprobleme im polnischen Untergrund bekam und sogar in den Widerstand integriert werden konnte, lag aber weniger an seiner Abgrenzung von der deutschen Kollaboration, als vielmehr daran, dass er häufig ein Bestandteil des Moralkodexes des polnischen Widerständlers war. Die Gewissheit, moralisch im Recht zu sein, speiste sich vorwiegend aus der imaginierten Verbindung von Juden und Kommunismus. Der Kampf gegen die Juden als vermeintliche Träger des Kommunismus wurde zum Teil des Widerstands, wobei sich die Stilisierung der Juden zum „dritten Feind“ (neben Deutschland und der Sowjetunion) vorwiegend aus der allgemein anerkannten Überzeugung vom jüdischen Verrat an Polen nach dem sowjetischen Einmarsch von 1941 in die polnischen Ostgebiete speiste. Das Engagement zahlreicher Juden für den Aufbau des sowjetischen Herrschaftssystems bestätigte die bei vielen Polen vorhandene Ansicht von der „jüdischen Affinität“ zum Kommunismus. Die Vorstellung von einer gegen die polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen wirkenden „żydo-komuna“ wurde pauschal auf die ganze jüdische Bevölkerung übertragen. Dem Bild vom illoyalen jüdischen Handlanger des kommunistischen Regimes wurde unter der Sowjetokkupation das Gegenbild vom patriotischen und Widerstand leistenden Polen gegenübergestellt. Auf diese Weise stieg der Antisemitismus gleichsam als Notstandsweisheit zu einer moralischen Maxime auf, und die antisemitischen Ausschreitungen konnten als Akte des Widerstandes inszeniert werden. Das brutale Pogrom in Jedwabne von 1941, an dem sich die polnischen Einwohner an der Ermordung ihrer jüdischen Nachbarn aktiv beteiligt hatten, ist dafür das bekannteste Beispiel. Gewiss spielte es eine wichtige Rolle, dass manche Polen den Besitz der deportierten Juden übernehmen wollten und ihnen daher Hilfe verweigerten oder sie den NS-Besatzern auslieferten. Doch auch diese ökonomisch bedingte und auf die schwierige Kriegssituation zurückführende Judenfeindschaft konnte durch die kollektive Schuldzuweisung und Deklassierung der Juden zu den „Verrätern“ an den „katholischen Polen“ leicht legitimiert werden. Diese Verkehrung der Täter- in eine Opferrolle war ein durchgängiger Grundzug der antisemitischen Argumentation während des Krieges. Sie half die bereits beschriebene und im 19. Jh. etablierte Exklusivität des polnischen Opferstatus zu behaupten und die eigene Gleichgültigkeit oder Aggressivität Juden gegenüber zu rechtfertigen.
Der neue alte Antisemitismus
Nach Vorbereitungen und Vorstufen im Vorjahr wurden 1945 ein neues System und eine völlig fremde Ordnung in Polen installiert, und da das kommunistische Regime im Rahmen einer sowjetischen Intervention eingeführt wurde, schien es für die polnische Bevölkerung nahe zu liegen, ihre gegenwärtige Lage einer fremden Macht anzulasten. Ähnlich wie zur Zeit der Teilungen blieb die Dichotomie zwischen Gesellschaft und Staat bestehen. Schwierig war dies insofern, als die Regierung nun offiziell aus „polnischen Patrioten“ und Kämpfern für die Unabhängigkeit bestand. Doch um Ablehnung gegenüber den Machthabern zu demonstrieren, genügte es, die Regierung als jüdisch und daher als fremd zu diffamieren. Die Beteiligung von jüdischen Kommunisten an der Errichtung des Regimes sowie die durch den Krieg verschärfte und mit der traditionellen Judenfeindschaft gemischte Überzeugung von der jüdischen Unterstützung der Sowjets veranlasste viele Polen, in den Juden die Hauptschuldigen des persönlichen wie nationalen Elends zu sehen. Der Begriff der „żydo-komuna“ wurde auf das ganze System angewandt. Den „verräterischen Juden“ wurde die aufständische und moralisch nicht korrumpierbare Nation gegenübergestellt. Indem nationale → Stereotype und Feindsemantiken auf eine Gestalt – die des jüdischen Kommunisten – projiziert wurden, entstand eine Art „Gesamtbild“, eine fest gefügte Weltsicht der polnischen Gesellschaft. Materielle Rivalität um die von den Polen im Krieg besetzten jüdischen Güter und die nach wie vor lebendige, religiöse traditionelle Judenfeindschaft (wie z. B. der weiterhin virulente Vorwurf des Ritualmords) bestärkten die dominierenden antisemitischen Projektionen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Nach offizieller Einschätzung sind in den Jahren 1944–1947 bis zu 2.000 Juden in Polen ums Leben gekommen. Alleine in dem Pogrom von Kielce vom 4. Juli 1946 sind 37 jüdische Polen durch ihre christlichen Nachbarn (darunter auch Soldaten und Polizisten) brutal ermordet worden. Der Mythos von der Herrschaft der „żydo-komuna“ korrespondierte vorzüglich mit dem Mythos von der polnischen Opferrolle. Weil sich die Polen während der sowjetischen und deutschen Okkupation als die größten Opfer des Krieges ansahen, reservierten sie sich nach dem Krieg automatisch den ersten Platz auf dem hierarchisierten Podium des Leidens. Hinzu kam, dass durch die Einrichtung des kommunistischen Regimes nicht nur die Auffassung vom polnischen Opferstatus perpetuiert, sondern wiederum der dazu notwendige Täter im Inneren gesucht wurde. Und in der Tat avancierten paradoxerweise die Juden erneut zu Tätern an den Polen. Die „konkurrierende“ Tragödie der Juden sollte demnach im polnischen Geschichtsdenken der Nachkriegszeit nicht erinnert werden, die Zugehörigkeit der jüdischen Kultur zur polnischen Gesellschaft wurde vergessen. Dank der Vorstellung von der „Einzigartigkeit“ des polnischen (aber auch des jüdischen) Leidens dividierten sich die beiden Opfergruppen auseinander, womit sich die jeweiligen Abgrenzungen gegenseitig intensivierten.
Im Antisemitismus, der in der offiziellen antifaschistischen Propaganda der Kommunisten als Verbrechen galt, erblickten allerdings nicht nur die Gegner der neuen Macht, für die die Juden sowieso den Kommunismus verkörperten, sondern auch diese selbst ein „universelles“ Feindbild, das ohne Schwierigkeiten aus ganz unterschiedlichen Beweggründen und im Falle durchaus verschiedener Konflikte instrumentalisiert werden konnte. Die vertraute Argumentation der „żydo-komuna“ war in Anbetracht des Engagements von jüdischen Genossen im Parteiapparat leichter zu manipulieren als andere Feindbilder und konnte so in den Dienst von inner- und außerparteilichen Sonderinteressen gestellt werden. Seit Ende der 1940er Jahre versuchte die kommunistische Propaganda daher skrupellos die antijüdischen Parolen zu nutzen, um die Konflikte zwischen Machtapparat und Bevölkerung wenigstens zeitweise zu rationalisieren und den Makel der Partei als „jüdische Partei“ zu überwinden. Der befürchtete Volkszorn konnte damit kanalisiert und von den Verantwortlichen abgelenkt werden, besonders seit 1948, als es nach der offiziellen Gründung des Staates Israel zu einer antizionistischen Wende in der UdSSR und ihren Satellitenstaaten kam. Der Ausschaltung jüdischer Parteifunktionäre, denen zionistische Tendenzen unterstellt wurden, schloss sich auch die kommunistische Partei Polens an. In den 1950er Jahren fanden die ersten innerparteilichen Säuberungen statt. Eine ganze Reihe jüdischer kleinerer und größerer Parteifunktionäre sowie Offiziere verloren ihre Posten. Die antizionistische Kampagne kulminierte 1967/68 als die Macht der Partei auf dem Spiel stand. Um sie zu stabilisieren, mussten Schuldige ge- funden und geopfert werden. Unter „der volksfeindlichen Reaktion“, mithin unter vermeintlichen Spionen, ausländischen Agenten und konspirativen Gruppen in der Partei, die an „Fehlern und Abweichungen“ schuld sein sollten, gab es viele Juden. Sie wurden des Verrats bezichtigt und gemäß den Worten vom damaligen Staatschef, Władysław Gomułka, als „fünfte Kolonne“ bezeichnet. Mit ihrem Kampf gegen „Kosmopolitismus“ und „Zionismus“ verwies die kommunistische Propaganda auf den äußeren Feind, während zugleich eine brutale Säuberungsbereitschaft gegen den „Feind“ in den eigenen Reihen geschaffen wurde. Aber nicht immer fanden diese von der Partei inszenierten antijüdischen Kampagnen ein breites Echo in der Bevölkerung. 1968 gab es nur noch wenige, die damit beeindruckt werden konnten – sei es, weil der parteiliche Antisemitismus nicht antikommunistisch orientiert war oder weil es in einem Land, in dem fast keine Juden mehr lebten, einfach unglaubhaft schien. Mit einer gewissen Berechtigung könnte man sagen, dass sich nach 1945 zwei Arten von Antisemitismus feststellen lassen: der politische von oben und der gesellschaftliche von unten. Aber unabhängig von politischen oder religiösen Überzeugungen wurden Verschwörung und Verrat mit jüdischer Herkunft assoziiert, womit man „die Juden“ zum nationalen Gegenspieler einer nichtjüdischen Wir-Gruppe in der Partei und Bevölkerung stempelte.
Eine ähnliche Entwicklungsform nahm auch der Antisemitismus in der DDR an. Neben massiver alltäglicher Judenfeindschaft wurde innerhalb der kommunistischen Partei (Sozialistische Einheitspartei Deutschland, kurz SED) eine offene antisemitische Kampagne geführt. Die deutsche Judenvernichtung galt den kommunistischen Machtha- bern nur als ein NS-Verbrechen unter vielen. Im Vordergrund stand für sie – gerade auch um die eigene Herrschaft zu legitimieren – die Verfolgung der Kommunisten. Mit der Gründung der DDR, so verkündete die kommunistische Propaganda, wurden die Ursachen von Faschismus und Antisemitismus „mit der Wurzel ausgerottet“. Diese bequeme Entlastungsformel erlaubte die Mitverantwortung für die Shoah in der DDR zu verneinen und einen Schlussstrich unter die NS-Zeit zu ziehen. Mittels ihrer kommunistisch verbrämten Schlussstrichargumentation lehnte es die SED auch bis kurz vor ihrem Ende ab, irgendwelche Zahlungen an Israel oder internationale jüdische Organisationen zu leisten. Ebenso lehnte sie, genauso wie die kommunistische Partei in Polen, jegliche Rückerstattung „arisierter“ jüdischer Betriebe oder eine Entschädigung für enteignete jüdische Vermögen ab. Wie in anderen Ländern des „Ostblocks“ war auch die SED seit Gründung Israels von mehreren Wellen von „Parteisäuberungen“ durchkämmt worden. Ende 1952 nahmen diese Säuberungsprozesse eine offen antisemitische Wendung. Paul Merker, bis 1950 Mitglied im Politbüro und Zentralkomitee der SED, und andere hochrangige Parteifunktionäre wurden beschuldigt, jahrelang als „zionistische Agenten“ an der „Ausplünderung Deutschlands“ und der „Verschiebung von deutschem Volksvermögen“ zugunsten amerikanischer und „jüdischer Monopolkapitalisten“ gearbeitet zu haben. Im Zuge der antisemitischen Kampagne verfügte die Parteiführung die Überprüfung der Kaderakten von allen Parteimitgliedern jüdischer Abstammung, zahlreiche jüdische Angestellte in den Stadt- und Bezirksverwaltungen wurden entlassen. Den jüdischen Gemeinden wurden kulturelle Veranstaltungen verboten, ihre Büros durchsucht, die Gemeindevorsitzenden verhört und Listen aller Gemeindemitglieder verlangt. Über 400 Juden flohen aus der DDR.
Im Gegensatz zu DDR und Polen äußerte sich der Antisemitismus im Westteil Deutschlands nach 1945 nicht als politisch organisierte und propagierte Ideologie. Aber dies war nicht auf einen Wandel der Einstellungen in der Bevölkerung, sondern auf die strengen Maßnahmen der alliierten Siegermächte sowie die „Re-Education“ (Umerziehung) zurückzuführen. Mit der Entnazifizierung und Gründung der Bundesrepublik (BRD) 1949, die als Verbündete im Ost-West-Konflikt gebraucht wurde, zielte die Politik auf die Integration und Amnestierung auch belastbarer Personen bis hin zu verurteilten NS-Verbrechern. Die Zulassung rechtsextremer Parteien ließ jedoch antisemitische Anschauungen wieder hervortreten. Die Ablehnung der Juden zeigte sich u. a. an häufigen Schändungen jüdischer Friedhöfe. Diese nahmen 1950 bei den ersten Gerichtsprozessen gegen ehemalige Nazis noch zu. Das Luxemburger Abkommen über Wiedergutmachungszahlungen an Israel von 1952 und das Bundesentschädigungsgesetz von 1953, die auf Aussöhnung mit den Juden und auf einen „Schlussstrich“ unter die Vergangenheit zielten, wurden gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit entschieden und als Ausdruck jüdischer Geldforderungen und jüdischer Rachsucht an den „armen Deutschen“ gedeutet. Durch die Veröffentlichung der Bücher über die Shoah, durch historische Forschung und vor allem durch den Eichmann-Prozess von 1961 traten die Juden als Opfer der NS-Verbrechen ins öffentliche Bewusstsein und ein Gefühl der Mitschuld gewann an Raum. Gleichzeitig aber änderte sich das Bild Israels infolge des Sechs-Tage- Krieges 1967. Für die radikalen Linken galt es nun als Militär- und Besatzungsmacht, ihr Antizionismus war dabei nicht ganz frei von antisemitischen Tönen, wodurch sie in mehreren Punkten an die antisemitischen Argumentationsmustern in den Ostblockstaaten anknüpften konnten. Bis heute greifen einige linke Gruppierungen auf die antizionistischen Argumente zurück, um ihrem Antisemitismus freien Lauf zu lassen und Israels Existenzrecht in Frage zu stellen. Die antisemitische Kritik an Israel war aber keine Spezialität der deutschen Linken. Auch für ihre Opponenten vom rechten Rand galt und gilt Israel als ein „ausbeuterischer Staat“, der weniger auf Kosten der Palästinenser als vielmehr auf Kosten der Deutschen seine Existenz behaupten könne. Dieser Vorwurf ist ein fester Bestandteil der sogenannten „Auschwitzlüge“, die seit den 1960er Jahren durch die rechtsnationalistischen Parteien propagiert wird. Sie besagt: Die Shoah sei eine Erfindung „der Juden“, um Deutschland als Tätervolk zu brandmarken und politisch-finanzielle Reparationen, auch für Israel, zu erpressen. Dass solche Leugnung und Relativierung der Shoah auch in der deutschen Geschichtswissenschaft stattgefunden hatten, zeigte Ernst Nolte 1986, als er behauptete, die deutschen Konzentrations- lager seien eine Reaktion auf Stalins massenvernichtende Gulags und Umsiedlungspolitik gewesen. Mit seiner relativierenden These löste Nolte einen Historikerstreit aus und unterstützte die immer lauteren Forderungen, endlich einen „Schlussstrich“ unter die Verbrechen der Nazis zu ziehen. Ziel solcher Forderungen ist die Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen und der deutschen Schuld daran.
In allen diesen Strategien – Leugnung, Relativierung und „Schlussstrich“-Forderung , die heute den so genannten sekundären Antisemitismus in Deutschland ausmachen, steckt der gleiche Mechanismus: die Verkehrung von Tätern und Opfern. Die Deutschen sind Opfer, und die Juden sind die schuldbelasteten Täter oder zumindest Mittäter. Vor allem in der „Schlussstrich“-Forderung wird immer wieder eine jüdische (Mit-) Schuld und (Mit-)Täterschaft herbeikonstruiert. Jedwedes Erinnern an Auschwitz wird gedeutet als Ausdruck jüdischer finanzieller Ansprüche und jüdischer Rachsucht. Die Juden werden zu böswilligen Erpressern und Angreifern, die Deutschen von heute zu angegriffenen Opfern, die unter ungerechtfertigten Anschuldigungen von Juden leiden oder von diesen ständigen Wiedergutmachungszahlungen erpresst werden. Gleichzeitig lässt sich in der letzten Zeit in Deutschland noch eine andere Form der Täter-Opfer- Umkehr beobachten. Sie resultiert aus der intensiven Identifizierung mit den jüdischen Opfern. Die von der Politik forcierte opferidentifizierte Gedenkkultur ist zu einem Gebot geworden und erstarrt häufig in moralisierenden und sinnentleerten Routinen des öffentlichen Erinnerns, sei es in Form von Gedenktagen oder institutionalisierten Mahn- und Gedenkstätten. Folge dieser opferidentifizierten Trauerarbeit ist der Ausschluss der Täter, die aufgrund ihrer Taten außerhalb der Erinnerungsgemeinschaft stehen. Darin drückt sich die Tendenz aus, die Shoah aus ihrem historischen Kontext zu lösen, sie zu einer bloßen, zunehmend sinnentleerten Metapher zu degradieren und die für sie verantwortlichen deutschen Täter nicht mehr zu thematisieren. So hilft paradoxerweise die Identifizierung mit den jüdischen Opfern den deutschen Opferstatus wie z. B. in Bezug auf die Bombardierung von Dresden oder die Vertreibungen verstärkt in den Vordergrund der eigenen Erinnerung zu stellen. Diese Opferidentifikation führt gleichzeitig dazu, dass der erinnerungspolitische Blick auf Polen in Deutschland vorwiegend aus eigener Perspektive stattfindet und dem völlig anders konnotierten polnischen Opferverständnis ein eigenes Erinnerungsnarrativ aufgezwungen wird. Die Kritik am polnischen Opfermythos zielt dann auf eine Entwicklung eines Täter-Bewusstseins, das sich schuldig an der Verfolgung der Juden bekennt und den eigenen Opferstatus in Frage stellt.
Die deutsche selbstentlastende Aufforderung an die Polen, sich zu der Verantwortung an den antisemitischen Verbrechen in der Geschichte zu bekennen, fällt auf einen fruchtbaren Boden, denn seit dem Zusammenbruch des Kommunismus wird die pol- nische Erinnerung an die Juden neu diskutiert. Allerdings ist nur ein Teil der polnischen Gesellschaft bereit, den liebgewordenen und das polnische Nationalbewusstsein bestimmenden Opferstatus kritisch zu reflektieren. Die Frage nach der polnischen Judenfeindschaft während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit polarisiert die polnische Gesellschaft und mobilisiert die Antisemiten, die Schuld der Juden zu unterstreichen. Die traditionellen antisemitischen Feindbilder wie „żydo-komuna“, „jüdische Verräter“ oder „Mörder der Nation“ werden aktiviert, um die Opferkonkurrenz zwischen Juden und Polen für die letzten zu entscheiden. Die intensive Geschichtsdebatte über das Buch von Jan Tomasz Gross über das Pogrom in Jedwabne lieferte dafür das beste Beispiel. Was kritische Stimmen als Antisemitismus definieren, erscheint nationalen Apologeten bis heute als gerechtfertigte Reaktion (patriotischer Widerstand) auf die Machenschaften der Juden. Folgerichtig erklären sie den Antisemitismus der nichtjüdischen Polen unter dem NS-Regime mit Hinweisen auf den unter der sowjetischen Besetzung angeblich kollektiven Verrat der Juden an Polen. Nachgewiesene Zurückhaltung des polnischen Widerstandes bei Hilfeleistungen wird mit Klischees von der Kommunismusanfälligkeit und Passivität der Juden rationalisiert, einer kritischen Analyse der Judenfeindschaft im Nachkriegspolen wird der Anteil jüdischer Genossen an der Parteispitze entgegengesetzt. Relativiert werden die Opferzahlen antijüdischer Pogrome, weil man im Gegenzug auf die Zahl polnischer Opfer der vermeintlich von Juden beherrschten Sicherheitsdienste hinweist. Ein durchgängiger Grundzug dieser antisemitischen Argumentation ist die Verkehrung der Täter- in eine Opferrolle. In diesem Punkt unterscheidet sich der gegenwärtige Antisemitismus in Polen kaum von dem in Deutschland. Sicherlich weist die polnische Judenfeindschaft andere Formen auf und ist völlig anders als die deutsche motiviert, doch gerade in dieser Täter-Opfer-Umkehr manifestiert sich die heutige Interaktion zwischen dem sekundären Antisemitismus in Deutschland und Polen.
Neben dieser Gemeinsamkeit gibt es aber auch auffällige Unterschiede in den antisemitischen Entwicklungen in den beiden Ländern. Spätestens seit der Verstärkung des internationalen Terrorismus (Stichwort 11. September) sowie dem erneut eskalierten Nahostkonflikt nahmen die antijüdische Propaganda und Orientierung in arabisch- islamischen Regionen deutlich zu. Diese starke Judenfeindschaft findet inzwischen eine breite Resonanz unter arabisch-muslimischen Zuwanderern in Europa. In der muslimischen Bevölkerung Deutschlands fehlt es nicht an Stimmen, die ihren politischen Antizionismus mit antisemitischen Ideologemen verbinden, um die Juden kollektiv zu verurteilen. Diesem islamischen Judenhass stehen die deutschen rechtsnationalistischen Gruppen mit großem Wohlwollen gegenüber und führen ihn geschickt in den eigenen Antisemitismus ein. Bei den polnischen Rechtsradikalen spielt der islamische Judenhass dagegen nicht so eine wichtige Rolle. Ihr Antisemitismus konzentriert sich vorwiegend auf die Bekämpfung der angeblichen Juden im inneren des Landes. Minuziös suchen sie nach den „jüdischen Drahtziehern“ in der polnischen Politik und Medienlandschaft, um sie als „Schuldige“ an den wirtschaftlichen und sozialen Missständen zu präsentieren. Für die Instrumentalisierung von antisemitischen Feindbildern und Verbreitung von Verschwörungstheorien sind allerdings nicht alleine die extremen Rechten verantwortlich. Auch in den deutlich gemäßigten rechtskonservativen Gruppierungen und manchen Kreisen der katholischen Kirche findet der Antisemitismus treue Anhänger- schaft. Ohne Bedenken und weitreichende Konsequenzen verbreiten sie ihre judenfeindlichen Parolen in den eigenen Publikationen, Radiosendern oder sogar im polnischen Parlament. Diese öffentliche Akzeptanz für antisemitische Äußerungen in Polen unterscheidet sich deutlich von der in Deutschland. Während bei den westlichen Nachbarn jede judenfeindliche Stellungnahme rechtlich und gesellschaftlich angeprangert wird, werden ähnliche Handlungen in Polen häufig durch die Staatsanwaltschaft als „sozial ungefährlich“ eingestuft oder in der allgemeinen Meinung als „Folklore“ gerechtfertigt. Die traditionell judenfeindlichen Sprachformulierungen wie „verjuden“ („ożydzić“) mit der Bedeutung „knausern“, „Judelein“ („żydek“), abwertend gemeint, dem Deutschen „Jud“ entsprechend oder Sprüche wie „will so viel wie ein Jude für seine Mutter“ („chce tyle jak żyd za matkę“), „feilscht wie ein Jude“ („targuje się jak żyd“) werden in dem polnischen Sprachgebrauch für selbstverständlich gehalten und in der medialen Öffentlichkeit inflationär verwendet.
Literatur:
Bergmann, Werner: Geschichte des Antisemitismus, München 2002.
Cała, Alina: Żyd. Wróg odwieczny. Antysemityzm w Polsce i jego źródła, Warszawa 2012.
Claussen, Detlev: Ist der Antisemitismus eine Ideologie? Einige klärende Bemerkungen, in: Die Dynamik der europäischen Rechten: Geschichte, Kontinuitäten und Wandel, hg. von Clau- dia Globisch, Agnieszka Pufelska und Volker Weiß, Wiesbaden 2011.
Eisenbach, Artur: Emancypacja Żydów na ziemiach polskich 1785–1870 na tle europejskim, Warszawa 1988.
Golczewski, Frank: Polnisch-jüdische Beziehungen 1881–1922. Eine Studie zur Geschichte des Antisemitismus in Osteuropa, Wiesbaden 1981.
Haumann, Heiko: Geschichte der Ostjuden, München 1998.
Haury, Thomas: Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und An- tizionismus in der frühen DDR, Hamburg 2002.
Niewiadomski, Józef: Katholische Kirche in Polen und die Juden, in: Kirche und Israel. Neu- kirchner theologische Zeitschrift (1990), Nr. 1.
Pufelska, Agnieszka: Die Judäo-Kommune – ein Feindbild in Polen. Das polnische Selbstver- ständnis im Schatten des Antisemitismus 1939–1948, Paderborn 2007.
Rürup, Reinhard: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975.
Smolar, Aleksander: Tabu i niewinność, Warszawa 2010.
Smolar, Aleksander: Unschuld und Tabu, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart (1987), Nr. 2.
Pufelska, Agnieszka, PD Dr., verfasste die Beiträge „Die Ähnlichkeit im Unterschied: Antisemitismus in Polen und Deutschland“ und „Die Macht der Feindbilder: Der Stereotyp des „Juden“ in Polen und Deutschland“. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an dem Nordost-Institut an der Universität Hamburg in Lüneburg und arbeitet in den Bereichen deutsch-polnische Beziehungen, jüdische Kulturgeschichte und Theorie der Geschichtsschreibung.