Hanna Grzempa

Das Bild Polens und der Polen in deutschen Geschichtslehrbüchern

Das Bild Polens und der Polen in deutschen Geschichtslehrbüchern


Das Geschichtsschulbuch ist das Ergebnis eines Prozesses, der durch eine Reihe von Faktoren bedingt ist, die auf vielfältige Weise miteinander verbunden sind. Zu den wichtigsten inhaltlichen Vorgaben gehören die Lehrpläne, die den Rahmen bilden für die Publikationen, die sich um eine Zulassung zum Schulgebrauch bemühen. Es obliegt den für Bildung zuständigen Ministerien die verbindlichen Unterrichtsinhalte und Kompetenzen zu bestimmen, die von den SchülerInnen beherrscht werden müssen. Auch billigen sie in letzter Instanz das Material, das ins Schulbuch aufgenommen wird. Die Inhalte, die Art der Darstellung und die Interpretation der Programmempfehlungen hängen bis zu einem gewissen Grad von politischen Entscheidungen ab. Diese wiederum werden von der aktuellen Geschichtspolitik beeinflusst, die festlegt, welche Ereignisse und historischen Persönlichkeiten „bekannt sein sollten“ und wie man ihrer gedenkt. Die Kompatibilität mit dem Lehrplan ist nicht das einzige Kriterium, von dem die ministerielle Zulassung abhängt. Die SchulbuchautorInnen sind darüber hinaus verpflichtet, den aktuellen Forschungsstand der Geschichtswissenschaften abzubilden und das Material entsprechend didaktisch aufzubereiten. Die Aufgabe besteht darin, die Ergebnisse der Analysen und Diskussionen der HistorikerInnen zu reduzieren und an die kognitiven Möglichkeiten der SchülerInnen anzupassen. Dabei spielen didaktische Traditionen in den jeweiligen Bildungssystemen nach wie vor eine wichtige Rolle. Spricht man also von den historischen Inhalten, die durch Geschichtsschulbücher vermittelt werden sollen, muss man einen Mix aus politischen, wissenschaftlich-historischen, didaktischen sowie ökonomischen Faktoren – das Buch muss sich schließlich auch verkaufen – im Hinterkopf haben. Über das Bild Polens in den Lernmitteln, die in deutschen Schulen im Geschichtsunterricht zur Anwendung kommen, entscheidet folglich u. a. der Rang Polens im kollektiven deutschen Gedächtnis, der Stellenwert, den die deutsch-polnischen Beziehungen in der Geschichtsschreibung einnehmen, sowie aktuelle Tendenzen in der deutschen Didaktik, was die Kriterien zur Reduzierung des Geschichtsstoffes in der Schule anbelangt.

Die Rolle Polens im deutschen Bewusstsein war bereits des Öfteren Gegenstand wissenschaftlicher Publikationen (→ deutsche und polnische Erinnerungskultur), und der Vergleich mit der Bedeutung Deutschlands im polnischen Geschichtsbild führt zwangsläufig zu der Schlussfolgerung, dass hier ein asymmetrisches Verhältnis vorliegt. Während im kollektiven polnischen Gedächtnis Deutschland von zentraler Bedeutung ist, nimmt Polen im deutschen Gedächtnis eher eine untergeordnete Position ein. Was womöglich daran liegt, dass Polen in der Vergangenheit wesentlich stärker (sowohl im positiven wie auch im negativen Sinne) von der deutschen Politik, Wirtschaft und Kultur beeinflusst wurde als umgekehrt, und diese ungleichen historischen Abhängigkeiten spiegeln sich in der heutigen, asymmetrisch entwickelten, gegenseitigen Wahrnehmung von Polen und Deutschen wider. Zwar haben polnische und deutsche HistorikerInnen zur Geschichte der bilateralen Beziehungen in beachtlichem Umfang geforscht, diese Forschung, oftmals das Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen von WissenschaftlerInnen aus beiden Ländern, dringt jedoch nicht an die Öffentlichkeit, auch nicht – wie sich herausstellt – über den Umweg der Schule. In der deutschen Geschichtsdidaktik wird seit langem auf die Vermittlung „trockener“ Fakten zugunsten des Erwerbs von Kompetenzen verzichtet. Im Unterricht soll zudem ein mehrdimensionales Bild historischer Ereignisse, Prozesse und Persönlichkeiten gezeichnet und unterschiedliche Standpunkte in der aktuellen wissenschaftlichen Forschung wiedergegeben werden. Die Folge dieses didaktischen Ansatzes ist eine sorgfältige Abwägung des inhaltlichen Pflichtpensums, um den LehrerInnen genügend Zeit zu geben, die entsprechenden Kompetenzen (z.B. die kritische Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsstoff) zu vermitteln. Auf welche Weise werden also im deutschen Geschichtsunterricht Inhalte zur polnischen Geschichte gefiltert?

Die Analyse von elf Schulbuchreihen, die in Realschulen und in der gymnasialen Sekundarstufe I (Klassen, die dem polnischen Gymnasium entsprachen) und der Sekundarstufe II (auf das Abitur vorbereitende Klassen, die der zweiten und dritten Klasse im polnischen Lyzeum entsprechen; nach der Schulreform – der dritten und vierten Klasse) in vier Bundesländern (Bayern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen) zugelassen sind, zeigt, dass „polnische Inhalte“ im Zusammenhang mit folgenden Themen vermittelt werden: (1) deutsche Ostsiedlung, zusammen mit der Rolle des Deutschen Ordens (→ deutscher OstenKreuzritter); (2) Personalunion Sachsen-Polen (dieser Aspekt wird nur in Sachsen behandelt); (3) Großmachtpolitik Preußens, Österreichs und Russlands, die u. a. zur Teilung Polens führt; (4) Hambacher Fest – Protest von 1832 (→ edler Polepolnische Freiheit); (5) deutsche Gebietsverluste aufgrund des Versailler Vertrages; (6) deutsche Außenpolitik in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen; (7) Zweiter Weltkrieg (→ deutsche und polnische ErinnerungskulturHolocaustAntisemitismusder Warschauer Aufstand); (8) territoriale Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg und Umsiedlungen (→ Vertreibungen); (9) Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze an Oder und Neiße durch Deutschland im Rahmen der Ostpolitik von Willy Brandt und Bestätigung der Grenze auf der Zwei-plus-Vier-Konferenz (→ GrenzeVertrag); (10) allmählicher Zerfall des Ostblocks und die Rolle der „Solidarność“; (11) Erweiterung der Europäischen Union.

Bereits bei einer flüchtigen Betrachtung der Liste drängen sich bestimmte Beobachtungen und erste Schlussfolgerungen auf. Von den beiden letztgenannten Themen abgesehen, erfähren deutsche SchülerInnen nur aus der Perspektive der gemeinsamen, deutsch-polnischen Beziehungen etwas über Polen, zu Zeitpunkten, in denen die Angelegenheiten beider Länder zusammenfallen. Ein zentrales Motiv der Informationen über Polen, die an deutschen Schulen vermittelt werden, sind Gebietsfragen und die Frage der gemeinsamen Grenze. Dieses Motiv ist nahezu der einzige Schlüssel, wenn es um die Vermittlung von Wissen über Polen geht. Zumeist nutzen die SchulbuchautorInnen ihn jedoch nicht, um das in den Lehrplänen empfohlene Basiswissen zu erweitern und zu vertiefen, und sei es um elementare Informationen zur Entwicklung des polnischen Staates, zu seinem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zustand in bestimmten Phasen seiner Geschichte.

Die Inhalte, die an die polnische Geschichte anknüpfen, beginnen in den meisten Schulbüchern mit der deutschen Ostsiedlung im Mittelalter, wobei gleichzeitig auch das Thema des Deutschen Ordens abgehandelt wird (Zeitreise 2, S. 84–85; Forum Geschichte 2, S. 128–131; Geschichte und Geschehen 3, S. 71–76). Manche AutorInnen erörtern das Thema der Besiedlung, ohne überhaupt auf den polnischen Aspekt einzugehen, und beschränken sich darauf, von der Eroberung der Gebiete zwischen Elbe und Oder zu sprechen (In Sachsen: Entdecken und Verstehen 6, S. 106–107). Andere wiederum stellen die Besiedlung verkürzt als eine Initiative osteuropäischer oder polnischer Landesfürsten dar, die die SiedlerInnen aus dem Westen einladen, sich bei ihnen niederzulassen (Das waren Zeiten 2, S. 24; Anno 2, S. 196). Im Zentrum der Narration stehen die Deutschen, die, aufgrund fehlender Ackerflächen in Westeuropa, nach Osten ziehen. In den Schulbüchern erfahren die LeserInnen, dass die deutschen SiedlerInnen in den Gebieten, in denen sie sich niederlassen, zur zivilisatorischen Entwicklung beitragen. Durch sie vergrößert sich das Netz von Städten und Dörfern und kommen die Bauern mit fortschrittlichen Anbaumethoden in Berührung. Dergestalt lernen die deutschen SchülerInnen das mittelalterliche Polen kennen – als ein im Verhältnis zu seinen westlichen Nachbarn rückständiges Land, das jedoch für Fortschritt und Veränderung offen ist und von den Erfahrungen der westlichen EinwandererInnen profitiert – was mit den Narrationen des 19. Jahrhunderts von der „friedlichen“ Eroberung Osteuropas (→ deutscher Kulturauftrag im Osten) korreliert. Eines der wichtigsten Elemente bei der Darstellung der deutschen Ostsiedlung ist die Betonung des gewaltlosen Verlaufs der Besiedlung sowie die friedliche Nachbarschaft zwischen Polen und Deutschen und die Zusammenarbeit zu beiderseitigem Nutzen (Zeitreise 2, S. 84; Forum Geschichte 2, S. 131; Anno 2, S. 196). Anhand von Beispielen für freundschaftliche deutsch-polnische Koexistenz auf der Ebene der gesellschaftlichen Beziehungen versuchen die AutorInnen, den SchülerInnen bewusst zu machen, dass zwischen den Nachbarn nicht immer Feindseligkeit herrschte. Sobald der Deutsche Orden Einzug in die Schulbücher hält, nehmen die deutsch-polnischen Beziehungen einen konfrontativen Charakter an. Diese Wende im Siedlungsprozess wird manchmal ausdrücklich hervorgehoben (Forum Geschichte 2, S. 131; Anno 2, S. 196). In den Texten spiegeln sich die Diskussionen zwischen deutschen und polnischen HistorikerInnen im Rahmen der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission wider (→ Zusammenarbeit zwischen polnischen und westdeutschen Historikern  zwischen polnischen und westdeutschen Historikern), in denen zwei unterschiedliche Sichtweisen der Rolle des Ordens aufeinanderprallen. Polnische HistorikerInnen betonen die expansiven Absichten der Kreuzritter sowie ihre brutale Politik gegenüber der unterworfenen Bevölkerung. Bei deutschen WissenschaftlerInnen dominiert dagegen die Überzeugung, dass der Deutsche Orden entlang der Ostsee eine zivilisatorische und christianisierende Mission verfolgte. Nur manche der zurzeit in Deutschland benutzten Schulbücher geben beide Sichtweisen wieder, indem sie sowohl den „Fortschritt“ beschreiben, den der Orden mitbringt, als auch die von ihm angewandten Methoden, um die Bevölkerung zu christianisieren (Forum Geschichte 2, S. 131; Geschichte und Geschehen 3, S. 72, 76; Anno 2, S. 196–197). Der Deutschritterorden wird fast ausschließlich im Zusammenhang mit seiner Mission, das Christentum zu verbreiten, gezeigt, während der militärische Konflikt zwischen den Hochmeistern des Ordens und den polnischen Herrschern nur am Rande Erwähnung findet. Die expansive Politik des Ordens und der sich verschärfende Konflikt, der in zwei Kriegen gipfelt, was in Polen in der Schule ein beherrschendes Thema ist, spielen im deutschen Geschichtsunterricht keine wesentliche Rolle. Drei von elf Schulbüchern handeln die Schlacht bei Tannenberg (bei Grunwald) (→ große Schlachten), den Beginn des Niedergangs des Deutschen Ordens, mit einem Satz ab (Forum Geschichte 2, S. 131, Geschichte und Geschehen 3, S. 73; Das waren Zeiten 2, S. 24). Auch nur beiläufig wird der polnisch-litauische Beitrag zur Schwächung des Ordens erwähnt. Lediglich die AutorInnen von Forum Geschichte versuchen, die Geschichte des Ordens in Ostpreußen im Kontext der deutsch-polnischen Beziehungen zu erzählen (Forum Geschichte 2, S. 131). Sie heben die Eroberungsgelüste des Ordens hervor, u. a. den Versuch, sich Pommern anzueignen, das dem Herzog von Polen gehört. Es ist das einzige von drei Schulbüchern, die die Säkularisierung des Ordensstaates im Jahre 1525 vermerken, das gleichzeitig auch von dem Lehnsverhältnis Preußens gegenüber dem polnischen König berichtet (Forum Geschichte 2, S. 131; Geschichte und Geschehen 3, S. 73). In den übrigen Publikationen, die das Jahr 1525 erwähnen, wird dieses Datum lediglich mit der Gründung des weltlichen Herzogtums Preußen in Verbindung gebracht – unerwähnt bleibt jedoch die in der polnischen Narration wichtige Tatsache, dass der polnische König die Lehnshoheit über die nördliche Provinz ausübte, die von preußischen Herzogsgeschlechtern regiert wurde (Das waren Zeiten 2, S. 24; Menschen und Zeiten 1, S. 15).

Die Preußische Huldigung von 1525 schließt dieses sehr allgemein gehaltene Kapitel über die Beziehungen zwischen Polen und dem Deutschen Orden ab. Das nächste Mal werden die deutschen SchülerInnen erst wieder im achtzehnten Jahrhundert in diese Gegend Europas geführt – nachdem die SchulbuchautorInnen einen großen Bogen um das Goldene Zeitalter Polens unter den Jagiellonen gemacht haben. In den Schulbüchern taucht der polnische Staat erneut destabilisiert und geschwächt im Zustand einer tiefen, inneren Krise auf, die von den mächtiger werdenden Nachbarn ausgenutzt wird. Die Teilungen Polens sind kein Pflichtthema in den Lehrplänen, weshalb auch nicht alle Bücher dieses Thema berücksichtigen. In den meisten der analysierten Schulbücher werden die Schwierigkeiten des polnischen Staates geschildert, dessen Schwäche von den europäischen Mächten ausgenutzt wird, die auf diese Weise ihre Stellung in Europa festigen und das Gleichgewicht der Kräfte aufrechterhalten wollen (Zeitreise 3, S: 38-39; Forum Geschichte 2, S. 234; Geschichte und Geschehen S. 4, 36-37; Horizonte 2, S. 133, 147, 149; Das waren Zeiten 2, S. 110; Zeiten und Menschen 1, S. 334). Die AutorInnen nehmen in den Schilderungen der Teilungen in der Regel eine empathische Haltung gegenüber Polen ein, das sie als Opfer bezeichnen, und betonen, dass die Aneignung der polnischen Gebiete unbegründet und widerrechtlich gewesen sei. Die innere Situation Polens ist jedoch nicht Gegenstand der Darstellungen. Die AutorInnen von Das waren Zeiten berichten zwar von Versuchen während der Herrschaft von Stanislaus August Poniatowski, den Staat zu reformieren, und würdigen die Verfassung vom 3. Mai, die als die erste schriftliche Verfassung Europas bezeichnet wird, der Sinn der Reformen bleibt jedoch im Unklaren, ohne dass zumindest oberflächlich die in der polnischen Adelsrepublik herrschenden Verhältnisse dargestellt werden (Das waren Zeiten 2, S, 110). Die Erwähnung der Teilungen hat zum Ziel, die Ende des 18. Jahrhunderts stattfindenden Gebietsveränderungen sichtbar zu machen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Frage, welche Auswirkungen die Politik der Teilungsmächte für die polnische Bevölkerung hat, von zweitrangiger Bedeutung und dementsprechend wird sie in den Lernmitteln abgehandelt. Eine Ausnahme bilden das Schulbuch Zeitreise, das eine kleine Abbildung von Wojciech Kossaks Gemälde Rugi pruskie [Polenausweisungen] enthält und die SchülerInnen auffordert, über die Situation der polnischen Bevölkerung während der Teilungen nachzudenken, und das Lehrbuch Geschichte und Geschehen, das mit allgemeinen Worten über die Germanisierungspolitik gegenüber den Polen und deren Kampf um die Bewahrung der eigenen Sprache und Identität informiert (Zeitreise 4, 46; Geschichte und Geschehen 4, S. 36). In den anderen Publikationen wird die Politik der Teilungsmächte – sofern sie überhaupt thematisiert wird – in dem Satz zusammengefasst, dass die polnische Minderheit es schwer hatte während Bismarcks Regierungszeit und des Kulturkampfes (Entdecken und Verstehen 3, S. 144 in Nordrhein-Westfalen; Anno 11/12, S. 131). Dagegen ist der Novemberaufstand ein fester Bestandteil in den Schilderungen der revolutionären Stimmung im Europa des Jahres 1830 und findet in den meisten Schulbüchern Erwähnung (Zeitreise 3, S: 136; Forum Geschichte 3, S. 64; Geschichte und Geschehen 4, S. 134). Häufig wird der Aufstand, neben der französischen Julirevolution, als einer der Impulsgeber für die Initiatoren des Hambacher Fests bezeichnet. Betont wird auch die Teilnahme polnischer Emigranten an diesem Freiheitsfest (Das waren Zeiten S. 2, 147; Anno 4, S. 15). Wesentlich ausführlicher wird das Thema der nationalen polnischen Befreiungsbewegung in Zeiten und Menschen behandelt, einem Schulbuch für die Abiturklassen. Dadurch dass die Bewegung in einen breiteren Themenblock integriert wird, der dem nationalen Denken und dem Nationalismus in Europa gewidmet ist, können die SchülerInnen dieses Phänomen des 19. Jhs. aus unterschiedlichen nationalen Perspektiven betrachten (Zeiten und Menschen 1, S. 333–336).

Mit dem Versailler Vertrag von 1919 kehrt Polen auf die Landkarte Europas zurück und wird wieder zu einem Thema für den Geschichtsunterricht. Bei der Erörterung der Gebietsveränderungen in Mittelosteuropa, die teilweise zu Lasten Deutschlands gehen, erscheint indirekt auch das polnische Motiv. Es taucht zumeist in den Aufgaben auf, bei denen es darum geht, anhand der angefügten Landkarten, auf denen die neu entstandenen Staaten in dieser Region Europas eingezeichnet sind, den veränderten deutschen Grenzverlauf präzise zu beschreiben (Zeitreise 4, S. 97; Forum Geschichte 3, S. 186; Geschichte und Geschehen 5, S. 140–141; Horizonte 3, S. 102, S. 107; Das waren Zeiten 3, S. 38; Anno 5, S. 8, S. 11). Die AutorInnen geben den SchülerInnen u. a. die Aufgabe, die Herkunft der Gebiete zu bestimmen, aus denen sich die neuen Staatsgebilde, die auf der Pariser Friedenskonferenz ins Leben gerufen wurden, zusammensetzen (Entdecken und Verstehen 4, S. 40 in Nordrhein-Westfalen; Entdecken und Verstehen 8, S. 54). Grundlage für die Bearbeitung dieser Aufgabe sind Karten von Europa im Jahr 1914 und im Jahr 1920. Der historische Überblick über das Gebiet des wiedererstandenen polnischen Staates reicht folglich nur bis ins Jahr 1914 zurück. Die deutschen SchülerInnen, die keine Kenntnis davon haben, dass der wiederhergestellte polnische Staat aus wichtigen historischen Gebieten besteht, die in Folge der Teilungspolitik der Großmächte gegen Ende des 18. Jhs. verlorengingen, und dass die östliche Grenze Deutschlands durch die Versailler Beschlüsse auf ihre alte Position vor den Teilungen zurückverschoben wurde, tendieren zum Beispiel dazu, Großpolen als eine Region mit rein deutschen Wurzeln zu betrachten. Im bayerischen Schulbuch Zeitreise werden die Lernenden zum Schluss des Kapitels über den Versailler Vertrag in einer Aufgabe dazu aufgefordert, sich in eine/n BewohnerIn der Stadt Posen hineinzuversetzen, der/die gerade von den Versailler Beschlüssen erfahren hat (Zeitreise 4, S. 97). Anhand der im Schulbuch vermittelten Informationen sind die SchülerInnen nicht in der Lage, die Reaktion der Posener BürgerInnen auf die Ergebnisse der Versailler Verhandlungen von deren nationalen Zugehörigkeit abhängig zu machen. Ohne Wissen über die ethnische Zusammensetzung der Posener Bevölkerung gehen sie davon aus, dass die Stadt ausschließlich von Deutschen bewohnt wird, die über die Nachricht von der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens nicht erfreut sind. Der Großpolnische Aufstand bleibt dagegen unkommentiert, ähnlich wie die Schlesischen Aufstände oder die Volksabstimmungen in Masuren und Oberschlesien.

Im Vergleich zu derart sporadischen Polenbezügen enthält die Darstellung des Zweiten Weltkrieges – ein Zeitraum, der im kollektiven Gedächtnis beider Völker einen besonderen Platz einnimmt – eine beträchtliche Zahl von Anmerkungen zur polnischen Situation. Der Begriff Anmerkung ist bewusst gewählt, da es sich hierbei um einzelne, kurze faktografische, in Dutzenden Seiten Text zur NS-Zeit und zum Zweiten Weltkrieg verstreute Informationen handelt. Das Schicksal Polens, des ersten Opfers der deutschen Kriegspolitik, wird nicht synthetisch, in separaten, nur ihm gewidmeten Absätzen analysiert, sondern zieht sich wie ein Faden durch unterschiedliche Zusammenhänge. Bevor die AutorInnen den deutschen Angriff auf Polen schildern, werden Hitlers Forderungen an die polnische Regierung – der Anschluss Danzigs an das Deutsche Reich und der Bau einer Autobahn, die Ostpreußen und Deutschland verbinden soll – kommentiert (Das waren Zeiten 3, S. 101), die britisch-französische Garantieerklärung für den Fall einer deutschen Aggression erwähnt (Zeitreise 4, S. 159) und der Molotow-Ribbentrop-Pakt samt geheimem Zusatzprotokoll, in dem die Aufteilung Polens zwischen Deutschland und der UdSSR vereinbart wurde, ausführlich besprochen (Forum Geschichte 4, S. 70; Horizonte 3, S. 176; Das waren Zeiten 3, S. 104; Anno 5, S. 150). Die aus polnischen Schulbüchern bekannten, morgens um 4:45 Uhr vom Schulschiff Schleswig-Holstein auf der Halbinsel Westerplatte abgegebenen Schüsse sind im deutschen kollektiven Gedächtnis nicht der symbolische Beginn des Zweiten Weltkrieges. Die Schulbuchnarration zum Zweiten Weltkrieg eröffnet nicht der Angriff auf die Westerplatte, sondern der vorgetäuschte Überfall deutscher, als polnische Freischäler getarnter Soldaten auf den Sender Gleiwitz, der Hitler als Vorwand für den deutschen Einmarsch in Polen am 1. September diente (Horizonte 3, S. 173; Das waren Zeiten 3, S. 104; Anno 5, S. 139). An diesem Tag wurde Polen zum ersten Opfer der kriegerischen Expansionspolitik Hitlerdeutschlands, und diese Tatsache bleibt in keinem der analysierten Schulbücher unerwähnt (Zeitreise 4, S. 159; Forum Geschichte 4, S. 70; Forum Geschichte 11, S. 179; Geschichte und Geschehen 6, S. 44; Horizonte 3, S. 173; Entdecken und Verstehen 4, S. 92 in Nordrhein-Westfalen; Das waren Zeiten 3, S. 104; Zeiten und Menschen 2, S. 165, S. 182; Entdecken und Verstehen 8, S. 150 in Sachsen; Anno 5, S. 150; Anno 11/12, S. 326–327). Die Informationen über den erfolgreichen Verlauf der Offensive und den Blitzsieg über Polen stehen im Kontrast zu der polnischen Narration, die die Verbissenheit, Beharrlichkeit und Aufopferungsbereitschaft der polnischen Soldaten bei der – angesichts ihrer unterlegenen Bewaffnung – Verteidigung des Vaterlandes betont (Zeitreise 4, S. 162; Forum Geschichte 4, S. 71; Geschichte und Geschehen 6, S. 44; Horizonte 3, S. 176; Das waren Zeiten 3, S. 104; Anno 5, S. 150). Nicht in allen Texten wird die Auslöschung der polnischen Eliten, die unmittelbar nach der Besetzung des polnischen Territoriums beginnt, direkt angesprochen, und die Verbrechen an polnischen BürgerInnen im breiteren Kontext der NS-Rassenideologie erörtert (Forum Geschichte 4, S. 72–73). Einige Schulbücher greifen dieses Thema auf, indem sie die Berufsgruppen aufzählen, die von SS- und Gestapo-Einheiten ermordet wurden (Zeitreise 4, S. 162; Geschichte und Geschehen 6, S. 44; Horizonte 3, S. 176; Das waren Zeiten 3, S. 109; Anno 5, S. 150). Andere wiederum beschränken sich darauf, von der besonderen Brutalität der deutschen Besatzung in Polen und dem skrupellosen Umgang mit der Zivilbevölkerung zu sprechen (Entdecken und Verstehen 4, S. 92 in Nordrhein-Westfalen; Entdecken und Verstehen 8, S. 150 in Sachsen). In den analysierten Schulbüchern wird auch das Thema Zwangsarbeit (→ Zwangsarbeiter) berührt, wobei auf die Lebensbedingungen der Arbeiter slawischer Herkunft eingegangen wird (Geschichte und Geschehen 6, S. 44; Entdecken und Verstehen 4, S. 96 in Nordrhein-Westfalen; Das waren Zeiten 3, S. 112; Entdecken und Verstehen 8, S. 161 in Sachsen).

Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung (→ die Vertreibung) aus den Gebieten, die aufgrund der Potsdamer Beschlüsse unter polnische Verwaltung gestellt werden, und die ihr vorausgehenden Fluchtbewegungen aus den Gebieten, die von der Roten Armee eingenommen werden, stehen in unmittelbaren Zusammenhang mit der NS-Politik und dem Zweiten Weltkrieg und bilden einen weiteren Themenkomplex mit Polenbezügen. Diesem Thema wird zumeist in dem Kapitel, das die Situation im besetzten Nachkriegsdeutschland darstellt, ein zwei-, bis dreiseitiger separater Abschnitt gewidmet. In diesen Passagen beziehen sich die SchulbuchautorInnen in drei Kontexten auf polnische Motive: Sie schildern die Vertreibung als eine Konsequenz des von Deutschland entfachten Zweiten Weltkrieges und der besonders grausamen Besatzung Polens; sie stellen die Vertreibung als Tragödie dar, die auch anderen Völkern (z.B. den Polen) widerfuhr; sie zeigen die Polen als Vollstrecker der Potsdamer Beschlüsse, die die Vertreibungen sanktionieren. Die Akzente sind in den einzelnen Schulbüchern allerdings unterschiedlich verteilt. In manchen wird die verbrecherische Politik Hitlerdeutschlands auf polnischem Boden dargestellt und als Vorspiel für spätere Flucht und erzwungene Migration betrachtet. Einen solchen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen stellen u. a. die AutorInnen des in Nordrhein-Westfalen zugelassenen Schulbuchs Entdecken und Verstehen her (Entdecken und Verstehen 4, S. 100). Bevor sie auf das Thema Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung zu sprechen kommen, skizzieren sie das Schicksal der polnischen BürgerInnen, die während der Besatzungszeit je nach deutschem Bedarf Zwangsarbeit verrichten mussten.

Das angeführte Zitat des Historikers Wolfgang Benz, der die NS-Politik als Ursache des Unglücks bezeichnet, das die Deutschen später während Flucht und Vertreibung erfahren, lässt keinen Zweifel an der Position der SchulbuchautorInnen in dieser Frage. Eine andere Strategie, einen Kausalzusammenhang zwischen der deutschen NS-Besatzungspolitik in Osteuropa und der Vertreibung der Deutschen herzustellen, verfolgen u. a. die AutorInnen von Zeitreise, Geschichte und Geschehen und Forum Geschichte. In den Vordergrund gerückt werden dabei die Versuche polnischer beziehungsweise osteuropäischer NS-Opfer, Rache und Vergeltung zu nehmen (Zeitreise 4, S. 182; Forum Geschichte 4, S. 98; Geschichte und Geschehen 6, S. 135). Mit dem Vorrücken der Ostfront Richtung Deutschland bot sich die Möglichkeit, den aufgestauten Hass zu entladen und es den Deutschen heimzuzahlen, lesen wir in Zeitreise (Zeitreise 4, S. 182). Die Vertreibungsproblematik wird immer seltener als rein deutsche Erfahrung dargestellt. Neben der Flucht und späteren Vertreibung der Deutschen, dem Leitmotiv der Narration, berichten die SchulbuchautorInnen auch von anderen Nationalitätengruppen, die infolge des Zweiten Weltkriegs zur Migration gezwungen wurden (Zeitreise 4, S. 182, S. Entdecken und Verstehen 4, S. 100 in Nordrhein-Westfalen; Das waren Zeiten 3, S. 148; anhand von Landkarten wird das Problem der Umsiedlungen in Europa illustriert: Forum Geschichte 4, S. 99; Geschichte und Geschehen 6, S. 136; Horizonte 3, S. 230; Zeiten und Menschen 2, S. 311; Entdecken und Verstehen 8, S. 14 in Sachsen; Anno 6, S. 58). In diesem Zusammenhang schildern sie u. a. das Schicksal der Polen, die auf deutschen Druck hin die 1939 einverleibten polnischen Gebiete verließen, und in der Nachkriegszeit ein zweites Mal, diesmal aus Gebieten, die an die UdSSR fielen, umgesiedelt wurden. Sämtliche Schulbücher für die Sekundarstufe I (Klassen 5–10) betonen im Text oder mittels Quellen den unmenschlichen Ablauf des deutschen „Bevölkerungstransfers“ nach Westen (Zeitreise 4, S. 82; Forum Geschichte 4, S. 98; Geschichte und Geschehen 6, S. 137; Horizonte 3, S. 228 – hier unterscheiden die Autoren verschiedene Phasen der Umsiedlungen; Entdecken und Verstehen 4, S. 119 in Nordrhein-Westfalen; Das waren Zeiten 3, S. 148–149; Entdecken und Verstehen 9, S. 15 in Sachsen; Anno 5, S. 56). Laut den Potsdamer Vorgaben soll der Transfer auf „ordnungsgemäße und humane Weise“ erfolgen, stattdessen nimmt er jedoch die Form schlecht organisierter Vertreibungen an. In diesem Zusammenhang wird in Zeitreise die Anweisung des damaligen Ministers für die → Wiedergewonnenen Gebiete Władysław Gomułka zitiert, die Polen sollten entlang der neuen polnischen Westgrenze für die Deutschen solche Bedingungen schaffen, dass diese nicht länger in Polen bleiben wollen (Zeitreise 4, S. 183). Die AutorInnen von Das waren Zeiten geben den Befehl eines polnischen Oberleutnants wieder, der die Restriktionen enthält, die der deutschen Bevölkerung auferlegt werden. Das Dokument ist im Schulbuch mit dem Hinweis versehen, dass derartige Dokumente die nationalsozialistischen Bekanntmachungen während der Okkupation Polens nachahmen. Wohingegen der Bericht eines deutschen Pfarrers den Ablauf einer Umsiedlungsaktion unter Aufsicht der polnischen Miliz schildert, die von Brutalität gegenüber der vertriebenen Bevölkerung gekennzeichnet ist (Das waren Zeiten 3, S. 149). Den polnischen LeserInnen der deutschen Schulbücher springt die Diskrepanz zwischen der Darstellung der NS-Besatzung in Polen und der Vertreibung der Deutschen in der Schlussphase des Krieges und nach Kriegsende ins Auge. Während die Kriegsjahre auf polnischem Boden nur bruchstückhaft und stereotyp behandelt werden, wird die Frage der Vertreibung wesentlich ausführlicher erörtert.

In der Auflistung der Themen, die einen Bezug zur polnischen Geschichte haben, sticht das Thema des Unabhängigen Selbstverwalteten Gewerkschaftsbundes (NSZZ) „Solidarność“ in mehrerlei Hinsicht heraus. Es ist kein Thema, das dem Bereich der deutsch-polnischen Beziehungen – dem Hauptkriterium für Polenbezüge – zuzuordnen ist, es wird vielmehr in einem breiteren europäischen Kontext besprochen. Der polnischen „Solidarność“ wird aufgrund ihrer Vorreiterrolle im Ostblock Aufmerksamkeit geschenkt, denn sie treibt dessen Spaltung voran und wird zu einem Vorbild für die übrigen sozialistischen Staaten. Dank der „Solidarność“ wird die polnische Gesellschaft als Subjekt wahrgenommen, das Einfluss ausübt auf die Situation in Europa. Zudem wird die polnische Gewerkschaftsbewegung „Solidarność“ in sämtlichen Schulbüchern für die Sekundarstufe I erwähnt und der Text durch ikonografisches Material und häufig auch durch weitere Quellen ergänzt (Zeitreise 5, S. 90; Forum Geschichte 5, S. 48–49; Geschichte und Geschehen 6, S. 96; Horizonte 3, S. 279–280; Entdecken und Verstehen 4, S. 146–147 in Nordrhein-Westfalen; Das waren Zeiten 3, S. 238–239, S. 242; Entdecken und Verstehen 9/10, S. 77 in Sachsen; Anno 6, S. 147, S. 149–150.). Die SchulbuchautorInnen verbinden das Thema „Solidarność“ mit der internationalen Entspannungspolitik und der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (Das waren Zeiten 3, S. 238–239; Anno 6, S. 146–147) oder direkt mit dem Herbst der Völker 1989 (Zeitreise 5, S. 90; Geschichte und Geschehen 6, S. 96; Horizonte 3, S. 279–280). Die Geschichte der Bewegung wird zumeist auf ihre Entstehung und die Rolle, die sie 1989 bei den Verhandlungen am Runden Tisch spielt, reduziert. Erwähnung findet auch das Verbot der „Solidarność“ mit der Einführung des Kriegsrechts in Polen und der Versuch, die Organisation durch die Internierung ihrer Anführer zu zerschlagen.

Die Erweiterung der Europäischen Union im Jahr 2004 bildet den Schlusspunkt der aus deutscher Sicht wichtigen Informationen über Polen. In welchem Umfang und in welcher Form sie deutschen SchülerInnen im Geschichtsunterricht vermittelt werden, ist abhängig von dem Wissen, dem Engagement und der Kreativität der LehrerInnen sowie von der Zeit, die ihnen zur Verfügung steht. Neben den regulären Schulbüchern gibt es auf dem deutschen Markt zusätzliche Lernmittel, die speziell der polnischen Geschichte oder den deutsch-polnischen Beziehungen gewidmet sind. Deshalb ist es schwierig zu beurteilen, welchen Einfluss Schulbücher – obgleich sie einen Hinweis darauf geben, was im jeweiligen Land als elementares Wissen betrachtet und für wert befunden wird, in der Schule vermittelt zu werden – auf den Wissensstand (oder vielmehr Unwissensstand) der Gesellschaft haben. Tatsache ist jedoch, dass Polen in den deutschen Schulbüchern wenig Beachtung zukommt. Die Geschichte Polens besteht aus einigen wenigen Nebenmotiven, die selektiv in die Narration der deutschen Nationalgeschichte eingebettet werden. Eine solche Zufallsauswahl verhindert die zusammenhängende Darstellung – und sei es auch nur eines Fragments – der geschichtlichen Entwicklung des polnischen Staates und garantiert auch nicht, dass die Schlüsselmomente seiner Geschichte Berücksichtigung finden. Desgleichen wurde das, was in Polen den Kern des Geschichtsbewusstseins ausmacht und einer der wichtigsten Bausteine der nationalen Identität ist, auf ein paar kurze Sätze, Landkarten und belanglose Episoden reduziert. Allerdings kann nicht von einer bewussten Marginalisierung Polens gesprochen werden, da auch andere Nachbarstaaten in den deutschen Schulbüchern eine untergeordnete Rolle spielen (die einzige Ausnahme ist Frankreich). Trotz dieses objektivierenden Einwands kann das in der deutschen Schule vermittelte kümmerliche Wissen über Polen aus polnischer Perspektive als Ausdruck von Ignoranz und Geringschätzung gewertet werden. Und dies umso mehr als dieses „kleine Einmaleins polnischer Geschichte“ für die deutschen SchülerInnen, gemessen an den polnischen Schulbüchern, die bereits erwähnte Asymmetrie eindeutig bestätigt. In den polnischen Publikationen, die zum Schulgebrauch zugelassen sind, wird die deutsche Geschichte um einiges umfassender dargestellt. In ihnen kommt ein nicht unbeträchtlicher Teil der Themen zur Sprache, die auch Gegenstand der deutschen Geschichtslehrpläne sind. Natürlich werden diese in deutschen Schulen ungleich detaillierter erörtert, dennoch geben die polnischen Schulbücher Grund zu der Annahme, dass SchulabsolventInnen zumindest in groben Zügen mit der Geschichte des westlichen Nachbarn vertraut sind – zumindest sollten sie es. Gleiches von deutschen SchülerInnen zu erwarten, was ihre Kenntnisse der Geschichte Polens betrifft, wäre, betrachtet man die oben aufgeführte Liste an polnischen Themen, eine ziemlich verwegene Annahme.

Das Fehlen tieferer Reflexion über das historische Schicksal des östlichen Nachbarn trägt zu dem von der Schulbildung verbreiteten Bild des provinziellen Polens bei, das wenig Interesse zeigt, die Geschicke Europas mitzubestimmen, sich passiv verhält in den Momenten, in denen sich das Rad der Geschichte dreht. Abgesehen von der Darstellung der „Solidarność“ – die einen erheblichen Beitrag zum Wandel in Mittelosteuropa leistet – wird die polnische Gesellschaft selten als Subjekt gezeigt, das Einfluss nimmt auf das eigene Schicksal oder die Situation in der Region. Das Bild von einem schwachen und passiven Polen wird durch die besprochenen Interpretationen der Teilungen, der Niederlage im September 1939 und der nationalsozialistischen Besatzung bekräftigt. Eine solche Darstellung widerspricht der Vorstellung vieler Polen, bei denen sich, u. a. durch den Geschichtsunterricht, die Überzeugung gefestigt hat, einem starken und unbeugsamen Volk anzugehören. Zwar erlitt der polnische Staat aufgrund stümperhafter Politik und ungünstiger Konstellationen in der europäischen Politik häufig Niederlagen, allerdings ließ sich das polnische Volk in diesen schwierigen Zeiten nie in die Rolle einer passiven Marionette drängen und erlag auch nicht den fremden Einflüssen – ein solches Bild vermitteln die polnischen Schulbücher. Unerwähnt bleiben in der deutschen Rekonstruktion der Vergangenheit Polens in den Jahren 1772–1918 sowie 1939–45 in der Regel die nationale Befreiungsbewegung im 19. Jh., der September-Feldzug 1939, die Widerstandsbewegung während der Okkupation, der → Warschauer Aufstand und die polnische Exilregierung – essentielle Bestandteile der polnischen Geschichtsschreibung, die die eindimensionale Vorstellung von einem zerschlagenen, befriedeten, aufopferungsvollen Polen fundamental verändern, aus ihm einen Akteur machen, der kämpft und versucht, Einfluss auf die Dinge zu nehmen. Legt man die deutsche Interpretation des polnischen Kriegsschicksals zugrunde, mögen die Ergebnisse einer Umfrage, wonach fast 25 % der befragten Polen den Zweiten Weltkrieg als eine historische Erfahrung bezeichnen, auf die sie als Polen stolz sind, paradox erscheinen, zumal die Gründe für eine solche Bewertung sich aus dieser Perspektive nicht erschließen. Für die Deutschen, die in den Schulbüchern vom Blitzsieg über Polen im ersten Monat des Zweiten Weltkriegs lesen, wirkt der Stolz der Polen auf den erbitterten Widerstand (insbesondere im Vergleich zur Eroberung Frankreichs 1940), den die polnische Armee im September trotz aller Blitzkriegs-Propaganda leistete, zumindest befremdlich. Die fünfwöchigen Kampfhandlungen im September 1939 haben in der deutschen und der polnischen Wahrnehmung völlig unterschiedliche Bedeutungen.

Ungleiches Wissen über den jeweils anderen sowie unterschiedliche Interpretationen bringen voneinander abweichende historische Vorstellungen und Beurteilungen derselben Ereignisse, Prozesse und Persönlichkeiten hervor. Wenn man weiß, dass die Rzeczpospolita nach dem Ersten Weltkrieg auf von Russland, Preußen und Österreich annektiertem Territorium wiederersteht, wirft dies ein völlig anderes Licht auf den polnischen Staat und das Problem der gemeinsamen Grenze, als wenn man lediglich erfährt, dass das neu entstandene Polen auch Gebiete umfasst, die Deutschland in Folge des Versailler Vertrages abgeben musste. Für heftige Auseinandersetzungen geradezu prädestiniert sind die tragischen historischen Erfahrungen Polens, für die deutsche SchülerInnen nicht – zumindest nicht in den Schulbüchern – sensibilisiert werden. Für deutsche Lernende, die von der Russifizierung und Germanisierung des polnischen Volkes im 19. Jh., den Repressionen, den Verbannungen nach Sibirien und den preußischen Polenausweisungen nie etwas gehört haben, wird das Wort „Teilung“ einen anderen Klang haben als für die Polen, die diese Prozesse im Geschichtsunterricht studiert haben. Eine kurze Erwähnung der besonderen Brutalität der deutschen Besatzung in Polen reicht nicht aus, um die Atmosphäre von Angst und Terror, aufgrund der Massenhinrichtungen, Folterungen, Razzien, Deportationen usw., wiederzugeben, über die die polnischen SchülerInnen in der Schule, aber auch mittels anderer Medien, umfassend unterrichtet werden. Die unterschiedlichen Vorstellungen vom Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen auf polnischem Boden trägt jedoch auch dazu bei, die Tragödie von Flucht und Vertreibung in verschiedenen Dimensionen wahrzunehmen.

Die in den deutschen Schulbüchern dargestellten Ereignisse wurden zwar nicht absichtlich so ausgewählt, dass sie eine im Voraus aufgestellte These beziehungsweise ein stereotypes – beim Nachbarn auf entschiedenen Widerspruch stoßendes – Polenbild (→ Stereotype) bestätigen, nichtsdestotrotz wurde durch die didaktisch bedingte Reduktion der Informationen über die historischen Schlüsselerfahrungen des polnischen Volkes – in denen die Deutschen eine elementare Rolle spielen – die Wissensvermittlung im Geschichtsunterricht derart beschränkt, dass sich die Kommunikation zwischen Deutschen und Polen über historische Themen als schwierig erweisen könnte. Vor diesem Hintergrund stößt der Vorwurf, die Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen zu bagatellisieren, möglicherweise auf Unverständnis, ob der zwanghaften Obsession der Polen in puncto ihrer eigenen Nationalgeschichte. Diesbezüglich könnte sich das gegenwärtig gemeinsam erarbeitete deutsch-polnische Schulbuch für den Geschichtsunterricht (→ deutsche und polnische ErinnerungskulturZusammenarbeit zwischen polnischen und westdeutschen Historikern  zwischen polnischen und westdeutschen Historikern) als Meilenstein auf dem Weg zu einem besseren gegenseitigen Verständnis erweisen. Das in der internationalen Didaktik angewandte Prinzip der mehrdimensionalen Vermittlung bestimmter Informationen, nach dem die SchülerInnen mit unterschiedlichen Blickwinkeln auf die Geschichte konfrontiert wird, bietet die Möglichkeit, alternative Interpretationen nebeneinander zu stellen und das Geschichtsbewusstsein um die Perspektiven der Nachbarn zu erweitern. Das deutschpolnische Schulbuch, das auf diesem Prinzip aufgebaut ist, soll es den SchülerInnen erleichtern, sich in einer Welt der vielen Meinungen und unterschiedlichen Bewertungen zurechtzufinden, und ihnen ermöglichen, nachdem sie verschiedene Ansichten kennengelernt haben, sich ihre eigene Meinung zu bilden.

Aus dem Polnischen von Andreas Volk

 

Literatur:

Jaworski, Rudolf: Kollektives Erinnern und nationale Identität. Deutsche und polnische Gedächtniskulturen seit Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Erinnern, vergessen, verdrängen. Deutsche und polnische Erfahrungen, hg. von Ewa Kobylińska und Andreas Lawaty, Wiesbaden 1998.

Kwiatkowski, Piotr Tadeusz: Pamięć zbiorowa społeczeństwa polskiego w okresie transformacji, Warszawa 2008.

Lässig, Simone: Wer definiert relevantes Wissen? Schulbücher und ihr gesellschaftlicher Kontext, in: Schulbuch konkret. Kontexte, Produktion Unterricht, hg. von Eckhardt Fuchs, Joachim Kahlert und Uwe Sandfuchs, Bad Heilbrunn 2010.

Maier, Robert: Der Stellenwert des Themas „Zwangsmigrationen“ in deutschen Schulbuchdarstellungen, in: Das Thema Vertreibung und die deutsch-polnischen Beziehungen in Forschung, Unterricht und Politik, hg. von Thomas Strobel und Robert Maier, Hannover 2008.

Szarota, Tomasz: „Und erlöse uns von dem Hass in der Seele“ – Die deutsche Okkupation Polens im Zweiten Weltkrieg aus polnischer Sicht, in: Deutsche und Polen. Abgründe und Hoffnungen, hg. von Burkhard Asmuss und Bernd Ulrich, Dresden 2009.

Schulbücher (nach Bundesländern und Verlagen geordnet)

(1) Bayern
      Zeitreise 1, Ernst Klett Verlag 2008.
      Zeitreise 2, Ernst Klett Verlag 2009.
      Zeitreise 3, Ernst Klett Verlag 2009.
      Zeitreise 4, Ernst Klett Verlag 2010.
      Zeitreise 5, Ernst Klett Verlag 2011.
    Forum Geschichte. Ausgabe Bayern. Bd. 1. Von der Vorgeschichte bis zur Dreiteilung der Mittelmeerwelt, Cornelsen 2004.
    Forum Geschichte. Ausgabe Bayern. Bd. 2. Vom Mittelalter bis zum Absolutismus, Cornelsen 2005.
    Forum Geschichte. Ausgabe Bayern. Bd. 3. Von der Französischen Revolution bis zur Weimarer Republik, Cornelsen 2006.
    Forum Geschichte. Ausgabe Bayern. Bd. 4. Vom Ende der Weimarer Republik bis in die 1960er Jahre, Cornelsen 2007.
    Forum Geschichte. Ausgabe Bayern. Bd. 5. Von den 1960er Jahren bis zur Gegenwart, Cornelsen 2008.
    Forum Geschichte 11, Bayern, Cornelsen 2009.
    Forum Geschichte 12, Bayern, Cornelsen 2010.

(2) Niedersachsen
     Horizonte 1. Geschichte. Gymnasium Niedersachsen, Westermann 2008.
     Horizonte 2. Geschichte. Gymnasium Niedersachsen, Westermann 2008.
     Horizonte 3. Geschichte. Gymnasium Niedersachsen, Westermann 2009.
     Geschichte und Geschehen 3, Klett 2009.
     Geschichte und Geschehen 4, Klett 2010.
     Geschichte und Geschehen 5, Klett 2011.
     Geschichte und Geschehen 6, Klett 2011.

(3) Nordrhein-Westfalen
     Entdecken und Verstehen 1. Von der Urgeschichte bis zum Ende des Römischen Reiches, Cornelsen 2006.
     Entdecken und Verstehen 2. Vom Frühen Mittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg, Cornelsen 2006.
     Entdecken und Verstehen 3. Vom Zeitalter des Absolutismus bis zum Ersten Weltkrieg, Cornelsen 2006.
     Entdecken und Verstehen 4. Von der russischen Oktoberrevolution bis zur Gegenwart, Cornelsen 2007.
     Das waren Zeiten 1. Von den Frühmenschen zur Ständegesellschaft, CC. Buchner 2008.
     Das waren Zeiten 2. Vom Mittelalter zum Ersten Weltkrieg, CC. Buchner 2009.
     Das waren Zeiten 3. Das kurze 20. Jahrhundert, C.C. Buchner 2010.
     Zeiten und Menschen 1, Schöningh 2007.
     Zeiten und Menschen 2, Schöningh 2007.

(4) Sachsen
     Entdecken und Verstehen 5. Von den Anfängen der Geschichte bis zum antiken Griechenland, Cornelsen 2004.
     Entdecken und Verstehen 6. Vom Römischen Reich bis zum Mittelalter, Cornelsen 2004.
     Entdecken und Verstehen 7. Vom Beginn der Neuzeit bis zur Industrialisierung, Cornelsen 2005.
     Entdecken und Verstehen 8. Vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Cornelsen 2006.
     Entdecken und Verstehen 9/10. Vom Kalten Krieg bis zur Gegenwart, Cornelsen 2007.
     Anno 1, Westermann 2004.
     Anno 2, Westermann 2005.
     Anno 3, Westermann 2005.
     Anno 4, Westermann 2006.
     Anno 5, Westermann 2006.
     Anno 1, Westermann 2007.
     Anno Neu, 11/12. Gymnasium Sachsen, Westermann 2008.

 

 

Grzempa, Hanna, verfasste den Beitrag „Das Bild und der Polen in deutschen Geschichtsbüchern“. Sie arbeitete am Georg-Eckert-Institut in den Bereichen osteuropäische Geschichte, deutsch-polnische Beziehungsgeschichte und Geschichtsdidaktik.

 

 

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