Rudolf Urban

Aktion Sühnezeichen als Beitrag zur deutsch-polnischen Versöhnung

Aktion Sühnezeichen als Beitrag zur deutsch-polnischen Versöhnung


In den offiziellen Kontakten zwischen der Volksrepublik Polen und der Deutschen De­mokratischen Republik spielten die Wiedergutmachung für deutsche Kriegsverbrechen und die Versöhnung zwischen Deutschen und Polen keine Rolle, da die sozialistische DDR sich zu einem Sieger des Zweiten Weltkrieges stilisierte. Es bestand also keine Notwendigkeit, mit der nationalsozialistischen Vergangenheit abzurechnen, um Verge­bung zu bitten und für die ehemaligen NS-Opfer Arbeit zu verrichten. Aus der ostdeut­schen Perspektive galt allein die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolgerin des Dritten Reiches, sodass jegliche Ansprüche und Forderungen nach Wiedergutma­chung an sie zu richten waren.

Obwohl die Mehrheit der ostdeutschen Gesellschaft diese Sichtweise nicht in Frage stellte, gab es auch in der DDR BürgerInnen, für die Deutschsein bedeutete, für die NS-Kriegsverbrechen mitverantwortlich zu sein. Offiziell konnte jedoch keine Versöhnungs­arbeit stattfinden, da sie im Widerspruch zur DDR-Geschichtspolitik stand. Privatiniti­ativen waren folglich die einzige Möglichkeit, Gesten der Versöhnung zu organisieren.

Zu den ostdeutschen Versöhnungsaktivisten gehörten vor allem der Protestant Lothar Kreyssig, Gründer der Aktion Sühnezeichen, und der Katholik Günter Särchen. Bei­de waren aktive Mitglieder ihrer Kirchen, die vor eventuellen staatlichen Repressionen einen gewissen Schutz boten. Vor allem die evangelische Kirche war zu DDR-Zeiten faktisch die einzige Institution, die nicht vollständig vom Staat kontrolliert wurde, wes­halb in späteren Jahren ebendort – obgleich die evangelische Kirche sich offiziell nicht als Widersacherin des sozialistischen Regimes verstand – freie Meinungsäußerung und offene Diskussionen möglich waren. Eine wesentlich kleinere, um nicht zu sagen mar­ginale Rolle spielte in Ostdeutschland die katholische Kirche, die sich nahezu jeglicher politischen Äußerung enthielt. Anders als in Polen, wo die katholische Kirche bei allen antikommunistischen Erhebungen eine Schlüsselrolle spielte und fast zu einem Symbol der Opposition wurde, fiel der katholischen Kirche in der DDR diese Funktion im Grunde genommen erst in den 1980er Jahren zu, als sich eine pazifistische, ökologische und – dadurch – oppositionelle Bewegung herausbildete. Dass Lothar Kreyssig und Günter Särchen von ihren Kirchen unterstützt wurden, war daher eher die Ausnahme denn die Regel, und hatte häufig – wie im Falle Särchens – etwas mit persönlichen Sym­pathien einzelner katholischer Würdenträger zu tun, nichts jedoch mit dem Glauben, derartige Aktivitäten lägen im Eigeninteresse der Kirche.

Günter Särchen wurde am 14. Dezember 1927 in der Lausitzer Kleinstadt Wittichenau geboren. In den letzten Kriegsmonaten wurde er zur Wehrmacht eingezogen und geriet im Mai 1945 in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach dem Krieg kehrte er in die Lausitz zurück und begann, sich kirchlich zu betätigen, was ihm wenige Jahre später zu einer Anstellung beim Bistum Görlitz verhalf. Bis zum Arbeiteraufstand 1953 arbeitete er in der Jugendseelsorge, anschließend zog er nach Magdeburg um. Dort gründete er 1958 die Arbeitsstelle für pastorale Hilfsmittel, eine kirchliche Einrichtung, von wo er in den folgenden Jahrzehnten seine Versöhnungsarbeit vorantrieb. Mitte der 1980er Jahre wurde diese jedoch vom Magdeburger Bischof gebremst, und sämtliche Polenini­tiativen wurden vom Verein Aktion Sühnezeichen übernommen, mit dem Särchen seit Anfang der 1960er Jahre zusammenarbeitete.

Die Aktion Sühnezeichen entstand 1958 auf Initiative von Lothar Kreyssig (1898‒1986), einem ostdeutschen Richter und Bürgeraktivisten, der sich zum Ziel gesetzt hatte, durch aktive Arbeit ein Stück Wiedergutmachung für die deutschen Verbrechen während des Krieges zu leisten. Die von ihm gegründete Aktion Sühnezeichen sollte ursprünglich eine gesamtdeutsche Initiative sein, doch nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 spal­tete sich die Organisation: Die westdeutsche Aktion Sühnezeichen konnte im In- und Ausland tätig sein, während ihr ostdeutsches Pendant eine innerkirchliche Organisa­tion ohne staatliche Unterstützung war, wodurch der anfängliche Plan, vor allem in den Ländern, die der nationalsozialistischen Aggression zum Opfer gefallen waren, zu arbeiten, nur in geringem Umfang umgesetzt werden konnte. Die ostdeutsche Aktion Sühnezeichen konzentrierte sich daher vor allem auf Aktivitäten in der DDR; in den 1970er Jahren wurden in Zusammenarbeit mit Günter Särchen aber auch Fahrten nach Polen organisiert.

Die ersten Kontakte zu polnischen BürgerInnen knüpfte Särchen noch bevor die Arbeits­stelle für pastorale Hilfsmittel offiziell ihre Tätigkeit aufnahm. Anfangs beschränkten sich diese auf Briefe und Büchersendungen an unterschiedliche Institutionen in Polen. Särchen reiste erst 1960 das erste Mal nach Polen. Damals lernte er Jerzy Turowicz und Anna Morawska kennen, die später Freunde von ihm wurden. Während seines ersten Aufenthaltes, wie auch bei späteren Polenbesuchen, kam es zu Gesprächen mit katholi­schen Würdenträgern, u. a. mit Erzbischof Bolesław Kominek (→ Brief der Bischöfe) in Wrocław, Karol Wojtyła in Krakau und einer Reihe anderer Diözesanbischöfe.

In dieser Zeit begegneten sich Särchen und Kreyssig das erste Mal. Zusammen initiierten sie in den 1960er Jahren die ersten konkreten Polenprojekte, z. B. eine Spendensammlung für eine Kirche in Polen, die von den ehemaligen Aggressoren neue Glocken erhalten sollte. 1962 wurde für DDR-Jugendliche erstmals ein Sommerlager organisiert – diese Lager wurden für die ostdeutsche Aktion Sühnezeichen zum Fundament zukünftiger Versöhnungsarbeit. Während des ersten Lagers enttrümmerte eine Gruppe von Jugend­lichen zwei Magdeburger Kirchen: eine Art Vorläufer der späteren Jugend-Pilgerfahrten nach Polen, während derer die Teilnehmenden auch auf dem Gelände ehemaliger Kon­zentrationslager (Auschwitz und Majdanek) arbeiteten. Ebendiese Sommerlager in Polen waren, obwohl sie zunächst nur 1965 und 1966 stattfanden, der erste große Erfolg der Aktion Sühnezeichen in Sachen Versöhnung. Die Veranstalter erhielten keine offizielle Erlaubnis, solche Fahrten zu organisieren, diese fanden jedoch mit stiller Zustimmung der polnischen Seite und in Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche in Polen statt. Nach der zweiten Pilgerfahrt verboten die ostdeutschen Behörden weitere Fahrten, die Initiative musste also erst einmal unterbrochen werden. Kreyssig und Särchen wandten sich in einem Brief an die Teilnehmenden aus der DDR und die Partner in Polen. Da­rin hieß es: „Wir bedauern sehr, dass unser auf Versöhnung ausgerichteter Beitrag zum Frieden zwischen unseren Völkern durch diese Entscheidung im eigenen Land in Frage gestellt wird“ (Brief der Aktion Sühnezeichen vom 28.5.1967, Archiv von Jerzy Turowicz). Der Verein nahm diese Versöhnungsarbeit erst in den 1970er Jahren wie­der auf, als er, aufgrund der zwischenzeitlichen Verbesserung der ostdeutsch-polnischen Beziehungen und der damit verbundenen Erleichterungen im Grenzverkehr, mehrere Sommerlager in Polen für seine Mitglieder organisieren konnte, während derer die Teil­nehmenden u. a. im Blindenzentrum in Laski bei Warschau arbeiteten.

Neben den gemeinsamen Initiativen in den 1960er Jahren war Kreyssigs Aktion Sühnezeichen für Särchen noch aus einem anderen Grund wichtig: Er konnte sich auf die Un­terstützung des Vereins verlassen. Besonders wichtig war dies in den 1980er Jahren, als er nicht mehr die „Protektion“ der katholischen Kirche genoss. Durch die Zusammenar­beit mit dem Protestanten Kreyssig lebte Särchen den ökumenischen Gedanken, der erst einige Jahre später in der katholischen Kirche zu einem wichtigen Thema wurde. Darü­ber hinaus lernte er viel von dem evangelischen Laien, der bereits während des Dritten Reiches gegenüber der Diktatur eine explizit kritische Haltung eingenommen hatte.

Nachdem die Jugend-Pilgerfahrten nach Polen nicht mehr fortgesetzt werden konnten, musste Särchen sich etwas Neues ausdenken, um die DDR-BürgerInnen für seine Idee der Versöhnung mit Polen zu gewinnen. Und so entstanden in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre Initiativen, die so etwas wie Polenwerbung betrieben und in den folgenden Jahrzehnten die BürgerInnen beider Staaten einander näherbrachten. Särchens Projekte wurden in Magdeburg unter dem Dach der katholischen Kirche organisiert, genauer gesagt im Rahmen des dortigen Seelsorgeamtes. Der damalige Bischof von Magdeburg, Friedrich Maria Rintelen, der allen deutsch-polnischen Bemühungen um Versöhnung Segen und Schutz gewährte, war der einzige echte Fürsprecher dieser katholisch-evan­gelischen Zusammenarbeit. Die meisten DDR-Bischöfe distanzierten sich von den öku­menischen und zugleich grenzüberschreitenden Aktivitäten.

Man versuchte, Versöhnung zu erreichen durch tägliche Arbeit und die Methode der kleinen Schritte – diese bestanden aus Bücherspenden für Institutionen in Polen (u. a. Priesterseminare und Universitätsbibliotheken), Sprachkursen für polnische Studieren­de in der DDR und Unterstützungsaktionen für das Blindenzentrum in Laski bei War­schau, in dem ab den 1970er Jahren regelmäßig Mitglieder der Aktion Sühnezeichen sowie Särchen selbst und seine Familie arbeiteten. Außerdem hielt Särchen in der DDR eine Reihe von Vorträgen über Polen, die während des Kriegsrechts besondere Bedeu­tung hatten, da er Polen auf eine Weise darstellte, die sich von der offiziellen DDR-Propaganda erheblich unterschied. Zur gleichen Zeit forderte er DDR-BürgerInnen auf, ihren östlichen Nachbarn zu helfen und Pakete nach Polen zu schicken. Dabei ging es jedoch nicht darum, staatliche Aktionen zu unterstützen, die eindeutig politisch gefärbt waren, sondern christliche Nächstenliebe zu praktizieren.

Darüber hinaus richtete Särchen in Magdeburg eine Seelsorgestelle für Polen ein, um in der DDR arbeitenden Polen die Möglichkeit zu geben, an polnischsprachigen Gottes­diensten teilzunehmen. Nachdem man die Anfangsprobleme und den sichtlichen Un­willen mancher Pfarrer überwunden hatte, begann man regelmäßig Gottesdienste für Polen abzuhalten, wobei Särchen vor allem von Bischof Rintelen Rückendeckung erhielt. Särchen warb nicht nur unter den Polen, die im Raum Magdeburg arbeiteten, für die polnischsprachigen Messen, sondern verteilte auch polnische Gebetbücher und half den Gläubigen, polnische Pilgerfahrten nach Huysburg (Kloster und Mariensanktuarium) zu organisieren oder einen polnischen Pfarrgemeinderat zu gründen. Erst einige Jahre nach Särchens ersten Initiativen beschäftigte sich die ostdeutsche Bischofskonferenz mit dem Thema „polnische Seelsorge“. Das Programm wurde auf die ganze DDR ausgeweitet und die Seelsorge mit der polnischen Seite koordiniert. An dieser gesamtostdeutschen Arbeit nahm Särchen jedoch nicht mehr teil, da sein Engagement von manchen Geistli­chen negativ beurteilt wurde. Trotzdem engagierte sich Särchen weiter in der polnischen Seelsorge in Magdeburg. Ab 1968 organisierte Särchen für das Magdeburger Seelsorge­amt zweimal im Jahr „Polenseminare“, die sich an Poleninteressierte richteten und ausge­wählte Aspekte der Geschichte und Gegenwart des Nachbarlandes sowie der polnischen katholischen Kirche näher beleuchteten. Die an den Seminaren Teilnehmenden gehör­ten unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen an, darunter waren auch Vertriebene. Särchen war nicht nur Veranstalter, sondern auch Referent. Im Rahmen der Seminare hielten auch Gäste aus Polen Vorträge: u. a. Wanda und Kazimierz Czapliński, Józefa Hennelowa, Tadeusz Mazowiecki, Mieczysław Pszon und Stanisław Stomma. Von 1970 bis 1979 organisierte Särchen zudem zehn Pilgerfahrten nach Polen, die nach Warschau, Krakau, Auschwitz, Katowice und Trzebnica führten. Zum festen Programmpunkt jeder Pilgerfahrt gehörten Begegnungen mit Vertretern kirchennaher, systemkritischer Gesell­schaftskreise. Die ostdeutsch-polnischen Treffen fanden häufig in den Klubs der katholi­schen Intelligenz (Kluby Inteligencji Katolickiej) statt.

Särchens letzte wichtige Initiative waren ab den 1960er Jahren die Handreichungen mit Informationen über Polen, die offiziell „nur für den innerkirchlichen Gebrauch“ be­stimmt waren, wodurch sie nicht der staatlichen Zensur unterlagen. Dies zeigt, welche Bedeutung der Arbeitsstelle für pastorale Hilfsmittel zukam, die Teil der kirchlichen Strukturen war und Särchen dadurch Schutz bot. Das Themenspektrum der Publika­tionen ähnelte dem der Seminare: die Geschichte Polens und anderer Länder, jüdische Geschichte sowie Texte zu Kirchenthemen, die auch einen Bezug zum östlichen Nach­barn hatten. Ab 1970 erschienen diese Informationshefte einmal im Jahr. Außerdem veröffentlichte Särchen kleinere Texte zu aktuellen Ereignissen, z. B. ein Porträt von Johannes Paul II. nach seiner Wahl zum Papst, das er mit Theo Mechtenberg und Jerzy Turowicz verfasste. Dieser Text missfiel jedoch dem damaligen Bischof von Magdeburg, Johannes Braun. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist auch die Handreichung von 1982, die zur Gänze der Solidarność gewidmet war und den Titel Versöhnung – Auf­gabe der Kirche trug. Der Text war im Grunde apolitisch, die Materialien, die in Polen in staatlichen Medien erschienen waren, wurden in der DDR, nach der Einführung des Kriegsrechts in Polen, zu einem Politikum. Darunter befanden sich Äußerungen polni­scher Politiker und katholischer Würdenträger sowie die Forderungen der Streikenden von Danzig. Das Erscheinen einer derartigen Textsammlung, zu einer Zeit zunehmen­der antipolnischer Propaganda in der DDR, musste zwangsläufig die Aufmerksamkeit des Ministeriums für Staatssicherheit erregen, wodurch sie nicht nur für Särchen selbst, sondern für die gesamte katholische Kirche in der DDR zu einer Bedrohung wurde. Aus diesem Grund distanzierte sich die ostdeutsche Bischofskonferenz von Särchens Initi­ativen und stellte fest, dass der damalige Magdeburger Bischof Braun seiner Aufsichts­pflicht nicht hinreichend nachgekommen sei. Für Särchen bedeutete dies, dass er – als katholischer Laie – fortan von seinen Kirchenoberen keine Hilfe mehr erwarten durfte. Er gab seine Arbeit in der Diözesankurie auf und konzentrierte sich auf seine Kontakte zur Aktion Sühnezeichen, mit der er weiter polnische Seminare organisierte, die nun Anna-Morawska-Seminare hießen.

Aufgrund seines Konflikts mit Bischof Braun und der Auflösung des Dienstverhältnis­ses mit der katholischen Kirche wurde Särchen zu einem „leichten Opfer“ für die DDR-Staatssicherheit – die sich im Übrigen schon viel früher für ihn interessiert hatte. In den 1960er Jahren wurde er unter verschiedenen Vorwänden verhört, später verwanzte man seine Wohnung und observierte seine Familie. Zahlreiche inoffizielle Mitarbeiter fabrizierten über Särchen „Informationen“, die zum überwiegenden Großteil falsch wa­ren und lediglich dazu dienten, ihn zu diskreditieren. Der Druck auf Särchen nahm in den 1980er Jahren erheblich zu, was nicht zuletzt mit dem fehlenden Schutz seitens der Kirche zu tun hatte. Die Verhöre belasteten ihn immer mehr, woraufhin sich sein Gesundheitszustand verschlechterte. Darüber hinaus wurden Särchen in den 1980er Jahren viele andere Straftaten vorgeworfen, u. a. Spionage für feindliche Nachrichten­dienste, Devisenschmuggel und staatsfeindliche Hetze. Die erhobenen Vorwürfe ließen sich jedoch nicht beweisen, weshalb die gegen ihn ergriffenen Maßnahmen wieder ge­lockert wurden. Seine Polenarbeit stand jedoch weiter unter ständiger Beobachtung.

Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland war Särchen weiter aktiv, auch wenn er aus gesundheitlichen Gründen sein Arbeitspensum reduzieren musste. Er war beteiligt an der Gründung der Anna- Morawska-Gesellschaft, die aus dem gleichnamigen Seminar entstand. Trotz seines sich verschlechternden Gesundheitszustandes engagierte sich Särchen auch für die Stiftung Kreisau. Er starb am 19. Juli 2004 in seiner Heimatstadt Wittichenau, wohin er Anfang der 1990er Jahre zurückgekehrt war.

Die ost- und westdeutsche Aktion Sühnezeichen schlossen sich nach 1989 wieder zu­sammen, der Verein ist bis heute ununterbrochen aktiv und setzt Kreyssigs Ideen eins zu eins um: Außer Sommerlagern und Fahrten zu NS-Gedenkstätten organisiert die Aktion Sühnezeichen auch kurze und längere Freiwilligendienste für Deutsche im euro­päischen Ausland und Ausländer in Deutschland.

Schwer zu sagen, welchen Einfluss Särchens Tätigkeit auf die Versöhnung zwischen Deutschen und Polen hatte, da keine Statistiken geführt wurden und daher auch keine konkreten Teilnehmerzahlen bekannt sind. Bekannt ist nur, dass 1965 und 1966 an den Jugend-Pilgerfahrten nach Polen insgesamt rund 115 Personen teilnahmen – und dies, obwohl es sich um eine Initiative ohne feste Tradition handelte und die ostdeutschen Jugendlichen einer starken kirchenfeindlichen Indoktrinierung ausgesetzt waren. An den Seminaren nahmen in der Regel etwa 30‒40 Personen teil, wenngleich auch hier genaue Zahlen fehlen – es wurden keine Teilnehmerlisten aufbewahrt, aus Angst, sie könnten der Staatssicherheit in die Hände fallen. An den Pilgerfahrten nach Polen in den 1970er Jahren nahmen jedes Mal etwa 60 Personen teil, und die Handreichungen zum Thema Polen wurden in den meisten Fällen in einer Stückzahl von etwa 1.000 Ex­emplaren verbreitet. Da die genannten Zahlen nicht allzu groß sind, darf angenommen werden, dass Särchens Initiativen sich auf eine Nische beschränkten. Ähnlich fällt die Bilanz aus polnischer Sicht aus: Die Öffentlichkeit in Polen hatte keine Möglichkeit, Särchens Arbeit kennenzulernen, doch einzelne kirchennahe, katholische Kreise, die an seinen Initiativen teilnahmen oder deren Nutznießer waren, konnten sich selbst davon überzeugen, dass es auch in der DDR Menschen gab, die um Wiedergutmachung für die deutschen Verbrechen und Versöhnung bemüht waren. Särchens Beitrag zur Ver­besserung der (ost-)deutsch-polnischen Beziehungen findet ihren Ausdruck auch in den Auszeichnungen, die er später erhielt: Komturkreuz des Verdienstordens der Republik Polen (1990), Bundesverdienstkreuz (1992), Deutsch-Polnischer Preis (1998), Lothar- Kreyssig-Friedenspreis (2002). Heute erinnern sich an Särchens Tätigkeit vor allem die­jenigen, die an seinen Projekten teilgenommen haben. Zu seinem achtzigsten Geburts­tag fand 2008 in Magdeburg eine wissenschaftliche Tagung statt, die seine Initiativen in Erinnerung bringen sollte, das öffentliche Interesse war jedoch gering.

Anders verhält es sich mit dem Verein Aktion Sühnezeichen. Während die ostdeutsche Aktion Sühnezeichen begrenzte Handlungsspielräume hatte, genoss ihre westdeutsche Schwesterorganisation im demokratischen System der Bundesrepublik völlige Freiheit. Nach dem Zusammenschluss beider Organisationen wurden die Aktivitäten des Vereins einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Noch wichtiger jedoch, die Initiativen der ost­deutschen Aktion Sühnezeichen wurden fortgeführt. Weiterhin werden Sommerlager, u. a. in Polen, organisiert, während derer Jugendliche aus Deutschland zusammen mit Polen Versöhnungsarbeit leisten und die schwierige Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen kennenlernen. Ein wichtiges Element der Arbeit sind die Freiwilligen­dienste, im Rahmen derer in den letzten Jahren mehr als zwanzig junge Deutsche für polnische Vereine, Museen, Gedenkstätten und Sozialeinrichtungen tätig waren. Die Aktion Sühnezeichen organisiert darüber hinaus Tagungen, Zeitzeugenbegegnungen, erstellt Bildungsmaterialien und beteiligt sich an öffentlichen Debatten. In Polen wird die Aktion Sühnezeichen durch den Verein ASF (Stowarzyszenie ASF) mit Sitz im klein­polnischen Liszki, repräsentiert.

Aus dem Polnischen von Andreas Volk

Literatur:

Krzemiński, Adam: „Nadwornym błaznem byłem do końca“. Z Günterem Särchenem, twórcą Seminarium im. Anny Morawskiej rozmawia Adam Krzemiński, in: Dialog, Nr. 02, 1997.

Mechtenberg, Thomas: Engagement gegen Widerstände. Der Beitrag der katholischen Kirche in der DDR zur Versöhnung mit Polen, Leipzig 1999.

Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949 – 1989, Bonn 1997.

Schneider, Claudia: Konkurrenz der Konzepte? Die Arbeit der Aktion Sühnezeichen in der DDR, Wrocław 2007.

Seibold, Alexander: Katholische Filmarbeit in der DDR, Münster 2003.

Weiß, Konrad: Lothar Kreyssig. Prophet der Versöhnung, Gerlingen 1998.

Urban, Rudolf: Patron. Życie i dzieło Güntera Särchena dla pojednania niemiecko-polskiego, Wrocław 2010.

 

Urban, Rudolf, Dr., verfasste die Beiträge „Die Medien der deutschen Minderheit in Polen“, „Die deutsche Minderheit in Polen“ und „Aktion Sühnezeichen als Beitrag zur deutsch-polnischen Versöhnung“.  Er ist Chefredakteur des “Wochenblatt.pl”, der Zeitung der Deutschen in Polen sowie Radio- und TV-Journalist.

 

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