Ewa Płomińska-Krawiec
Der edle Pole (Stereotyp)
Das Bild des Polen im Zeitalter der polnischen Teilungen: der polnische Adelige – Verschwender und Egoist
Ein Patriot und Kämpfer für die Befreiung des Vaterlandes, ein Mann von einnehmendem Äußeren, charmant, mutig, gar heldenhaft – das sind nur einige Elemente des aus deutschsprachigen Kulturtexten des 19.Jhs. bekannten und damals populären Stereotyps des „edlen Polen“. Sein Aussehen und Benehmen in Verbindung mit seinen Charaktereigenschaften bildeten den Habitus eines glühenden Patrioten und Adeligen, der wie ein Brennglas die Hoffnungen und Sehnsüchte der liberalen Kräfte in der deutschen Gesellschaft nach 1815 bündelte. Die Liberalen wünschten sich einen vereinten deutschen Staat und eine Verfassung, ein Teil von ihnen, die radikalen Demokraten, waren zudem bereit, für ihre Ideale zu kämpfen und träumte von einem heroischen Anführer.
Ende des 18., Anfang des 19.Jhs. sprach noch wenig für die außergewöhnliche Karriere dieses Bildes. In der deutschen Vorstellungswelt dominierte eine völlig andere Vision vom Polentum, die darauf ausgerichtet war, die „Fremden“ kritisch und die „Seinen“ positiv darzustellen. Als visuelle Quelle der ethnischen Stereotype kann u. a. auf die im 18.Jh. in Öl gemalten „Völkertafeln“ (Steirische Völkertafel) verwiesen werden. Es handelte sich hierbei um Zusammenstellungen der wichtigsten europäischen Völker mit den stereotypen Zuschreibungen ihrer Eigenschaften, ergänzt um Abbildungen von VertreterInnen jedes Volkes in typischer Landestracht: neben Polen („Polack“) u. a. Spanier, Franzosen und Deutsche („Teutscher“). Zu den literarischen Quellen, die das Polenbild prägten, gehörten die seit der Aufklärung gern gelesene Reiseliteratur, einschließlich der Berichte preußischer Beamter, die schöngeistige Literatur sowie die noch junge Gattung der Konversationslexika. All diese Texte schufen beim immer größer werdenden deutschen Lesepublikum das Bild des polnischen Adeligen, der nach Macht giert, die ihm aufgrund seiner Geburt, nicht aufgrund seiner Bildung zusteht, eines Verschwenders und Großsprechers, der die französische Kultur anhimmelt, sowie eines streitsüchtigen Unruhestifters und Egoisten von geringer Hygienekultur (Weichselzopf), der auf seinen Gütern die Fronbauern ausbeutet. Ein derart imaginierter Adeliger achtete nicht auf das Gemeinwohl und sorgte im Namen einer falsch verstandenen Freiheit dafür, dass polnische Reichstage (Sejmy) immer wieder durch den Gebrauch des Liberum Veto „zerrissen“ wurden, was zu einer Spaltung und staatlichem Chaos führte (→ polnische Wirtschaft). Diese betont negativen Eigenschaften des „Adelsvolkes“, ergänzt um die „Theorie vom schwarzen Bild Polens“ (Jerzy Topolski) oder die „schwarze Legende Polens“ (Łukasiewicz 1995, S. 14), bestärkten viele Deutsche in dem Glauben, die Erste Teilung Polens 1772 sei unvermeidlich gewesen. Die polnische Adelsrepublik in der zweiten Hälfte des 18.Jhs. unterschied sich erheblich von Preußen, jenem deutschen Land, mit dem die Rzeczpospolita am häufigsten in den Texten verglichen wurde. Man verwies auf die im Vergleich zur preußischen/deutschen Kultur andersartige sarmatische Kultur, die auf der Vorherrschaft des Adels gründete und als eine eigentümliche Mischung aus östlicher und westlicher Kultur, voller orientalischer Pracht, wahrgenommen wurde. Ins Auge fiel auch die polnische Gesellschaftsstruktur, ohne starkes Bürgertum, mit einer dünnen Adelselite und breiten Bauernmassen, sowie das anders geartete politische System, einer Wahlmonarchie ohne funktionierende staatliche Verwaltung. Der polnisch-litauische Staat wurde im Rahmen des aufklärerischen Modernisierungsdiskurses als Peripherie betrachtet, als rückständiges, schwach urbanisiertes, primitives Gebiet, das gebildete Reisende höchstens auf der Durchreise passierten (Samsonowicz 1997, S. 138ff.).
Während der Teilungen, insbesondere nach der Zweiten Teilung 1791, als größere Gebiete Großpolens und Pommerns Preußen zugeschlagen wurden, begann man intensiver die neu gewonnenen Territorien zu erforschen. Informationen über diese Gebiete sowie Beschreibungen des Verhaltens und Charakters ihrer BewohnerInnen finden sich in den Reiseberichten des Gelehrten Johann Bernoulli (1779/1780), des Naturforschers und Reiseschriftstellers Johann Georg Forster (1784), des Gelehrten und Verlegers Johann Erich Biester (1791–1793), des Schriftstellers und Geschichtsprofessors Joachim Christoph Friedrich Schulz (1795/1796), des Schriftstellers Ludwig von Baczko (1800) sowie in den Aufzeichnungen von Johann Gottlieb Fichte (1791). Eine weitere wichtige Quelle waren die statistischen Darstellungen preußischer Beamter, die nach Großpolen, Pommern, bis hin nach Warschau, das bis 1806 unter preußischer Herrschaft stand, versetzt wurden, um einen Verwaltungsapparat aufzubauen, u. a. Anton Friedrich Büsching (1774), Johann Joseph Kausch (1793), Christian Ludwig Mursinna (1796), Carl August Struensee (1802) und E.T. Uklanski 1808 (Struck 2006; Orłowski 1996; Łukasiewicz 1995). Diese Texte vervielfältigen größtenteils das negative Bild vom polnischen Adeligen – eine Ausnahme bildet Biesters Bericht.
Der Ursprung des Stereotyps vom „edlen Polen“ im 19.Jh. – Tadeusz Kościuszko und der Mythos des Aufstandsführers
Der Erfolg des Stereotyps des „edlen Polen“ ist auf den dynamischen Wandel in der Politik und Gesellschaft in den deutschen Staaten Ende des 18., Anfang des 19.Jhs. zurückzuführen. Die bereits unter napoleonischer Besatzung eingeleiteten Reformen preußischer Minister, wie Karl August von Hardenberg und Karl Freiherr vom Stein, förderten die Entwicklung der deutschen Städte, den Ausbau des Kommunikationsnetzes, verbesserten die staatliche Verwaltung und führten nicht zuletzt zu einer allmählichen Alphabetisierung der Gesellschaft. Durch die allgemeine Erhebung gegen Napoleon und für die Befreiung von der französischen Besatzung 1813, als Reaktion auf den Aufruf An mein Volk des preußischen Königs, entstand ein neuer Typus, und zwar der des politisch engagierten Bürgers. Die Herausbildung einer modernen Nation im 19.Jh. und die Konstruktion ihrer Identität als „imaginierte Gemeinschaft“ (Benedict Anderson) um eine gemeinsame, integrierende Idee herum – im Falle der deutschen Staaten war dies in der ersten Hälfte des 19.Jhs. die Frage der Vereinigung und die Schaffung eines modernen Nationalstaates – begünstigten den Gebrauch verkürzter, verallgemeinernder, leicht eingängiger, suggestiver Bilder und Losungen, kurzum den Einsatz von Stereotypen.
Eine Schlüsselrolle bei diesen Veränderungen kam dem Bildungsbürgertum zu. Der parallel zum gesellschaftspolitischen Wandel in der ersten Hälfte des 19.Jhs. stattfindende Emanzipationsprozess der bürgerlichen Schichten, ihre verstärkte Teilnahme am kulturellen und politischen Leben sowie die Zunahme der Leserschaft und die dynamische Entwicklung des Presse- und Buchmarktes schufen in Deutschland Raum für die Herausbildung und Verbreitung neuer Vorstellungen – und dies nicht nur dadurch, dass man die „Ungleichzeitigkeit der Entwicklung“ Preußens und der polnischen Rzeczpospolita hervorhob, sondern auch dadurch, dass man als Reaktion auf die aktuellen Ereignisse neue Auto- und Heterostereotype zum Thema „die Polen“ konstruierte. Zwar gab es schon früher Deutsche und Polen, die durch ihre Haltung Brücken der Verständigung zwischen den Ländern gebaut hatten, dennoch war die Herausbildung des Stereotyps vom „edlen Polen“ als Resultat, Zeichen und Symbol übereinstimmender Interessen beider Nationen ein Phänomen, das es so bis dahin noch nicht gegeben hatte. Es ist schwer, das Entstehungsdatum des Stereotyps vom „edlen Polen“ zu bestimmen.
Einige seiner Eigenschaften finden sich bereits in den literarischen Porträts der historischen Figur des Grafen Moritz August Benjowski (1746–1796). Die vom Bild des sarmatischen Polen inspirierte literarische Schöpfung des geheimnisvollen, distinguierten, heroischen, die Freiheit, das Vaterland und die Ehefrau über alles liebenden Edelmannes, dessen Lebensgeschichte mit dem Schicksal seines Heimatlandes verflochten ist, wurde zu einem beliebten Thema für die nach Exotik und Spannung gierenden LeserInnen. Benjowski stammte aus Ungarn, betrachtete sich jedoch als Pole und verteidigte die polnische Adelsrepublik während der Konföderation von Bar von 1768–1772 gegen Russland, die der Vorwand für die Erste Teilung Polens 1772 durch Russland, Preußen und Österreich war. Seine Teilnahme an der Konföderation, die langjährige russische Gefangenschaft in Kamtschatka und das spätere Leben als Abenteurer, Reiseschriftsteller und Soldat dienten als Grundlage für literarische und dramatische Texte, die sich seinerzeit großer Beliebtheit erfreuten. Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang z.B. das Stück des Dramatikers, Schriftstellers und Librettisten August von Kotzebue (1761–1819) Graf Benjowsky oder die Verschwörung auf Kamtschatka. Ein Schauspiel in fünf Aufzügen (1795). Einen ähnlichen Helden sowie ein ähnliches Motiv, das des edlen, selbstlosen Kampfes zur Verteidigung des Vaterlandes, findet man auch in Luigi Cherubinis Opern Lodoïska (1791) und Faniska (1806). Besonders populär war erstere, die 1791 in Paris uraufgeführt wurde (Połczyńska 1991). Später spielte man sie auch in Wien, Weimar (inszeniert von Johann Wolfgang Goethe; 1806) und Bamberg (inszeniert von E.T.A. Hoffmann). Die Oper wurde erst in den 1840er Jahren vom Spielplan genommen.
Doch erst die Niederschlagung des Kościuszko-Aufstandes 1794, das Scheitern der Verfassung vom 3. Mai 1791 und vor allem die Dritte Teilung Polens 1795, nach der die Rzeczpospolita als Staat für 123 Jahre von der Landkarte Europas verschwand, sorgten dafür, dass die „polnische Frage“ einen festen Platz im preußischen/deutschen Nationalund Legitimierungsdiskurs des 19.Jhs. einnahm. Literarische Darstellungen der Polen gehörten damals neben dem Bild der Franzosen zum Standardrepertoire auto- und heterostereotyper Bezüge. Die auf Kosten des selbstverschuldeten Niedergangs Polens erzielten Gebietsgewinne ermöglichten es dem brandenburgisch-preußischen Staat, in den Kreis der europäischen Großmächte aufzusteigen, während der Zusammenschluss Russlands, Preußens und Österreichs, die sogenannte Heilige Allianz, nach 1815 die Unveränderlichkeit des politischen Status quo und der Restaurationspolitik garantierte. Die in der preußischen Geschichtsschreibung (u. a. bei Gustav Droysen, Leopold Ranke, Heinrich von Treitschke) nach den Teilungen präsente Legitimierungsstrategie brandmarkte die Laster des polnischen Adels, da dies zur gängigen These passte, wonach der Zusammenbruch Polens durch die Misswirtschaft seiner Bewohner und das Regierungsversagen des Staates (polnische Wirtschaft) verursacht worden sei. Nicht in dieses Argumentationsschema passte dagegen der Mythos des Aufstandsführers von 1794 und Nationalhelden Tadeusz Kościuszko (1746–1817), der aufgrund seiner hervorgehobenen Charaktereigenschaften – seines Mutes, seiner Tapferkeit, seines glühenden Patriotismus und seiner Opferbereitschaft – als Prototyp des „edlen Polen“ gelten kann. Sein Kampf für die Freiheit Polens und – erstmals auch – für soziale Gleichheit, seine Teilnahme am Unabhängigkeitskampf auf zwei Kontinenten, für Polen und die Vereinigten Staaten, in Verbindung mit den erwähnten edlen Charaktereigenschaften machten ihn zu einem idealen Symbol für die gemeinsame Idee des Kampfes der „Völker gegen die Throne“ in der ersten Hälfte des 19.Jhs. Die einnehmende Bescheidenheit und Einfachheit des Anführers, die sich beispielsweise in der Wahl des Bauernrocks als Alltagskleidung manifestierte, sowie der Verzicht auf jeglichen Luxus wurden besonders während der Entstehung des Mythos vom „Helden im Bauernrock“ betont, was ihm die Sympathien seiner Zeitgenossen eingebracht haben dürfte. Die Krakauer Bauernmütze (eine rote, viereckige Mütze mit Pfauenfeder), die man von Kościuszko-Porträts kennt, wurde später zu einem beliebten Accessoire des polnischen Aufständischen und Patrioten in ikonografischen Darstellungen und literarischen Texten der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20.Jhs., sowohl in „ernsten“ wie auch in satirischen Darstellungen. Eine wichtige Rolle bei der Popularisierung der Figur des Kämpfers „für unsere und eure Freiheit“ sowie des Unabhängigkeitskampfes der Polen um die Jahrhundertwende spielten die Kościuszko-Biografien. Insbesondere das sentimentale Werk Thaddäus Kościuszko von Karl Falkenstein (1827, eine zweite Auflage erschien bereits 1834), das in lebendigen Farben das Leben des Aufstandsführers und Nationalhelden schildert, eroberte im Sturm die Herzen der deutschen Leserlnnen. Die im Zuge eines wachsenden Interesses an geschichtlichen Themen entstandenen Biografien bereiteten, durch die Vermittlung von Wissen über die Ereignisse in Polen Ende des 18.Jhs., den Boden für die Polenbegeisterung in der ersten Hälfte des 19.Jhs. In den literarischen Texten nach 1830 wurden die Erzählschemata, die um die Jahrhundertwende benutzt wurden, um das Bild vom Polen zu zeichnen, durch das romantische Element heroischer Aufopferung ergänzt. Das Kościuszko-Motiv erschien bis in die 1850er und 1860er Jahre in zahlreichen Werken zum Teil vergessener, damals jedoch beliebter Autoren, u. a. Der alte Feldherr (1825) von Karl von Holtei, Der polnische Phozion (1831) von Julius Krebs, Der Jahrestag (1837) von Franz Freiherr von Gaudy, Der letzte König von Polen (1847) von Adolf von Schaden, Thaddäus Kosciuszko (1848) von Heribert Rau, Thaddeus Kosciuszko (1864) von Marianna Lugomirska, Lorbeer und Cypresse (1864) von Emma Kron und Polen und Maria Theresia (1864) von Theodor Scheibe. Kościuszko trat in ihnen als „großer Feldherr“ (Rau), „großer Naczelnik“ (Krebs) und „berühmter Polenheld“ (Scheibe) auf, der bei seinen Landsleuten den Freiheitswunsch und Kampfgeist zu erwecken vermochte und dessen Engagement und Disziplin ihm den Respekt seiner Soldaten einbrachte. Seine mythologisierte Figur wurde auch aus einem anderen Grund zu einem Symbol und einer idealen Projektionsfläche für die Deutschen, die von einem vereinten und starken Nationalstaat träumten. In Teilen des liberal gesinnten Bürgertums in Deutschland, das nach politischer Emanzipation strebte, erfreute sich Kościuszko besonderer Beliebtheit, auch wegen seines entschiedenen Widerstands gegen Versuche, den Aufstand in eine Revolution nach französischem Muster umzuwandeln, die von der Gruppe um Hugo Kołłątaj (1750–1812) – radikales Mitglied des Obersten Nationalrates, aufklärerischer Publizist und Satiriker, einer der Gründerväter der Verfassung vom 3. Mai 1791 – und General Józef Zajączek unternommen wurden. Tadeusz Kościuszko, der Sieger der Schlacht bei Racławice, war in den Texten der deutschen Schriftsteller der Inbegriff des Befehlshabers, der sich der Anarchie widersetzt und für sich selbst keine Ehrenbezeugungen beansprucht, gleichzeitig aber das Gesetz und die Herrschaft des Königs achtet sowie die eigene Führerschaft als Dienst am Volk begreift. Die Biografen und Autoren, die ihn zum idealen Anführer stilisierten, hoben Kościuszkos Herkunft aus dem niederen Adel hervor, was die Distanz zum Bürgertum verringerte. Gleichzeitig strichen sie die Charaktereigenschaften heraus – sein Pflichtbewusstsein, seine Zielstrebigkeit und sein Engagement für das Gemeinwohl –, die ihn vom stereotyp dargestellten tugendlosen polnischen Adel unterschieden und in die Nähe des bürgerlichen Wertesystems rückten. Als imaginierter Held näherte sich der „edle Pole“ Kościuszko damit jenen Schichten an, aus denen die Vertreter des deutschen Liberalismus entstammten.
Zusätzlich aufgewertet wurde der Anführer des Aufstandes von 1794 dadurch, dass man ihn zum Verteidiger des Freiheitsgedankens in Europa erhob und ihn in eine Reihe mit dem polnischen König Johann III. Sobieski (1629–1696) stellte – wie z.B. in Karl von Holteis bereits erwähnten Singspiel. Die Erinnerung an den Türkenbezwinger der Schlacht vor Wien 1683 nimmt das Motiv der Verteidigung der europäischen Zivilisation vor den Barbaren vorweg, das besonders deutlich in literarischen Werken nach 1830 zutage tritt. In ihnen wird der Gegensatz zwischen dem Westen und dem Osten betont, und das dazwischenliegende Polen wird zu einem Bollwerk, das das zivilisatorisch fortgeschrittene Europa gegen die östliche Barbarei verteidigt.
Der „edle Pole“ – Patriot und Freiheitskämpfer
Vor dem Hintergrund des sich wachsender Beliebtheit erfreuenden Kościuszko-Mythos in den ersten Jahrzehnten des 19.Jhs. wurde aus dem Bild des adeligen Unruhestifters ein heroischer Patriot. Dies lässt sich sowohl in den Polenartikeln in den zunehmend populäreren, meinungsbildenden Konversationslexika (u. a. Pierer, Meyer und Brockhaus) wie auch in der Literatur beobachten. Die positiven Eigenschaften des edlen Freiheitskämpfers – glühende Vaterlandsliebe und der Verzicht auf persönliches Glück, an Kühnheit grenzender Kampfesmut, unerschrockene Tapferkeit, das Talent für Tanz und Fechtkunst – finden sich bereits in den Charakterisierungen der literarischen Helden der Jahrhundertwende wieder, wie z.B. in der Figur des Ignaz von Jalonski in Julius von Voß’ gleichnamigen Werk (1806) oder des gerade einmal zwanzigjährigen Patrioten und Verschwörers Graf Stanislaus von R. in E.T.A. Hoffmanns Novelle Das Gelübde 1817 (Połczyńska 1991).
Letzterer, im patriotischen Geiste erzogen, von der Unabwendbarkeit des zukünftigen Freiheitskampfes überzeugt, verlässt, ohne auch nur einen Moment zu zögern, die frisch Angetraute, um sich den Reihen der Aufständischen anzuschließen. In vielen Werken wiederholt sich das gleiche Schema, die stereotype Lebenserzählung eines tapferen Patrioten. In der Regel verzichtet der Held auf sein persönliches Glück und stellt sich in den Dienst des Vaterlandes, er stirbt einen heldenhaften Tod auf dem Schlachtfeld oder wird verwundet, falls er überlebt, wird er hoch dekoriert, er emigriert freiwillig oder wird aus dem Land vertrieben, mitunter gerät er in Gefangenschaft oder wird verbannt.
Diese Elemente aus der beliebten Kościuszko-Biografie von Karl Falkenstein oder aus der von Jules Michelet (1851 auf Französisch erschienen) flossen in die Texte ein, die vom Schicksal edler, patriotisch gesinnter Polen erzählen. Diese Figuren bildeten ein Gegengewicht zu den in der damaligen Literatur häufig vorkommenden Magnaten und adeligen Abenteurern, die durch ihren Egoismus die Einmischung der Nachbarmächte in die inneren Angelegenheiten der polnischen Rzeczpospolita provozierten und somit zu ihrem Niedergang beitrugen. Eine solche Figur in der damaligen deutschen Literatur war der Kościuszko-Verräter General Poniński, der in den erwähnten Romanen von Julius Krebs, Heribert Rau und Marianna Lugomirska in Erscheinung tritt.
Das Motiv des „edlen Polen“ in der deutschen Literatur zeigt das wachsende Interesse und die Sympathien für die polnische Frage und die Polen, doch die volle Herausbildung dieses Stereotyps und dessen Verknüpfung mit der deutschen nationalen Frage erfolgte erst in den 1830er Jahren, als es (für kurze Zeit) den Gipfel seiner Popularität erreichte. Die Unzufriedenheit des deutschen Bürgertums mit dem bestehenden politischen System der Restaurationszeit – die sich nach den Karlsbader Beschlüssen von 1819 verschärfende Zensur, die Unterdrückung oppositioneller Bewegungen gegen das Bündnis der drei Teilungsmächte und die unerfüllte Forderung nach verfassungsmäßig garantierten Rechten – leiteten in den deutschen Staaten eine Phase besonderer politischer und gesellschaftlicher Spannungen ein, während die Nachrichten von den Kämpfen in Griechenland in den 1820er Jahren, von der französischen Julirevolution und vom Aufstand in Belgien 1830 die liberal orientierte nationale Bewegung mobilisierten. Doch erst der Novemberaufstand von 1830 in Kongresspolen stieß in den liberalen deutschen Kreisen auf besonders starke Resonanz. Der jungdeutsche Publizist und Demokrat Ludwig Börne, der den ungleichen Kampf der Polen kritisch beobachtete, schrieb in seinen in der Emigration entstandenen „Briefen aus Paris“: „Die Polen können untergehen trotz ihrer schönen Begeisterung. Aber geschieht es, wird so edles Blut vergossen, dann wird es den Boden der Freiheit auf ein Jahrhundert befeuchten und es tausendfältige Früchte tragen“ (Börne 1986, 31. Brief vom 2. Februar 1831). Denn der Sieg Polens im Kampf gegen Russland, das als „Wächter des legitimistischen Prinzips“ wahrgenommen wurde, hätte das Bündnissystem in Europa umgestalten und in der Folge den Weg zur ersehnten Vereinigung der deutschen Staaten ebnen können.
Die Literatur reagierte schnell auf den Ausbruch des Novemberaufstandes. Deutsche Schriftsteller – u. a. August Lewald (Warschau, 1831; Przebracki, der russische Polizeispion, 1832), Georg Lau (Die Flüchtlinge, 1841), Anton Moritz Jochmus, Pseudonym Anton Mauritius (Der polnische Patriot, 1842) – räumten den Beschreibungen der politischen Situation in Kongresspolen vor dem Aufstand, die die edlen Patrioten in den Untergrund zwang und in der Novembernacht (29./30.11.1830) den bewaffneten Unabhängigkeitskampf auslöste, breiten Raum ein. In dieser Auseinandersetzung wird Russland zum Symbol für Tyrannei und Despotie, während der edle Pole, der den heldenmütigen Kämpfer verkörpert, zum heroischen Märtyrer stilisiert wird. Er war ein Verschwörer, der geheimen Studentenverbindungen und patriotischen Vereinigungen angehörte, Verfolgung erlitt, dessen Eigentum man konfiszierte, der in die Emigration gezwungen oder nach Sibirien verbannt wurde. Einem solchen Helden begegnen wir z.B. im Roman Der Pole (1831) des norddeutschen Dichters und Schriftstellers Harro Harring, der selbst am griechischen Unabhängigkeitskampf teilgenommen hatte (Seepel 1967, S. 67ff.).
Dieses Werk sowie die Erinnerungen des Autors an seinen zweijährigen Aufenthalt in Warschau unmittelbar vor dem Ausbruch des Aufstandes, Memoiren über Polen unter russischer Herrschaft. Nach zweijährigem Aufenthalt in Warschau (1831), schilderten die Tyrannei des Großfürsten Konstantin, die auf der drastischen Einschränkung der verfassungsmäßig garantierten Autonomie Kongresspolens, der Einführung der Zensur, der Unterdrückung jeglicher Opposition und der Verfolgung der jungen Verschwörer beruhte. Symbolfigur des verfolgten Freiheitskämpfers und Opfers der russischen Despotie vor dem Novemberaufstand war der in Julius Gundlings (1862 unter dem Pseudonym Lucian Herbert erschienene) Roman 1831 oder Polens letzte Tage porträtierte Major Walerian Łukasiński (1786–1868), ein Teilnehmer der Kämpfe zur Zeit des Herzogtums Warschau (1806–1807) und Gründer von Unabhängigkeitsorganisationen, der 1822 während der Regentschaft des Großfürsten Konstantin in Warschau verhaftet und ohne Aussicht auf Amnestie bis zu seinem Tod 1868 in der Festung Schlüsselburg mehr als vierzig Jahre in zaristischen Gefängnissen verbrachte. Sowohl Łukasińskis Aussehen als auch sein Charakter und seine unbeugsame Haltung ordnen diese Figur dem Modell des „edlen Polen“ zu:
Lukasinski’s Züge waren regelmäßig und männlich schön. Seine Gestalt erhob sich über die Mittelgröße, sein schwarzes Auge, welches Blitze zu schießen schien, wenn es den Feind vor sich hatte, konnte so unendlich weich und gütig blicken, wenn es einen guten Menschen, einen Freund vor sich hatte. Ein dichter, brauner Schnurrbart beschattete die Lippe und gab dem, von der Kerkerluft gebleichten und eingefallenen Gesichte eine gewisse Färbung, ihm viel von seinem geisterhaften Aussehen nehmend (Herbert 1862, S. 39).
Drei Jahre strengster Untersuchungshaft hatten wohl seine Wangen bleich […] machen, seinen Mannesmuth aber nicht brechen können“ (Herbert 1862, S. 3f.).
[…] eine von jenen seltenen Naturen, welche keine Gefahr außer Fassung bringt, kein Schmerz niederwirft, kein Unglück kleinmüthig macht. […] Nie hatte ein edleres Herz in einer menschlichen Brust geschlagen. Ein eiserner Wille, ein unbezähmbarer Muth vervollständigen das Ensemble seiner herrlichen Eigenschaften. Ein Spartaner hätte sein Leben nicht mit so heroischer Rücksichtslosigkeit dem Vaterlande geopfert, wie Lukasinski es zu thun im Stande war (Herbert 1862, S. 38f.).
Die zitierte Beschreibung ist ein spätes Beispiel für die in der deutschen Literatur seinerzeit – eine Phase, die bis in die 1860er Jahre andauerte – beliebten stereotypen Figurendarstellungen des „edlen Polen“, die sich an den Helden des Unabhängigkeitskampfes im 19.Jh. orientierten. Weitere, wenngleich weniger intensive Wellen der Polenbegeisterung waren mit den polnischen Erhebungen 1848 und 1863 verbunden. Autorinnen und Autoren, wie z.B. Marie von Roskowska (Ein Cruzifix aus Brotkrumme, 1862; Noch ist Polen nicht verloren, 1863) und Emma Kron (Lorbeer und Cypresse, 1864), die den ungleichen Kampf der „Söhne“ Kościuszkos mit dem russischen Besatzer verherrlichten, kritisierten Russlands expansive Großmachtpolitik aufs Schärfste. Man befürchtete, dass nach der Einverleibung Kongresspolens als Nächstes das in Kleinstaaten zersplitterte Deutschland Russland, das seinen Einflussbereich rücksichtslos ausweitete, zur Beute fallen könnte. Die These von der russischen Bedrohung und der Rolle Polens als Bollwerk gegen die Expansion des östlichen Despotismus, die auch in der Geschichtsschreibung stark präsent war, spielte in den Überlegungen der deutschen Liberalen eine wichtige Rolle und wurde zu einer zentralen, einenden Idee der Deutschen, die sich mit den um ihre Unabhängigkeit kämpfenden „edlen Polen“ solidarisierten. Indem sie die aufständischen Polen unterstützten, um so die Bedrohung durch das „barbarische“ Russland, das als despotisch regiertes Land ohne Kultur galt, von ihren Grenzen fernzuhalten, verteidigten die deutschen Liberalen folglich auch ihre eigene Staatlichkeit.
Einen besonderen Lobgesang auf den Patriotismus der Polen, die gegen die Tyrannei und für die Unabhängigkeit kämpften, stimmten die „Polenlieder“ an, die in Deutschland nach dem Ausbruch des Novemberaufstandes bis in die 1840er Jahre veröffentlicht wurden. Die Solidarität mit den Kämpfenden und die Bewunderung für deren Aufopferungsbereitschaft, die in der deutschen Öffentlichkeit der Jahre 1830–1832 weit verbreitet war, festigten das positive Stereotyp des „edlen Polen“. Die meisten dieser populären Gelegenheitsdichtungen – rhythmische Lieder, Oden, Elegien, Hymnen, Sonette und Balladen –, die vor allem zwischen 1830 und 1834 entstanden, wurden in den regionalen Zeitungen Deutschlands und auf Flugblättern publiziert und häufig auch vertont.
Verfasser von „Polenliedern“ waren Nikolaus Lenau, Justinus Kerner, Theodor Körner, Julius Mosen, Ferdinand Gregorovius, Ernst Ortlepp, Gustav Schwab, August Graf von Platen und viele andere, oft anonyme Dichter. In den Liedern drückten die Autoren ihre Bewunderung für den unbeugsamen Kampfeswillen der Polen – die als „tapfer“, „mutig“, „aufopfernd“ oder „treu“ beschrieben werden – sowie ihr Mitgefühl für das schwere Schicksal der späteren EmigrantInnen aus. Verherrlicht wurden sowohl historische Persönlichkeiten, z.B. die Anführer der Aufstände von 1794 und 1830, als auch anonyme HeldInnen der Novembernacht, der Schlachten bei Szczekociny, Ostrołęka und Olszynka Grochowska sowie der Belagerung und Kapitulation Warschaus, die später der russischen Repression zum Opfer fielen, zur Emigration verurteilt oder nach Sibirien deportiert wurden. Beliebt war ferner die Figur der tapferen Gräfin Emilia Plater (→ schöne Polin), die im polnisch-russischen Krieg 1830/31 ein aufständisches Regiment befehligte. Das Wissen der deutschen AutorInnen um die Geschichte Polens war oberflächlich, was sich daran ablesen lässt, dass man im Zuge der Begeisterung für den Unabhängigkeitskampf auch jene Anführer des Novemberaufstandes als mutige Patrioten feierte, deren Rolle im Aufstand im Nachhinein negativ bewertet wurde, z.B. die Generäle Józef Chłopicki, Jan Skrzynecki und Jan Krukowiecki. Der allgemeine Enthusiasmus wurde jedoch nicht von allen geteilt. Manche AutorInnen stellten die Notwendigkeit, sich mit den Kämpfenden zu solidarisieren, in Frage und verzichteten darauf, das Bild des „edlen Polen“ und romantischen Freiheitskämpfers zu bedienen. Heinrich Heine zeichnete in seinem Gedicht Zwei Ritter (Heine 1992, S. 38) ein ironisches Bild vom adeligen Aufständischen, während Johann Wolfgang von Goethe den „edlen Polen“ nicht eine einzige Strophe widmete und stattdessen deren „verwirrte Sinnesweise“ kritisierte (Orłowski 1998, S. 103) – worin er die Ursache für den Niedergang der polnischen Adelsrepublik sah.
Hans Henning Hahn bezeichnete die deutsch-polnische Solidarität zwischen 1830 und 1832 als eine „Interessengemeinschaft“ (Hahn 2011, S. 358), während Michael G. Müller sie eine „funktionelle Polenfreundschaft“ (Müller 1979, S. 110; 112) nannte. Diese Begriffe spiegeln den Charakter der damaligen deutsch-polnischen Verständigung am treffendsten wider. Die deutschen Liberalen versuchten, ihren Kampf für einen vereinten Staat und eine bürgerliche Verfassung mit dem polnischen Unabhängigkeitskampf gleichzusetzen, wobei sie die Aufopferungsbereitschaft der Polen und die Konfrontation der Aufständischen mit einer in allen Belangen überlegenen russischen Armee in den Vordergrund rückten, zugleich aber über den Kampf der Polen gegen den preußischen Besatzer den Mantel des Schweigens breiteten. Auf diese Weise sollten die politischen Bestrebungen der Deutschen eine zusätzliche Aufwertung erfahren. Keines dieser sentimental-heroischen Werke mit ihren schematischen Motiven und Symbolen forderte jedoch die Wiederherstellung Polens in den Grenzen vor den Teilungen, denn dies hätte nicht nur den territorialen Status quo Russlands, sondern auch Preußens und Österreichs in Frage gestellt. Auch wenn die AutorInnen der besprochenen Werke mitunter andeuteten, dass Preußen an den Teilungen Polens eine Mitschuld trug, richtete sich ihre Kritik jedoch vornehmlich gegen den gemeinsamen Feind, das despotische Russland, dessen Bündnis mit Preußen politische Veränderungen in den deutschen Staaten blockierte und der Selbstbestimmung der Völker im Wege stand. Heute sind die „Polenlieder“ nur noch ein Zeugnis der kurzen, enthusiastisch-romantischen „Flitterwochen“ der deutsch-polnischen Beziehungen.
Großen Einfluss auf das positive Polenbild, das im Bewusstsein des deutschen Bildungsbürgertums schon bald zum Fundament des erörterten Stereotyps wurde, hatten nicht zuletzt die biografischen Einträge in den Konversationslexika (z.B. in Meyers Konversations-Lexikon und in der Brockhaus Enzyklopädie) der ersten Hälfte des 19.Jhs., die populäre Kompendien des Allgemeinwissens waren, auch was die Geschichte Polens und seiner Bewohner anbelangt. Die Autoren der Stichwörter, u. a. der für seine liberalen Ansichten bekannte Herausgeber Joseph Meyer, widmeten den führenden Persönlichkeiten des Unabhängigkeitskampfes besonders viel Raum. In den Lebensläufen polnischer Nationalhelden und Anführer (König Johann III. Sobieski, Fürst Józef Poniatowski, Tadeusz Kościuszko, Jan Henryk Dąbrowski oder Jan Nepomucen Umiński), bekannter Adeliger (aus dem Hause Czartoryski, Leszczyński, Lubomirski, Ogiński, Plater oder Raczyński) sowie berühmter Personen des öffentlichen Lebens und Staatsmänner (z.B. Stefan Czarniecki, Tytus Działyński, Karol Kniaziewicz, Hugo Kołłątaj, Kazimierz Małachowski, Joseph Ossolinski, Piotr Wybicki und Andrzej Zamoyski) begegnen die LeserInnen immer wieder solchen Charakterzuschreibungen und Einstellungen wie: glühende Vaterlandsliebe, Mut, kompromisslose Tapferkeit und die Bereitschaft, die eigenen Güter, ja selbst das eigene Leben für das Vaterland zu opfern. Der sich beim Lesen aufdrängende Schluss, dass der Patriotismus „eine immanente Eigenschaft fast aller Polen ist“ (Kochanowska-Nieborak 2007, S. 122), bestätigt auch der Artikel über Polen, der den damaligen Wissensstand der Lexikonautoren wiedergibt. In späteren Lexikonausgaben gesellen sich zu den „edlen“ Aufstandsführern von 1794 und 1830 die Anführer aus der Zeit des Völkerfrühlings und des Januaraufstandes von 1863 – Ludwik Mierosławski und Marian Langiewicz.
Die AutorInnen der literarischen Texte und Lexikoneinträge beschränkten sich in der ersten Hälfte des 19.Jhs. nicht allein darauf, die damals allgemein geachteten Polen aufzuzählen, sondern fragten auch nach den Wurzeln ihres Patriotismus, wie z.B. Heinrich Heine. Im Reisebericht Über Polen (1822), der von einem Besuch bei der Familie seines Berliner Studienfreundes, Graf Eugeniusz Breza, im großpolnischen Świątkowo bei Gnesen inspiriert wurde, schreibt Heine über den polnischen Adelspatrioten „Wenn Vaterland das erste Wort des Polen ist, so ist Freiheit das zweite!“(Heine 1981) und verweist auf die Schlüsselrolle des Elternhauses bei der patriotischen Erziehung der späteren Unabhängigkeitskämpfer – durch die Kultivierung eines nationalen Bewusstseins, die Unterweisung in polnischer Geschichte und schließlich die Einführung in das konspirative Handwerk. Heine betrachtet die Polen jedoch nicht unkritisch, sondern lenkt mit der ihm eigenen Scharfsichtigkeit und Ironie die Aufmerksamkeit auf die Vor- und Nachteile eines solchen Nationalcharakters.
Wie groß die symbolische Bedeutung des polnischen Unabhängigkeitskampfes 1830/1831 für den liberal und demokratisch gesinnten Teil der deutschen Öffentlichkeit war, ist an den überschwänglichen Sympathien zu erkennen, die nach der Niederschlagung des Aufstandes den vielen tausend emigrierenden Polen („Große Emigration“) entgegengebracht wurden. Das Stereotyp, das bis dahin bloß in Texten als literarische Figur existierte, wird nun auch im öffentlichen Raum zur dominierenden Betrachtungsweise, wie Polen wahrgenommen und dargestellt werden. Um die Aufständischen auf ihrer Durchreise durch deutsche Städte (u. a. Dresden, Leipzig, Erfurt, Würzburg, Marburg, Gießen, Nürnberg, Stuttgart und Straßburg) zu unterstützen, wurden auf dem Weg nach Paris, zur symbolischen „Hauptstadt der Freiheit“, Wohltätigkeitsbälle, Konzerte, Arzneimittel- und Kleidersammlungen organisiert. Unter den SpendensammlerInnen für die EmigrantInnen befanden sich auch deutsche Dichter, z.B. Gustav Schwab. Der Normalbürger hatte erstmals Gelegenheit, mit den Helden der kollektiven Vorstellungen, die er bisher nur aus der Literatur und – nach dem Ausbruch des Novemberaufstandes 1830 regelmäßig erscheinenden – Presseberichten kannte, unmittelbar in Berührung zu kommen. Das Engagement für die polnische Sache war mitunter Ausdruck politischer Opposition.
Unterschlupf wurden den polnischen EmissärInnen z.B. vom Leipziger Buchhändler Friedrich Brockhaus und von Dr. Richard Otto Spazier, beides Mitglieder des dortigen Polenvereins, gewährt. Die Polenvereine, in denen die Angehörigen verschiedener Gruppen der Mittelschicht zusammenkamen, wurden zu einem Ort des Meinungsaustauschs und boten den liberal-nationalen Kreisen die Möglichkeit, sich zu integrieren (Seepel 1967; Gerecke 1964, S. 31).
Die im kollektiven Bewusstsein verankerte Figur des polnischen Patrioten und heimatlosen Emigranten, die ebenfalls die Herausbildung des Stereotyps vom „edlen Polen“ beeinflusste, findet sich auch in den Werken der deutschen Maler wieder. Zu den bekanntesten Beispielen gehört das Ölgemälde Finis Poloniae 1831 von Dietrich Monten (1799–1843). Auf dem Bild hält der Münchner Historienmaler den Augenblick des Abschieds polnischer Soldaten von ihrem Vaterland an der preußisch-polnischen Grenze fest. Im Zentrum der Szene, auf einem weißen Pferd, inmitten der verzweifelten Waffenbrüder, Prinz Józef Poniatowski, ein Held der Napoleonischen Kriege, der 1813 in der Weißen Elster bei Leipzig ertrank. Das kleine Bild verdankt seine Popularität zahlreichen gemalten und lithografischen Kopien. Die Tatsache, dass es in der Ausstellung Frühling im Herbst. Vom polnischen November zum deutschen Mai. Das Europa der Nationen 1830–1832 des Museums Europäischer Kulturen in Berlin (2003), die an die deutsch-polnische Solidarität der 1830er Jahre erinnerte, deren Symbol das Hambacher „Nationalfest der Deutschen“ (→ polnische Freiheit) vom 27.–30. Mai 1832 war, einen zentralen Platz einnahm, zeugt davon, dass das Gemälde im deutschen kollektiven Bewusstsein bis heute als eine Art ikonografisches Bild funktioniert.
Die kritischen Reflexionen solcher Autoren wie Heinrich Heine oder Heinrich Laube (1806–1884), die sich von der heroisch-sentimentalen „Polenbegeisterung“ und dem polnischen Patriotismus der frühen 1830er Jahre distanzierten, wechselten sich in den 1840er Jahren mit kurzen Phasen ab, in denen das Stereotyp des „edlen Polen“, des patriotischen Freiheitskämpfers, wiederauflebte, über den noch 1836 Karl Gutzkow in seinem Werk Zur Philosophie der Geschichte schrieb: „Der Pole […] stürzt sich blind in die Gefahr und harrt aus so lange, als mit der Ehre noch das Herz pulsirt“ (Gutzkow 1836, S. 113). Ein Beispiel ist die Figur Ludwik Mierosławskis, der während der Märzrevolution von 1848 von den Berliner BürgerInnen aus dem Gefängnis in Moabit befreit wurde, in dem er mit anderen Polen wegen des geplanten Aufstandes im Großherzogtum Posen 1846 auf seinen Prozess wartete. Dies war ein symbolischer Akt der Solidarität mit den um Selbstbestimmung und verfassungsmäßig garantierte Freiheiten kämpfenden Polen in den ersten Tagen nach Ausbruch der Märzrevolution. Die Unterstützung für die Polen war damals jedoch nicht mehr so eindeutig wie 1830, obwohl es weiterhin solche Stimmen gab wie die von Bettina von Arnim, die in ihrer Schrift An die aufgelöste Preußische Nationalversammlung (1849), im Volksmund auch Polenbroschüre genannt, eine kompromisslose Solidarität mit den Polen einforderte, oder von Karl August Varnhagen von Ense, der sich für die Freilassung der in preußischen Gefängnissen inhaftierten großpolnischen Aufständischen einsetzte. Andererseits erkannte man immer deutlicher die Diskrepanz zwischen den Bestrebungen, einen starken vereinten deutschen Staat zu schaffen, und den Versuchen, den polnischen Staat in den Grenzen von 1772 wiederherzustellen. So rief z.B. der Schriftsteller und Abgeordnete Wilhelm Jordan in der „Polendebatte“ in der Frankfurter Nationalversammlung 1848 die Deutschen dazu auf, „endlich einmal zu erwachen aus jener träumerischen Selbstvergessenheit […] zu erwachen zu einem gesunden Volksegoismus“ (Wigard 1848, S. 1145). Seine Rede, in der Jordan das Selbstbestimmungsrecht der Polen als sentimentalen Schwachsinn bezeichnete, setzte einen symbolischen Schlusspunkt unter die deutsche Polenschwärmerei und wurde im Nachhinein als Quintessenz der preußischen/deutschen Realpolitik betrachtet, die den eigenen Interessen und territorialen Gewinnen oberste Priorität einräumte.
Vom Freiheitskämpfer zum wilden Unruhestifter – die Demontage des Stereotyps vom „edlen Polen“
Die nachlassende Polenbegeisterung und die sich trennenden Wege der deutschen und der polnischen Nationalbewegung waren verbunden mit der abnehmenden Popularität des Stereotyps vom „edlen Polen“, das auf der symbolischen Ebene durch das negative Bild des adeligen Unruhestifters und Verschwenders ergänzt und mit der Zeit ersetzt wurde. Die Idee der Nation – und zwar nicht nur als kultureller, sondern auch politischer Gemeinschaft – sowie deren Symbole, um die sich die BewohnerInnen der deutschen Staaten allmählich zu scharen begannen, wurden zu einer tragenden Säule des forcierten Staatsmodells, das als Gebilde mit einer ethnisch und sprachlich homogenen Identität definiert wurde. Das kleindeutsche Konzept der Vereinigung der deutschen Länder unter der Führung Preußens, das unter Leitung von Reichskanzler Otto von Bismarck mit „Blut und Eisen“ durchgeführt und 1871 erfolgreich abgeschlossen wurde, gründete auf dem bis in die 1840er Jahre wenig attraktiven integrativen Nationalismus. Beim Aufbau einer neuen kollektiven deutschen Identität durch die Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls hin zu einer monolithischen Nation und einer klaren Abgrenzung vom „Anderen“/„Fremden“ bediente man sich gern Stereotypen, die immer häufiger das negative Spiegelbild der positiven Vorstellung von der eigenen Gruppe waren. Die Diskreditierung der Polen durch eine abwertende Beschreibung ihres „Nationalcharakters“ wurde in den letzten Jahrzehnten des 19.Jhs. zu einer beliebten Strategie der Stereotypisierung sowie der Legitimierung der nationalpreußischen Politik gegenüber der polnischen Minderheit im preußischen Teilungsgebiet. Die Demontage des Stereotyps vom „edlen Polen“ erfolgte dadurch, dass die positiven, damals eindeutig „männlich“ konnotierten Eigenschaften des polnischen Nationalcharakters, wie Tapferkeit, Mut und Ehrgefühl, die die „Stärke des Volkes“ symbolisierten, in Zweifel gezogen wurden. Sie wurden nach und nach durch neue Eigenschaften ersetzt – u. a. die Neigung zum Draufgängertum, irrationales Handeln, Arroganz, Leichtsinn und die Unfähigkeit, an sich selbst zu arbeiten –, die mit „Weiblichkeit“ und „Verweiblichung“, d.h. mit Schwäche, assoziiert wurden (Surynt 2006, S. 18, 38). Die allmähliche Umwertung des polnischen Nationalcharakters lässt sich in den 1860er Jahren besonders gut in der Publizistik und in den Konversationslexika beobachten. In der vierten Ausgabe von Pierer‘s UniversalLexikon erfährt man:
Leicht u. beweglich ist auch des Polen Geist, sein Temperament durchaus sanguinisch. Er ist schnell zu entzünden für alles Große, Erhabene u. Edle; er liebt den Ruhm, die Ehre, die Pracht, vor Allem sein Vaterland […]. Aber diese leicht bewegliche, entzündliche Natur bedingt auch die Schattenseiten des polnischen Wesens; rasch wechseln u. schwanken Eindrücke u. Gefühle, Edles u. Gemeines stoßen hart an einander; die leichte Beweglichkeit wird zur Ungebundenheit u. Zügellosigkeit, der leichte Sinn wandelt sich zum Leichtsinn, die rasche Entzündlichkeit des Gemüths macht den Polen zum Sklaven wilder Leidenschaften, er ist oft jähzornig, streitsüchtig, er liebt Trunk u. Spiel, u. dabei fehlt seinem romantischen Sinne die rechte Neigung für praktisch solide Anstrengung u. Arbeit (Pierer 1861, S. 243–248, https://www.digitale-bibliothek-mv.de/viewer/image/PPN786416572/,
16.10.2022).
Das derart modifizierte Bild vom „edlen Polen“ war ein wichtiger Bezugspunkt, um ein Modell für den eigenen nationalen Charakter zu entwickeln. Das Polenstereotyp bildete einen Kontrast zu dem neuen und – wie sich in den folgenden Jahrzehnten herausstellen sollte – außerordentlich tragfähigen, nationalen Autostereotyp des Preußen/Deutschen als Inbegriff protestantischer Bürgertugenden. In den Werken, die in der zweiten Hälfte des „langen neunzehnten Jahrhunderts“ bis zum Ersten Weltkrieg erschienen, begegneten sich die beiden stereotypen Nationalbilder besonders häufig in den östlichen Randgebieten des preußischen/deutschen Staates, d.h. in Schlesien, der Provinz Posen und Ostpreußen. Einer der ersten Romane dieser Art, Soll und Haben (1855) von Gustav Freytag, zeigt, wie gerade dort, im Grenzbereich zwischen dem polnischen/slawischen und dem deutschen/germanischen Element, die zivilisatorische und kulturelle Mission der Deutschen realisiert wurde. Diese war darauf ausgerichtet, die innere Kolonisierung des deutschen Ostens abzuschließen, d.h. die Polen, die im preußischen Teilungsgebiet lebten, zu assimilieren (→ Drang nach Osten). In seinem Roman griff Freytag das in der ersten Hälfte des 19.Jhs. beliebte Thema des polnischen Befreiungskampfes auf, wobei jedoch die stereotypen Vorstellungen vom polnischen Freiheitskämpfer und Patrioten völlig neu definiert wurden, so dass das Bild vom „edlen Polen“ zu einer Karikatur seiner selbst wurde. Der im Roman beschriebene Aufstand (der auch als Revolution bezeichnet wird), der in der Nähe der einstigen Grenze zu Preußen ausbricht, offenbart die Unfähigkeit der Polen und entlarvt die als Helden verherrlichten „edlen“ Anführer als prächtig anzusehende Marionetten, die über die von ihnen befehligten Einheiten keinerlei Kontrolle haben. Ihr würdevolles Aussehen, ihre Französischkenntnisse, ihre Manieren und ihre rote Krakauer Bauernmütze sind die einzigen Attribute, die an die früheren Vorstellungen erinnern. Die Bedingungen, unter denen sie leben – der bröckelnde Putz, der allgegenwärtige Dreck, die auseinanderfallenden Möbel, die verwahrlosten, heruntergekommenen Häuser (→ polnische Wirtschaft) –, die Unfähigkeit, strategisch zu denken, die Passivität und das fehlende Charisma machen aus ihnen das genaue Gegenbild von einem Nationalhelden wie Tadeusz Kościuszko. Die ihnen unterstellten „Patrioten“ werden als anarchische, unorganisierte Bauernbanden dargestellt, die außerstande sind, die Grundlagen der eigenen Staatlichkeit wiederherzustellen, als gewöhnliche räuberische Kriminelle. Die Beschreibung ihres „wilden“ und „barbarischen“ Verhaltens knüpft an die damals populären Vorstellungen der indianischen „Wilden“ an (Kriegstanz: dem Gefangenen wird die Mütze weggenommen, d.h. er verliert seinen Skalp). Freytag scheint sagen zu wollen: So wie die unzivilisierten Indianer dem Ansturm des „weißen Mannes“ erlagen, so müssen sich am Ende auch die „wilden“ Polen den Deutschen geschlagen geben, die die Vertreter einer „höheren“ Kultur sind. Von der Tragfähigkeit der im Roman propagierten Polenvorstellungen, die sich mit dem Geschichtsbild preußischer Historiker wie Heinrich von Treitschke, Heinrich von Sybel und Johann Gustav Droysen deckten, zeugen die mehr als sechzig Ausgaben des Romans in einer Gesamtauflage von 1,2 Millionen Exemplaren.
Nicht immer manifestierte sich der Bruch mit dem stereotypen Bild des Polen als „edlen Patrioten“ in der zweiten Hälfte des 19.Jhs. in Form einer derart scharfen Kritik wie bei Gustav Freytag. Der aus der Schweiz stammende Gottfried Keller, der als Sekretär des Schweizer Komitees zur Unterstützung der Polen von 1863–1865 Kontakt mit polnischen Emigranten hatte, beschränkt sich darauf, sich von den naiven, heroisch-romantischen Vorstellungen seiner Zeitgenossen zu distanzieren. Das Klischee des „edlen Polen“ wird in Kellers Novelle Kleider machen Leute (1874) vom Schneider Wencel Strapinski verkörpert, dem zufälligen, nichtsahnenden Besitzer einer polnischen Pelzmütze und eines dunklen, mit Samt ausgeschlagenen Radmantels, der ihm ein romantisches Aussehen verleiht. Die Kleidung, in Verbindung mit seinem blassen, ebenmäßigen Gesicht und dem melancholischen Blick, bewirkt, dass die BürgerInnen des Schweizer Städtchens Goldach den armen jungen Mann für einen polnischen Grafen halten. Kellers Kritik richtet sich jedoch nicht direkt gegen den Verursacher der Verwechslung, der die Sympathien und den Respekt fast aller BewohnerInnen des Städtchens und das Herz der Amtsratstochter im Sturm erobert, sondern eher gegen die leichtgläubigen BürgerInnen und deren stereotype Vorstellungen, die der Trivialliteratur entstammen. Man kann dies als einen Aufruf verstehen, die veralteten nationalen Vorstellungen über Bord zu werfen, die aufgrund der Modernisierungsprozesse in der zweiten Hälfte des 19.Jhs. nicht mehr zeitgemäß sind. Ähnliche Bezüge zum Motiv des „edlen Polen“ gibt es auch im literarischen Schaffen des im gleichen Jahr wie Keller geborenen Theodor Fontane, der zu den führenden Vertretern des bürgerlichen Romans seiner Zeit gehörte. In seinen Werken finden sich Beispiele für die Instrumentalisierung des Polenstereotyps, das in der Narration keine eigenständige Rolle spielt, sondern nur ein Sprachrohr für die Kritik am „Preußentum“ ist. Die einzelnen Elemente des Bildes vom „edlen Polen“ wurden jedoch radikal umgewandelt; im Grunde handelt es sich vielmehr um eine Polemik mit dem ursprünglichen Bild. Es hat nichts mehr mit der „polnischen Frage“ zu tun und dient lediglich als Folie, um innerdeutsche Probleme zu reflektieren. Die von Fontane porträtierten polnischstämmigen Figuren, wie die Familie von Ladalinski und Graf Jarosch Bninski im Roman Vor dem Sturm (1878), der in der Zeit der Napoleonischen Kriege spielt, faszinieren ihre Umgebung durch ihre exotische Andersartigkeit. Doch dieses Bild ist ambivalent: Spontanität, die in ungesunde Exaltiertheit umschlägt, Courage, die an Leichtsinnigkeit grenzt, und Verspieltheit, die sich kaum unterscheiden lässt von Waghalsigkeit und Draufgängertum.
Im vereinten Wilhelminischen Reich, das Ende des 19., Anfang des 20.Jhs. eine strenge Integrationspolitik verfolgte, trennten sich die Wege der im preußischen Teilungsgebiet lebenden Deutschen und Polen endgültig. Die Bemühungen, die polnischsprachige Bevölkerung zu assimilieren, die Ende des 19.Jhs. und in den Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Form verschärfter Repressionen annahm, wurden begleitet von kulturellen Aktivitäten, die darauf abzielten, die Einheit der Deutschen gegen die Polen – den Gegner und Feind – zu stärken. In dieser Situation gab es keinen Platz mehr für das Stereotyp des „edlen Polen“. Dies zeigen deutlich die „Ostmarkenromane“ Ende des 19., Anfang des 20.Jhs (Wojtczak 1998). Der Begriff bezieht sich auf literarische Werke deutscher Schriftsteller aus der Provinz Posen, in denen die Probleme der eigenen Landsleute beschrieben werden, die im Rahmen der deutschen Kolonisierungspolitik dort angesiedelt wurden. Diese AutorInnen fühlten sich als geistige Erben von Gustav Freytag und verwirklichten die von ihm propagierte Idee der „deutschen Mission im Osten“. Sie betrachteten sich als kulturell überlegene KolonisatorInnen (KulturträgerInnen) und verpflanzten die deutsche Kultur auf polnischen Boden. Dabei bedienten sie sich stereotyper Bilder von ihren polnischen Nachbarn, die ihnen sowohl ethnisch als auch konfessionell fremd waren (→ katholischer Pole/ protestantischer Deutsche). Vergeblich sucht man in diesen Werken, die unter den Bedingungen der unmittelbaren Nachbarschaft beider Völker entstanden waren, nach aufopferungsvollen und heldenhaften Verteidigern der Freiheit.
Zu einem zentralen Ereignis und Bezugspunkt der Konstruktion des Bildes vom polnischen Patrioten wird der Aufstand von 1848. In den Romanen solcher Autoren wie Berthold Rasmus (Die Sensenmänner, 1908), Hugo Behrens, Pseudonym B. Renz (Die polnische Gefahr, 1905), oder Ernst Below (Ostmark und Krummstab, 1897) verschwindet das positive Bild des „edlen Polen“, das zu einer gehässigen Karikatur seiner selbst verkommt. Die zu den Waffen greifenden Polen sind deutschhassende „fanatische Massen“, die sich leicht aufwiegeln und zum Kampf anstacheln lassen. Sie werden als streitlustige Betrüger dargestellt, als faul, habgierig, abergläubisch, großtuerisch, durchtrieben und machtbesessen, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Ihre Anführer, die für die polnische Geschichte symbolische Namen wie Thaddäusz (sic!) oder Stanislaus tragen, sind eher dreist als tapfer und werden, von den katholischen Oberen manipuliert, zu willenlosen Werkzeugen im Dienst kirchlicher Interessen. Die Lektüre führt zu dem Schluss, dass die in den Romanen dargestellten polnischen Gutsbesitzer unwürdige Erben der „edlen“ Patrioten sind, deren frühere Träume von Unabhängigkeit sich als Hirngespinste erweisen. Misswirtschaft, Trunksucht und Spielleidenschaft haben ihre Güter an den Rand des Ruins gebracht. Als solche sind sie das genaue Gegenteil der fleißigen, sparsamen, gewissenhaften und auch im Angesicht der Gefahr gut organisierten Deutschen, die den polnischen Angriff erfolgreich abwehren. Die einzige Chance für den Polen, der von Carl Busse mit „einem gut beanlagten und liebenswürdigen, aber schlecht erzogenen Kinde“ (Busse 1897, S. 13) verglichen wird, ist die Assimilation im Rahmen des Deutschen Reiches, die für die Polen Fortschritt, sozialer Aufstieg der Bauernschichten und Teilnahme an einer „höheren“ Kultur bedeutet.
Im Unterschied zum Stereotyp der „polnischen Wirtschaft“ war das Bild des „edlen Polen“ kein „dauerhaftes“ Stereotyp. Es entwickelte sich als Reaktion auf einen konkreten gesellschaftlichen Bedarf und verschwand in dem Moment wieder, in dem sich die politische Situation veränderte. Dessen letztes, fernes Echo in der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des 19.Jhs. waren einzelne ausgewählte Eigenschaften des polnischen Charakters: Dienstfertigkeit, die sprichwörtliche, für die slawischen Völker typische Gastfreundschaft, gute Manieren und Galanterie sowie mit dem Befreiungskampf in Verbindung gebrachte Attribute wie die rote Bauernmütze oder der gezückte Säbel. Die beiden letztgenannten Elemente erleichterten die Assoziationen mit dem ins Lächerliche gezogenen und diskreditierten Original. Dies galt insbesondere für das in der zweiten Hälfte des 19.Jhs., aber auch nach dem Ersten Weltkrieg beliebte visuelle Medium der Karikatur (Orłowski 1996). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Stereotyp des „edlen Polen“ nur noch gelegentlich im historischen Kontext in Erinnerung gerufen, als Zeugnis einer außergewöhnlichen Episode in der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, die eine Annäherung beider Gesellschaften über politische und kulturelle Trennlinien hinweg ermöglichte. Zwar lassen sich im (west)deutschen öffentlichen Diskurs der 1980er Jahre einzelne Spuren des besprochenen Stereotyps wiederfinden, z.B. die Assoziation Lech Wałęsas mit der Figur Kościuszkos (Polens Bürgerkönig, in: Zeit Online, https://www.zeit.de/1980/44/polens-buergerkoenig, 7.10.2022), sie sind jedoch nicht prägend für die Polenvorstellungen, das Bild vom „edlen Polen“ aus dem 19.Jh. vermochten sie nicht wiederzubeleben. Ein weiterer Beleg für den rein instrumentellen, mit einer konkreten historischen Situation verbundenen, Charakter dieses Stereotyps.
Aus dem Polnischen von Andreas Volk
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Płomińska-Krawiec, Ewa, Dr., verfasste den Beitrag „Der edle Pole (Stereotyp)“. Sie ist Mitarbeiterin an der Adam-Mickiewicz-Universität. Sie arbeitet in den Bereichen deutsch-polnische Kulturbeziehungen, Stereotypenforschung und regionale Literatur (Ostpreußen).