Natasza Stelmaszyk

Die Rezeption polnischer Literatur der Nachwendezeit in Deutschland am Beispiel der Werke von Olga Tokarczuk



Der Artikel bespricht allgemein die Situation der polnischen Literatur in Deutschland nach der Wende von 1989. Um das Thema einzugrenzen, wird im Weiteren die Rezeption der späteren Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk im deutschsprachigen Raum skizziert, wobei zwei Werke hierbei eine Klammer bilden: Ur und andere Zeiten, mit dem sie in Deutschland bekannt wurde, und ihr bisheriges Opus Magnus – Die Jakobsbücher. Seit Anfang der 1990er Jahre wächst auf dem deutschsprachigen Buchmarkt das Interesse an zeitgenössischen jungen AutorInnen aus Polen kontinuierlich an. Parallel bleibt noch bis Ende des 20 Jh. das Interesse an Büchern bereits vor der Wende 1989/90 etablierter AutorInnen und VertreterInnen älterer Generationen (wie z. B. Wisława Szymborska, Czesław Miłosz, Andrzej Szczypiorski und Hanna Krall) bestehen. Seit Anfang des neuen Jahrtausends richtet sich das Interesse der Verlage dann vorwiegend nach jüngerer zeitgenössischer Literatur aus Polen.

Wolfgang Schlott, ein deutscher Kultur- und Literaturwissenschaftler, unterscheidet in einem Essay (Deutsches Polen-Institut 2000) aus dem Jahr 2000 vier Gruppen polnischer SchriftstellerInnen, die in Deutschland ihre LeserInnen fanden. Zur ersten Gruppe zählen ihm zufolge die zwischen 1910 und 1929 geborenen AutorInnen, wie Czesław Miłosz, Wisława Szymborska, Tadeusz Różewicz, Gustaw Herling-Grudziński, Tadeusz Borowski, Tadeusz Konwicki, Zbigniew Herbert, Julian Stryjkowski, Jan Józef Szczepański und Kazimierz Brandys. Die Generation der zwischen 1930 und 1949 Geborenen zählt Schlott zur zweiten Gruppe. Es waren „Augenzeugen des Zweiten Weltkrieges und der Entstehung des kommunistischen Regimes in Polen“ (Schlott 2000, S. 130): Sławomir Mrożek, Ryszard Kapuściński, Jarosław Marek Rymkiewicz der „auf dem deutschsprachigen Buchmarkt leider keinen Erfolg erzielen konnte“ (Schlott 2000, S. 130f.), Hanna Krall und Adam Zagajewski – neben Ryszard Krynicki, Stanisław Barańczak, Julian Kornhauser, Leszek Szaruga und Ewa Lipska – einer der wichtigsten Vertreter der Gruppe ‘68. „Zur dritten Generation bzw. der ersten Nachkriegsgeneration, die ihre Romane und Erzählungen nicht oder fast nicht mehr unter den peinlichen Zwängen der Zensur schufen“ (Schlott 2000, S. 132), zählen Stefan Chwin und Paweł Huelle. Schließlich nennt Schlott die „nach 1960 geborene Generation der Debütanten, die von 1990 an“ (Schlott 2000, S. 133) literarisch tätig waren: Krzysztof Bielecki, Tomasz Sęktas – Autoren, „die ihre experimentellen Spiele mit postmodernen Erzählformen“ (Schlott 2000, S. 133) verbinden. Beide Autoren fanden jedoch kaum Beachtung in Deutschland. Dieser Gruppe gehören dem Geburtsjahr nach aber auch die VertreterInnen der in Deutschland lebenden ‚Kosmopolen‘, wie Natasza Goerke, Janusz Rudnicki oder Krzysztof Maria Załuski, an.

Betrachtet man die Rezeption aller von Schlott genannten Schriftstellergenerationen im deutschsprachigen Raum seit 1989, so stellt man fest, dass keine dieser Gruppen ein so reges Interesse der hiesigen Verlage gefunden hat wie die Vertreter der Nachkriegsgeneration. Als einer der Gründe kann wohl die Tatsache gelten, dass sie in einem freien Land mit literarischen Werken debütierten und deshalb befreit nicht nur von den Zwängen der Zensur, sondern auch vom Zwang der Erschaffung einer ‚kämpfenden‘ Nationalliteratur schreiben konnten. Sie konnten sich auch für die von der westeuropäischen Literatur schon viel früher entdeckten Erzählformen öffnen, was ihre Chancen auf die Entdeckung durch hiesige LeserInnen erhöhte. Seit 2000 erfuhren dann nach Schlotts Ausführungen auch die AutorInnen der Generation der nach 1960 Geborenen, die man SchriftstellerInnen der Nachwendeliteratur nennen könnte, die größte Aufmerksamkeit. Dazu gehören die auch in Deutschland verlegte spätere Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk sowie Andrzej Stasiuk, Stefan Chwin und Paweł Huelle.

Während Polen in der Zeit bis Ende der 1980er Jahre als Land der Lyrik galt, entdecken die polnischen AutorInnen nach der Wende von 1989 die Epik für sich. Nach dieser Zäsur bricht die polnische Literatur auch mit den für sie bislang typischen Charakteristika. So wenden sich die VertreterInnen der polnischen Literatur der Nachwendezeit, d. h. der AutorInnen, die seit der Wende von 1989 (bzw. z. T. kurz davor) publizieren, neuen Themen zu. Dies bleibt nicht ohne Folgen für ihre Rezeption im westlichen Ausland, insbesondere im deutschsprachigen Raum. Offenbar besteht nach 1989/90 und vor allem Anfang des 21. Jhs. das Interesse des deutschen Publikums an (neuen) im Folgenden besprochenen Themen der polnischen AutorInnen schon vor der ‚Entdeckung‘ zeitgenössischer polnischer Literatur, so dass die jungen SchriftstellerInnen einen relativ ‚leichten‘ Zugang zum deutschen Buchmarkt hatten. Vorteilhaft für ihre Rezeption im deutschsprachigen Raum ist zu diesem Zeitpunkt auch die eher an westeuropäische als an traditionelle polnische Stilistik erinnernde Sprache ihrer Werke. Sie ist, da sie auf zensurbedingte Wortspiele verzichten kann, klar und verständlich, orientiert sich oft an der aktuellen polnischen Alltagssprache, ohne an ihrer Literatizität zu büßen. Das gleiche Prinzip betrifft die Erzählformen, die von der zeitgenössischen polnischen Literatur verwendet werden.

Epik als Hauptgattung

 Die junge polnische Literatur hat sich seit der Wende stark der Epik zugewandt. Die Romane und Erzählungen nahmen den Platz ein, der bis vor der Wende der Lyrik vorbehalten war. Die Romanciers sind verstärkt in den Vordergrund getreten. Die lyrische Dichtung ist zwar immer noch stark präsent und wird auch von den in den 1960er Jahren geborenen AutorInnen als ein Mittel des künstlerischen Ausdrucks verwendet, spielt aber nicht mehr eine so exklusive Rolle, wie es bis 1989 in Polen traditionell der Fall war. Die polnischen LyrikerInnen – und zwar nicht nur die jüngeren AutorInnen, sondern auch VertreterInnen der älteren Generationen – entdecken für ihre neuen Werke verstärkt das Alltagsleben mit all seinen Facetten, so dass auch Poesie epischer zu werden scheint.

Da sich Lyrik auf dem zeitgenössischen deutschsprachigen Buchmarkt keiner großen Popularität erfreut, war die neue Situation auf dem polnischen Buchmarkt mit der verstärkt in den Vordergrund getretenen Epik für die Vermittlung der neuen polnischen Literatur in Deutschland, Österreich und der Schweiz von Vorteil. Dies auch trotz der Tatsache, dass der berühmteste Literaturkritiker Deutschlands, Marcel Reich-Ranicki, zwar der polnischen Poesie einen besonderen Stellenwert zuschrieb, die Prosa, vor allem die der Nachwendezeit, jedoch ignoriert oder negativ beurteilte. Eine andere Meinung vertrat hingegen Albrecht Lempp, Leiter der Gruppe Polska2000 und der polnischen Ausstellung auf der Frankfurter Buchmesse 2000, der einen starken Fokus auf die polnische Epik bei der Vermittlung polnischer Literatur in Deutschland legte. Dabei orientierte er sich auch stark an den Erwartungen der deutschsprachigen LeserInnen und kritisierte eine seiner Meinung nach zu starke Differenzierung, die die polnische Literaturwissenschaft zwischen der Höhenkamm- und der Populärliteratur vornimmt. Dies hemme die Förderung der polnischen Literatur in Polen genauso wie im Ausland (Stelmaszyk 2008).  Die so als lesenswert ausgezeichneten Werke eigneten sich nach Meinung von Lempp jedoch nicht unbedingt für den deutschen Buchmarkt. Das von Lempp und seinem Team entwickelte Konzept für die Übersetzungsförderung ©Poland und sein Erfolg auf der Frankfurter Buchmesse 2000 sprechen für seine Auffassung.

Neue Verlage

 Für den Erfolg polnischer Literatur war jedoch auch der Einsatz der entsprechenden Verlage von Bedeutung. So veröffentlichte der nach der Wende entstandene und in den 1990er Jahren sehr populäre Warschauer Verlag W.A.B. nicht nur mit großem Erfolg die ersten Werke von den nach 1989 debütierten SchriftstellerInnen, sondern bemühte sich erfolgreich um die Übersetzung seiner AutorInnen im Ausland. Der Hausverlag von Andrzej Stasiuk, Czarne, gehört heute zu den wichtigsten Verlagshäusern Polens und gilt als solcher auch im Ausland. Der aktuelle Verlag Olga Tokarczuks, Wydawnictwo Literackie, ist hingegen ein Traditionsverlag, der sehr intensiv auf dem internationalen Markt agiert und erfolgreich zahleiche Rechte für Übersetzungen anbietet.

Dennoch: Trotz der hohen Qualität der Werke aus Mittel- und Osteuropa haben diese immer noch Schwierigkeiten auf dem westeuropäischen Buchmarkt Fuß zu fassen und sich zu etablieren. Daher ist die Arbeit von VerlagsvertreterInnen zahlreicher Häuser, wie auch LiteraturagentInnen und – vor allem – der ÜbersetzerInnen nach wie vor enorm wichtig. In den Jahren seit 1989 wurden sie in ihrem Bemühen, Lizenzen nach Deutschland zu verkaufen, vom (nicht mehr existierenden) Buchinformationszentrum Warschau der Frankfurter Buchmesse unterstützt, welches zur Aufgabe hatte, Kontakte zwischen den deutschen und polnischen Verlagen herzustellen und über die Vermittlung der deutschen Literatur in Polen hinaus auch den umgekehrten Transfer zu ermöglichen.

Die Erzählformen und die Themen der polnischen Literatur der 90er Jahre

Die AutorInnen der Nachwendezeit greifen gern mehrere Themen auf, verarbeiten das alltägliche Leben, nehmen jedoch auch die alten Erzählmuster der polnischen Literatur auf. So erfolgt eine Art ‚Verweltlichung‘ ihrer Werke, die aber gleichzeitig der literarischen Tradition Polens verbunden bleibt: „Im Allgemeinen steht die Kunst des Erzählens gegenwärtig hoch im Kurs. Die ‚Gawęda‘ (Plauderei) – eine altpolnische Gattung, an der sich schon Gombrowicz, Mrożek oder Kuśniewicz inspiriert hatten“. Die Plauderei bilde laut Tomkowski sogar den Ausgangspunkt für die Werke der AutorInnen aus Polen (Tomkowski 1996).

Die ‚Gawęda‘, die man mit der Fabel vergleichen könnte, setzte sich tatsächlich in der zeitgenössischen polnischen Literatur erfolgreich durch und wird anscheinend bis heute gern gepflegt. Die bedeutendsten Werke der mittleren, jüngeren und jungen Schriftstellergenerationen charakterisiert eine für Fabeln typische Erzählform. Ihr neuer großer Einzug in die polnischen Gegenwartsromane begann zeitgleich mit der Befreiung der Literatur von den Zwängen der engagierten Dichtung der Vorwendezeit. Das bestätigt auch eine an die deutschsprachigen LeserInnen und an deutsche Verlage gerichtete Information des Polnischen Instituts in Wien von 2002:

In den vorangehenden Jahrzehnten schien es, daß die Literatur ihre Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, eingebüßt hat. Mit den Büchern von Paweł Huelle (Weiser Dawidek), Max Lars (eigentlich: Stefan Chwin Człowiek-litera; Ludzieskorpiony), Tomek Tryzna (Panna Nikt) und Olga Tokarczuk (Podróż ludzi Księgi) suchte die Prosa der neunziger Jahre der belebende Geist des ungebändigten Fabulierens heim: des Geschichten-Erzählens, des Herausgreifens und des Verarbeitens interessanter Ereignisse. Die Handlung sollte nicht nur den Leser heranlocken, nicht nur die Narration attraktiver gestalten, nicht nur als ein Schema dienen, nach den Ereignissen geordnet werden, sondern auch Träger wichtiger Inhalte sein (Zit. nach Stelmaszyk 2008, S. 76f.).

 Die junge polnische Prosa verarbeitet jedoch bei Weitem nicht nur die „interessanten Ereignisse“. Die häufigsten Handlungsstränge in den zeitgenössischen epischen Werken bauen oft genug auf einfachen, scheinbar unspektakulären und völlig uninteressanten Ereignissen aus dem Leben ihrer ProtagonistInnen auf. Erst unter der Feder von Olga Tokarczuk und denen ihrer SchriftstellerkollegInnen gewinnt das Schicksal eines an Trunkenheit gestorbenen Bauern oder eines gottverlassenen, verschlafenen Städtchens nicht nur an Bedeutung, sondern wird zu einer Art lebendigem Relikt unserer Zeiten erhoben. Durch die fast philosophische Aussage dieser Geschichten, dieser modernen, gar nicht märchenhaften Märchen werden die Romane und Erzählungen tatsächlich zu „Trägern wichtiger Inhalte“.

Somit verweisen die polnischen zeitgenössischen Romane auf das heutige (immer öfter auch wieder historische) Polen. Zwar beschäftigen sich die zeitgenössischen polnischen AutorInnen in ihren Werken wenig bis gar nicht mit der polnischen zeitgenössischen Politik – die LeserInnen melden auch keinen Bedarf an einer solchen Thematik. Sie selbst aber sind durchaus sehr politisch – das äußert sich in ihren Werken, indem sie umso stärker auf die Problematik des Alltagslebens mitsamt den sozialen und kulturellen Problemen eingehen und sie zum Hauptmotiv ihrer Romane machen. Dies kam in den 1990er Jahren und seit 2000 besonders bei beliebten AutorInnen wie Olga Tokarczuk, Andrzej Stasiuk oder Jerzy Pilch zum Vorschein.

Die Abbildung der Wirklichkeit, die eine vorrangige Rolle gegenüber der Sprache einnimmt, ist eines der wichtigsten Merkmale der modernen polnischen Literatur. Die ProtagonistInnen der neuen Romane leben im Hier und Jetzt ihrer LeserInnen (abgesehen von Ausnahmen, wie die Jakobsbücher Tokarczuks, die jedoch eine Aussagekraft im Jetzigen haben). Diese Tatsache erhöht ihre Popularität beim Publikum. Die immer stärkere Annäherung der Lebensbedingungen der ost- und der westeuropäischen Bevölkerungen erleichtert den deutschsprachigen LeserInnen zudem den Zugang zu den zeitgenössischen polnischen Romanen. Dabei spielt die Zeitgeschichte im Sinne der politisch-historischen Ereignisse kaum eine Rolle. Das Interesse gilt vor allem den sozialen Problemen der modernen Gesellschaft. Die kommunistische Vergangenheit thematisieren lediglich die VertreterInnen der mittleren Generation, die nach der politischen Wende als RomanautorInnen debütierten. Tokarczuk und ihre Schriftstellergeneration hingegen fühlen sich von der Beschäftigung mit der Vorwendezeit befreit: „Die literarische Wende […] [in Polen] betrachte ich als Befreiung von den Verpflichtungen, die sich unsere Schriftsteller im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte stürmischer polnischer Geschichte auferlegt haben“ (Jetzt kommen neue Zeiten!, 24.11.2021).

Die neue polnische Literatur charakterisiert sich zudem durch die Tendenz zur Einfachheit, die sich genauso selbstverständlich im Bereich der Sprache und des Inhalts wie in der Form des ‚Auftretens‘ der zeitgenössischen AutorInnen äußert. Die zeitgenössischen polnischen AutorInnen, die nach 1989 bekannt wurden, scheinen die Erwartungen ihrer LeserInnen zu kennen und sie auch zu erfüllen. Das moderne polnische Lesepublikum erwartet nicht eine Literatur, die fest in der Tradition der engagierten Literatur der ‚Vorwendezeit‘ stehen bleibt – und das entgegen der Meinung vieler Literaturkritiker. Das erleichtert dieser Literatur auch den Zugang zum ausländischen Lesepublikum. Zugleich kann man den AutorInnen der Nachwendezeit keinesfalls eine völlig apolitische Position vorwerfen. Sie scheuen keinesfalls die gesellschaftspolitische Kritik und thematisieren offen die verratenen Träume über eine fehlerlose Demokratie, auf die die polnische Gesellschaft viele Jahrzehnte gewartet hatte:

In der polnischen Prosa der neunziger Jahre findet sich auch eine kritische Sicht auf das Bewusstsein der polnischen Gesellschaft der Wendezeit, das von nachvollziehbaren, aber unerfüllbaren Mythen geprägt war. […] Das Gesamtergebnis der soziologischen Interessen der Prosa der neunziger Jahre wurde ein – entschieden negatives, satirisches, nahezu schwarzes – Bildnis der neuen Klasse im Anfangsstadium ihrer Entwicklung: Ihre Vertreter erkennen nach und nach ihre Lebensziele (Reichtum, Einfluss, Macht, gesellschaftlicher Aufstieg) und wählen mafiaartige Methoden, um sie zu erreichen (Zit. nach Stelmaszyk 2008, S. 80). 

 Bei aller gesellschaftspolitischen Kritik bleiben aber für die jungen AutorInnen Aspekte der Subjektivität von herausragender Bedeutung. Nach Stefan Chwin, Schriftsteller und Universitätsprofessor aus Gdańsk (Danzig), bilde die Mehrheit der polnischen Prosawerke der Gegenwart eine Literatur, die kontemplativ, lyrisch und reflektierend ist und eine Expression der Gedanken und Gefühle zulässt. Er spricht hier also deutlich die – solchen AutorInnen wie Andrzej Stasiuk, Tomek Tryzna, Olga Tokarczuk oder ihn selbst nachgesagte – ‚Mystik‘ und ‚Metaphysik‘ des Lebens an. Diese spiele neben dem Aspekt der Aktualität eine wichtige Rolle für die Rezeption der Werke dieser AutorInnen sowohl in Polen wie auch im deutschsprachigen Raum.

Polnische LeserInnen suchen heutzutage nach ähnlichen Fragestellungen und Antworten in der Literatur wie die LeserInnen in Westeuropa. Weder die einen noch die anderen wollen von ihr politisch aufgeklärt werden, zumindest, wenn es um die polnische Geschichte geht. Auch die Frage, ob und inwiefern diese Werke postmodern sind, will die durchschnittliche Leserschaft nicht unbedingt geklärt bekommen. Nach Stefan Chwin interessiert sich das Lesepublikum in Polen hingegen für Literatur, die zugleich mystisch wie lebensnah ist, und verlangt von ihr neben einer schönen Sprache auch gedankliche Tiefe, vor allem die der existenziellen Reflexion (Grzela 1999).  Nicht anders verhält es sich im Hinblick auf die Erwartungen der westeuropäischen Leser, die bei ihrer Suche hin und wieder auf Werke polnischer Autoren stoßen.

Die Autoren der Nachwendezeit sind auch diejenigen, die nicht nur nach der ‚sanften Revolution‘ debütieren, sondern auch gegen die bislang geltenden Hauptthemen und Tendenzen der polnischen Literatur rebellieren. Es ist keine laute Rebellion, es fehlt an öffentlichen Aufrufen oder Manifesten, die das ‚Neue‘ in ihren Werken beschwören würden. Sie bilden keine literarischen Gruppen, in denen sie ein gemeinsames Programm entwickeln würden. Vielmehr sind die VertreterInnen der Nachwendeliteratur nicht mehr daran interessiert, Geschichte und Politik in ihren Texten primär zu Wort kommen zu lassen. Sie haben sich in ihr Inneres, und zwar kein ‚kollektives Inneres‘ der Romantik, sondern in ein individuelles Inneres zurückgezogen, wobei sie zugleich durchaus konkret an ihre LeserInnen denken. Der deutsche Wissenschaftler und Übersetzer Hans-Christian Trepte spricht hier, ähnlich wie Albrecht Lempp, von „einer neuen, erfrischenden Ichbezogenheit“, die

[…] sich in der polnischen Literatur breit [machte], unabhängig von gesellschaftlichen Erwartungen. Sie wurde allein geleitet und geprägt von den Bedingungen des privaten Umfelds. Diese Suche nach dem Authentischen, Wahren, der Befreiung von diversen politischen und gesellschaftlichen Fesseln stand auch bei Autoren der Inlandliteratur, vor allem nach 1989/90, die sich für die ästhetische Option der sogenannten ‚neuen Privatheit‘ aussprachen, hoch im Kurs (Trepte).

 Die ‚große Geschichte‘ wird (fast) gänzlich zugunsten der ‚inneren privaten Geschichte‘ aufgegeben, was auch Auswirkungen auf Präsenz der jungen polnischen Literatur im deutschen Sprachraum hatte und weiterhin hat: „Interessieren sich diese Autoren dennoch für die Vergangenheit, dann vor allem, um dort Quellen und Gründe für gegenwärtige Verhaltensweisen und die geistige Genealogie der Polen zu finden“ (Trepte).

Das vorhandene ‚Avantgardistische‘ oder ‚Skandalöse‘ in der Literatur des östlichen Nachbarn spricht die ausländischen RezipientInnen eher selten an. Dagegen finden Stasiuk und Tokarczuk dank ihrer „neuen Ichbezogenheit“, die aber nichts mit experimenteller Literatur zu tun hat und eher zur Beobachtung der äußeren Welt (Stasiuk) bzw. zum Geschichtenerzählen (Tokarczuk) führt, viel mehr Aufmerksamkeit. Helga Hirsch sieht hier auch den Unterschied der Polen zu den SchriftstellerInnen aus Deutschland: „[…] radikaler als in Deutschland suchen viele junge Autoren in Polen nach einem Sinn jenseits von Alltag, Karriere und Politik“ (Helga Hirsch, Polens neue Dichter. Die jungen Autoren und die Gnade der späten Geburt, in: Die Zeit vom 19.10.2000 (www.zeit.de/200043_l-polenprosa.html), 24.11.2021). Womöglich eben dank ihrer ‚literarischen Orientierung‘ haben sie einen leichteren Zugang zum deutschsprachigen Publikum. Doch die literarische Qualität, spielt hierbei eine herausragende Rolle.

Olga Tokarczuk und ihre Prosa im deutschsprachigen Raum

 Olga Tokarczuk wurde 1962 geboren. Sie ist Psychologin und sammelte in ihrem Beruf Erfahrungen, noch bevor sie sich ganz dem Schreiben als Essayistin und Prosaistin zuwandte. Ihre Beschäftigung mit der Psyche des Menschen kommt in ihren Werken zum Vorschein, doch die Autorin selbst bestreitet den Einfluss ihrer beruflichen Ausbildung auf ihren Umgang mit der Literatur. Vielmehr macht sie auf die für sie wichtigen Themen aufmerksam wie Ökologie, Psychologie, soziale Themen u. a. und nutzt sie als Ausgangspunkt vieler in ihren Büchern enthaltenen Motive. Mit dem Schreiben literarischer Texte beschäftigte sie sich bereits in ihrer Jugendzeit, ihre ersten Erzählungen und Gedichte erschienen seit 1978 in Jugendzeitschriften. Ein wenig bekanntes Buch von ihr ist das 1989 erschienene Miasta w lustrach. Erst aber mit ihrem Debütroman Podróż ludzi księgi (Die Reise der Buchmenschen) von 1993 erregte sie Aufsehen. Ähnlich wie Andrzej Stasiuk zog Tokarczuk 1998 aus der Großstadt auf ein Dorf im Sudetenland und hat dort den eigenen Verlag Ruta gegründet, in dem sie wenige Jahre nach dem Erfolg ihrer ersten Bücher ihre Werke selbst verlegte. Nach einigen Jahren schließt sie ihren Verlag. Seitdem wird sie jedoch von einem renommierten und traditionsreichen Verlag, Wydawnictwo Literackie (WL), verlegt, dem sie bis heute treu blieb. Ab und an erscheinen ihre Bücher als Neuausgaben, seltener als Erstausgaben in anderen Verlagshäusern. Auch E-Books und audiobooks gibt es als weitere Versionen der verlegten Werke. Das enorme literarische Potenzial Olga Tokarczuks offenbarte sich früh. Bereits 1999 schrieb Anna Nasiłowska, ebenfalls Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin, in einer Besprechung für die deutschen LeserInnen: „Diese Autorin hat die Gruppe der jungen, begabten, feministisch angehauchten Prosaschriftstellerinnen, der sie zugerechnet wurde, längst weit hinter sich gelassen“ (Nasiłowska 1999, S. 189). Bereits mit ihrem Debüt-Roman Podróż ludzi księgi von 1993 erlangte Tokarczuk Ansehen – es wurde von der Gesellschaft der polnischen Buchverlage als bestes Prosadebüt ausgezeichnet. Nur zwei Jahre später folgte der ebenso gut vom polnischen Publikum aufgenommene schmale Roman E.E. (Keines der beiden Erstlingswerke wurde jedoch bislang ins Deutsche übersetzt, wobei es aktuell mehr Chancen denn je dafür gäbe).

Zu diesem Zeitpunkt war sie in Deutschland noch nicht entdeckt. Der entscheidende Durchbruch kam mit ihrem dritten Roman Prawiek i inne czasy (Ur und andere Zeiten) von 1996, der zuerst bei dem damals jungen, innovativen Verlag W.A.B. erschienen ist und mit dem Tokarczuk für den begehrten polnischen NIKE-Preis nominiert wurde. Das Buch wurde 2000 vom Berlin Verlag pünktlich zur Frankfurter Buchmesse verlegt. Ebenso erschien im DVA im gleichen Jahr der Erzählband Der Schrank (Szafa), der zwar in Polen 1998 von Tokarczuk selbst in ihrem Verlag Ruta herausgegeben wurde, für die deutsche Ausgabe aber neu zusammengestellt wurde. Gleichfalls 1998 gab Tokarczuk ihr Buch Taghaus, Nachthaus (Dom dzienny, dom nocny) heraus, das 2001 bei DVA erschien. 2001 wurde in Polen der Erzählband Spiel auf vielen Trommeln (Gra na wielu bębenkach) veröffentlicht, der allerdings erst 2006 im Berliner Verlag Matthes & Seitz in der deutschen Übersetzung erschienen ist, obwohl die Autorin die Texte im Laufe eines mehrmonatigen Aufenthalts als Stipendiatin im Literarischen Colloquium Berlin verfasste. Der Band wurde abermals für den polnischen NIKE-Preis nominiert und von den LeserInnen der Gazeta Wyborcza zum absoluten Favoriten für die Preisvergabe gewählt, was schon damals vom großen Erfolg der Erzählungen und andauernder Popularität seiner Autorin beim polnischen Publikum gezeugt hat.

Die Prosa von Olga Tokarczuk ist spät auf den deutschen Buchmarkt gebracht worden. Noch im Jahr 2000 beklagte der bekannte Polonist Heinz Kneip das Fehlen ihrer Werke im deutschen Sprachraum. Kurz danach, noch im gleichen Jahr, fand aber der hiesige Leser deutschsprachige Übersetzungen ihrer Texte. Zu diesem Zeitpunkt waren die ersten Romane der jungen Autorin bereits Kulttexte in Polen, sie selbst mehrfache Preisträgerin. Schnell nach dem für die polnische Literatur in Deutschland sehr wichtigen Jahr 2000 (Polen war 2000 Gastland der Frankfurter Buchmesse) erfreute sie sich einer breiten Leserschaft auch in Deutschland, wo sie zudem ein Stipendium sowie einige Literaturpreise erhielt.

Die polnischen LeserInnen rezipierten in diesen Jahren die aufeinander folgenden Romane von Olga Tokarczuk mit größtem Interesse. Nur der neuartige Text des Erstlings – der eigentlich eine längere Erzählung ist, Podróż ludzi księgi – wurde anfänglich mit Skepsis und Reserviertheit aufgenommen. Die polnische Literaturkritik rückte die Werke der Autorin oft in die Nähe der Trivialliteratur und verweigerte ihren Romanen und Erzählungen bisweilen einen Platz auf den höheren Rängen, bevor sie sie kurz danach doch noch zu einer der interessantesten Entdeckungen der zeitgenössischen Literaturlandschaft Polens erklärten. Darauf, dass man der Autorin mit der frühen Kritik Unrecht tat, verweist auch Anna Nasiłowska: „Tokarczuks neuester, mittlerweile vierter Roman Dom dzienny, dom nocny (Taghaus, Nachthaus), sollte derartige Kontroversen um ihre Position in der polnischen Literatur zerstreuen“ (Nasiłowska 2000, S. 126). 

Mit dem Buch E.E. und besonders mit dem auch von der Kritik viel beachteten und gelobten Roman Ur und andere Zeiten schrieb sich Tokarczuk unumstritten als eine neue Hoffnung der jungen polnischen Literatur in das Bewusstsein sowohl der KritikerInnen als auch der LeserInnen ein. Der NIKE-Preis, für den sie mit Ur und andere Zeiten nominiert wurde, wurde ihr zwar von der Jury nicht zuerkannt, doch auf die an die LeserInnen gerichtete Frage, wem sie den Preis zusprechen würden, erhielt Tokarczuk die meisten Stimmen. Mit dem Folgeroman Taghaus, Nachthaus wurde der Autorin dann doch noch der, auch deutschen VerlegerInnen wohl bekannte, NIKE-Preis verliehen.

Charakteristika der Literatur von Tokarczuk

 Olga Tokarczuk bezeichnet ihre Texte als philosophische Parabeln (Olga Tokarczuk, Über alle Grenzen. Günter Grass und die junge polnische Literatur – auch einAusblick auf den Buchmesse-Schwerpunkt des nächsten Jahres, in: Frankfurter Rundschau vom 16.10.1999). Tatsächlich lesen sich ihre Bücher bisweilen wie intellektuelle Abhandlungen über die Unabwendbarkeit des Schicksals, über das Geheimnis des Daseins, das die Protagonisten ihrer Erzählungen trifft. Zugleich sind es poetisch-literarische Märchen, in denen Mythen und Träume eine tragende Rolle spielen:

Die Welt ihrer Romangebilde bildet eine Einheit zwischen der Ordnung des Makro- und Mikrokosmos, vereint lokale und kosmische Topographie, die Wirklichkeit des Traums und des Wachens, Fakten und Phantasiegebilde, Bewusstseinsformen und Archetypen des Unbewussten. Tokarczuks Werk wird deshalb gelegentlich als polnischer magischer Realismus bezeichnet (Górecka-Borytyńska 2000).

 Die Autorin dieser Aussage, Aneta Górnicka-Boratyńska, ist mit ihrem Hinweis auf den magischen Realismus nicht allein, auch wenn Tokarczuk sich selbst nicht als Vertreterin dieser Richtung sieht. Vergleicht Stefan Chwin die Texte von Andrzej Stasiuk mit den Arbeiten von Bruno Schulz, so bringt er die Prosa von Olga Tokarczuk den Werken von Marquez nahe (Grzela 1999).

Ähnlich wie Stasiuk greift Tokarczuk die polnische Geschichte auf: Nicht vordergründig, sondern als eine Form regionalen Geschichtsgedächtnisses, das in den Texten oftmals eine schicksalsbildende Funktion einnimmt – wie ein in das Leben der ProtagonistInnen eingreifendes kollektives be- und unbewusstes Gedächtnis. Wie die Autorin des Porträts Olga Tokarczuks, Aneta Górnicka-Boratyńska, bemerkt, sind die Bücher von Olga Tokarczuk „trotz ihres historischen Dekors […] zeitgenössische Romane, die im Hier und Jetzt geschaffen wurden“ (Górecka-Borytyńska 2000, S. 3.). Die Texte der Autorin sind aber nicht nur im Jetzigen verankert, sondern auch universell, da sie eben das Menschliche, das Schicksalhafte an sich thematisieren. Die Leserschaft fesseln die von Tokarczuk erzählten Geschichten „dank ihrer Vielschichtigkeit und der Vielzahl an Handlungsfäden, [die] Anlass zu den unterschiedlichsten Interpretationen [geben]“ (Górecka-Borytyńska 2000, S. 3). Wie alle Märchen können eben auch die modernen Märchen von Olga Tokarczuk auf verschiedene Weise rezipiert werden, ohne ihre Aussage zu verlieren. „Für Tokarczuk sind die fantastischen Begebenheiten den historischen Ereignissen ebenbürtig“ (Jörg Plath, Aus Dingen wachen Worte. Olga Tokarczuk liest in der schlesischen Landschaft, in: Tagesspiegel vom 13.011.2002), und tatsächlich verfügt die Autorin ähnlich wie Stasiuk über die nicht einfache Kunst der Verbindung des Mystischen mit dem Existenziellen (Eine ähnliche Tendenz findet man übrigens in der neuesten Zeit auch im jungen polnischen Film. Ein Beispiel dafür ist der preisgekrönte und für den Oscar nominierte Film Edi (2002) des jungen Regisseurs Piotr Trzaskalski).

All diese Aspekte übten und üben weiterhin einen entscheidenden Einfluss auf die Aufnahme der Werke von Olga Tokarczuk im eigenen Lande wie auch außerhalb Polens aus, auch im deutschsprachigen Raum. Diese Aspekte gelten genauso, wie für die polnischen auch für die deutschsprachigen LeserInnen, die zugleich an Themen der sog. Kleinen Heimate – auch im philosophischen Sinne – interessiert sind. Das wirkt sich auch auf die Rezeption der Werke Tokarczuks und Stasiuks aus. Beide verbindet in ihren Werken nicht zuletzt ihre Rückkehr zur Lokalität, zur Konzentration auf die nächste Umgebung, auf Ortschaften, die unmittelbar das Leben der Protagonisten bestimmen. Stasiuk aber konzentriert sich auf die ‚Unbeweglichkeit‘, auf die Zeit, die zwar vorhanden ist, aber – ganz entgegen ihrer Natur – ‚eingefroren‘ zu sein scheint, womit sie die existenzielle ‚Starrheit‘ seiner Protagonisten ausdrückt. Für Tokarczuk spielt hingegen der Verlauf von Leben und Tod – die sich auf dem Hintergrund der geschichtlichen Ereignisse abspielen – eine zentrale Rolle. Die Auffassung der Geschichte von Tokarczuk und Stasiuk gleicht jedoch nicht im Geringsten der Auffassung polnischer Literatur der Vorwendezeit. Vielmehr handelt es sich hier um, wie es Anna Górnicka-Boratyńska darstellt, „einen universellen, kosmischen Zusammenhang“ (Górecka-Borytyńska 2000, S. 3).

Ihre Faszination für die Zeit, die Vergänglichkeit und den Kreislauf von Geburt und Tod sind stets gegenwärtige Motive in ihrem Werk. Ihre mythischen Erzählungen versuchen Antworten zu finden auf die Erfahrungen des Zwanzigsten Jahrhunderts – wie der Entwurzelung aus Natur und Kultur, dem Verlust der Identitäten und der Zerschlagung der Werteordnungen – die Ursachen physischer und axiologischer Heimatlosigkeit sind (Górecka-Borytyńska 2000, S. 3).

 Doch das Mythische in der polnischen Literatur wird auch als eine Art Vehikel für die Flucht aus dem Hier und Jetzt interpretiert, die tatsächlich in den Romanen und Erzählungen von Olga Tokarczuk vorkommt. Die Grausamkeit der verlorenen Existenzen, der unerfüllten Träume, der Ausweglosigkeit mildert die Autorin unter Verwendung stilistischer Mittel, mit deren Hilfe sie die letzte Spur der Hoffnung rettet oder zumindest das Einverständnis der Figuren mit ihrem Schicksal zum Ausdruck bringt. Es sind Verbindungen der Literatur mit dem Leben, die auch das deutsche Publikum ansprechen.

Genauso wie für Andrzej Stasiuk spielt auch für Olga Tokarczuk die Sprache, in der das Erzählen erfolgt, eine zentrale Rolle. Ihre Begabung, die Leserschaft mit sprachlichen Mitteln zu fesseln, bescheinigen ihr nicht nur polnische, sondern auch die deutschen KritikerInnen. So ist zum Beipiel für Markus Krzoska Olga Tokarczuk zusammen mit Andrzej Stasiuk die wichtigste junge polnische Autorin, „weil sie m. E. durch ihren postmodernen Stil ein neues Element in die polnische Literatur gebracht hat, und weil sie ausgezeichnet erzählen kann“ (Fragebogen, Markus Krzoska 2002)

Die Rezeption von Ur und andere Zeiten (und weiterer Werke)

 Bereits im Erstlingsroman von Olga Tokarczuk aus dem Jahr 1993 spielt die für sie so charakteristische Mystik eine wichtige Rolle. Der Roman spielt zwar im Frankreich des 17. Jhs., doch sein Hauptthema ist die Suche nach einem Geheimnis, nach einem allgemein gültigen, universellen Vermächtnis. Dass die Suche nach dem Unerreichbaren, den metaphysischen Findungsprozess auf dem Weg zum Sinn des Lebens thematisierende Buch wurde bislang nicht ins Deutsche übersetzt.

Im zweiten Roman von Tokarczuk, E.E. von 1995, wird ebenfalls die Faszination des unentdeckt bleibenden Geheimnisses thematisiert. Auch dieses Buch wurde den deutschen LeserInnen noch nicht zugänglich gemacht, was angesichts seiner Figuren und des Spielorts verwundert. E.E. spielt in Breslau des beginnenden 20. Jhs., in der deutschpolnischen Familie Eltzner, die mit den übernatürlichen Kräften ihrer Tochter Erna konfrontiert wird. Das europäische und das deutsch-polnische Thema prädestinieren die Werke Tokarczuks gerade für den deutschsprachigen Buchmarkt.

Der Erfolgsroman aus den Anfängen von Olga Tokarczuk, Ur und andere Zeiten, erschien in Polen 1996 bei W.A.B. in Warschau – einem Verlag, der Tokarczuk als eine der Hoffnungen der neuen polnischen Literatur für sich entdeckte. 1997 folgte bereits die zweite Auflage des Buches, das genauso enthusiastisch von den LeserInnen wie von der Kritik aufgenommen wurde. Die Autorin wird für diesen Roman mit dem renommierten Preis für junge Künstler der Zeitschrift Polityka – Reisepass der Polityka geehrt. Eine Zeit lang wird er auf drei Bühnen gespielt und sogar für ein Fernsehspiel adaptiert. In Deutschland erscheint der Roman in der Übersetzung von Esther Kinsky im Jahr 2000 beim Berlin Verlag. Noch vor Deutschland wurde Tokarczuk jedoch in Frankreich, wo sie für Ur und andere Zeiten bereits 1998 für den Prix du Meilleur Livre Etranger nominiert wurde, sowie in Dänemark, Holland, Tschechien und Italien entdeckt.

Ur und andere Zeiten sorgte als erstes Buch von Tokarczuk auch in Deutschland für Aufsehen. Darin entwickelt die Autorin ihre Vision der modernen Literatur weiter, wobei sie diese immer noch vor allem als eine private Angelegenheit des Schriftstellers bzw. der Schriftstellerin sieht. Wie sie es selbst stets betont, schreibt sie so, wie sie schreibt, aus purer Lust, Geschichten erzählen zu wollen. Tokarczuk unterstreicht immer wieder, sie habe nie nur für sich geschrieben, stets schriebe sie ihre Texte für die LeserInnen, wolle mithilfe des geschriebenen Wortes mit dessen EmpfängerInnen kommunizieren. Von einer moralischen Verpflichtung, wie sie die klassische polnische Literatur proklamierte, ist hier keine Rede mehr. In diesem Sinne konstatiert Iris Radisch in ihrer Rezension: „Wenn hier etwas leuchtet, ist es nicht das Licht der Aufklärung, sondern das kalte Licht des Mondes, das seinen unheimlichen Glanz gleichgültig über Menschen, Tiere und Dinge verstreut“ (Iris Radisch, Engel lesen keine Fahrpläne. Die polnisch-himmlischen Heerscharen der Olga Tokarczuk und der schöne Eigensinn der osteuropäischen Literatur, in: Die Zeit vom 19.10.2000). Die Autorin selbst bezeichnet ihren Roman als metaphysisches Märchen (Iris Radisch, Engel lesen keine Fahrpläne. Die polnisch-himmlischen Heerscharen der Olga Tokarczuk und der schöne Eigensinn der osteuropäischen Literatur, in: Die Zeit vom 19.10.2000).  Der polnische Publizist Piotr Piaszczyński definiert hingegen das Werk von Tokarczuk gattungsmäßig als „epische Dichtung in Prosa“ (Piaszczyński 2000, S. 100).

Genauso wie in den vorherigen Werken wendet Tokarczuk auch in Ur und andere Zeiten ihr psychologisches Wissen an. Der Text mit seinem märchenhaften bzw. fabelhaften Charakter thematisiert abermals die Vergänglichkeit. Der Titel trägt in sich bereits zwei Elemente, die in dem Buch zu Hauptmotiven werden: Die fließende Zeit, der Zeitfluss und ein von diesem Fluss umkreister geografischer Ort des Geschehens, der zugleich ein Ort des inneren Lebens ist. Die Autorin schafft hier einen mehr oder weniger imaginären Ort Ur, der bald nach der Veröffentlichung des Buches eine ähnliche Rolle innerhalb der polnischen und sogar der europäischen Literaturlandschaft einnimmt wie Dukla von Andrzej Stasiuk. Die Publizistin Iris Radisch erklärt ihn zum Ur-Ort der Literatur (Iris Radisch, Engel lesen keine Fahrpläne. Die polnisch-himmlischen Heerscharen der Olga Tokarczuk und der schöne Eigensinn der osteuropäischen Literatur, in: Die Zeit vom 19.10.2000): „Ur – Ort, Titel und Programm des Romans von Olga Torkarczuk – ist ein Kind der taghellen Mystik“ (Iris Radisch, Engel lesen keine Fahrpläne. Die polnisch-himmlischen Heerscharen der Olga Tokarczuk und der schöne Eigensinn der osteuropäischen Literatur, in: Die Zeit vom 19.10.2000).

Bei Tokarczuk finden die deutschen Interpreten den ‚Ur-Ort der Literatur‘, eine UrMutter der Prosa der Nachwendezeit, so, wie sie bei Stasiuk Dukla als ‚Welthauptstadt der Literatur‘ entdeckten. Somit wurden die beiden polnischen Autoren zu europäischen SchriftstellerInnen erklärt, ihre Werke als Teil der europäischen Literatur anerkannt und die (literarischen) Orte ihres Geschehens womöglich zum Bezugspunkt des Verständnisses von LiteraturkennerInnen für die neue europäische Literatur überhaupt. Das in dem Buch erzählte Geschehen umfasst etwa acht Jahrzehnte der Region, in der die Schriftstellerin ihr (imaginäres) Ur ansiedelt. Die polnischen Literaturkritiker sehen in dem Roman auch ein Werk über die vielfältige Geschichte Polens:

In dem Werk wurden wichtige historische Ereignisse, wie der Ausbruch und das Ende des Ersten Weltkriegs, die Besatzung Polens durch die Armee Hitlers in den Jahren 1939–1944, die Vernichtung der Juden, der Überfall Polens durch die Rote Armee Anfang 1945, die politische Veränderungen nach 1945 oder die Arbeiterstreiks vom August 1980, präsentiert (Biernacki; Dąbrowski 2002, S. 473 [Übers. d. Verf.)].

Ebenso wie das Lexikon des polnischen Romans des 20. Jahrhunderts charakterisieren auch die deutschen RezensentInnen das Werk von Tokarczuk als eine Informationsquelle über die historischen Ereignisse Polens: „Durch dieses Dorf zieht die Geschichte, vom Ersten Weltkrieg bis in die achtziger Jahre, mit Soldaten des Zaren und SS-Schergen, mit sowjetischen Iwans und kommunistischen Bürokratenhengsten. Ein Reigen von Kampf und Zerstörung, grausam und so schicksalhaft unabänderlich, wie Mythen es sind“ (http://www.mdr.de/leipzig-liest/ autoren-special/574222.html,, 10.12.2004), hört man im MDR-Rundfunk.

Das ‚Polnische‘ ist bei Tokarczuk nie so spezifisch ‚polnisch‘, dass es nicht auch über die Grenzen hinaus verstanden würde, ein Hintergrundwissen über die Ereignisse in Polen braucht die Leserschaft für eine ‚entspannte‘ Lektüre jedenfalls nicht. Auch dies ist ein Merkmal der Universalität dieser Prosa, dass sie alle Leser ungeachtet ihrer Bindung anspricht. Andererseits greift Olga Tokarczuk – auch wenn es sich keinesfalls um das Hauptthema ihrer Werke handelt – Themen der dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jhs. auf, die innerhalb der zeitgenössischen Literaturlandschaft in Deutschland nach dem Ende Pop-Literatur wieder an Bedeutung gewannen:

Die Erfahrung von Heimatverlust, Flucht und Vertreibung waren lange Zeit der polnischen Exilliteratur vorbehalten. Olga Tokarczuk gehört zu der Generation, für die das Thema weder ein politisches noch gesellschaftliches Tabu mehr darstellt ( http://www.mdr.de/leipzig-liest/ autoren-special/574222.html,, 10.12.2004).

Diese Tatsache bringt Tokarczuk und viele ihrer polnischen Kollegen dem deutschen Buchmarkt nahe.

 Mit- vielleicht auch hauptverantwortlich für Tokarczuks Popularität werden jedoch deren ungewöhnliche Erzählformen und der Umstand, der ‚Wirklichkeit‘ mehr Bedeutung beizumessen, sein. Nicht selten wird aus eben diesen Gründen Ur und andere Zeiten als ein Werk des ‚magischen Realismus‘ bezeichnet, der an die Texte von Márquez erinnert. Tokarczuk lehnt solche Vergleiche aber ab und erklärt:

Ich sage einfach, dass ich über Lebenserfahrungen, über psychische Erfahrungen schreibe, also über existenzielle Dinge. Dabei vertrete ich einen Grundsatz: All das, was ein Mensch für sich erfährt, das ist auch real. Wenn jemand Gespenster sieht oder Stimmen hört, dann ist das auch wirklich real. Ich kann nie die Erfahrungen eines Menschen in Frage stellen (http/ /:www.mdr.de/leipzig-liest/interview/ 572348.html, 10.12.2003).

Aber kommt solch eine Auffassung nicht eben auch im Werk von Márquez zum Vorschein? Im Grunde unterscheidet doch Tokarczuk zwischen dem Realen und dem Nicht-Realen, dem Imaginären in ihrem Werk und sieht in diesen Merkmalen sogar unterschiedliche Gründe für die Aufnahme ihrer Werke in Polen und in Deutschland:

Auch wenn Deutsche und Polen meine Bücher mögen, so gibt es doch unterschiedliche Gründe. Die Polen schätzen die Märchenhaftigkeit. Sie tolerieren eher eine phantastische Fabel. Die Deutschen hingegen mögen meine existenziellen Themen, also meine Geschichten über einfache Leute und deren Beziehung zur Welt (http/:www.mdr.de/leipzig-liest/interview/ 572348.html, 10.12.2003).

Unabhängig davon wird, ähnlich wie dem Erschaffer Macondos, auch der Kunst Tokarczuks Universalität nachgesagt. Ihre Texte werden – vor allem von der deutschen Literaturkritik – als (mittel)europäisch charakterisiert. Im Gegensatz zu Stasiuk polemisiert Tokarczuk nicht gegen diese Qualifizierung ihrer Bücher. Sie stimmt ihr vielmehr zu und platziert sich selbst in die Tradition der Werke von Bruno Schulz und Franz Kafka (http/:www.mdr.de/leipzig-liest/interview/ 572348.html, 10.12.2003) – vielleicht der ersten modernen europäischen Schriftsteller überhaupt.

Zum größten Teil stieß Ur und andere Zeiten auf gute bis sehr gute Kritiken – nicht nur in Polen, sondern auch in Deutschland. Oft nahmen sie die Form einer ausführlichen Analyse an. Als Beispiel kann die Rezension der Journalistin und Polenkennerin Helga Hirsch dienen:

Olga Tokarczuk verzichtet in ihren beiden Romanen Ur und andere Zeiten und Tag- und Nachthaus sogar fast gänzlich auf den realen Raum. Wichtig ist nicht seine Lage in Zentralpolen beziehungsweise Niederschlesien, sondern das subjektive Erleben seiner Architektur, seiner Menschen, seiner Wälder und Felder ebenso wie seiner Geister und Seelen. Bei Tokarczuk wird die magische Bedeutung des Ortes wohl am deutlichsten. Sie braucht nicht einmal das Haus zu verlassen, weil sie auf kleinstem Raum alles findet: Sehnsucht, Liebe, Hass, Verzweif­lung, Trauer, Geburt, Krankheit, Tod […] (Helga Hirsch, Polens neue Dichter. Die jungen Autoren und die Gnade der späten Geburt, in: Die Zeit vom 19.10.2000 www.zeit.de/200043_l-polenprosa.html, 24.11.2021).

Obwohl Ur und andere Zeiten zum ersten Mal im Jahr 2000 erschien, erfolgte erst 2019 eine Neuauflage, diesmal beim neu gegründeten Schweizer Kampa-Verlag und mit dem Aufkleber „Literaturnobelpreis“ versehen. Der Roman wurde sporadisch neu rezensiert – mehr im Hinblick auf den Nobelpreis als die Buchentdeckung. Dennoch erhält dieses Frühwerk Tokarczuks abermals gute Kritiken. So bestätigt zum Beispiel Jan Haag in seiner neuen Rezension dem ihm bereits seit 1996 bekannten Werk: „Das ist zeitlose Epik von dauerhaftem Rang, die wir in Deutschland ohne die NobelpreisVerleihung vermutlich übersehen hätten“ (https://litos.wordpress.com/2019/10/15/urkraft-des-erzaehlens/, 11.3.2021). Zuvor schon erschienen weitere ihrer Werke auf Deutsch: So 2000 der kleine Erzählband Der Schrank bei DVA mit sieben Texten von Olga Tokarczuk. Im Jahr darauf wurden diese bei dtv als Taschenbuch neu verlegt. Der gleichnamige Band, der in Polnisch im Eigenverlag der Autorin 1998 erschien, beinhaltet nur drei Geschichten, so dass man im Fall der deutschen Ausgabe fast von einer selbständigen Produktion sprechen kann. Ebenfalls 2001 bei DVA und 2004 bei dtv erschien ein weiterer Titel von Tokarczuk: Taghaus, Nachthaus. 2000 erschien beim DVA auch Der Schrank (Szafa, 1997 bzw. 1998), 2001 der Roman Taghaus, Nachthaus, der eine Handbuchausgabe beim dtv 2004 bekommt. Für dieses Buch erhielt Tokarczuk den Brücke Berlin Literaturpreis von 2002. 2006 erschienen dann Letzte Geschichten (DVA), der bereits erwähnte Erzählband Spiel auf vielen Trommeln (Matthes& Seitz), der in Polen den Nike-Preis erhielt, und Letze Geschichten (DVA), Anna in den Katakomben. Der Mythos der Mondgöttin Inanna wurde hingegen 2007 im Berlin Verlag und 2008 bei dtv veröffentlicht. Im Jahr 2009 erscheint, diesmal bei Schöffling& Co. ein weiteres, in der Bibliografie der Autorin sehr wichtiges und abermals mit dem NikePreis geehrtes Werk: Unrast. Ein weiteres Buch, das nicht selten auch als Krimiroman bezeichnet wird, das aber auch zugleich eine Art ökologisches Manifest der Autorin darzustellen vermag, ist Der Gesang der Fledermäuse, welches auf Polnisch einen dramatischeren Titel trägt: Prowadź swój pług przez kości umarłych (Führe deinen Pflug durch die Knochen der Toten). Auch dieser Roman bringt Tokarczuk die Nominierung für den Nike-Preis ein. In Deutschland konnte man in wenigen ausgewählten Kinos die Verfilmung des Romans in der Regie von Agnieszka Holland mit dem Titel Pokot sehen. Es ist die letzte Ausgabe eines Werkes von Olga Tokarczuk im deutschsprachigen Raum vor dem großen Jahr 2019 (https://www.deutsches-polen-institut.de/bibliothek /uebersetzungsbibliografien/, 11.3.2021).  In Polen veröffentlicht sie noch 2012 Moment niedźwiedzia. Dann folgt ein Werk mit dem Olga Tokarczuk alle überrascht, einige auch überfordert.

Die Rezeption von Die Jakobsbücher und der Literaturnobelpreis von 2018

 Parallel zu anderen Texten arbeitete Tokarczuk an ihrem umfangreichsten und vielschichtigsten Buch: Die Jakobsbücher. Sieben Jahre lang recherchiert sie in Polen und im Ausland, darunter in Deutschland, und schreibt anschließend eine europäische Epopöe. Es ist ein moderner Historienroman, der sich auf eine tatsächlich im 18. Jh. lebende Figur und religiöse Gemeinschaft bezieht und die LeserInnen auf eine lange, in vieler Hinsicht vielseitige Reise durch das alte Eurasien und die angrenzenden Regionen mit allen (gedanklichen) Unbequemlichkeiten nimmt, die für eine beschwerliche Tour typisch sind. Das Werk umfasst in der polnischen Ausgabe genau 906 Seiten. Die Seiten werden von hinten nach vorne gedruckt, der Lesefluss erfolgt jedoch wie gewohnt von links nach rechts, was eine Hommage an jüdische Bücher sein soll.

Einen historischen Roman habe sie bis dahin nicht geschrieben, betont die Autorin oft, wobei man bereits in Ur und andere Zeiten eine Vorliebe Tokarczuks für das Vergangene sehen konnte. Dieses neue Buch geht aber viel weiter zurück, bis in die 1700er Jahre. Den Rahmen der bisherigen Werke sprängt auch der Titel des Romans, der in voller Länge eine ganze Titelseite einnimmt und nur erahnen lässt, womit der Leser in den nächsten Lesewochen zu tun haben wird. Den Titel findet man in der polnischen wie auch in der deutschen Ausgabe auch direkt auf dem Buchcover:

Die Jakobsbücher ODER Eine große Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei große Religionen, die kleinen nicht mitgerechnet. Eine Reise, erzählt von den Toten und von der Autorin ergänzt mit der Methode der Konjektur, aus mancherlei Büchern geschöpft und bereichert durch die Imagination, die größte natürliche Gabe des Menschen. Den Klugen zum Gedächtnis, den Landsleuten zur Besinnung, den Laien zur erbaulichen Lehre, den Melancholikern zur Zerstreuung.

Das Buch stellt den (vorläufigen) Höhepunkt des Œuvres von Olga Tokarczuk dar. Fest steht, dass dieser historische Roman, für den man kaum vergleichbare Werke findet, trotz der Verankerung in vergangenen Jahrhunderten mit direktem Blick auf die heutige Zeit, auf die zeitgenössischen Aspekte des gesellschaftlichen und sehr stark auch des politischen Lebens interpretiert werden kann, was tatsächlich sowohl in Polen als auch im Ausland getan wird. Dies ist nicht verwunderlich, da Tokarczuk selbst auch durchaus ein politisch engagierter Mensch ist, sich an wichtigen Diskussionen der aktuellen Zeit beteiligt und von den LeserInnen gern auch so gesehen wird. Auch wenn sie es nicht wollen würde, so müsste sie sich politisch äußern – in Polen wird sie genauso bejubelt und geehrt wie auch, von einem sehr konservativen Teil der Gesellschaft und der Politik, des Verrats und der Attacken auf Polen bezichtigt.

Trotz des fast 1000-seitigen Umfangs fehlte es den Jakobsbüchern nicht an LeserInnen in Polen. Bereits 2015 erhielt die Autorin den Nike-Preis für das Werk, diesmal (abermals) als Preis der Leser. Sogar das Ministerium für Kultur und nationales Erbe (Ministerstwo Kultury i Dziedzictwa Narodowego) vergibt 2015 in der Kategorie Literatur den Hauptpreis an die Autorin. Ziemlich genau nach einem Jahr seit der Premiere des Werks in Polen im Oktober 2014 notiert der Hausverlag von Tokarczuk, Wydawnictwo Literackie, den Verkauf von über hunderttausend Exemplaren (https://tokarczuk.wydawnictwoliterackie.pl/, 16.11.2021).  In dieser Zeit und danach entstanden zahlreiche literarische Rezensionen. Die Literaturkritik, die auch in der polnischen Tagespresse erschien, weist auf den herausragenden Stellenwert des monumentalen Romans hin. Przemysław Czapliński bspw., einer der führenden polnischer Literaturwissenschaftler und -kritiker betont, dass Tokarczuk mit diesem Werk „die Sichtweise“ Polens im 18. Jhs. förmlich revolutioniert habe (https://tokarczuk.wydawnictwoliterackie.pl/, 16.11.2021). Czapliński wagt dabei einen Vergleich Tokarczuks mit dem polnischen Literaturnobelpreisträger von 1905, Henryk Sienkiewicz, was zugleich einen Vergleich der Behandlung der geschichtlichen Themen innerhalb polnischer Literatur darstellt: Sienkiewicz schreibt idealistisch, hebt die polnische Schlachta heraus, zeichnet dafür weibliche Protagonistinnen in einer untergeordneten Rolle, gibt nur einer Religion eine dominante Rolle, als gäbe es im 17. und 18. Jh. keine andere Glaubensgemeinschaften auf polnischen Gebieten. Olga Tokarczuk hingegen zeichnet mit ihrem Werk, das im 18. Jh. spielt, ein anderes, vielschichtiges Bild der Region, dass weder idealistisch noch einseitig gezeigt wird.

Als durchaus feministische Autorin – was sich im Laufe der Jahre immer stärker in ihrer Literatur präsentiert – gibt Tokarczuk in Die Jakobsbücher starken Frauen eine Stimme, sowohl den historischen Figuren, die sie mühselig in Archiven suchte und fand und denen sie mangels genauerer historischer Beschreibungen neue Gestalten gibt, wie auch den gänzlich literarischen Figuren, welchen die Autorin bedeutende Rollen zuweist, wie zum Beispiel der der Erzählerin. Diese feministische Sicht dürfte auch LeserInnen im deutschsprachigen Raum angesprochen haben.

Interessant ist der Wandel der Wahrnehmung dieses Großromans Tokarczuks in Polen: Während dieser direkt nach dem Erscheinen am 23. Oktober 2014 vorwiegend als moderner historischer Roman bezeichnet wird, werden ihm nach einem Jahr intensiver Rezeption weitere, tiefere Aussagen und eine gesellschaftsbildende Rolle zugeschrieben. Der Roman sei „eine wichtige Stimme in der Diskussion über die Gestalt von Polen und Europa der heutigen Zeit, von der gemeinsamen Geschichte und dem Identitätsgefühl“ (https://tokarczuk.wydawnictwoliterackie.pl/, 16.11.2021) Das Werk wird tatsächlich, spätestens ab der ersten Übersetzung, zum europäischen Werk. Bereits 2015, ein Jahr nach der polnischen Prämiere ist die schwedische Übersetzung der über 900 Seiten fertig. 2017 erhält Tokarczuk für ihr Buch den Internationalen Preis der Stadt Stockholm. Ein Jahr später, 2018, folgt ein sehr bedeutender Preis – wenn auch für das frühere, nun aber ins Englische übertragene Buch Bieguni (Dt. Unrast, 2009. Engl. Flights) – The Man Booker International Prize, der in vielen Ländern wahrgenommen wird. Dieser Preis ehrt als Doppelpreis jeweils die ÜbersetzerInnen ins Englische als auch die AutorInnen der Originalwerke. Im Folgejahr wird ein weiterer Titel Tokarczuks, Gesang der Fledermäuser, für den Preis nominiert. 2018 und 2019 wird Tokarczuk in den USA zum renommierten National Book Award in der Kategorie der ins Englische übertragenen Literaturen nominiert: 2018 ist sie Finalistin des Preises mit Unrast, 2019 steht sie auf der Longlist mit Gesang der Fledermäuse in der englischen Übersetzung. Auch diese beiden Auszeichnungen tragen zum vermehrten Interesse der internationalen Buchmärke und LeserInnen an der Literatur Tokarczuks und später infolgedessen an dem Monumentalwerk Die Jakobsbücher bei.

In Deutschland ist Tokarczuk seit der deutschen Übersetzung von Ur und andere Zeiten kontinuierlich präsent. Eine breite Leserschaft aber bringen ihr auch nicht deutsche und deutsch-polnische Literaturpreise – diese Ehrungen aber zeugen durchaus vom Interesse an ihren Texten auch im öffentlichen Bereich: Zu den früheren Preisen aus dem deutsch-polnischen Raum gesellen sich im Jahr 2012 der Usedomer Literaturpreis und 2015 der Internationale Brückenpreis der Grenzstädte Görlitz und Zgorzelec, den Tokarczuk für ihren Einsatz für die Verständigung zwischen den Völkern zuerkannt wird, was zeigt, dass ihre Texte auch in Deutschland nicht nur im literarischen, sondern sehr stark auch im politischen und gesellschaftlichen Kontext wahrgenommen werden.

Überzeugt von den Übersetzungsproben von Die Jakobsbücher entscheidet sich der neue Schweizer Verlag Kampa für die wirtschaftlich durchaus riskante Ausgabe des Monumentalwerks. Damals konnte man noch nicht wissen – wohl aber ahnen, was einige tatsächlich auch auszusprechen wagten –, dass Tokarczuk bald rückwirkend den Literaturnobelpreis für das Jahr 2018 erhält und das Werk zum literarischen Meilenstein der Weltliteratur wird. Zuvor lehnen die fast 1000 zu übersetzende Seiten renommierte Verlage, die Tokarczuk bereits früher verlegt haben ab. Zu unsicher scheint der Verkauf von so umfangreichem Lesestoff im Vergleich mit den Übersetzungs- und Editionskosten. Der Kampa-Verlag wagt es dennoch und kauft direkt alle Rechte für sämtliche bereits im deutschsprachigen Raum verlegten Werke Tokarczuks, um der Autorin mit allen bisherigen Werken und noch nicht im deutschsprachigen Raum verlegten Titeln eine große Reihe zu widmen. Dieses Vorhaben zeugt von der Weitsicht des Verlegers Daniel Kampa, der die Literatur Tokarczuks und ihre schriftstellerischen Qualitäten zur rechten Zeit erkannt hat. Der Plan ist mehr als aufgegangen, wobei der Verleger alles dafür tat und tut, um die Bücher Tokarczuks in den Medien und bei Autorentreffen zu präsentieren. Bereits lange vor dem Erscheinen der Jakobsbücher ist es auch dank der ÜbersetzerInnen möglich, das Werk im Rahmen von einigen Autorentreffen Tokarczuks mit dem deutschen Publikum in Auszügen vorzustellen. Ein solches Treffen mit LeserInnen fand zum Beispiel schon im November 2017 auf dem Isenburger Schloss statt, organisiert und moderiert von Manfred Mack vom Deutschen Polen Institut in Offenbach, dem realen Schauplatz der letzten Episoden aus dem Roman. Bereits 2016 sendete Deutschlandfunk Kultur einen Beitrag von Sabine Adler, die Tokarczuk vor allem zu Jakobsbüchern interviewt. Im November 2018 berichtet die Neue Zürcher Zeitung über die Verleihung des mit 50.000 Franken dotierten Jan Michalski-Literaturpreises für Die Jakobsbücher in der französischen Übersetzung.

Die Information über die Nobelpreisverleihung für das zuvor ausgesetzte Jahr 2018 an Olga Tokarczuk hat die Autorin am Anfang ihrer Lesereise durch Deutschland erreicht. Es war nach zwei zuvor wegen der Preisverleihungen abgesagten Lesereisen ein durchaus gut gewählter Zeitpunkt. Der Kampa-Verlag hat diese Reise mit der deutschen Prämiere der Jakobsbücher verbunden, ohne zu wissen, dass diese aufgrund der Nobelpreisverleihung eine breitere Dimension annehmen wird. Am ersten Tag der Reise gastiert Tokarczuk in Potsdam. Die lokale Presse lädt kurz davor zu der Veranstaltung und lobt Die Jakobsbücher als ein Werk, „das viele Deutungsmöglichkeiten eröffnet und weit mehr ist, als ein historischer Roman“. Die Autorin schreibe die Geschichte Polens neu, so Magdalena Schmieding (Magdalena Schmieding, Autorin Olga Tokarczuk zu Gast in Potsdam, in: Potsdamer Neueste Nachrichten vom 07.10.2019)

Am 9. Oktober 2019 kommen, wie höchstwahrscheinlich nicht anders zu erwarten war, lediglich 29 BesucherInnen zum Treffen mit Olga Tokarczuk. Es wird die letzte so überschaubare Veranstaltung mit der Autorin sein. Hätten die Potsdamer die damals noch aus Marketinggründen so formulierte Betreffzeile („Literaturnobelpreis für Olga Tokarczuk?“) der Pressemitteilung des Kampa-Verlags zum Beginn der Lesereise Tokarczuks ernst genommen, so wären sie zahlreicher erschienen. Tatsächlich sahen einige internationale Medien, aber auch Veranstalter der Autorentreffen und WissenschaftlerInnen, die sich bereits länger mit dem Oeuvre von Tokarczuk befasst hatten, in der Autorin aus Polen die beste Kandidatin für den Literaturnobelpreis. In der deutschen Ausgabe der Nobelpreisrede Tokarczuks Der liebevolle Erzähler (Czuły narrator) von 2020 wird die Redaktion vom Kampa-Verlag persönlich und zeichnet die Chronik dieser ungewöhnlichen Lesereise und der Nobelpreisverleihung nach (Kampa-Verlag 2020).

Die Neue Zürcher Zeitung betitelt ihren Artikel vom 10. Oktober 2019: „Eine neue Sprache für den polnischen Roman“ (Ulrich Schmidt, Eine neue Sprache für den polnischen Roman – Olga Tokarczuk erhält rückwirkend den Literaturnobelpreis 2018, in: Neue Zürcher Zeitung vom 10.10.2019) – diese neue Sprache jedoch kennzeichnet die polnische Literatur der Nachwendezeit im Allgemeinen, Tokarczuk ist lediglich die prominenteste Vertreterin der AutorInnen der Zeit nach 1989. Es wundert auch nicht, wenn Marie Schmidt in ihrem Artikel feststellt: „Polen ist eine literarische Supermacht“ und zählt die Vorgänger Tokarczuks, die ebenfalls mit dem Literaturnobelpreis bedacht wurden auf (Ulrich Schmidt, Eine neue Sprache für den polnischen Roman – Olga Tokarczuk erhält rückwirkend den Literaturnobelpreis 2018, in: Neue Zürcher Zeitung vom 10.10.2019).  Schmidt hebt hier besonders die feministischen Züge Tokarczuks gesamten Werks hervor:

Es transportiert auch eine sehr eigenwillige, neue weibliche Sensibilität für Geschichte, Politik und Umwelt. […] Damit stellt sie sich in die lange Reihe von mutigen osteuropäischen Autorinnen, die alte Deutungsschemata in ihren konservativ geprägten Nationalkulturen aufbrechen. […] Sie nimmt eine dezidiert weibliche Position ein und stimmt sich gegen die Konventionen des männlichen Sprechens (Ulrich Schmidt, Eine neue Sprache für den polnischen Roman – Olga Tokarczuk erhält rückwirkend den Literaturnobelpreis 2018, in: Neue Zürcher Zeitung vom 10.10.2019)

Fabian Wolff von der SZ hebt hingegen besonders hervor, dass Die Jakobsbücher vorwiegend die Geschichte der polnischen Juden thematisiere und mit ihren Protagonisten unter anderem die „Abgründe und Höhen, absurde Schönheit jüdischer Mystik“ (Fabian Wolff, Das Erbe der Frankisten. „Die Jakobsbücher“, der neue Roman der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk; eine Buchbesprechung, in: Süddeutsche Zeitung vom 15.10.2019) zeige. Marta Kijowska, eine Rezensentin, die schon seit den ersten Übersetzungen Tokarczuks ins Deutsche diese begleitet hat, bleibt auch in ihrem Text in der FAZ vom 30.10.2019 bei der Bezeichnung deren Schreibens als „magischen Realismus“ (Marta Kijowska, Der falsche Messias, eine Rezension, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30./31.10.2019 (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/die-jakobsbuecher-der-nobelpreistraegerin, 04.11.2019).  Tokarczuk selbst beschreibt ihr bisheriges Opus Magnum, das in der deutschen Ausgabe 1178 Seiten umfasst, abermals als historischen Roman. Ganz sicher ist sie sich jedoch nicht, was keinen Mangel an literaturwissenschaftlichem Wissen offenlegt, sondern ihre Auffassung von literarischen Gattungen preisgibt, die man auch in ihren theoretischen Schriften entdeckt. Sie lässt sich als Autorin nicht in gattungsspezifische, bereits definierte Konventionen der Literaturwissenschaft einschließen und bleibt in der Hinsicht ihrem Verständnis der Literatur treu.

Derweil versuchen sich die RezensentInnen an eigenen Kontextualisierungen. So schreibt Fabian Wollf in seiner Rezension der Jakobsbücher: „Tokarczuks Roman scheint zum eher unangenehmen Genre des postmodernen epischen Schelmenromans zu gehören“ (Fabian Wolff, Das Erbe der Frankisten. „Die Jakobsbücher“, der neue Roman der Nobelpreisträge in Olga Tokarczuk; eine Buchbesprechung, in: Süddeutsche Zeitung vom 15.10.2019).  Kijowska sieht in Jakobsbüchern geradezu „ein enzyklopädisches Werk“ (Marta Kijowska, Der falsche Messias, eine Rezension, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30./31.10.2019 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/, 4.11.2019).  Schmidt unterstützt dies, indem sie von einer neunen „Art des polyfonen Romans“ spricht, „wie ihn der Literaturwissenschaftler Machail Bachtin für die literarische Moderne gefordert hat“. Tokarczuks „Werk zeigt in exemplarischer Weise, welch innovative Formen künstlerisches Erzählen im 20. Jahrhundert annehmen kann. Damit setzt sie nicht nur neue Maßstäbe für die polnische Literatur, sondern auch für die Weltliteratur“ (Ulrich Schmidt, Eine neue Sprache für den polnischen Roman – Olga Tokarczuk erhält rückwirkend den Literaturnobelpreis 2018, in: Neue Zürcher Zeitung vom 10.10.2019.) – dies gilt selbstverständlich auch für das 21. Jahrhundert.

Tokarczuks Werke werden ununterbrochen, seit Ur und andere Zeiten, zur Weltliteratur gezählt, der Nobelpreis hat dies nur bestätigt. Wolff vergleicht Die Jakobsbücher mit vom Umfang her weniger voluminösen Romanen von Isaac Bashevis Singer, der übrigens auch Literaturnobelpreisträger und ein aus Polen stammender Autor jüdischer Herkunft war (Fabian Wolff, Das Erbe der Frankisten. „Die Jakobsbücher“, der neue Roman der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk; eine Buchbesprechung, in: Süddeutsche Zeitung vom 15.10.2019). Anders als in Polen finden sich nur sehr selten kritische Stimmen in den deutschsprachigen Medien. So bemängelt Marta Kijowska im Hinblick auf die Rezeption Tokarczuks im deutschen Raum: „Von der Kritik wird sie meistens wahrgenommen und nicht selten mit Lob bedacht, die Leser aber bleiben oftmals eher zurückhaltend“ (Marta Kijowska, Der falsche Messias, eine Rezension, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30./31.10.2019 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/, 04.11.2019).

Der Schweizer Kampa Verlag hat die Neuausgabe aller bisher auf Deutsch erschienenen Titel noch vor dem Nobelpreis geplant. Auch Übersetzungen noch nicht übersetzter Bücher sind vorgesehen. So erhalten die deutschsprachigen LeserInnen und SammlerInnen der editorisch einheitlichen und – im Sinne Tokarczuks – umweltfreundlich gestalteten Reihe in den Jahren 2019, 2020 und Anfang 2021 in recht kurzen Abständen mehrere weitere Bücher – nun alle mit dem Aufkleber „Literaturnobelpreis“ versehen: Ur und andere Zeiten, Gesang der Fledermäuse, Taghaus Nahchthaus, Der Schrank, das Kinderbuch Die verlorene Seele (poln. Zgubiona dusza), Die grünen Kinder (poln. Opowiadania bizarne) usw. Für 2021 und 2022 sind weitere Ausgaben geplant. Kampa verlegt noch Ende 2019 in dieser Reihe ein zusätzliches, separates Werk Tokarczuks: die Übersetzung der Nobelpreisrede Der liebevolle Erzähler. Dieser Vortrag ist in der polnischen Version erst 2020 in dem Sammelband Czuły Narrator bei Wydawnictwo Literackie in Wrocław (Breslau) erschienen.

Die LeserInnen Tokarczuks, die sie für sich neu oder erst entdeckt haben, können über mangelnden Lesestoff nicht klagen, doch nicht alle der neuen Ausgaben der KampaReihe erhalten die ihnen zustehende Aufmerksamkeit und Würdigung. Die bekannten deutschsprachigen LiteraturkritikerInnen nehmen die Titel Tokarczuks, auch nach dem Nobelpreis, kaum in ihr Rezensionsrepertoire auf. Bei den LeserInnen scheint die polnische Autorin dennoch gut anzukommen, es fehlt allerdings eine weitgehend junge Leserschaft, was viele der AutorInnen aus den osteuropäischen Ländern betrifft. Ob also der deutschsprachige Buchmarkt Tokarczuk nach dem Literaturnobelpreis ausreichend aufnimmt, werden die kommenden zwei, drei Jahre zeigen. Momentan ist diese Beurteilung wegen der Verlangsamungen der Prozesse im Literaturbetrieb aufgrund der Corona-Pandemie kaum möglich. Allein die Rezensionen, in denen vorwiegend Die Jakobsbücher besprochen werden, reichen hierfür nicht aus.

 

Literatur:

Biernacki, Marek; Dąbrowski Mirosław: Leksykon powieści polskich XX wieku, Bielsko-Biala 2002.

Deutsches Polen-Institut (Hg.): Ansichten. Jahrbuch des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt, Bd. 11, Wiesbaden 2000.

Górecka-Borytyńska, Aneta: Geschichtenerzählen ist meine Stärke, in: Arbeitsgruppe Literatur polska2000: Olga Tokarczuk. Autorenheft für die Frankfurter Buchmesse, Kraków 2000.

Grzela, Remigiusz: Dresy Wokulskiego, in: Kultura (1999), Nr. 7, S. 87–93.

Interview der Verfasserin mit Albrecht Lempp, Leiter der Arbeitsgruppe Literatur polska2000, Aufzeichnung vom Sommer 2001, in Büro der Arbeitsgruppe Literatur, Willa Deciusa, Krakau 2001.

Kampa-Verlag: Literaturnobelpreis für Olga Tokarczuk. Eine kleine Chronologie. Ein Nachwort. In: Tokarczuk, Olga: Der liebevolle Erzähler, Zürich 2020.

Nasiłowska, Anna: Ein Rucksack voller Bücher. Verlagswesen und Literatur in Polen zehn Jahre nach der Wende, in: Deutsches Polen-Institut (Hrsg.): Ansichten. Jahrbuch des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt, Bd. 11, Wiesbaden 2000, S. 115–126.

Piaszczyński, Piotr; Załuski, Krzysztof Maria: Napisane w Niemczech. Geschrieben in Deutschland; b1/IGNIS, Jestetten – Köln 2000.

Schlott, Wolfgang: Historisches Trauma und Spiel mit aufgelösten Tabus. Einige Anmerkungen zur Wahrnehmung und Rezeption der polnischen Literatur nach 1989 in der deutschsprachigen Öffentlichkeit, in: Deutsches Polen-Institut (Hg.): Ansichten. Jahrbuch des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt, Bd. 11, Wiesbaden 2000, S. 129–137.

Stelmaszyk, Natasza: Polonica nova. Die polnische Literatur der Nachwendezeit und ihre Situation im deutschsprachigen Raum seit 1989. Siegen 2008 ( https://dspace.ub.uni-siegen.de/handle/ubsi/498), 24.11.2021.

Trepte, Hans-Christian: Zur Narration nationaler Vergangenheit in der polnischen Literatur (http://www.polen-news.de/puw/puw62_25.html), 24.11.2021.

 

 

Stelmaszyk, Natasza, Dr., verfasste den Beitrag „Die Rezeption polnischer Literatur der Nachwendezeit in Deutschland am Beispiel der Werke von Olga Tokarczuk“. Sie ist als freiberufliche Sprachtrainerin für DaF/DaZ und Polnisch sowie Kulturvermittlerin tätig. Sie promovierte zur polnischen Literatur der Nachwendezeit und ihrer Rezeption im deutschsprachigen Raum seit 1989.

 

 

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