Sylwia Dec-Pustelnik
Willy Brandts Kniefall vor dem Ehrenmal für die Helden des Warschauer Ghettos als Beitrag zur deutsch-polnischen Versöhnung
Das Foto, auf dem Willy Brandt im Dezember 1970 vor dem Warschauer Denkmal für die Helden des Ghettos kniet, war und ist für viele Menschen auf der ganzen Welt das wichtigste Bild der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte. Die Geste des deutschen Bundeskanzlers fand sowohl in Westdeutschland als auch im (westlichen) Ausland große Beachtung. Brand wurde für die Ostpolitik der sozialliberalen Regierung – zu deren wichtigen Symbol der Kniefall wurde – vom amerikanischen Magazin Time 1970 zum Mann des Jahres gewählt und im Jahr darauf mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Willy Brandts Geste wird heute, neben dem Brief der polnischen Bischöfe (→ Brief der Bischöfe) von 1965, zu den bedeutendsten Ereignissen der sogenannten Versöhnungspolitik zwischen Polen und Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg gezählt. Und ähnlich wie bei der Botschaft der Bischöfe stieß auch die Geste des deutschen Kanzlers nicht von Anfang an auf allgemeine Zustimmung und Verständnis – weder in Deutschland noch in Polen.
Erstmals in der Geschichte Westdeutschlands stand 1969 ein Vertreter der Sozialdemokraten (SPD) an der Spitze der Bundesregierung. Die Sozialdemokraten, die zusammen mit den Liberalen (FDP) eine Regierungskoalition bildeten, sahen in der Normalisierung der Beziehungen zu den Ostblockstaaten, insbesondere zur UdSSR, auch eine Chance für eine innerdeutsche Annäherung. Bis dahin hatte Bonn die DDR als einen von zwei deutschen Staaten betrachtet, ohne sie jedoch völkerrechtlich anzuerkennen. Polen gegenüber erklärte man sich hingegen bereit, eine Grenzvereinbarung (→ Grenze) abzuschließen, betonte allerdings, dass diese Frage durch einen Friedensvertrag (→ Vertrag) endgültig geregelt werden müsse. Nachdem Brandt am 12. August 1970 in Moskau das westdeutsch-sowjetische Abkommen über den Gewaltverzicht in den gegenseitigen Beziehungen und die Unverletzlichkeit der Grenzen unterzeichnet hatte, kam Polen an die Reihe. Im Dezember reiste Brandt nach Warschau, um einen Grundlagenvertrag zu unterzeichnen, in dem sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtete, „jetzt und in der Zukunft die Unverletzlichkeit der Grenzen an Oder und Lausitzer Neiße entlang“ anzuerkennen. Wie schwierig dieser Besuch war, nicht nur wegen der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und des Eisernen Vorhangs, der die beiden Staaten trennte, sondern auch wegen der kulturellen Unterschiede, zeigt eine kuriose Situation, die sich zu Beginn des Besuchs ereignete. Willy Brandt, eingedenk seines Besuchs in Moskau im August, erkundigte sich auf der Fahrt vom Flughafen zum Wilanów-Palast bei Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz (um die peinliche Stille zu unterbrechen) nach der Ernte. Cyrankiewicz, völlig verdutzt, „nach der Ernte im Dezember“ gefragt zu werden (Gazeta Wyborcza vom 9.12.2008), nahm den Gesprächsfaden nicht auf. Die Situation wurde kurz darauf vom Dolmetscher des polnischen Ministerpräsidenten Mieczysław Tomala aufgeklärt, der sich daran erinnerte, dass Brandt im August in Moskau bei der Begrüßung diese Frage gestellt worden war und sie vermutlich daher für so etwas wie eine Höflichkeitsfrage im sozialistischen Ausland hielt.
Die Spannung war während des gesamten Besuchs der westdeutschen Delegation spürbar. Brandt selbst schrieb in seinen Erinnerungen, dass die Wunden, die die Deutschen den Polen zugefügt haben, zu tief seien, in keinem anderen Land habe die Nazi-Barbarei so gewütet wie auf polnischem Boden, wo sich die Todesfabriken des Holocaust befanden. In Warschau hätten zunächst die Juden im Ghetto den tödlichen Kampf aufgenommen und anschließend die Soldaten und Offiziere der polnischen Untergrundarmee; die Polen hätten insgesamt sechs Millionen Opfer zu beklagen gehabt (Brandt 2013, S. 159). In Deutschland dagegen erinnerte man sich an die brutalen Deportationen und → Vertreibungen der deutschen Bevölkerung nach dem Krieg. Die Unterzeichnung des Vertrages war deshalb auch für viele BefürworterInnen der Brandt’schen Ostpolitik ein schwerer Moment, da dadurch der Grenzverlauf endgültig akzeptiert und der Verlust der Heimat besiegelt wurde.
Trotz all dieser Widrigkeiten wurde am 7. Dezember 1970, zwanzig Jahre nach der Anerkennung der polnischen Westgrenze durch die DDR, der Warschauer Vertrag unterzeichnet, in dem ebendiese Grenze auch von der Bundesrepublik Deutschland bestätigt wurde. Nach der Vertragsunterzeichnung begaben sich Józef Cyrankiewicz und Willy Brandt zum Grabmal des Unbekannten Soldaten, um dort, gemäß den diplomatischen Gepflogenheiten, Kränze niederzulegen. Am Denkmal für die Helden des Ghettos, das an die 500.000 im Ghetto ermordeten Jüdinnen und Juden erinnert, wich Willy Brand vom Protokoll ab. Das Foto des am Warschauer Denkmal knienden Bundeskanzlers ging um die ganze Welt. Neben dem Bild von Adenauer und de Gaulle, die in der Kathedrale von Reims zusammen einer Messe beiwohnen, zeigte der kniende Brandt, nach Ansicht vieler internationaler BeobachterInnen, ein Deutschland, wie man es bis dahin noch nicht kannte. Über den deutschen Bundeskanzler war zu lesen, er sei ein wahrer Staatsmann, der den Mut habe, moralische Maßstäbe zu setzen, und bereit sei, die Konsequenzen der deutschen Niederlage, den Verlust von Gebieten und die Verantwortung für die deutsche Schuld uneingeschränkt zu akzeptieren. Diese Geste trug dazu bei, Brandt ein positives Image in Westeuropa zu verschaffen. In England, wo Brandt ohnehin schon eine gute Presse hatte, wurde er damals nahezu abgöttisch verehrt. Nach Ansicht mancher war Brandt an die Stelle Kennedys gerückt, als der lang ersehnte, dringend gebrauchte Held (Merseburger 2011, S. 463 ff.).
Auch in Westdeutschland löste der Kniefall hitzige Diskussionen aus, was sich auch im damaligen Pressediskurs widerspiegelte. So schrieb u. a. die FAZ, dass der Anblick des knienden Brandt alle bewegt habe und nicht wenige Anwesende blass vor Rührung gewesen seien (FAZ vom 8.12.1970). Selbst viele derjenigen, die Brandt auf seinem Polenbesuch begleiteten (darunter führende westdeutsche Schriftsteller, zu denen auch Günter Grass und Siegfried Lenz gehörten, die aus Gebieten stammten, die nach 1945 an Polen angegliedert wurden), die Geste des Kanzlers aber nicht gesehen hatten, wollten zunächst nicht glauben, dass dies wirklich geschehen war. Denn niemand von Brandts MitarbeiterInnen war im Voraus über seine Absichten informiert gewesen. Der Kanzler hatte diese Geste nicht einmal mit Egon Bahr abgesprochen, der gemeinhin als Alter Ego Brandts galt und für gewöhnlich in alles eingeweiht war. Die engsten MitarbeiterInnen des Bundeskanzlers waren genauso überrascht wie die ReporterInnen und FotojournalistInnen, die das Geschehnis aus nächster Nähe beobachteten. Brandt selbst schrieb in seinen Erinnerungen: „Man erwartete ‚nichts Neues‘“ (Brandt 2013, S. 160). Brandts Kniefall wurde einerseits als Ausdruck der Reue und Bekenntnis der Schuld (Der Spiegel vom 13.12.1970) sowie andererseits als Bitte um Vergebung interpretiert. Brandt selbst sagte in Warschau: „Ich wollte im Namen unseres Volkes Abbitte leisten für ein millionenfaches Verbrechen, das im missbrauchten deutschen Namen verübt wurde“ (Merseburger 2011, S. 673).
Das Bild vom knienden Brandt war im westdeutschen Fernsehen und in fast allen westdeutschen Zeitungen zu sehen. Kaum ein Pressetitel, der das berühmte Foto damals nicht publizierte. Die antifaschistische Vergangenheit Brandts, der sich während des Zweiten Weltkriegs in Norwegen in der Emigration aufhielt und sich dort u. a. für die deutsche Widerstandsbewegung engagierte, sowie die Tatsache, dass er nicht gläubig war, erhitzte zusätzlich die westdeutsche Diskussion, die der Kniefall des Kanzlers ausgelöst hatte. Da Brandt weder zu den Tätern noch zu den Mitschuldigen der NS-Verbrechen gehörte, wurden sogleich Stimmen laut, er hätte dies gar nicht tun müssen.
Die westdeutsche Gesellschaft war in ihrem Urteil über Brandts Geste gespalten. Mancher war sich unsicher, ob die Geste nicht die Würde des Kanzlers verletzte oder ob das Andenken an die Opfer ein Niederknien erforderte. Dies spiegelte sich sowohl in der westdeutschen Diskussion über die deutsche Schuld an den Kriegsverbrechen als auch über den Verlauf der deutschen Ostgrenze nach 1945 wider. Eine Spiegel-Umfrage ergab, dass nur 41 % der Befragten die Kanzler-Geste für angemessen hielten, während 48 % sie als übertrieben erachteten – wobei in der Kriegsgeneration, also unter den 40- bis 60-Jährigen, der Anteil der Ablehnung mit 54 % noch höher lag (Kniefall angemessen oder übertrieben?, in: Der Spiegel vom 13.12.1970). Die Gegner von Brandts Geste wandten ein, „ein deutscher Bundeskanzler kniet nicht, schon gar nicht in Polen“ (Vgl. Adam Krzemiński, Jak przepraszają narody [Wie verzeihen die Völker], in: Polityka vom 5.8.1989), [d]ann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien – weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können“ (Ein Stück Heimkehr, in: Der Spiegel vom 13.12.1970).
Die Akzeptanz und das Verständnis dessen, was Brandt in Warschau tat, hing vor allem vom Alter der Befragten ab. Während die ältere Generation mehrheitlich ein ambivalentes oder negatives Verhältnis zu der von Brandt verfolgten Politik hatte, war seine Geste für die jüngeren Westdeutschen ein Symbol der Moral in der Politik. Doch es gab auch unter der älteren westdeutschen Bevölkerung AnhängerInnen des Kanzlers. Brandts Geste wurde von vielen Katholiken unterstützt, die sich bisher eher unwillig für die Versöhnung mit Polen eingesetzt hatten. Für viele war es ein schwieriger und schmerzhafter Besuch, der ihnen jedoch als unvermeidlich erschien, wollten die Deutschen Verantwortung für die Vergangenheit und für das, was im Namen Deutschlands geschehen war, übernehmen. Viele interpretierten Brandts Geste auf diese Weise.
Die Kanzlergeste stieß, wie es scheint, vor allem deswegen auf Unverständnis, weil das Wissen über die deutschen Verbrechen in Polen während des Zweiten Weltkriegs verschwindend gering war. Zweifel weckte bei vielen auch die Frage, ob jemand Brandt zu dieser Geste geraten hatte oder ob sie spontan, einem plötzlichen Impuls folgend, geschehen war. Brandt selbst erklärte in seinen Erinnerungen, dass er nichts geplant hatte, jedoch wusste, dass er auf irgendeine Weise die Besonderheit des Gedenkens am Ghetto-Mahnmal zum Ausdruck bringen musste, weshalb er schrieb: „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt“ (Brandt 2013, S. 160). Mit der Zeit wurde Brandts Geste in (West-) Deutschland immer populärer. Neuere Umfragen zeigen, dass der kniende Willy Brandt in Warschau das Bild der Nachkriegsgeschichte ist, das den Deutschen am stärksten im Gedächtnis haftet (Vgl. Adam Krzemiński, Niemiecka pamięć. Rozmowa z Johannesem Rauem w przeddzień 60. rocznicy wybuchu II wojny światowej [Das deutsche Gedächtnis. Gespräch mit Johannes Rau am Vorabend des 60. Jahrestages des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs], in: Polityka vom 4.9.1999).
Während das Verhalten Brandts seine Landsleute überrascht haben mag, war für die Polen ein in Warschau kniender deutscher Kanzler damals im Grunde undenkbar (auch wenn viele seit dem Brief der Bischöfe und der zurückhaltenden Reaktion der deutschen Amtsbrüder auf eine bedeutungsvollere Geste der deutschen Seite hofften). Derweil in der BRD ein regelrechter Sturm entbrannte, schwieg man in Polen. Keine Zeitung veröffentlichte das Bild des knienden Kanzlers (einzige Ausnahme war die auf Hebräisch erscheinende Zeitung Folkssztyme), und in keinem der Presseberichte vom deutschen Besuch wurde der Kniefall explizit erwähnt, und selbst wenn von ihm die Rede war, dann nur in dürren Worten. Statt eines Fotos, das den deutschen Gast kniend zeigte, war in den polnischen Zeitungen eine gemeinsame Aufnahme von Willy Brandt und Władysław Gomułka zu sehen oder ein Bild vom Grabmal des Unbekannten Soldaten, wo der Kanzler ebenfalls einen Kranz niederlegte. Bis 1989, als das Bild vom knienden Brandt erstmals in Polen publiziert wurde, war in den Medien nur eine retuschierte Kopie im Umlauf, die die Gestalt des Kanzlers nicht vollständig abbildete. Aus der Fernsehchronik wiederum wurde Brandts Geste ganz herausgeschnitten, stattdessen benutzte man Bilder, die suggerierten, Brandt sei vor einem Soldaten der Ehrenkompanie auf die Knie gesunken. Nach Ansicht mancher Publizisten durfte das Bild des knienden Kanzlers damals nicht in der Presse erscheinen, da „diese christliche Geste der Demut für die Regisseure staatlicher Feierlichkeiten inakzeptabel war und zudem zu sehr an die große Diskussion über den berühmten Satz aus dem Brief der Bischöfe erinnerte“ (Adam Krzemiński, Jak przepraszają narody, in: Polityka vom 5.8.1989). Für die Rezeption des Kniefalls war natürlich auch die Zugehörigkeit Polens zum Ostblock von Bedeutung. Für die ostdeutsch-polnische Zusammenarbeit war der Anblick des knienden Brandt schlichtweg „unbequem“. Denn der kniende Kanzler ließ die Dauerhaftigkeit der Versöhnung mit der DDR in einem fraglichen Licht erscheinen, da man sich auf ostdeutscher Seite nie zu einer ähnlichen Geste durchgerungen hatte.
Ein weiteres „Problem“, das die Rezeption des Kniefalls in Polen zusätzlich verkomplizierte (woran sich bis heute nichts geändert zu haben scheint), war der Ort, an dem diese Geste stattgefunden hatte. Nicht wenige behaupteten, die Erklärung bezöge sich ausschließlich auf das jüdische Volk, denn hätte Brandt auch der ermordeten Polen gedenken wollen, er hätte dies an einem anderen Denkmal des Unabhängigkeitskampfes tun müssen. Auch Brandt bemerkte die Verlegenheit seiner polnischen GastgeberInnen, die nicht auf seine Geste reagierten, sondern bloß fragten, warum er nicht vor dem Grabmal des Unbekannten Soldaten niedergekniet sei. Andere Stimmen wiederum vertraten die Ansicht, Brandt habe ganz bewusst am Ehrenmal für die Helden des Warschauer Ghettos und nicht woanders gekniet, weil ihm daran lag, einen Ort auszuwählen, der frei von ideologischen Assoziationen war. Die Wahl des Ghetto-Ehrenmals brachte, insbesondere nach den Ereignissen vom März 1968, die polnische Regierungspartei in Verlegenheit und sorgte für Konsternation. Die immer noch lebendige Erinnerung an die März- Unruhen versetzte die Machthaber (die nicht bereit waren, ihre Schuld einzugestehen) in eine unangenehme Lage. Nicht alle stimmten jedoch der Deutung zu, dass Brandts Geste lediglich an die Jüdinnen und Juden gerichtet war, und forderten dazu auf, den Kniefall nicht als Geste der Versöhnung, sondern der Sühne zu betrachten. Eine solche Interpretation trug Jahre später auch Bundeskanzler Gerhard Schröder im polnischen Sejm vor, der an die Geste als ein Symbol der Demut gegenüber allen Opfern des NS-Terrors in Polen erinnerte (Adam Krzemiński, Obietnica Schrödera [Schröders Versprechen], in: Polityka vom 16.12.2000).
Tatsache war jedoch, dass die polnischen Offiziellen sich den ganzen Tag über so benahmen, als wäre nichts passiert, und sich in keiner Weise zu Brandts Geste äußerten. Erst am nächsten Tag nahm Ministerpräsident Cyrankiewicz Brandt unter den Arm und sagte ihm, dass viele die Geste persönlich sehr berührt habe. Das Ausbleiben einer offiziellen Reaktion bedeutete jedoch nicht, dass der Kniefall gar nicht kommentiert wurde. Mieczysław Rakowski schrieb: „Am lebhaftesten wurde Brandts Kniefall am Ehrenmal der Helden des Ghettos kommentiert. Ich war dort, und tatsächlich geschah etwas Großes, Historisches. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Als ich mit Nannen und Klaus von Bismarck vom Denkmal zurückkehrte, konnte ich kein Wort herausbringen. Brandt überrascht, verlangt einem Respekt und Bewunderung ab“ (Rakowski 2001, S. 269).
Zwar wurde das Foto vom knienden Brandt in Polen erst 1989 veröffentlicht, es gab jedoch bereits im Dezember 1970 in der polnischen Presse vage Andeutungen auf den Kniefall. So konnte man beispielsweise lesen, dass Brandt während des gesamtes Besuches unter der Last der Erinnerung gestanden habe, was ihm vor allem bei den Kranzniederlegungen bewusst geworden sei. Oder an anderer Stelle, dass Brandts Verhalten auf besondere Weise bewiesen habe, dass der moralische Faktor in seinem Handeln eine ungeheure Rolle spiele (Vgl. Nietypowa droga [Ein ungewöhnlicher Weg], in: Polityka vom 12.12.1970), Vgl. Nietypowa droga [Ein ungewöhnlicher Weg], in: Polityka vom 12.12.1970. was sich am Grabmal des Unbekannten Soldaten und am Ghetto-Ehrenmal bestätigt habe. Allerdings fehlte eine genaue Beschreibung des Geschehens am Denkmal. Einerseits wurde gewürdigt, dass Brandt, wie es hieß, früher als andere verstanden habe, dass es nur einen Weg gibt, das Vertrauen der Polen zu gewinnen, nämlich sich mit dem Urteil der Geschichte abzufinden, 17 Ebd. andererseits betonte man ausdrücklich, dass vor allem die Kontakte zwischen Polen und der DDR die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen beeinflussen. Im Laufe der Zeit hoben jedoch die Kommentare immer unverhüllter die historische Tragweite des Kniefalls hervor – nicht nur für die Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, sondern auch für die Geschichte Europas. Man bezeichnete die Kanzler-Geste als ein Symbol der Sühne für das gesamte deutsche Volk, die nicht nur in die Geschichte eingehen, sondern diese auch mitprägen werde (Andrzej Bardecki, Spotkania w NRF [Begegnungen in der BRD], in: Tygodnik Powszechny vom 3.1.1971). Brandt wurde nach und nach zu einer Persönlichkeit aufgebaut, der es gelungen war, die moralische Glaubwürdigkeit der Deutschen wiederherzustellen, was fünf Jahre zuvor niemand für möglich gehalten hätte. Mit der Zeit gewann Brandts Geste auch in der BRD an Popularität. Die Fotografie vom knienden Kanzler ist vermutlich das berühmteste Bild der europäischen Nachkriegsgeschichte und darf in keiner Darstellung der deutschen Geschichte fehlen (Ash 1996, S. 49). Brandts Geste wurde zu einem Symbol für das Bekenntnis der Deutschen zu ihrer historischen Verantwortung, und er selbst wurde als Person wahrgenommen, die maßgeblich dazu beigetragen hatte, das Bild der Deutschen in der Welt zum Positiven hin zu verändern. Der Kniefall leitete diesen Wandel ein. Es gab aber auch Stimmen, die Brandts Geste als Reaktion auf den polnischen Bischofsbrief deuteten, als eine Art Ergänzung zu der zurückhaltenden Reaktion der deutschen Bischöfe, weil Brandt verstanden hatte, dass politische Verständigung auf Versöhnung gründen müsse (Theo Mechtenberg, 20 Jahre deutsch-polnischer Nachbarschaftsvertrag. Ein Rückblick auf zwei Jahrzehnte deutsch-polnische Beziehungen, in: Zbliżenia interkulturowe Polska-Niemcy-Europa, Nr. 9 (2011), S. 73). Willy Brandts Geste wurde mit der Zeit – obwohl sie in der BRD im Dezember 1970 zunächst stürmische Reaktionen ausgelöst hatte – zu einem Symbol der deutschen Außenpolitik und zum Eingeständnis der Schuld, die das heutige Deutschland vom NS-Staat geerbt hat.
Brandts Kniefall dient, ähnlich wie die Botschaft der Bischöfe, als ein Beispiel für einen auf christlichen Grundsätzen fußenden Akt der Versöhnung, auf den sich nachfolgende Generationen beziehen. Die Kategorien von Schuld und Vergebung waren bereits zu diesem Zeitpunkt feste Elemente des politischen Diskurses. Eine Zäsur in der Art und Weise, wie sie erinnert werden, vollzog sich 1989, als sich ebendiese Ereignisse, angesichts der Transformation in beiden Staaten, als wichtige Bestandteile des aktualisierten Nachbarschaftsgedächtnisses erwiesen. Schon damals galt Willy Brandt in Polen ganz offiziell (das Bild des knienden Kanzlers wurde zu dieser Zeit erstmals unzensiert veröffentlicht) als jener Politiker, der den Dialog mit Polen begonnen hatte. Die Geste am Ehrenmal für die Helden des Ghettos hatte – neben der Ostpolitik – entscheidenden Einfluss auf das spätere Urteil über Willy Brandt und die Deutschen. Die deutsch-polnische Versöhnung funktioniert jedoch eigenständig weder im kulturellen Gedächtnis der Polen noch der Deutschen (obwohl für die Deutschen der kniende Brandt eine der wichtigsten politischen Ikonen des 20. Jhs. ist), von einem Allgemeinwissen über die grundlegenden Ereignisse des Versöhnungsprozesses kann in beiden Gesellschaften keine Rede sein. Er nimmt jedoch einen prominenten Platz im deutsch-polnischen Dialog über die jüngste Geschichte ein und prägt indirekt die heutigen Beziehungen zwischen den beiden Staaten.
Aus dem Polnischen von Andreas Volk
Literatur:
Ash, Timothy Garton: W imieniu Europy. Niemcy i podzielony kontynent, Londyn 1996 [Originalausgabe: In Europe’s Name: Germany and the Divided Continent, London 1994].
Bartoszewski, Władysław: O Niemcach i Polakach Wspomnienia. Prognozy. Nadzieje, Kraków 2010.
Behrens, Alexander (Hg.): „Durfte Brandt knien?“ Der Kniefall in Warschau und der deutsch-polnische Vertrag. Eine Dokumentation der Meinungen, Bonn 2010.
Brandt, Willy: Wspomnienia [Originaltitel: Erinnerungen. Die Autobiografie], Poznań 2013.
Dec-Pustelnik, Sylwia: Historia a pamięć. Pojednanie polsko-niemieckie w dyskursie medialnym, Wrocław 2019.
Dönhoff, Marion Gräfin: Kanclerze RFN, jakich nie znamy, Warszawa 1999.
Latkowska, Magdalena; Felsch, Corrina: List biskupów & Willy Brandt w Warszawie. Przedwcześni bohaterowie?, in: Polsko – niemieckie miejsca pamięci t. 3 Paralele, hg. von Robert Traba und Hans Henning Hahn, Warszawa 2012.
Merseburger, Peter: Willy Brandt 1913‒1992 Wizjoner i realista, Poznań 2011.
Rakowski, Mieczysław: Dzienniki polityczne 1969‒1971, Warszawa 2001.
Schneider, Christoph: Der Warschauer Kniefall. Ritual, Ereignis und Erzählung, München 2006.
Wigura, Karolina: Wina narodów. Przebaczenie jako strategia prowadzenia polityki, Gdańsk – Warszawa 2010.
Wolffsohn, Michael; Brechenmacher, Thomas: Denkmalsturz? Brandts Kniefall, München 2005.
Dec-Pustelnik, Sylwia, Dec-Pustelnik, Sylwia, Dr., ist zusammen mit Peter Klimczak, Christer Petersen, Izabela Surynt und Arkadiusz Lewicki Mitherausgeber des vorliegenden Handbuchs der deutsch-polnischen Kommunikation und verfasste die Beiträge „Der Brief der Bischöfe als Beitrag zur deutsch-polnischen Versöhnung“, „Willy Brandts Kniefall vor dem Ehrenmal für die Helden des Warschauer Ghettos als Beitrag zur deutsch-polnischen Versöhnung“ und zusammen mit Ilona Rodzeń den Beitrag „Das gegenseitige Bild Polens und Deutschlands in der Presse“. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Wrocław und arbeitet in den Bereichen Interkulturelle Kommunikation, Erinnerungskultur und Mediendiskurse.