Jacek Grębowiec

„Wiedergewonnene Gebiete“



Der Begriff „Wiedergewonnene Gebiete“ wird heute nur noch selten ohne Anführungs­zeichen oder den Zusatz „sogenannte“ verwendet. Er bezeichnet die (grob vereinfacht gesagt) ehemals deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße, die Polen nach dem Zweiten Weltkrieg auf Kosten des besiegten Dritten Reichs zugesprochen wurden. Man kann ihn unter verschiedenen Aspekten beschreiben, vor allem aber unter historischem und geopolitischem, weil er sich auf historische Ereignisse und politische Entscheidun­gen bezieht, die mehrere Nationen Mitteleuropas betrafen, besonders aber Deutsche und Polen, sowie auch auf die Folgen dieser Ereignisse wie die Verschiebung von Staats­grenzen und den Exodus oder Transfer von Millionen von Menschen. Aus linguistischer und kommunikationswissenschaftlicher Perspektive ist „Wiedergewonnene Gebiete“ ei­nes der frappierendsten Toponyme, die von der Propaganda der nichtsouveränen Regie­rung Nachkriegspolen verbreitet und instrumentalisiert wurden, ein Toponym mit einer überaus reichen Semantik, die letztlich aus den Erfordernissen der Zeit geschaffen wur­de, unter dem Druck der von der Sowjetunion, den Vereinigten Staaten und Großbri­tannien gefassten Beschlüsse. Zur Vervollständigung des semantischen Spektrums des Begriffs „Wiedergewonnene Gebiete“ gehören Erwägungen aus sozialpsychologischer Sicht, die das Phänomen seiner persuasiven Wirksamkeit (sowie der um ihn herum ent­standenen Propagandatexte) erklären können. Diese Wirksamkeit ließ sich sogar noch spüren, als nach dem Ende des politischen und ideologischen Drucks, der diesem zum Schlagwort und zur Phrase gewordenen Toponym starken Einfluss sicherte, das heißt Anfang der 1990er Jahre, das auf der sukzessiven Rekonstruktion und Vermittlung des Wissens über das frühere Schicksal der „Wiedergewonnenen Gebiete“ beruhende Aus­füllen der weißen Flecken in der polnischen Geschichtsschreibung zu Schlesien, dem Lebuser Land, Westpreußen und Danzig sowie Ermland und Masuren vielen nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Polen die größte Entdeckung ihres Lebens bescherte. Es handelte sich um eine identitätsprägende Entdeckung, die in manchen Fällen ein neu­es Bewusstsein hervorbrachte – das Bewusstsein, in einem kulturellen Grenzraum zu leben, von dem sie bis dahin keine oder allenfalls eine sehr vage Vorstellung hatten. Unter dem Aspekt der Sozialpsychologie, Propagandatheorie und Massenkommunika­tion kann man auch beschreiben, welche Instrumente von den Machtinstanzen ver­schiedener Ebenen und von den Organisatoren der kollektiven Imagination angewandt wurden, um den polnischen Charakter der „Wiedergewonnenen Gebiete“ zu festigen. Hier geht es um Tropen wie „historische Gerechtigkeit“, „Rückkehr zum Mutterland“ oder auch „Rekompensation“ für die verlorenen Gebiete im Osten. Vieles lässt sich über die Bedeutung des Begriffs „Wiedergewonnene Gebiete“ auch sagen, wenn man ihn im Kontext der Forschung zur interkulturellen und internationalen Kommunikation betrachtet. Während der Begriff in den Jahren 1945‒1989 (und manchmal auch später noch) verwendet wurde, um den Polen seine buchstäbliche Angemessenheit und seinen Wahrheitsgehalt zu versichern, war er für die Deutschen, zumal wenn sie aus dem „deut­schen Osten“ stammten, zwangsläufig ein rotes Tuch. Dieses Konfliktpotenzial besitzt der Begriff bis heute. Es sei nur an die von Davies und Moorhouse zitierte Äußerung des Sprechers der Sudetendeutschen Walter Becher erinnern, der 1985 verkündete, er nehme eher eine vierte oder fünfte polnische Teilung in Kauf, als dass er sich damit abfinde, dass Breslau für immer polnisch bleibe (Davies, Moorhouse 2002, S. 594).

Bevor die „Wiedergewonnenen Gebiete“ zu einem ideologisch aufgeladenen Toponym und zum Propagandaschlagwort wurden, erschienen sie auf der Landkarte – zunächst als Entwurf einer geopolitischen Nachkriegsordnung, der insbesondere Stalin zufriedenstellte und von den USA und Großbritannien akzeptiert wurde. Dann folgten Taten, indem Polen kraft der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz die Verwaltung über die Gebiete östlich von Oder und Neiße übertragen wurde, darunter Westpreußen und Dan­zig, das Lebuser Land, Ermland und Masuren, Ober- und Niederschlesien einschließlich des Glatzer Lands. Man kann natürlich weiter zurückgreifen und an eine im September 1914 vom zaristischen Außenministerium in Russland unter dem Titel „Die Zukunft Europas“ veröffentlichte Landkarte erinnern. „Sie zeigte, dass Russlands territoriale Zie­le ein wiederhergestelltes und russisch verwaltetes Königreich Polen einschlossen, das sich bis zur Oder und zur Lausitzer Neiße erstreckte“ (Davies, Moorhouse 2002, S. 17). Die Idee, die Gebiete, die den späteren „Wiedergewonnenen Gebieten“ entsprechen, an Polen anzugliedern, wird auch polnischen Nationalisten zugeschrieben, die unter anderem im Juli 1940 in der Zeit­schrift Szaniec über eine Grenze entlang der Oder und der Lausitzer Neiße schreiben (Borkowicz 2013, S. 7)so­wie Aktivisten der konspirativen Organisation der Westgebiete „Ojczyzna“ (Organizacja Ziem Zachodnich „Ojczyzna“) oder Professor Zygmunt Wojciechowski, dem Gründer des Westinstituts, der im besetzten Warschau arbeitete (Mazur 2002). Die Ursprünge des Begriffs „Wiedergewonnene Gebiete“ lassen sich auch in anderen Zeiten und im Kontext anderer Ereignisse als dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den Beschlüssen der Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam suchen, nämlich im Jahr 1938, als das sogenannte Ol­sagebiet von Polen annektiert wurde. In diesem Zusammenhang muss an das Dekret des Präsidenten der Republik Polen vom 11. Oktober 1938 über die Wiedervereinigung der wiedergewonnenen Gebiete des Teschener Schlesien mit der Republik Polen erinnert werden, in dessen Artikel 1 es hieß, dass „die wiedergewonnenen Gebiete des Teschener Schlesien ein untrennbarer Teil der Republik Polen sind.“ Mit Rücksicht darauf, dass sich die „Wiedergewonnenen Gebiete“ im Bewusstsein der Polen jedoch in erster Linie auf die nach dem Zweiten Weltkrieg angegliederten Gebiete beziehen, sollte diese Bedeutung als die primäre angesehen werden. Demgegenüber zeugt die Tatsache, dass einige politische Aktivisten (z. B. im Polnischen Westbund [Polski Związek Zachodni]) – teilweise mit Unterstützung der Regierung der Republik Polen – schon vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine Revision der Grenzen forderten (den Schlüssel dazu sollte der Anschluss der von Westslawen bevölkerten Gebiete an Polen bilden, konkret der Tschechoslowakei, der Lausitz, Teilen von Sachsen und Brandenburg, der Kaschubei, Masurens und Ober­schlesiens), eher von Größenwahn als von realen Absichten, von den Möglichkeiten einer derartigen polnischen Territorialexpansion ganz zu schweigen. Die von Thomas Urban angeführten Belege für die deutschlandfeindlichen Absichten der Regierung der Zweiten Polnischen Republik bestehen hauptsächlich aus Träumereien nationaldemokratischer Publizisten und von Diplomaten festgehaltenen Erinnerungen an Gespräche hinter den Kulissen (Urban 2004, S. 37ff.). Davies und Moorhouse fassen das Problem der polnischen Fantasien über eine territoriale Erweiterung auf Kosten Deutschlands wie folgt zusammen:

Schließlich muss man sich bewusstmachen, dass der polnische Anspruch auf die so genannten „Wiedergewonnenen Gebiete“ […] beinahe zur Gänze das Produkt sowjetischer Politik war. Mit den eigenen Zielen der Polen hatte er wenig zu tun. Keine verantwortungsvolle politische Partei und kein verantwortungsbewusster politischer Führer Polens hatte vor 1945 Anspruch auf Wrocław erhoben. Die polnische Exilregierung hatte die Frage im Kontext einer in Vorschlag gebrach­ten polnisch-tschechischen Konföderation diskutiert. Aber sie wurde niemals in eine feste Form gegossen. Auch war sie von nationalistischen Kreisen im Nieder­schlesien der Vorkriegszeit aufgeworfen worden, so von Pater Karol Borgieł (alias Milik, 1892‒1976), einem Militärkaplan, der eine berühmte Ansichtskarte her­ausgebracht hatte, die eine Karte mit Breslau und Stettin auf der polnischen Seite der Grenze zeigte. Aber die öffentliche Meinung machte sie sich nie zu eigen (Davies, Moorhouse 2002, S. 511f.).

Die Ausarbeitung des Plans zur Angliederung der später als „Wiedergewonnene Gebie­te“ bezeichneten Territorien an Polen verband sich somit in erster Linie mit Ereignissen, die dauerhaft und fest in der Chronologie des Zweiten Weltkriegs verankert sind, da­runter auch die wichtigsten Ereignisse, die das Kräfteverhältnis und den Grenzverlauf nach Kriegsende prägten.

Wesentliche Ereignisse, vor deren Hintergrund sich die Frage der Annexion der Gebiete im Westen und Norden der Republik Polen entwickelte, waren aus polnischer Perspek­tive einerseits die diplomatischen Bemühungen der polnischen Exilregierung und der staatlichen Untergrundstrukturen sowie andererseits das servile Agieren der polnischen Kommunisten, die Stalins imperiale Bestrebungen legitimierten. Um den „polnischen Strang“ in der Frage der Gebietserwerbungen im Westen und Norden in aller Kürze darzustellen, ist es notwendig, an einige grundlegende Fakten zu erinnern. Zu diesen gehört das Manifest des Polnischen Komitees der Nationalen Befreiung (Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego, PKWN) vom 22. Juli 1944. In der Frage der zukünftigen polnischen Staatsgrenzen formulierte das Komitee einen eindeutigen Appell: „Seid be­reit zum Kampf für ein freies Polen, für die Rückkehr des alten polnischen Pommern und Oppelner Landes zum Mutter- und Vaterland, für Ostpreußen, für einen breiten Zugang zum Meer, für polnische Grenzpfähle an der Oder!“ Die Ostgrenze wurde im Manifest des Komitees hingegen als „Linie der freundschaftlichen Nachbarschaft“, die nach einem nicht näher bestimmten Prinzip gezogen werden solle: Polnische Territorien sollten Polen zufallen, belarussische, litauische und ukrainische hingegen den Sowjetre­publiken Belarus, Litauen und Ukraine. Das zentrale Kriterium für die Nachkriegssi­cherheit ist für das Komitee der im Manifest mitklingende Panslawismus. Die Verfasser träumen von der „Errichtung eines mächtigen slawischen Damms, dessen Fundament die polnisch-sowjetisch-tschechoslowakische Verständigung bilden wird.“ Schutz bieten soll dieser Damm natürlich „vor dem Andrängen des germanischen Imperialismus.“

Am 27. Juli 1944 unterzeichneten General Michał Rola-Żymierski und Edward Osób­ka-Morawski in Moskau einen geheimen Vertrag, in dem sie eine Ostgrenze entlang der Curzon-Linie akzeptierten, wofür die UdSSR sich im Gegenzug verpflichtete, die polni­sche Westgrenze entlang der Oder-Neiße-Linie zu ziehen. Dies entsprach den Zielen, die der von ihnen am 1. Januar 1944 ins Leben gerufene Landesnationalrat (Krajowa Rada Narodowa) unter Führung von Bolesław Bierut formuliert hatte, der in der Grenzfrage die Rückgabe der „piastischen“ Gebiete im Westen anstrebte. Ähnliche Ziele formulierte der Bund der Polnischen Patrioten (Związek Patriotów Polskich) mit Wanda Wasilews­ka an der Spitze, dessen erstes Treffen am 9./10. Juni 1943 in Moskau stattfand. Die Politiker dieser Fraktion, die – das sei hinzugefügt – nicht im Namen der rechtmäßigen Regierung der Zweiten Republik sprachen, leitete allerdings nicht die polnische Staats­räson, sondern vor allem das Begehren, unter den Auspizien der Sowjetunion die Macht in Polen zu übernehmen.

Der Moskauer Vertrag stand (vor allem in der Frage der Curzon-Linie) im Widerspruch zur Position des rechtmäßigen, aus mehreren Parteien bestehenden Untergrundparla­ments der Republik Polen, das am 9. Januar 1944 unter dem Namen Rat der Nationalen Einheit (Rada Jedności Narodowej) ins Leben gerufen worden war. Die Position, die in einem Auszug des RJN-Manifests vom 9. März 1944 mit dem Titel O co walczy naród polski (Wofür kämpft das polnische Volk) festgehalten wurde, war in der Frage der Nachkriegsgrenzen unmissverständlich: Anerkennung der Grenzen in Osten gemäß dem Vertrag von Riga unter der Bedingung der Nichteinmischung der UdSSR in polni­sche Angelegenheiten, Eingliederung Ostpreußens ins Staatsgebiet der Republik Polen, Verschiebung der Grenze nach Westen, Festlegung der polnisch-tschechoslowakischen Grenze im Einklang mit den Vereinbarungen von 1918. Letztlich handelte aber am 22. Februar 1945 der Rat der Nationalen Einheit gegen sein eigenes Manifest, indem er den paradoxen Beschluss fasste, sich den ungerechten Beschlüssen der Konferenz von Jalta zu unterwerfen (Roszkowski 1991, S. 146).

Weder die Position der Vertreter des Polnischen Komitees der Nationalen Befreiung und des Landesnationalrats, die den imperialen Bestrebungen Stalins entsprach und damit dem Interesse des polnischen Staates schadete, noch das Manifest des Rats der Nationalen Einheit noch sogar das Vorgehen des Ministerpräsidenten der Exilregie­rung, Stanisław Mikołajczyk, dessen Position sich von der (in einem Memorandum an Churchill und Roosevelt von 1943 formulierten) Ablehnung einer Verkleinerung des polnischen Staatsterritoriums über die Anerkennung der Curzon-Linie als polnisch-so­wjetischer Demarkationslinie (im Rahmen eines polnisch-sowjetisch-britischen Treffens in Moskau im Oktober 1944) bis hin zur (sich in der Übernahme des Amts des stellver­tretenden Ministerpräsidenten in der Provisorischen Regierung der Nationalen Einheit [Tymczasowy Rząd Jedności Narodowej] manifestierenden) Akzeptanz der geschaffe­nen Fakten – das heißt des Konzepts der sogenannen „piastischen“ Grenzen – entwi­ckelte, hatten jedoch einen großen Einfluss auf den endgültigen Verlauf der polnischen Staatsgrenzen nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Wille der um das Polnische Komitee der Nationalen Befreiung und den Landesnationalrat versammelten Kommunisten war im Grunde der Wille Stalins, während die Positionen der Exilregierung und des Unter­grundstaates zu den Beschlüssen der Großen Drei letztlich auf taube Ohren stießen. Ei­nen anderen wichtigen Aspekt der polnischen Debatten und des Ringens um die Gestalt der Nachkriegsgrenzen bildet die Position Tomasz Arciszewskis, Mikołajczyks Nachfol­ger im Amt des Ministerpräsenten der Londoner Exilregierung. Als Reaktion auf die va­gen Zusicherungen Roosevelts, Polen auf Kosten Deutschlands zu entschädigen und die Bevölkerung umzusiedeln, erklärte Arciszewski in einem Interview vom 17. Dezember 1944, wie Roszkowoski schreibt, „den Verzicht auf Breslau und Stettin, weil in seinen Augen die Umsiedlung der Deutschen für Polen eine zu große Belastung darstellte“ (Roszkowski 1991, S. 143).

Die Frage der polnischen Grenzen, darunter der späteren „Wiedergewonnenen Gebiete“, stand bei den internationalen Treffen der Großen Drei mehrfach auf der Tagesordnung. Schon auf der Konferenz von Teheran sprach sich Stalin am 28. November 1943 für ei­nen Verlauf der polnischen Staatsgrenze entlang der Oder aus, wobei es ihm weniger um eine Kompensation für die Gebiete ging, die Polen östliche der Curzon-Linie genom­men werden sollten, als vielmehr um eine Ausweitung seiner Einflusssphäre mittels eines nach Westen verschobenen polnischen Vasallenstaats. Hinsichtlich des Grenzverlaufs stimmte Churchill mit Stalin überein. Wojciech Roszkowski schreibt dazu:

Churchill machte einen Lösungsvorschlag für die polnische Frage, der vorsah, „dass sich das Gebiet des polnischen Staates und des polnischen Volkes von der sogenannten Curzon-Linie bis zur Oder erstrecken soll, einschließlich Ostpreu­ßen und der Provinz Oppeln.“ Die endgültige Festlegung erfordere allerdings eingehende Studien und an manchen Punkten eine eventuelle Umsiedlung der Bevölkerung. Stalin äußerte sich mit diesem Vorschlag einverstanden, ähnlich wie Roosevelt, der lediglich darum bat, die Beschlüsse vor dem Hintergrund der Wahlen 1944 und mit Rücksicht auf die Stimmen der amerikanischen Polonia nicht sofort bekanntzumachen. Er begriff sehr gut, was für einen Schlag die Tehe­raner Formel für die polnische Sache bedeutete. Churchill übernahm es, der pol­nischen Regierung die aus dieser Formel resultierenden „Vorteile“ darzulegen. Er zählte darauf, dass es ihm damit gelingen würde, die polnisch-sowjetischen Be­ziehungen wiederherzustellen. In Teheran wurde im Grundsatz die Frage der pol­nischen Staatsgrenzen entschieden. Der Beschluss sollte vorerst geheim bleiben (Roszkowski 1991, S. 125).

Churchill ignorierte die Forderung der polnischen Exilregierung, die polnischen Vor­kriegsgrenzen ohne Abstriche wiederherzustellen. Bei der Teheraner Lösung dachte er vielleicht an die Curzon-Linie im Sinne der Konzeption seines Außenministers Antho­ny Eden, in der Lemberg auf polnischer Seite bleiben sollte. Allerdings lehnte Stalin diese Konzeption ab. Die Konferenz von Jalta brachte wenig Neues zur Frage des Verlaufs der polnischen Westgrenze:

Am 11. Februar 1945 verkündeten die Vertreter der Großen Drei die Ergebnisse der Konferenz, darunter auch die Beschlüsse zu Polen. In der Frage der polni­schen Ostgrenze wurde festgelegt, dass sie entlang der Curzon-Linie verlaufen solle, wobei in einigen Gebieten Abweichungen von fünf bis acht Kilometern zu­gunsten Polens vorgesehen waren. Man stimmte darin überein, dass Polen „einen beträchtlichen Gebietszuwachs im Norden und Westen erhalten“ müsse, wobei über den endgültigen Verlauf der polnischen Westgrenze jedoch eine Friedens­konferenz mit Deutschland zu befinden habe (Roszkowski 1991, S. 145).

Zu einer solchen Konferenz ist es bekanntlich nie gekommen. Auf der Potsdamer Kon­ferenz konnte Deutschland seinen Standpunkt nicht formulieren, was sicher eine Kon­sequenz der bedingungslosen Kapitulation des Landes war. Die am 2. August 1945 bekanntgegebenen Beschlüsse der Potsdamer Konferenz brach­ten Polen in eine schwierige Lage. In Kapitel IX des Potsdamer Abkommens hieß es:

Die Häupter der drei Regierungen stimmen darin überein, daß bis zur endgülti­gen Festlegung der Westgrenze Polens, die früher deutschen Gebiete östlich der Linie, die von der Ostsee unmittelbar westlich von Swinemünde und von dort die Oder entlang bis zur Einmündung der westlichen Neiße und die westliche Neiße entlang bis zur tschechoslowakischen Grenze verläuft, einschließlich des Teiles Ostpreußens, der nicht unter die Verwaltung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in Übereinstimmung mit den auf dieser Konferenz erzielten Vereinbarungen gestellt wird und einschließlich des Gebietes der früheren Frei­en Stadt Danzig, unter die Verwaltung des polnischen Staates kommen und in dieser Hinsicht nicht als Teil der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland betrachtet werden sollen (Zitiert nach: Musiał, Bogdan: „Niechaj Niemcy się przesuną“: Stalin, Niemcy i przesunięcie granic Polski na zachód, in: Arcana (2008), Nr. 1, S. 150).

Darüber hinaus wurde wie schon auf der Konferenz von Jalta bekräftigt, dass die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens erst nach einer Friedenskonferenz mit Deutschland erfolgen solle (Parzymies 1999, S. 32). Gleichwohl wird in Kapitel XIII des Abkommens, in dem von der „ordnungsgemäßen und humanen“ Umsiedlung der auf dem Gebiet Polens, der Tschechoslowakei und Ungarns verbliebenen deutschen Bevölkerung die Rede ist, die Grenzverschiebung als vollendete Tatsache angenommen. Dieser deutliche Widerspruch richtete sich zweifellos gegen die Souveränität Polens. Erstens wurde die Sowjetunion zum einzigen wirklichen Garanten der neuen Westgrenze; zweitens offerierte man Polen eine Grenze, die Polen und Deutsche zu langen Jahrzehnten der Feindschaft verurteilte; drittens nahm man der (auf der Seite der Siegermächte stehenden) Republik Polen mit Einverständnis der Vereinigten Staaten und Großbritanniens 48 % ihres Territoriums (rund 178.000 km²), gab ihr aber nur 101.000 km² in Gestalt der zuvor zu Deutschland gehörigen Gebiete zurück. Diese Gebiete waren zwar stärker industrialisiert als die ver­lorenen Kresy, doch im Zuge ihrer Einnahme durch die Rote Armee der Infrastruktur beraubt worden, ganz zu schweigen davon, dass ihnen in den Nachkriegsjahren auch in großem Ausmaß Rohstoffe entzogen wurden – die kommunistische Regierung pro­testierte etwa nicht gegen das Verlangen der UdSSR, Kohle aus den oberschlesischen Bergwerken zu einem Preis zu beziehen, der lediglich ein Zehntel des Weltmarktprei­ses betrug (Roszkowski 1991, S. 156). Dieselbe UdSSR sprach sich am entschiedensten für den Verlauf der pol­nischen Grenze entlang von Oder und Lausitzer Neiße aus, während die Westalliier­ten – insbesondere Churchill – schon in Jalta versuchten, die Aussage der Beschlüsse zu dieser Frage aufzuweichen, weil sie sich mehr um die wirtschaftliche Situation im Nachkriegsdeutschland als um die Rekompensation für das territorial geschädigte Polen sorgten. Während der Potsdamer Konferenz soll Churchill, der in letzter Sekunde eine Korrektur der polnischen Westgrenze durchsetzen wollte (eine Verschiebung auf die Linie von Oder und Glatzer Neiße) angeblich gesagt haben: „Es wäre bedauerlich, die polnische Gans so mit deutschem Futter voll zu stopfen, dass sie an Magenverstimmung stirbt“ (Davies, Moorhouse 2002, S. 516). Letztlich wurden seine Einwände nicht berücksichtigt, vielleicht weil Churchill am 25. Juli 1945 wegen der Niederlage seiner Partei bei den Unterhauswahlen kurz vor der Verkündung der Konferenzbeschlüsse aus Potsdam abreisen musste.

Die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz und insbesondere ihre Auslegung durch die Sowjetunion waren nicht nur entscheidend für die Schaffung eines neuen Gebildes und zugleich geopolitischen Problems, das in Polen als „Wiedergewonnene Gebiete“ und in Deutschland als „der verlorene Osten“ bezeichnet wurde, sondern auch für die Unter­schiede in der Interpretation des Abkommens in Deutschland und in Polen. Für die Deutschen standen die an Polen angegliederten ehemaligen deutschen Gebiete, wie unter anderem in Schulbuchpublikationen deutlich wurde, lediglich „unter polnischer Verwaltung“, während in Polen eine Politik der vollendeten Tatsachen betrieben wurde, indem man in den West- und Nordgebieten polnische Verwaltungsstrukturen errichte­te, so schnell es die sowjetischen Militärbehörden zuließen. Der Begriff „Wiedergewon­nene Gebiete“ fand sich auch in der Präambel der Verfassung der Volkrepublik Polen von 1952:

Während der Okkupation führte die polnische Nation einen unbeugsamen, hel­denhaften Kampf gegen den blutigen Überfall Hitlerdeutschlands. Der histori­sche Sieg der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über den Faschismus hat Polen befreit, hat es dem polnischen Volk ermöglicht, die Macht zu ergreifen, und hat die Vorbedingungen für die nationale Wiedergeburt Polens innerhalb neuer, gerechter Grenzen geschaffen. Die wiedergewonnenen Gebiete sind für ewige Zeiten zu Polen zurückgekehrt.

Die Frage der „Wiedergewonnenen Gebiete“ war für das kommunistische Regime ein Maßstab seiner Funktionstüchtigkeit. Um die eigene Effektivität beim Schutz der neu erworbenen, auch als „piastische“ (vulgo urpolnische) bezeichneten Territorien unter Beweis zu stellen, die neuen Gebiete wertzuschätzen und den Prozess der Legitimierung der Zugehörigkeit der „Wiedergewonnenen Gebiete“ zu Polen in Gang zu setzen, mach­te man sie zum Gegenstand einer Volksbefragung. Die dritte und letzte Frage des am 30. Juni 1946 durchgeführten Referendums lautete: „Sollen die Ostsee, die Oder und die Neiße die westlichen Grenzen Polens bilden?“ Laut den am 12. Juli 1946 bekannt­gegebenen offiziellen Ergebnissen antworteten angeblich 91,4 % der Abstimmenden mit „Ja“ (Ogłoszenie Generalnego Komisarza głosowania ludowego o wyniku głosowania ludowego z dnia 30 czerwca 1946). Obwohl die Abstimmungsergebnisse gefälscht wurden, kann man davon ausge­hen, dass die Zustimmung eine breite gesellschaftliche Basis hatte, schon allein deswe­gen, weil lediglich die weiter gegen die Kommunisten kämpfenden Nationalen Streit­kräfte (Narodowe Siły Zbrojne) in einem Akt des Protests gegen den Verlust der Kresy dazu aufgerufen hatten, diese dritte Frage des Referendums mit „Nein“ zu beantworten. Der überwiegende Teil der übrigen politischen Gruppierungen und Parteien, darunter auch die noch immer auf Distanz zu den kommunistischen Machthabern befindliche Polnische Volkspartei (Polskie Stronnictwo Ludowe), befürwortete die neuen Grenzen im Westen und Norden. Abgesehen davon ist zu bedenken, dass die Polen letztlich keine andere Wahl hatten. Auf Propagandaplakaten wurden die Nationalen Streitkräfte nicht zuletzt wegen ihrer Aufforderung, „3 x Nein“ zu stimmen, mit den Nationalsozialis­ten verglichen. Langsam wuchs, zumal unter PolitikerInnen und gebildeten Menschen, auch das Bewusstsein, dass die Ablehnung der territorialen Zugewinne eine Redukti­on Nachkriegspolens auf das Gebiet des (von Napoleon Bonaparte als „Vasallenstaat“ eingerichteten) Herzogtums Warschau bedeutet und die existenzielle Unsicherheit der vom Staatlichem Repatriierungsamt (Państwowy Urząd Repatriacyjny) in den „Wie­dergewonnenen Gebieten“ angesiedelten so genannten „Repatrianten“ nur noch vertieft hätte – letztere war infolge der kommunistischen Propaganda von der deutschen Gefahr, unter anderem in Gestalt von in den Westgebieten agierenden Werwolf“-Gruppen, oh­nehin schon groß genug. Aus vor Fälschungen bewahrten Wahlurnen aus Kleinpolen konnte die Zustimmung zum Anschluss der „Wiedergewonnen Gebiete“ annähernd hochgerechnet werden – sie lag bei 66,9 % (Osękowski 2000). Die Aufgabe der in der Frage der „Wieder­gewonnenen Gebiete“ von der UdSSR unterstützten Verwaltung bestand darin, Stabili­tät zu gewährleisten und den Anschluss an den Rest des Landes zu vollziehen.

Diese Aufgabe übernahmen zahlreiche Milieus, nicht nur im engeren Sinne politische, wenn auch als sichtbares Signal der Notwendigkeit einer schnellen Vereinigung der hin­zugekommenen Territorien mit Zentralpolen am 13. November 1945 das Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete (Ministerstwo Ziem Odzyskanych) unter Führung von Władysław Gomułka gegründet wurde. Schon im März 1945 hatte die aus Mitglie­dern des Polnischen Komitees der Nationalen Befreiung gebildete Provisorische Regie­rung der Republik Polen (Tymczasowy Rząd RP) damit begonnen, Bevollmächtigun­gen für die Verwaltung der auf der Krim-Konferenz Polen zugesprochenen Regionen und Städte auszustellen; analog handelte im April das selbsternannte Krakauer Komitee, das sich unter anderem aus Vertretern der Bergbauakademie (Akademia Górnicza), der Jagiellonen-Universität und des Polnischen Westbundes zusammensetzte (Suleja 2001, S. 7). Eine zentra­le Rolle für die Vereinigung der „Wiedergewonnenen Gebiete“ mit Polen spielte das Mi­lieu der HochschullehrerInnen. Der Enthusiasmus der Intellektuellen, die Verfolgungen und die von den Nationalsozialisten betriebene planmäßige Auslöschung der polnischen Intelligenz überlebt hatten, manifestierte sich unter anderem in der Restitution polni­scher Hochschulen und Wissenschaftsinstitutionen in den „Wiedergewonnenen Gebie­ten“, etwa der Technischen Hochschule (Politechnika Wrocławska) und der Universität Wrocław (letztere unter Beteiligung des Lehrkörpers der ehemaligen Johann-II.-Kasi­mir-Universität Lwów) schon am 24. August 1945 (Suleja 2001, S. 23f.). Nicht zu übersehen ist auch der Beitrag der Presse, die zu einem der effektivsten Instrumente der „Repolonisierungs“- Propaganda wurde, indem sie geschickt die These vom urpolnischen Charakter der „Wiedergewonnenen Gebiete“ verbreitete und das Motiv des Revisionismus nutzte, um antideutsche Ängste zu schüren (was hinsichtlich der Zusammenführung der West- und Nordgebiete allerdings eher kontraproduktiv wirkte und insbesondere die SiedlerInnen daran hinderte, eine feste Bindung zu ihren neuen, ehemals deutschen Heimatorten und Häusern zu entwickeln):

Der Begriff des Revisionismus ist im Quellenmaterial [der Tageszeitung Pio­nier/Słowo Polskie; Anm. JG] ab der ersten Jahreshälfte 1946 anzutreffen. Sig­nifikant ist, dass in den ersten Jahren nach dem Krieg dieses Attribut nicht nur den – Nachkriegspolen ablehnend gesinnten – „bourgeoisen Parteien“ CDU und SPD, dem deutschen Klerus oder Kriegsveteranen zugeschrieben wird. Weil das Schlagwort „Revisionismus“ politische und gesellschaftliche Popularität garan­tiert, wollen auch (zumindest bis mehr oder weniger Mitte 1947, das heißt bis zu einer Reihe von Wahlniederlagen in den westlichen Besatzungszonen) die deutschen Kommunisten nicht darauf verzichten (Miodek 2008, S. 217).

Die Furcht von einer Revision der Grenzen, die nun aber vor allem mit Blick auf die deutschen Vertriebenenverbände artikuliert wird, wird von der niederschlesischen Ta­gespresse bis in die 1980er Jahre hinein regelmäßig aufgegriffen. Die Texte zu dieser Problematik sind emotional stark aufgeladen und von zahlreichen negativen Stereoty­pen zu Deutschland und den Deutschen durchzogen:

Ein immanenter Wesenszug der Aktivitäten der Vertriebenen sind Revisionis­mus, der Wunsch nach Vergeltung und das Bestreben, Polen die West- und Nordgebiete wieder abzunehmen, sowie Aggressivität und Provokation. Zu den eindeutigeren Bezeichnungen, mit denen die Teilnehmer von „Hetzspektakeln“ und „Sabbaten“ [Treffen und öffentlichen Veranstaltungen; Anm. JG] bedacht werden, gehören „Polenfresser“, „verkappte und offene Nazis“ oder „mit US-Dollars gemästete nationalsozialistische Banditen“. Begleitattribute der Treffen sind Kreuzrittermäntel, Regionalflaggen wie etwa die schlesische, Landkarten mit den deutschen Grenzen von 1937, Militärmärsche und die erste Strophe des Deutschlandlieds („Deutschland, Deutschland über alles“) – überdies noch ge­sungen im „alten nationalsozialistischen Rhythmus“ (Miodek 2008, S. 244).

Einen nicht unbedeutenden Beitrag zum Zusammenschluss der neuen Territorien leiste­ten die wenigen von den Kommunisten geduldeten Nationalisten der Vorkriegszeit (in Oberschlesien etwa Wilhelm Szewczyk – vor dem Krieg ein Funktionär des National- Radikalen Lagers [Obóz Narodowo-Radykalny], nach dem Krieg unter anderem Redakteur der Wochenzeitschrift Odra, in der man nach Wegen zu einer erfolgreichen „Repolonisierung“ der „Wiedergewonnenen Gebiete“ suchte), (Fic 2007) sowie Vertreter der polnischen Vorkriegsminderheit in Deutschland, darunter Edmund Jan Osmańczyk, Dichter und Leiter der Pressestelle des Bundes der Polen in Deutschland, der nach dem Krieg als Publizist und Korrespondent arbeitete und das „ewig polnische“ Oderland sowie das Op­pelner Land als „Bollwerk des Slawentums“ besang oder die These einer massiven Ent­völkerung Schlesiens und Ostpreußens in den Jahren 1840‒1938 infolge einer unter den Deutschen grassierenden geheimnisvollen „Krankheit namens Ostflucht“ (Osmańczyk 1973) verbreitete. Auch die polnische katholische Kirche reagierte recht schnell auf die Beschlüsse des Potsdamer Abkommens:

Vom Vatikan mit den erforderlichen Dokumenten ausgerüstet, traf der polnische Primas, Kardinal Hlond, am 12. August 1945 unangemeldet in Wrocław ein. Er beschied der deutschen Geistlichkeit, dass er die Kontrolle über die Diözesanver­waltung übernähme – vier Tage bevor zwischen der Polnischen Republik und der UdSSR ein Abkommen über den Transfer des gesamten deutschen Staatseigen­tums geschlossen werden konnte. Gegen Ende des Monats hatte sich niemand anderes als Pater Karol Milik als polnischer Diözesanadministrator im Dom niedergelassen. Es sollte eine Zeit deutsch-polnischer Kohabitation in Wrocławs Kirchen und eines langen Katz-und-Maus-Spiels zwischen Kirche und Staat fol­gen. Unter Pater Milik verpflichtete sich die Kirche darauf, dem Kommunismus Widerstand zu leisten, aber auch die nationalistische Trommel zu rühren (Davies, Moorhouse 2002, S. 518f.).

Unter den Institutionen, die bei der Vereinigung der „Wiedergewonnenen Gebiete“ mit dem Rest des Landes eine entscheidende Rolle spielten, muss das schon am 7. Okto­ber vom Polnischen Komitee der Nationalen Befreiung per Dekret ins Leben gerufene Staatliche Repatriierungsamt hervorgehoben werden. Der Name des Amtes stand im Widerspruch zu den ihm übertragenen Aufgaben: Bis Mai 1945 befasste sich das Repat­riierungsamt nahezu ausschließlich mit der Deportierung von Polen aus den verlorenen Kresy und anderen Regionen der UdSSR, später wurden seine Kompetenzen auf die Bin­nenmigration im Land ausgeweitet. Gemeinsam mit dem Generalbevollmächtigten der Regierung für Repatriierungsangelegenheiten (Generalny Pełnomocnik Rządu do spraw Repatriacji) gelang es dem Repatriierungsamt, den kompletten Bevölkerungstransfer in die „Wiedergewonnenen Gebiete“ durchzuführen. Allein bis Ende 1947 fand das Amt dort Raum für 4,6 Mio. polnischer Staatsbürger (Roszkowski 1991, S. 171).

Als symbolische Ereignisse im Prozess der Vereinigung der West- und Nordgebiete mit Polen galten während der gesamten Zeit der Volksrepublik die Ausstellung der Wieder­gewonnenen Gebiete (Wystawa Ziem Odzyskanych) und der Weltkongress der Intellek­tuellen zur Verteidigung des Friedens (Światowy Kongres Intelektualistów w Obronie Pokoju) – die zwei wichtigsten Propagandaveranstaltungen, die im Sommer 1948 in Wrocław stattfanden. Sie sollten die versammelten Gäste, darunter viele zum Kongress der Intellektuellen angereiste internationale Berühmtheiten (wie etwa Pablo Picasso, Le Corbusier, Irena Joliot-Curie, Julius Huxley, Ilia Erenburg) von der Richtigkeit der Ver­schiebung der deutsch-polnischen Grenze auf die Oder-Neiße-Linie überzeugen; das anschaulichste Argument sollte Wrocław selbst sein, das als „Friedensstadt“, als Ort des industriellen Fortschritts und vitaler Wissenschaftsstandort (dies im Gegensatz zum an­geblich vernachlässigten, provinziellen deutschen Breslau), als Schauplatz eines inten­siv betriebenen Wiederaufbaus, als Heimat politisch gleichgesinnter BürgerInnen (vor Beginn der Ausstellung und des Kongresses wurden 600 Personen unter dem Verdacht regierungsfeindlicher Aktivitäten verhaftet) sowie (nachdem eilig alle deutschen Spuren von den Hauswänden entfernt worden waren) als eindeutig polnisch präsentiert wur­de. Während der Ausstellung der Wiedergewonnenen Gebiete, die von prominenten Politikern (darunter Staatspräsident Bolesław Bierut und Ministerpräsident Józef Cy­rankiewicz) eröffnet wurde, fielen gewichtige Worte. So sagte Cyrankiewicz über die „Wiedergewonnenen Gebiete“: „Wir haben aus ihnen wieder polnische Gebiete gemacht, so polnisch wie der gesamte Rest unseres Landes.“ Und Wiktor Kościński, der Regie­rungskommissar für die Ausstellung der Wiedergewonnenen Gebiete, drohte: „Wer im­mer die Hand gegen die Wiedergewonnenen Westgebiete erhebt, der muss als Feind des ganzen polnischen Volkes gelten“ (Suleja 2001, S. 35ff.).

Das Bemerkenswerteste an der nach dem Zweiten Weltkrieg betriebenen „Repolonisierungs“-Propaganda, in der die beiden Wrocławer Veranstaltungen des Jahres 1948 lediglich die Höhepunkte bildeten, war ihre Wirksamkeit. Bis zu einem gewissen Grad hatten nationalistische PolitikerInnen und historische PublizistInnen der Zwischenkriegszeit sowie SchriftstellerInnen und HistorikerInnen, die die Erinnerung an das polnische Schlesien und Pommern (vor allem im 19. und am Beginn des 20. Jhs.) wach­riefen, ihr den Boden bereitet. Doch die größte Wirkung in der Restitution der kollek­tiven Überzeugung vom piastischen und mithin urpolnischen Charakter der West- und Nordgebiete erzielte die kommunistische Propaganda. Allerdings hatte die Regierung der Volksrepublik auch ein Argument, das in Polen seit den Zeiten Bolesław Chrobrys niemand hatte ins Feld führen können, nämlich nicht nur eine Vision, sondern den faktischen Besitz der Gebiete, von denen ihre Propaganda sprach und die sie schon aus existenziellen demografischen Gründen für Polen sichern musste, für ein geschlagenes, territorial zusammengestutztes und vasallisiertes Land, das zur Kompensation der Ver­luste dringend einen Mythos brauchte.

Obwohl die Geschichte der Grenzgebiete auch heute noch Konfliktpotenzial besitzt, ist sie inzwischen sicher nicht mehr Gegenstand derart intensiver propagandistischer Instrumentalisierungen wie es in der Zeit der Volksrepublik der Fall war. Die Histori­kerInnen stimmen darin überein, dass diese Territorien, die noch vor dreißig Jahren als urpolnisch dargestellt werden konnten, heute als Teil der Geschichte mehrerer Völker und Staaten zu betrachten sind. Das gilt für die Mehrzahl der schlesischen Herzogtü­mer, die sich um 1335 dem böhmischen König unterwarfen und später in habsburgische Hand kamen, bevor sie von Preußen erobert und schließlich Teil des von Bismarck ver­einigten Deutschen Reichs wurden. Niemand bestreitet heute, dass Westpommern im 12. Jh. ein Lehen des deutschen Kaisers wurde, dass das Lebuser Land Mitte des 13. Jhs. von Bolesław II. Rogatka an die Mark Brandenburg verkauft wurde oder dass der süd­liche Teil Ostpreußens nur in den Jahren 1466‒1657 durch Lehensbeziehungen mit der Rzeczpospolita verbunden war, während das Glatzer Land lediglich vom Piastenkönig Henryk IV. Probus regiert wurde, was sicherlich der Grund für die in der Nachkriegs­zeit von der Tschechoslowakei geltend gemachten Ansprüche in der Frage war, wessen „Wiedergewonnene Gebiete“ die Territorien zwischen Wartha (Bardo Śląskie) und Mit­telwalde (Międzylesie) eigentlich sein sollten.

Die komplexe Geschichte der polnischen West- und Nordgebiete ist heute kein Gegen­stand ernsthafter geopolitischer Diskussionen auf hoher Ebene. Formell wird die Akzep­tanz des nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Status quo durch bilaterale Verträge bestätigt: das am 6. Juli 1950 zwischen der Volksrepublik Polen und der Deutschen Demokratischen Republik geschlossene Görlitzer Abkommen, den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen vom 7. Dezember 1970 (Warschauer Vertrag) sowie den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Repu­blik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze vom 14. No­vember 1990.

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann

Literatur:

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Dekret Prezydenta Rzeczypospolitej z dnia 11 października 1938 r. o zjednoczeniu Odzyska­nych Ziem Śląska Cieszyńskiego z Rzecząpospolitą Polską (Dziennik Ustaw 1938, Nr. 78, Pos. 533).

Fic, Maciej: Wilhelm Szewczyk (1916‒1991). Śląski polityk i działacz społeczny, Katowice 2007.

Konstytucja Polskiej Rzeczpospolitej Ludowej z 1952 r. (Dziennik Ustaw 1952, Nr. 33, Pos. 232).

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Mazur, Zbigniew: Antenaci. O politycznym rodowodzie Instytutu Zachodniego, Poznań 2002.

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Musiał, Bogdan: „Niechaj Niemcy się przesuną“: Stalin, Niemcy i przesunięcie granic Polski na zachód, in: Arcana (2008), Nr. 1.

Ogłoszenie Generalnego Komisarza głosowania ludowego o wyniku głosowania ludowego z dnia 30 czerwca 1946 r. (Monitor Polski. Dziennik Urzędowy Rzeczpospolitej Polskiej, Nr. 61, Pos. 115).

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Urban, Thomas: Der Verlust. Die Vertreibung der Deutschen und der Polen im 20. Jahrhundert, München 2004.

 

Grębowiec, Jacek, Dr. habil., verfasste die Beiträge „Wiedergewonnene Gebiete“ und „Die Rezeption von Inschriften und anderen kleinen Spuren des alten Presslaw/ Breslau in Wrocław nach 1945 (Wiedergewonnene Gebiete)“. Er ist Professor an der Universität Wrocław und arbeitet in den Bereichen Rhetorik, Pragmalinguistik und Kulturwissenschaften.

 

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