Katrin Steffen

Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust in der deutschen und polnischen Erinnerungskultur und der deutsch-polnischen Kommunikation

Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust in der deutschen und polnischen Erinnerungskultur und der deutsch-polnischen Kommunikation


Bevor das Museum des Zweiten Weltkriegs im Jahr 2017 in Danzig eröffnet wurde, hatte der designierte Direktor des Museums, der Historiker Paweł Machcewicz, „für die Darstellung der eigenen, polnischen Erzählung des Zweiten Weltkriegs und seiner Fol­gen“ (Machcewicz 2012, S. 82) plädiert. Er begründete die Notwendigkeit dieser „eigenen Erzählung“ (→ deutsche und polnische Erinnerungskultur) unter anderem mit dem deutschen Vorhaben, in Berlin eine Bildungs- und Museumseinrichtung (→ Museen und Ausstellungen ) zum Thema → Vertreibungen zu gründen – dieses Vorhaben konkretisierte sich damals und sollte im Sommer 2021 unter dem Dach des Deutschen Historischen Museums und der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wer­den. Paweł Machcewicz wiederum durfte der von ihm konzipierten Ausstellung nur zwei Wochen als Direktor vorstehen, dann ereilte ihn eine fristlose Kündigung. Vertre­tern der seit 2015 in Polen regierenden rechtskonservativen und nationalen Partei Recht und Gerechtigkeit [Prawo i Sprawiedliwość – PiS] passte die Ausstellung nicht in ihr geschichtspolitisches Konzept: Während Machcewicz und sein Team eine Erzählweise gewählt hatten, die die spezifischen Erfahrungen weiter Teile der Gesellschaft in Polen während des Krieges zeigte, diese aber auch in einen europäischen Kontext einfügte, um den Krieg universell erfahrbar zu machen, empfand die Regierungspartei dies als zu universalistisch und bemängelte das Fehlen einer angemessenen Darstellung polnischer Verdienste und Heldentaten während des Krieges.

Bereits Machcewicz hatte im Vorfeld des Museumbaus deutlich gemacht, dass in Mu­seen keine „objektiven“ Wahrheiten abgebildet werden, sondern von HistorikerInnen und AusstellerInnen „gemachte“ Narrative die Darstellung strukturieren. Zudem un­terliegen Narrative in Museen und Ausstellungen politischen Konjunkturen und Ein­flussnahmen. In Polen, wo seit 2015 und 2016 eine zunehmende Dominanz nationalis­tischer Narrative in der Geschichtspolitik zu beobachten ist (Siehe dazu etwa Saryusz-Wolska/Stach/Stoll 2016), die sich unter anderem in der Gründung von Forschungseinrichtungen, Bildungsinstitutionen, Museen, aber auch strafrechtlichen Maßnahmen und der Verabschiedung von Gesetzen niederschlägt, übersetzte sich dies im Fall des Danziger Museums in direkte, konkrete politische Inter­vention mit weitreichenden Folgen für Personal und Inhalt der Ausstellung.

Deutlich wird an dieser Episode aber nicht nur die Anfälligkeit von Geschichte für eine Indienstnahme durch die Politik, sondern auch, dass die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg in Polen und in Deutschland ausgesprochen eng aufeinander bezogen sind. Dies gilt ebenso für die Erinnerung an den → Holocaust, obwohl der Holocaust kein unmittelbarer Teil von Kriegsereignissen war, selbst wenn sich die Entwicklung hin zur so genannten Endlösung während des Krieges erheblich radikalisierte. Er hebt sich somit vom Krieg ab und unterliegt seit langem einer weltweiten Universalisierung (Siehe dazu etwa Assmann/Conrad 2010). In Polen und in Deutschland nahm und nimmt dieses Verbrechen auf je unterschiedliche Art und Weise einen besonderen Stellenwert ein, wurde es doch in Deutschland erdacht und geplant und zu einem beträchtlichen Teil im östlichen Europa und in Polen vor den Augen der dortigen Bevölkerung implementiert und durchgeführt, auch unter Mithilfe eines Teils der lokalen Bevölkerung. Als Folge sind sowohl Deutsche und Juden als auch Polen und Juden und auch Polen, Deutsche und Juden in einem Dreiecksverhältnis nach 1945 „neu aufeinander bezogen worden“ (Dan Diner) – das Verhältnis der Deutschen zu den Juden ist vom Holocaust ebenso geprägt, wie dies in Polen der Fall ist (Diner 2002). Beeinflusst davon sind aber auch das Verhältnis der Deutschen und der Polen jeweils zu sich selbst und das Verhältnis der Deutschen zu den Polen. Wie sich diese Verhältnisse jeweils ge­stalten, unterliegt einer anhaltenden dynamischen Veränderung.

So wird etwa in Deutschland seit 2017 eine intensive Debatte darüber geführt, wie eine angemessene Erinnerung an alle, die jüdischen wie die nichtjüdischen Opfer des Kriegs in Polen aussehen kann. Am 30. Oktober 2020 hat der Deutsche Bundestag den Be­schluss gefasst, einen „Ort des Erinnerns und der Begegnung“ mit Polen zu errichten (https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw44-de-deutsch-polnische-geschichte-798198, 7.3.2021). Dass sich in Deutschland die Erinnerung an die deutschen Opfer des Zweiten Welt­kriegs immer weiter ausdifferenziert, wird an einem weiteren Beschluss des Deutschen Bundestages deutlich, der kurz zuvor verabschiedet worden war – darin sprach sich das Parlament Bundestag für die Errichtung eines Erinnerungsortes für alle Opfer des deut­schen Vernichtungskrieges und der Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg aus, wobei vor allem bislang weniger beachtete Opfergruppen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik etwa im östlichen Europa stärker Berücksichtigung finden sollen (https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw41-de-opfer-nationalsozialismus-797436, 7.3.2021). Vorangegangen war beiden Beschlüssen eine überfällige, konflikthafte Debatte, in der um das Verhältnis der Deutschen zu denjenigen Ländern, die sie während des Zweiten Weltkriegs okkupiert haben, heftig gerungen wurde.

In Polen wird ebenfalls weiter über die angemessene Erinnerung an den Holocaust, an die jüdische Bevölkerung und über die Geschichtsschreibung zu den Jahren 1939 bis zum Ende des Krieges und darüber hinaus debattiert und gestritten. Aufgrund der erwähnten Dominanz nationalistischer Narrative seitens der polnischen Regierung ist diese Debatte von einer ausgesprochenen Polarisierung gekennzeichnet, in der diame­tral verschiedene Positionen aufeinandertreffen: Während die eine, offizielle Seite die Rolle der polnischen, nichtjüdischen Zivilgesellschaft bei der Rettung von Jüdinnen und Juden und den Widerstand der Gesellschaft gegen sowohl Nationalsozialismus als auch Stalinismus betont und diese Sicht in Museen und Bildungseinrichtungen wie dem Pilecki-Institut (Das Pilecki-Institut ist eine Einrichtung, die sich der Erforschung der Erfahrung von Polen im 20. Jh. sowie der Erinnerung daran verschrieben und eine Dependance in Berlin errichtet hat, um im Einklang mit der vorherrschenden Geschichtspolitik – entsprechendes Wissen in Deutschland zu verankern) in Berlin institutionalisiert, betonen andere wie etwa der Historiker Jan Grabowski, dass HistorikerInnen und PolitikerInnen in Deutschland von der falschen Meinung abrücken müssten, Deutschland sei allein für die Ermordung der Juden ver­antwortlich. Denn die Durchführung des Holocaust sei etwa ohne die Mithilfe von nichtjüdischen Polen nicht möglich gewesen. Grabowski klagte vor diesem Hintergrund im Sommer 2020 in einem Zeitungsartikel, in dem Bestreben in Deutschland, die ganze und alleinige Verantwortung für den Holocaust zu übernehmen, werde „uns Polen, uns Ungarn, uns Franzosen, uns Mitgliedern von so vielen anderen Nationen unser eigenes Recht und unsere Pflicht genommen, unsere Schuld für unsere konflikthafte und dra­matische Geschichte zu besitzen und anzunehmen“ (Jan Grabowski, Germany Is Fueling a False History of the Holocaust Across Europe, Haaretz vom 22. Juni 2020). Dies ist eine streitbare Position zur Frage von Mittäterschaft, die die kollektive Verantwortung für den Holocaust über Deutschland hinaus, über das Land hinaus, wo das staatlich finanzierte Programm zur Ermordung der Jüdinnen und Juden erfunden und auf den Weg gebracht wurde, erwei­tern möchte.

Hier zeigt sich, dass die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust in beiden Ländern und in den bilateralen Beziehungen von Deutschen und Polen seit 1945 eine eigene Geschichte und Dynamik entwickelt hat, die nicht zu Ende ist und nicht zu Ende sein kann. Sie geht jeweils auf den historischen Kontext zurück: Hier der deutsche Aggressor, der mit dem Überfall auf Polen im September 1939 eine eindeutige und nicht zu relativierende Schuld auf sich geladen hatte, aber nach 1945 die Chance zu einer demokratischen Entwicklung erhielt. Dort das überfallene, verwüstete, aber auch widerständige Land mit Millionen von Opfern, das nach 1945, nach einer kurzen Phase des Übergangs, unter den Vorzeichen der Implementierung der Volksrepublik Polen keine freiheitlich-demokratische Ordnung etablieren konnte, sondern eine Ordnung, die von einem großen Teil der Bevölkerung als weitere Okkupation erfahren oder wahr­genommen wurde.

Unter diesen Vorzeichen stellten und stellen der Zweite Weltkrieg und der Holocaust in den deutsch-polnischen Beziehungen eine sehr tiefe, schmerzhafte und dauerhafte Zäsur dar, die bis heute mit ganz persönlichen Geschichten und Erfahrungen in zahl­reiche polnische und deutsche Familien hinein- und nachwirkt. Diese Zäsur ist nicht nur schmerzhaft, sondern sie ist ebenso komplex, weil die im Krieg zutage tretenden und aus dem Krieg resultierenden Konstellationen von Tätern und Opfern in dem oben skizzierten polnisch-deutsch-jüdischen Beziehungsgeflecht nicht immer ganz so eindeu­tig waren, wie es die obige Gegenüberstellung von „Aggressor“ und „Überfallener“, von Tätern und von Opfern suggeriert. Gerade in Bezug auf die Alltagsgeschichte der Besat­zungsgesellschaft, die als soziale Praxis zu verstehen ist, ist von vielfältigen unterschied­lichen Verhaltensweisen auszugehen, die von Mitmachen, Zustimmen und Hinnehmen bis zu Abstand, Sich-Distanzieren oder Widerstand reichen konnten – diese differen­zierenden Betrachtungsweisen rücken in der Geschichtswissenschaft in jüngster Zeit stärker in den Vordergrund. Für die Betrachtung dieser Verhaltensweisen hat Alf Lüdtke das Konzept des Eigensinns in die Alltagsgeschichte eingebracht (Davis/Lindenberger/Wildt, S. 18). Demnach kennt die Situation des Beherrscht-Seins zahlreiche Mehrdeutigkeiten, die sich nur selten in eine eindeutige und dichotomische Gegenüberstellung von Widerstand und Kollaboration auflösen lassen. Im Gegenteil offenbart die Konstellation der Besatzung ein breites Spek­trum an eigensinnigen Verhaltensweisen, die eine Gleichzeitigkeit von Gehorsam und Widerständigkeit und auch unvereinbare Verhaltensweisen einzelner Akteure evozierten und zuließen (Lüdtke 1991, S. 49f. Siehe dazu auch Tönsmeyer 2015, S. 281–298).

Es gilt in diesem Sinne, mit einem differenzierenden Blick zum Beispiel antisemitische Einstellungen und Handlungen nicht nur vieler Deutscher, sondern auch vieler Polen vor, während und nach dem Krieg zu berücksichtigen. Sie führten dazu, dass Jüdinnen und Juden auch von ihren polnischen Nachbarn verraten, ermordet oder an die deut­schen Okkupanten ausgeliefert wurden, wie es die Forschungen von Barbara Engelking, Jan Grabowski und anderen inzwischen belegt haben (Siehe vor allem die detaillierte und umfassende mikrohistorische Analyse des Schicksals der jüdischen Bevölkerung in einigen ländlichen Regionen Polens: Engelking/Grabowski 2018). In den differenzierenden Blick einbezogen gehört ebenso der Widerstand vieler Polinnen und Polen gegen die natio­nalsozialistische Herrschaft sowie die Bereitschaft, Juden vor dem Holocaust zu retten. Und nicht zuletzt muss in die Weltkriegserzählung der Komplex der Vertreibung der deutschen Bevölkerung nach 1945 Berücksichtigung finden.

Gerade weil die Konstellation komplex ist, verwundert es nicht, dass die Bevölkerungen und ihre Repräsentanten in Polen und Deutschland in allen Fragen der Erinnerung an diesen Krieg und sein Nachleben eher emotional und selten gleichgültig aufeinander reagieren. Dabei wird in Polen besonders durch die Medien genau beobachtet, wie der Zweite Weltkrieg sowie der Verlauf des Holocaust in Polen in Deutschland dargestellt werden. Eine Sensibilität dafür, wie in Polen den Holocaust auf seine Art und Weise erinnert und verarbeitet wird, ist in Deutschland erst allmählich gewachsen (Siehe dazu Steffen 2011). Sie dürf­te durch die seit 2017 in Deutschland geführte Debatte um eine angemessene Form der Erinnerung an die polnischen Opfer des Krieges zugenommen haben, obwohl auch dies angesichts strikter Gegenpositionen zu einem solchen Denkmal kein eindeutiger Befund sein kann (Bingen/Lengemann 2019). Eine solche Sensibilität für die jeweiligen Aushandlungsprozesse über das Gedächtnis an den Krieg und den Holocaust scheint für die Kommunikation auf beiden Seiten unerlässlich zu sein – und wird gleichwohl immer wieder durch nati­onale bzw. nationalistische und transnationale politische Entwicklungen auf die Probe gestellt. Inzwischen sind Reaktionen in beiden Ländern zu beobachten, wenn es um die Erinnerung oder die Geschichtsschreibung an Krieg und Holocaust geht – so hat etwa der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands in jüngster Zeit die Tatsache verurteilt, dass Jan Grabowski und Barbara Engelking im Februar 2021 in Polen juristisch für ihre Forschungsergebnisse aus dem oben erwähnten Buch Dalej jest noc [Und immer noch ist Nacht] angegriffen wurden. Der Verband kritisierte die entsprechende „Politisierung der Geschichtsforschung“, und schloss sich damit einem breiten internationalen Protest an, der von der IHRA, der International Holocaust Re­membrance Alliance, getragen wurde (Siehe https://www.historikerverband.de//mitteilungen/mitteilungs-details/article/vhd-verurteilt-dasgerichtsverfahren-gegen-barbara-engelking-und-jan-grabowski.html, 6.3.2021).

Neue Rahmen für die Erinnerung: 1989 und die Folgen

Eine entscheidende Dynamik erhielt die deutsch-polnische Kommunikation über den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust und die Erinnerung daran durch das Wendejahr 1989. Dieses Jahr führte – nach dem Kalten Krieg und im Zuge der zunehmenden Globalisierung – zu einem erheblichen Kommunikationsschub zwischen den verschie­denen Teilen Europas und der Welt. Debatten über Erinnerung und Gedächtnis werden seither immer seltener nur in einem Land geführt. Zwar können nationale Gedächtnis­konstruktionen nach wie vor selbstzentriert und abgeschottet ausfallen, aber sie können aufgrund der intensivierten internationalen Medialisierung ebenso verstärkt von außen befragt werden. So verlassen Selbstverständigungsdebatten den nationalen (Schutz-) Raum – was sie manchmal besonders schmerzhaft macht, haben es doch mythisierende Selbstbilder und Erinnerungskonstruktionen auf diese Weise schwerer und können es sich immer weniger leisten, die Opfer der eigenen Geschichte entweder zu vergessen oder zu verabsolutieren. Als ein Beispiel kann man hier den Entschluss des Deutschen Bundestages vom 10. Februar 2011 zu 60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebe­nen – Aussöhnung vollenden anführen, der in seiner unkritischen Sichtweise auf dieses Dokument aus dem Jahr 1950 die Perspektiven anderer, vom Komplex Vertreibung auch betroffener Europäer, etwa der Polen oder der Tschechen, nicht in den Blick nahm. Prompt erfolgte eine Reaktion von über 50 internationalen Historikern und Histori­kerinnen, die den Beschluss in einer gemeinsamen Erklärung kritisierten und so eine Öffentlichkeit schufen, die den nationalen Raum des Bundestages verließ (Siehe https://www.hsozkult.de/debate/id/fddebate-132244, 7.3.2021). Fast gleich­zeitig mit dieser Internationalisierung seit 1989 verschwand die Zeit des Kalten Krieges langsam aus dem Bewusstsein der Menschen, während die Zeit vor 1945 und die damit verbundenen Räume, die im Kalten Krieg wie eingefroren wirkten, wieder näher rück­ten, besonders die Zeit des Zweiten Weltkrieges und die unmittelbare Zeit danach. Dan Diner hat diese Zeitrückkehr mehrfach beschrieben und auf den engen Zusammen­ hang der nach 1989 geführten Restitutionsdebatten mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, wie sie massiv in das Gedächtnis zurückdrängte, aufmerksam gemacht (Etwa Diner 2002).

Mit dieser Zeitrückkehr fiel in vielen europäischen Ländern nach 1989 ein Erinnerungs­boom zusammen, der teilweise den Charakter einer obsessiven Geschichtsbesessenheit annimmt. Sie manifestiert sich in der Neugründung von National-, Okkupations-, Wi­derstands- und jüdischen Museen wie dem Jüdischen Museum in Berlin, dem Museum für den Warschauer Aufstand in Warschau, der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöh­nung in Berlin und dem Museum für die Geschichte der Juden in Polen, dem anfangs erwähnten Museum des Zweiten Weltkriegs, aber auch einer Vielzahl an historischer Belletristik und zahlreichen medialen Inszenierungen. In Deutschland hat das seit den 1990er Jahren blühende, auf Dramatik setzende „Histotainment“, das vor allem mit dem Namen des Journalisten Guido Knopp in Verbindung gebracht wird, zahllose Fil­me im öffentlich-rechtlichen Fernsehen über die Zeit des Zweiten Weltkriegs und den Holocaust hervorgebracht. Trotz zum Teil scharfer Kritik an diesen Formaten, sie seien „Geschichte für Trottel“ und bewirkten mittels grober Desinformation vor allem eine Verdummung der Zuschauer (Siehe etwa Jörg Baberowski, Unsägliche TV-Dokus. Geschichte für Trottel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.5.2014), sieht es nicht danach aus, als würden solche Formate bald wieder verschwinden; eher scheint es, als führe die wachsende zeitliche Entfer­nung zum Zweiten Weltkrieg dazu, ihn zunehmend nicht nur dokumentarisch, sondern auch in Mischformaten oder als Spielfilme unter großer medialer Anteilnahme auf die Fernsehschirme zu bringen, wie etwa der Dreiteiler Unsere Mütter, unsere Väter gezeigt hat, auf den weiter unten eingegangen wird, da er in der deutsch-polnischen Kommunikation zu einer Art Erdbeben geführt hat. Neben „History-TV“ erfreut sich das Live- Nachstellen und Nachspielen ganzer Kriegshandlungen, das so genannte „Reenacte­ment“, großer Beliebtheit. In Polen hat es sich auch der Ereignisse aus dem Zweiten Weltkrieg wie des Warschauer Aufstands und des Holocaust, etwa der Liquidierung des Ghettos der Stadt Będzin im Jahr 2010, bemächtigt. In Polen ist das Interesse an einer popularisierten Darstellung von Geschichte generell derart gewachsen, dass alle gro­ßen Tageszeitungen und Wochenmagazine regelmäßige Beilagen oder Sonderausgaben zu den unterschiedlichsten historischen Themen herausgeben, wobei die traditionellen Narrative von Kampf, Widerstand und Opferbereitschaft im Zweiten Weltkrieg nach wie vor populär sind. Die Bedeutung der Geschichte für die Selbstvergewisserung zeigt sich auch im öffentlichen Raum, in dem seit 1989 zahlreiche neue Denkmäler für verschiedene Opfergruppen des Zweiten Weltkriegs errichtet wurden, in Berlin etwa für Homosexuelle, Sinti und Roma und die Opfer der Euthanasie – diese Gedenklandschaft wird mit den anfangs erwähnten Beschlüssen aus dem Jahr 2020 für Erinnerungs- und Gedenkorte für die Opfer der nationalsozialistischen Besatzungspolitik in Polen und im östlichen Europa noch erheblich erweitert. Im östlichen Europa wiederum werden Denkmäler auch für diejenigen gebaut, die jetzt als „Helden“ entdeckt und dement­sprechend gewürdigt werden, Helden, die es vor 1989 nicht sein durften, weil sie nicht in offiziell verkündete Geschichtsbilder passten, heute aber zur Identitätsfindung und -stabilisierung gebraucht werden.

Darüber hinaus werden allerorts jüdische Orte und Friedhöfe restauriert – jüdische Ge­schichte wird an oftmals sehr sichtbaren Orten wie in den beiden Jüdischen Museen in Berlin und Warschau präsent gemacht. In Bezug auf die jüdische Bevölkerung bzw. auf die Leerstelle, die der Holocaust in beiden Ländern hinterlassen hat, hat dabei in den letzten Jahrzehnten ein bemerkenswerter Wandel stattgefunden: Für viele nichtjüdische Polen und Deutsche haben Juden sich von einer Art Paria und Parvenu-Volk, von einer verfolgten, verachteten und möglichst auszugrenzenden Gruppe, die sie zu Beginn des 20. Jhs. für eine Mehrheit in den Gesellschaften waren, zu einer Art Modeerscheinung gewandelt, zu einem boomenden Phänomen. In beiden Ländern floriert eine Art „Kon­junktur des Jüdischen“, die sich in jüdischen Kultur-Festivals in zahlreichen Städten, in Klezmer-Musik und in mannigfaltigen künstlerischen Inszenierungen jüdischer An-und Abwesenheit manifestiert. Auch das Studium von jüdischen Lebenswelten erfährt in Deutschland ebenso wie in Polen über die Einrichtung von eigenen Studiengängen zu Jüdischen Studien und Forschungszentren zur jüdischen Geschichte und Kultur eine hohe Wertschätzung und internationale Anerkennung: Es gibt ein starkes Interesse, sich mit dem jüdischen Erbe über den rein historischen Aspekt hinaus zu beschäftigen.

Der Erinnerungsboom, der mit einer Individualisierung und gleichzeitig oft von ei­ner großen Emotionalisierung der jeweils eigenen Gruppen-Erinnerung begleitet wird, stellt unter anderem den Versuch dar, auf das unwiederbringliche Aussterben derjenigen Generationen zu reagieren, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt haben, sowie denen Gerechtigkeit zuteilwerden zu lassen, die sie bis 1989 nicht erfahren durften: Über die öffentliche Repräsentation von Geschichte sollen die Nachgeborenen zur Teilhabe an gemeinsamen Erinnerungen verpflichtet werden und das für die eigene Gruppe prekä­re Aussterben der Erlebensgeneration kompensieren. Die partikulare Erinnerung einer Gruppe wird so zu einer nationalen Erinnerung gemacht und als solche im kulturellen Gedächtnis verankert. Nicht selten wird die eigene Gruppe dabei zum „Opfer“ stilisiert – verbindet sich mit dem Opfer-Begriff doch in der historischen und letztlich auch poli­tischen Debatte immer zunächst eine Art Unschuldsvermutung, mit der sich Gedenk-, Entschädigungs-, Interventions- und andere Politik legitimieren lässt. Auch damit zu­sammenhängend haben sich die Gedächtnisrahmen in Deutschland und in Polen seit 1989 verschoben. In Deutschland etwa wird – bei gleichzeitiger und nicht abnehmender Betonung, dass der Holocaust erinnerungskulturell die herausragende Stellung einneh­me – erneut verstärkt an das Leiden von Deutschen im Zuge des Zweiten Weltkriegs erinnert – Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg erhielten mehr Aufmerksamkeit als zuvor. Polen erlangte seine Unabhängigkeit wieder und erlebte eine fundamentale De­mokratisierung, die neue Debatten und kulturelle Repräsentationen ermöglichte, und, angesichts des vorherigen Beschweigens in unterschiedlicher Intensität, unvermeidlich machte. Dies lief und läuft – im Vergleich zu Deutschland – beschleunigt und verdich­tet ab. Es rücken diejenigen in den Fokus, die bis 1989 keine Stimme fanden, wozu etwa die nach Sibirien Deportierten, die Opfer polnisch-ukrainischer Auseinandersetzungen, die Soldaten der Heimatarmee und die Gefallenen des Warschauer Aufstands gehören. Vor diesem Hintergrund und gerade, weil sich die Gedächtnisrahmen verschoben ha­ben, kam es nach 1989 in der deutsch-polnischen Kommunikation immer wieder zu teils erbittert geführten Debatten, die nicht selten eher als ein monologisches „Reagie­ren“ denn als ein dialogisches „Kommunizieren“ ausgetragen wurden und werden.

Den Holocaust erinnern: Polen und Deutschland nach 1945

Bevor auf einige dieser Debatten näher eingegangen wird, soll kurz nachgezeichnet wer­den, wie sich die Erinnerung an den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg seit 1945 bis 1989 und darüber hinaus in Deutschland und in Polen vollzogen hat. Für den Ho­locaust gilt dabei, dass er angesichts seiner Universalisierung nicht nur von einem par­tikularen zu einem nationalen, sondern zu einem weltweiten Gedächtnis geworden ist – dies war aber keineswegs immer so. Unmittelbar nach dem Krieg 1945 wurde ihm in zahlreichen Ländern keine große Bedeutung zugemessen, nicht nur, weil sich der Kalte Krieg mit seiner atomaren Bedrohung über die Kriegserinnerungen legte. Zwar entstand nach 1945 rasch europaweit in West und Ost ein weitgehend übereinstimmendes Ge­dächtnis daran, was das nationalsozialistische Deutschland dem Rest Europas während des Kriegs angetan hatte, und dass Deutschland am Zweiten Weltkrieg die Schuld trug. Das führte dazu, dass vielerorts Fragen der Zusammenarbeit mit den Nationalsozialis­ten auch bei der Durchführung des Holocaust zunächst ausgeblendet blieben und von Frankreich über Italien nach Polen Mythen von Widerstand gegen die Herrschaft der Deutschen entstehen konnten (Just 2002, S. 163), die mal weniger, mal mehr Berechtigung hatten. Diese Entwicklung hin zu Narrativen, die um die Idee eines kollektiven Leidens der jeweils eigenen Nation kreisten, ermöglichten es, die spezifische Tragödie der Juden einerseits zu integrieren – andererseits wurde so die Besonderheit des jüdischen Sterbens negiert oder marginalisiert. Juden galten dabei unverändert als die „Anderen“. Schaute man ih­nen in die Augen, sah man wie in einem Spiegelbild die Schuld, die nicht nur Deutsche oder Polen, sondern auch zahlreiche weitere Europäer auf sich geladen hatten – dieser Konfrontation suchten viele aus dem Weg zu gehen.

In Polen lässt sich dies zum Beispiel am bekannten Denkmal des Bildhauers Nathan Rapaport für die „Helden des Ghettoaufstands“ in Warschau von 1948 ablesen. Dieses Denkmal rückte mit heroischem Pathos das kämpferische Heldentum des Freiheitskampfes in den Vordergrund, während die sterbenden Juden auf der Rückseite „ver­steckt“ wurden. Die Opfer wurden als Helden dargestellt, die Widerlegung des Vor­wurfs vom „feigen“ und zum Kampf unfähigen Juden wurde in diesem Denkmal in Stein gemeißelt, obwohl ihr Tod im Prinzip gar nicht so heldenhaft war, sondern Folge einer bis dato unbekannten Grausamkeit. Mit seiner Vermischung von Romantik und sozialistischem Realismus war es durchtränkt von proletarischer Ideologie und versuch­te, die religiöse Zugehörigkeit der Aufständischen als Kennzeichen ihrer Identität zu marginalisieren – sie sollten als kämpfendes Proletariat wahrgenommen werden (Siehe zur Geschichte des Denkmals Young, 1989). Die Erinnerung an die ermordeten Juden als eigenständige Opfergruppe spielte in Polen keine herausragende Rolle. Zwar fanden seit 1944 Diskussionen über die Orte der Vernich­tung und über ihre angemessene Ausgestaltung als Gedenkstätten sowie auch über eine Mitschuld der Polen am Holocaust statt. Die Debatte wurde unter anderem durch das Werk des Schriftstellers Tadeusz Borowski inspiriert, aber auch von anderen Schriftstel­lern geführt (Siehe Wóycicka 2009, S. 207–232; auch Friedrich 2010). Kontrovers wurde in der Öffentlichkeit im Jahr 1947 die Autobiographie des Serologen Ludwik Hirszfeld Geschichte eines Lebens diskutiert, in der Hirszfeld sei­ne Jahre im Warschauer Ghetto rekapitulierte und dabei einige nicht sehr vorteilhafte und verallgemeinernde Bemerkungen über die jüdische Bevölkerung verfasste, worauf­hin das Buch in der jüdischen Presse und Politik relativ einmütig abgelehnt wurde (Steffen 2013). Viele Nichtjuden in Polen hingegen lobten die Schilderungen Hirszfelds, der zwar den → Antisemitismus in Polen verurteilt hatte, gleichzeitig „den Polen“ aber bescheinigte, vielen Juden geholfen zu haben – hier findet man eine frühe Version der bis heute ge­führten Diskussion um den Stellenwert der so genannten „Gerechten“ innerhalb der polnischen Gesellschaft.

In Deutschland wurde diese Arbeit erst Jahre später rezipiert – ein deutsch-polnisches oder ein deutsch-polnisch-jüdisches Gespräch über den Holocaust fand zunächst nur in sehr begrenzten Räumen wie etwa in der 1948 in Berlin gegründeten Hellmut-von Gerlach-Gesellschaft und nur für kurze Zeit statt. Auch die 39 Veröffentlichungen der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission in Polen, die Selbstzeugnisse und histo­rische Abhandlungen zum Holocaust in Form von Büchern und Broschüren beinhalte­ten, wurden in Deutschland nur sehr vereinzelt wie Mordechaj Gebirtigs Liedersamm­lung Es brennt aus dem Jahr 1946 sogleich übersetzt und somit zur Kenntnis genommen.

Die kurze Blütezeit für offen geführte Debatten war aber ab 1948/1949 mit der kom­munistischen Machtergreifung und der damit einhergehenden Gleichschaltung an ein Ende gekommen. In einer Zeit bis etwa 1980, in der der Zweite Weltkrieg zwar stets einen zentralen Referenzraum sowohl der staatlichen als auch der privaten Erinnerung bildete, blieben offene Diskussionen über den Holocaust, die Minderheiten, aber auch über den als bürgerlich verpönten → Warschauer Aufstand durch die kommunistischen Regierungen blockiert. Solche Diskurse fanden eher im privaten Rahmen eines Gegen­gedächtnisses einen Raum, so dass nicht von einer gänzlich monolithischen und nur offiziellen Erinnerungskultur in Polen auszugehen ist. Über die private Erinnerung wa­ren Juden im nationalen Bewusstsein präsent, öffentlich wurden sie aber nicht als eigene Opfergruppe anerkannt. Ein symptomatisches Beispiel aus den 1960er Jahren ist der Eintrag Konzentrationslager in der neu erschienenen polnischen Großen Enzyklopädie: Es wurde zwischen Konzentrationslagern und Vernichtungslagern unterschieden, zu letz­teren zählte man Treblinka und Birkenau. Daraufhin protestierte das nationalistisch ausgerichtete Lager der Polnischen Arbeiterpartei um Mieczysław Moczar, alle Konzentrationslager seien Vernichtungslager gewesen, und auch dem polnischen Volk habe die Ausrottung gedroht. Der Geschichte der polnischen Juden während des Holocaust sollte nach dieser Logik keine Einmaligkeit zugestanden werden (Sauerland 2007, S. 22). Deutlich wurde diese Lo­gik auch immer wieder im Umgang mit dem symbolischen Ort „Auschwitz“. Das Re­gime der Volksrepublik Polen machte Auschwitz zu einem Symbol für die Verfolgungen und den Widerstand der polnischen Nation – die Ermordung der Juden wurde weitge­hend ausgespart. Nach dem Besuch von Papst Johannes Paul II. in der Gedenkstätte im Jahr 1979 wurde dem Lager darüber hinaus eine neue, religiös polnisch-katholische Bedeutung verliehen, woraus sich nach 1989 zahlreiche Konflikte entwickelten. Erin­nert sei hier an den Streit um das Karmeliterinnenkloster in einem an das Lager angren­zenden Haus und um die dort errichteten Kreuze in der ehemaligen Kiesgrube (Musiał 1998). Diese einseitige Aneignung von Auschwitz ist unterdessen überwunden, so dass Auschwitz heute für viele Polen ein polnisches, ein jüdisches, ein multinationales und ein univer­selles Symbol ist (Kucia 2002, S. 214). Dies wiederum heißt nicht, dass heute allgemein anerkannt ist, das jüdische Leiden in Polen während des Zweiten Weltkrieges sei ein Spezifisches gewesen, das sich vom Leiden der Nichtjuden prinzipiell unterschieden hätte – Umfragen zeigen, dass seit 1992 die Zahl derjenigen konstant auf einem Niveau von ungefähr 50 Prozent der Bevölkerung bleibt, die glauben, nichtjüdische Polen hätten während des Krieges ebenso viel gelitten wie Juden, während die Zahl derjenigen, die meinen, Juden hätten mehr gelitten als Nichtjuden in Polen, beständig abnimmt (Michał Bilewicz, Na antysemityzm sama wiedza nie wystarczy, in: Gazeta Wyborcza vom 21.5.2013. Siehe auch Winiewski/Bilewicz 2014).

Historische Forschungen über den Zweiten Weltkrieg und auch über den Holocaust wurden in Polen nach dem Krieg zwar weitergeführt, sie waren aber nun teilweise deut­lich von politischen Vorgaben und Repressionen gekennzeichnet, obwohl mit dem Jüdi­schen Historischen Institut in Warschau 1947 eines der ersten Zentren der Holocaust­forschung weltweit gegründet wurde, das das einzige seiner Art im östlichen Europa zur Zeit des Kalten Krieges blieb (Siehe Stach 2008, S. 58). Die Geschichte der Judenverfolgung wurde kaum in die allgemeinen Darstellungen zur polnischen Geschichte integriert, sondern „fast additiv an die Kriegsgeschichte angehängt“ (Pohl 2010, S. 172). Eine Rekonstruktion jüdischer Orte oder Gebäude in öffentlichen Räumen fand in den Nachkriegsjahren ebenfalls kaum statt – sie wurden entweder beseitigt oder ignoriert. Die oft zerstörten oder zweckentfremdeten Synagogen, Krankenhäuser und andere Orte wurden fast nirgends wieder aufgebaut oder konserviert, sondern dem allmählichen Verfall preisgegeben und ignoriert. Im ehe­maligen jüdischen Viertel im Warschauer Stadtteil Muranów, wo die Deutschen das Ghetto errichtet hatten, wurde sehr schnell wieder gebaut, aber noch ohne ein Bewusst­sein dafür, dass hier eine riesige Leerstelle entstanden war.

Auch in Deutschland standen nach 1945 die eigenen, nichtjüdischen Opfer des Krieges im Zentrum des Erinnerns. Als solche, als Opfer des Krieges und von Hitler, verstanden sich nicht nur die Vertriebenen, sondern weite Teile der deutschen Gesellschaft, die Kriegsgefangenen, die Heimkehrer, die Ausgebombten und all jene, die ihre Angehörigen im Krieg verloren hatten oder es nicht verkraften konnten, den Krieg verloren zu haben. Weder die Deutschen in Ost noch in West waren nach 1945 in der Lage, Trauer oder Empathie für die ermordeten Juden oder andere Opfer der nationalsozialis­tischen Vernichtungspolitik aufzubringen, wie es Hannah Arendt in dem Essay Besuch in Deutschland. Die Nachwirkungen des Naziregimes (1950) feststellte, die einen „allgemeinen Gefühlsmangel“ und „offensichtliche Herzlosigkeit“ als Symptom einer „tief verwurzelten, hartnäckigen und gelegentlich brutalen Weigerung, sich dem tatsächlich Geschehenen zu stellen“ (Arendt 1993, S. 25), diagnostizierte. Den Juden, die noch oder wieder in Deutsch­land lebten, wichen die Deutschen überwiegend aus, in der öffentlichen Wahrnehmung wurden sie ignoriert. Anteilnahme an ihrem Schicksal oder die Anerkennung der Spe­zifik des jüdischen Leidens hätte die Selbst-Wahrnehmung als Opfer erheblich gestört und in Frage gestellt.

Es war in Deutschland nach dem Krieg und bis in die 1970er Jahre hinein nicht unüb­lich, sieben Millionen Vertriebene gegen sechs Millionen ermordete Juden aufzurech­nen (Assmann 2006, S. 192). Die Juden wurden dabei einfach zu den Kriegstoten gezählt, entsprechend dem Trend, an den Krieg und die eigenen Kriegsverluste zu erinnern – man kommt kaum umhin, hier eine Ähnlichkeit zu Polen zu entdecken, wo der Holocaust ebenfalls zur Kriegsgeschichte gezählt wurde. Für die wenigen Juden in Deutschland bildete hingegen der Holocaust den zentralen Bezugspunkt – hier bestand eine deutliche Erinnerungsdifferenz. In den 1960er Jahren lenkten dann der Eichmann-Prozess in Jerusalem sowie der Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main das weltweite und deutsche Interes­se auf die Shoah. Ein von Empathie bestimmtes Erinnern wurde durch die gleichnami­ge US-amerikanische Fernsehserie Holocaust, die in Deutschland 1979 erstausgestrahlt wurde, eingeführt, obwohl man der Serie auch eine Trivialisierung der Shoah vorwarf. Mit dieser Serie wurde vielen Westdeutschen erstmalig eine individuelle Dimension des begangenen Massenmordes klar. Seitdem wurde in der Bundesrepublik verstärkt an den Holocaust erinnert und in der Geschichtswissenschaft begann man sich ebenfalls, für die Opfer und nicht nur für die Täter des Nationalsozialismus zu interessieren. Richard von Weizsäcker listete dann in seiner berühmt gewordenen Rede zum 50. Jahrestag zum 8. Mai 1945, in der er den Deutungswandel dieses Datums von einer Katastrophe zur Befreiung vornahm, in einer zuvor nie gekannten Umfänglichkeit alle Opfer des Natio­nalsozialismus auf und er nannte auch die nichtjüdischen Polen, die ihr Leben verloren hatten, und die bis dahin kaum jemals eine nennenswerte Rolle im deutschen Erinne­rungsdiskurs gespielt hatten.

Insgesamt hat sich die deutsche Erinnerungsgeschichte seit 1945 diskontinuierlich und mit Brüchen vollzogen – einen gesicherten und von Allen geteilten Konsens, der nie mehr in Frage gestellt würde, kennt eine Demokratie nicht. Gleichwohl ist in der öffent­lichen Erinnerungskultur der Bundesrepublik eine Entwicklung vollzogen worden: von der pauschalen Schuldabwehr hin zur Anerkennung individueller Schuld und kollekti­ver Verantwortung (Daher lässt sich die Vergangenheit auch weder „überwinden“, so zum Beispiel Krasnodębski 1998 noch „bewältigen“, wie es der in Deutschland sehr geläufige Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“ verheißt. Beide Begriffe suggerieren ein mögliches Ende eines nicht abschließbaren Prozesses. Letzterem fehlt zudem im Wortstamm ein – für den Prozess an sich unabdingbares – Element von Freiwilligkeit. Am ehesten lässt sich Vergangenheit in Anlehnung an Theodor W. Adorno wohl „aufarbeiten“). Die Tatsache, dass der Mord an den Juden eine deutsche Schuld ist, ist somit eine langsam und mühselig erstrittene Moral der Bundesrepublik, beileibe keine Selbstverständlichkeit, die nach 1945 unmittelbar ins deutsche Gedächtnis einge­gangen wäre.

In Polen wiederum wurden seit den 1980er Jahren und mit dem Aufkommen der offi­ziellen Geschichtsbilder und der traditionellen Erzählung vom polnischen Widerstand und dem heldenhaften und helfenden Verhalten während der Besatzungszeit relativiert. Zu Beginn der 1980er Jahre erfolgte mit Jan Józef Lipskis berühmtem Essay Zwei Va­terländer – zwei Patriotismen bereits nicht nur eine Revision der offiziellen These Gie­reks von der moralisch-politischen Einheit der Nation, sondern auch die Enthüllung sogenannter weißer Flecken, der von Stalin an den Polen begangenen Verbrechen, des polnischen Antisemitismus, der Vertreibung der Deutschen und des Verhältnisses zu den Ukrainern, Weißrussen und Litauern. Eine erste breite Debatte über das Verhal­ten der nichtjüdischen Polen während des Holocaust stieß der Literaturwissenschaftler Jan Błoński in seinem bekannten Essay Die armen Polen schauen aufs Ghetto von 1987 an, der einen Habitus von Gleichgültigkeit gegenüber dem Völkermord an den Juden skizzierte. Diese Debatte wurde auch in Deutschland aufmerksam rezipiert. Nach 1990 kam es in Polen auf der Ebene der Gedenkkultur zu einer intensiveren polnischen Be­schäftigung mit dem Völkermord an den Juden, die eine Welle an populären Darstel­lungen, Filmen, an Kunstwerken und an wissenschaftlicher Forschung auslöste. Den­noch hielt die Psychologin und Holocaust-Expertin Barbara Engelking-Boni im Jahre 2008 fest: „Die Geschichtsschreibung zur nationalsozialistischen Okkupation in Polen hat eine 60jährige Tradition, es gibt Muster für Kategorisierungen und für die Grund­lagen der Chronologie. In den allermeisten Fällen ist dort kein Platz für die Juden. Der Holocaust ist noch immer nicht zu einem Teil der Geschichte Polens geworden” (Barbara Engelking-Boni, Dolary skupuję, koty przechowuję, in: Gazeta Wyborcza vom 16.02.2008). Zwei Jahre später sprach der Historiker Jan Piskorski von einem „dramatischen Fehlen“ (Piskorski 2010, S. 16) einer Erinnerung an die Juden.

Hier wirken die historisch konstruierten-fiktiven oder realen Teilungen zwischen Juden und Polen seit dem ausgehenden 19. Jh. nach, die während des Zweiten Weltkriegs noch vertieft wurden. Zunächst wurden die Gruppen faktisch durch Ghettoisierung und Er­mordung der Juden getrennt. Darüber hinaus wirkte das Verhalten einiger Polen wegen ihrer begrenzten Beteiligung am Holocaust ebenso trennend wie die Tatsache, dass sich manche dazu verleiten ließen, sich die Verstecke von Juden bezahlen zu lassen oder Ju­den zu erpressen bzw. zu denunzieren. Selbst wenn sie auf diese Weise Leben retteten, hat sich dieses Verhalten in jüdische Erinnerungen und als schuldhaftes und zu verdrängendes Verhalten auch in die polnischen eingeschrieben – denn angesichts ihrer nega­tiven Einstellung gegenüber den Juden und ihrer Unfähigkeit zum Mitgefühl werden nicht wenige Polen Scham empfunden haben, was wiederum in Wut und Aggression sowie Antisemitismus umschlagen konnte – die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs hin­terließen tiefe psychologische Erinnerungswunden. Der Literaturwissenschaftler Kazi­mierz Wyka hat dies bereits 1945 so erfasst: „Der wirtschaftlich-moralische Standpunkt des durchschnittlichen Polen angesichts der Tragödie der Juden sah kurz gesagt so aus: Die Deutschen, die die Juden ermordeten, begingen ein Verbrechen. Wir haben das nicht getan. Für diese Verbrechen werden die Deutschen bestraft werden, die Deutschen haben ihr Gewissen beschmutzt, wir aber – wir haben bereits jetzt nur Vorteile davon und werden auch in der Zukunft nur Vorteile davon haben, ohne unser Gewissen zu belasten und ohne unsere Hände mit Blut zu beschmutzen. […] Die Art und Weise, wie die Deutschen die Juden liquidiert haben, fällt auf ihr Gewissen zurück. Die Reaktion auf diese Art und Weise jedoch belastet unser Gewissen. Der einer Leiche herausgeris­sene Goldzahn wird immer bluten, auch wenn keiner sich mehr daran erinnert, woher er stammt“ (Wyka 1957, S. 130f.). Das öffentliche Schweigen über das Thema in Polen war auch Resultat einer Verteidigungshaltung gegen eine bis in die späten 1980er Jahre mehr oder weniger unausgesprochene Anklage gegen die von Wyka erwähnte Vorteilsnahme. Diese Vertei­digung beinhaltete, Teile der Erinnerung abzuspalten und zu verdrängen, um leben zu können – es war eine Verantwortungs- und Erinnerungsabwehr, wie sie in Deutschland flächendeckend zu beobachten war, aber eben auch in Polen vorkam.

Wegen dieser Konstellation, zu der auch gehört, dass „die Juden“ nach 1945 als „Mittä­ter“ bei der Etablierung des kommunistischen Systems in Polen galten, womit an bereits vertraute → Stereotype  aus der Vorkriegszeit angeknüpft wurde, ist die Geschichte des Zweiten Weltkriegs im polnischen kulturellen Gedächtnis vor allem die Geschichte der Konfrontation mit zwei diktatorischen und gewalttätigen Staaten mit all ihren Opfern – nicht in erster Linie die Geschichte des Holocaust. Gleichwohl finden sich in Polen heute als Folge der Pluralisierung von Gedächtnissen seit 1989 sehr unterschiedliche Formen der Erinnerung an den Holocaust. So wurde zum Beispiel ablehnend auf die Forderungen der Theresienstädter Erklärung vom Juli 2010 reagiert, die auf der Ho­locaust Era Assets Conference in Prag abgegeben wurde und die Polen, Litauen und die Ukraine aufforderte, Restitutionsgesetze zu verabschieden, nach denen jüdisches Ei­gentum ohne Erben, nicht, wie bereits geschehen, dem Staatsvermögen zuzuführen ist, sondern an jüdische Organisationen bzw. einen Fonds rückzuerstatten, um Holocaust-Überlebende in Osteuropa entschädigen zu können (https://holocausteraassets.eu/program/conference-proceedings/declarations/, 5.3.2021). Der dort anwesende und Polen repräsentierende, ehemalige Auschwitz-Inhaftierte, Publizist und hochrangige Politiker Władysław Bartoszewski bemerkte dazu, man könne die Juden nicht als speziellen Fall betrachten, ohne alle anderen Polen zu diskriminieren (Piotr Zychowicz, Do kogo należy mienie zamordowanych Żydów?, in: Rzeczpospolita vom 2.7.2009). Der Chefredakteur der konser­vativen Zeitung Rzeczpospolita kommentierte, der Holocaust sei zwar historisch betrach­tet ein besonderes Verbrechen, weil sein Ausmaß eine Ausnahmestellung einnehme und es mit besonderem Kalkül ausgeführt worden sei – dies könne aber keine Konsequenzen für den moralischen Status der Opfer haben, schließlich seien Polen oder Serben ebenso unschuldige Opfer wie die Juden gewesen. Man könne nicht sagen, dass ein unschuldi­ges jüdisches Opfer unschuldiger gewesen sei als andere Opfer. Zwar erkannte Lisicki an, dass die Juden aus der Sicht Hitlers eine spezielle Opferkategorie darstellten, aber würde man sie heute mit größeren „Privilegien“ als andere Opfer versehen, hieße dies, die Logik der Verbrecher zu akzeptieren. Außerdem gelte auch für Juden, die während des Krieges gestorben (sic!) seien, ein juristisches Rückwirkungsverbot.

Hier manifestiert sich eine Opferkonkurrenz, die verkennt, dass für alle Jüdinnen und Juden in Polen jede Konfrontation mit den Besatzern lebensbedrohlich war, während diese Absolutheit für die gesamte Gruppe der Nichtjuden bei aller Gefahr, die auch ihr drohte, so nicht festgehalten werden kann. Hier geht es gleichwohl nicht nur moralisch um einen angemessenen Platz im Pantheon der nationalen und globalen Erinnerungen. Es geht schlicht um die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse bedürftiger Holocaust-Überlebender und die finanzielle Absicherung der Aufklärung über den Holocaust, sei­ner Ursachen und Folgen (Piskorski 2010, S. 14). Obwohl sich an solchen Reaktion zeigt, dass der Trend fort­lebt, die Spezifik des jüdischen Leidens während des Zweiten Weltkriegs zu negieren, so finden sich in Polen nach 1989 auch ganz andere Meinungen, die etwa dafür plädieren, den Holocaust als ein universales Ereignis anzuerkennen, als eine nicht enden wollende Trauerfeier, an der auch die Polen partizipieren müssten. Sie müssten diese Trauer als eine ethische Haltung annehmen, so die Literaturwissenschaftlerin Maria Janion. Sie schrieb die jüdischen Erfahrungen von Heldentum und Kampf in das Nationalmodell ein, um so das Paradigma der nationalen Homogenität aufzubrechen. Auf diese Weise realisierte Janion ein Postulat der Schriftstellerin Maria Czapska von 1957 in der Pariser Exilzeitschrift Kultura: „Der furchtbarste Völkermord in der Menschheitsgeschichte, das Massaker an mehreren Millionen Juden in Polen, das von Hitler als Hinrichtungsort ausgewählt wurde, das Blut und die Asche der Opfer, die in polnischem Boden versi­ckerten, bilden ein wichtiges Band, das Polen mit der jüdischen Nation verknüpfte, wo­bei es nicht in unserer Macht steht, uns von diesem Band zu lösen.“ Diese Verpflichtung, so Janion, gelte für Polen und Europa gleichermaßen und forderte ein, den Holocaust auch in Polen zu beweinen (Janion 2009, S. 310; dort auch das Zitat von Maria Czapska, das ihrem Text: W odpowiedzi redaktorowi Turowiczowi aus der Kultura (Paryż) 6, 1957, entstammt).

Insofern findet man in Polen heute in Bezug auf die Holocaust-Erinnerung zahlreiche Zwischenstufen und mehr Meinungen als es eine strikte Zweiteilung von „Westen= Ho­locaust-Erinnerung“/„Osten= Stalinismus/Kommunismus-Erinnerung“ suggeriert (Zu den Feierlichkeiten zum 9. Mai 2005 in Moskau war in der Berichterstattung häufig von „gespaltener Erinnerung“ bzw. „geteilter Erinnerung“ die Rede. Stefan Troebst verweist in die-sem Zusammenhang darauf, dass die Spaltung eine doppelte sei. Die Erinnerung an Holocaust und GULag teile Europa in West und Ost, mit einer Trennlinie zwischen „Westmitteleuropa – Deutschland – Ostmitteleuropa“ und sodann zwischen Russland und dem vormals zum sowjetischen Hegemonialbereich gehörenden Ostmitteleuropa, siehe Troebst 2005, S. 382). Es kann nicht übersehen werden, dass der Holocaust in Polen seit den 1980er Jahren und verstärkt seit 1989 in der Öffentlichkeit so polarisierte Emotionen auslöst wie kaum ein zweites historisches Thema, nämlich entweder moralische Empfindsamkeit oder Ressen­timent. Die Emotionen der Gesellschaft bestehen dabei nicht nur aus reflexartigem und nationalistischem Zurückweisen einer Mitschuld am Holocaust, obwohl diese von den rechtsnationalen Medien und von der Regierung durch verschiedene Institutionen wie das Institut für Nationales Gedenken oder das Pilecki-Institut befördert werden, son­dern auch aus Betroffenheit, Scham, Trauer und Anerkennung jüdischen Leidens – dies haben die Debatten der vergangenen Jahre deutlich gezeigt.

In Deutschland wiederum reflektiert seit den 1990er Jahren eine große Anzahl von Mahnmalen und Gedenkstätten, Stolpersteinen, inzwischen fast allerorts restaurierten Synagogen, musealen und ästhetischen Repräsentationen den Versuch, die deutsch-jüdi­sche Geschichte und das zeitlich sich immer weiter entfernende Ereignis der Shoah für nachfolgende Generationen präsent zu halten. Auf einer staatlich-offiziellen Ebene sind die Repräsentanten des Landes darum bemüht, ein einvernehmliches Zusammenleben mit den Juden zu demonstrieren, gilt dies doch gegenüber der Weltgemeinschaft als ein Beleg für erfolgreiche Demokratisierung und Zivilisierung der Gesellschaft, auch nach der deutschen Vereinigung – in dieser Hinsicht haben die Juden ihren historischen Son­derstatus und ihren Status als Opfer im Zweiten Weltkrieg gegenüber anderen Minder­heiten in Deutschland nicht verloren: Der Umgang mit ihnen wird als Maßstab für eine kosmopolitische, tolerante Einstellung gesehen – eine Rolle, die andere Minderheiten in Deutschland bislang nicht einnehmen konnten. Diese Gedenkkultur wird auch kritisch beurteilt, können doch Tendenzen zu einer Monumentalisierung des Gedenkens, die einer Abspaltung und Distanzierung des Geschehenen Vorschub leisten, nicht ganz von der Hand gewiesen werden – in Berlin zum Beispiel, so scheint es, gibt es zu Beginn des 21. Jhs. mehr Gedenkorte als Gedenkende. Die Gefahr einer selbstzufriedenen Ritua­lisierung des Gedenkens an die ermordeten Juden, während derer das Gedenken sich selbst historisiert und das Thema an sich aus dem öffentlichen Diskurs verschwindet, ist ständig gegeben.

Plurale und polarisierende Erinnerungen in der deutsch-polnischen Kommunikation seit 1989

In Polen sind heute sowohl die Öffentlichkeit als auch die ZeithistorikerInnen gespal­ten, wie die Beteiligung von Polen am Holocaust einzuordnen ist. In der historischen Forschung wird dieser Komplex immer differenzierter aufgearbeitet, und der bereits er­wähnte Historiker Jan Grabowski verweist darauf, dass die Deutschen in der Zeit der dritten Phase des Holocaust von 1942 bis 1945 „ohne die Zusammenarbeit eines Teils der polnischen Gesellschaft […] nicht imstande gewesen wären, sich versteckende Juden so erfolgreich aufzuspüren“ (Grabwoski 2011, S. 35). Diese Tatsache wird allerdings nicht von der polnischen Regierung geteilt, die an der in den geschichtspolitischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre immer wieder verteidigten Sichtweise festhält, nichtjüdische Polen hätten Juden während des Holocaust massenhaft geholfen und seien im schlimmsten Fall zur Passivität gezwungene Zuschauer gewesen. Diese Sichtweise versucht die polnische Regierung seit 2015 in Bildungs- und Forschungseinrichtungen, in Museen und im Jahr 2018 auch per Gesetz zu implementieren. Denn Anfang 2018 verabschiedete das polnische Parlament ein Gesetz, das die Beschreibung einer Beteiligung der polnischen Nation oder des polnischen Staates an den Verbrechen des Holocausts unter Strafe stellte – ein Gesetz, das erhebliche nationale und internationale Reaktionen hervorrief. Daher wurden die inkriminierten Passagen des Gesetzes fünf Monate später zurückge­nommen, was die globale Dimension von Erinnerungsdebatten im 21. Jh. verdeutlicht. Ebenso klar verriet dieses Vorhaben die Absichten der polnischen Regierung, sich mit allen verfügbaren Mitteln für die populistische Durchsetzung ihrer Version der Geschichte in Polen und in der Welt einzusetzen (Siehe dazu Kończal 2020). Der Widerstand gegen dieses Gesetz in Polen zeigt aber auch, dass in der medialen Öffentlichkeit Polens ebenfalls eine Ausdifferenzierung des historischen Gedächtnisses erfolgt, selbst wenn traditionelle Narrative stark verankert sind und von einflussreichen und auflagenstarken Medien der nationalen und klerikalen Rechten weithin befeuert werden.

In Deutschland hingegen gehört die Überzeugung, die Geschichte des Nationalsozia­lismus erfolgreich aufgearbeitet zu haben ebenso zur Staatsräson wie das Gebot, jegli­chen Formen von Antisemitismus zivilgesellschaftlich und offiziell entgegen zu treten. Es herrscht Stolz auf eine „teils schonungslose Abrechnung mit der eigenen Geschichte, mit den eigenen Eltern und Großeltern“ bei der gleichzeitigen Überzeugung, hier eine präzedenzlose Vorreiterrolle eingenommen zu haben: „Die allermeisten Länder haben mit einer Aufarbeitung der eigenen Verbrechen bis heute noch nicht einmal richtig angefangen“ (So Reinhard Müller, Auschwitz-Prozess vor fünfzig Jahren: Ein Zeichen gegen Völkermord, in: FAZ vom 22.12.2013).

In dieser Grundkonstellation ist es seit 1989 zu zahlreichen konflikthaften Debatten in der deutsch-polnischen Kommunikation gekommen, die, wie anfangs erwähnt, nicht selten eher als Monologe denn als Dialoge ausgetragen wurden. Eigentlich schien eine Verständigung der beiden Gesellschaften mit ihrer konflikterfüllten beziehungsge­schichtlichen Vergangenheit auf einem vielversprechenden Weg zu sein. Mit der definiti­ven Regelung der Grenzfrage zwischen Deutschland und Polen im → Grenzvertrag von 1990 und den Folgeverträgen über gute Nachbarschaft schien es, als habe Deutschland die gegenüber Polen negativen Anteile seiner preußischen Staatstraditionen endgültig abgelegt – vor allem die „negative Polenpolitik“ (Klaus Zernack), die im 18. Jh. in der mit Russland gemeinsam durchgeführten Zerschlagung des polnischen Staates begann, sich im 19. Jh. in der Unterdrückung der polnischen Unabhängigkeitsbewegung fort­setzte und im 20. Jh. im Hitler-Stalin-Pakt gipfelte, schien zu einem Ende gekommen zu sein. Sie sollte durch eine „deutsch-polnische Interessengemeinschaft“ ersetzt werden.

Auch in Fragen der Beurteilung der gemeinsamen Geschichte kam es seit Mitte der 1990er Jahre zu vielversprechenden Ansätzen – etwa in einer polnischen, in Deutsch­land nur wenig wahrgenommenen, aber ausgesprochen differenzierten Debatte über die Vertreibung der Deutschen aus Polen nach 1945 Mitte der 1990er Jahre. Entgegen der traditionellen und bislang vorherrschenden Narrative wurde in dieser Debatte auch nach polnischer Täterschaft gefragt.

Den vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Revision im Jahr 2001 mit der sehr emoti­onal geführten und schmerzhaften Selbstverständigungsdebatte über die Tatsache, dass Polen im Kontext des Zweiten Weltkriegs in dem kleinen Ort Jedwabne im Juli 1941 mehrere hundert Juden ermordet hatten, die durch das Buch Nachbarn des polnisch-jüdischen, in den USA lehrenden Autors Jan Tomasz Gross angestoßen wurde. Selten zuvor, obwohl die Debatten über das komplexe polnisch-jüdische Verhältnis bereits in den 1980er Jahren begonnen hatten, wurde die polnische Gesellschaft so klar mit dem Bild des Polen als „Täter“ konfrontiert, selten zuvor wurde so intensiv über das polnisch-jüdische Verhältnis diskutiert, selten zuvor so tiefgreifende Umwertungen von Geschichtsbildern vorgenommen, die für Teile der Gesellschaft fast eine traumatische Bedeutung annahmen und nicht folgenlos blieben. „Darauf folgte – wie unter einer Schockwirkung über den Verlust der Unschuld – die Gegenwelle einer erneuten Heroi­sierung und im Streit um das Berliner Zentrum gegen Vertreibungen die Rückkehr zu einer konfrontativen und nicht einer gegenüber den Nachbarn kooperativen Einstellung zur Kriegsvergangenheit“ (Adam Krzemiński, So viele Kriege wie Nationen, https://www.perlentaucher.de/essay/so-viele-kriege-wie-nationen.html, 7.3.2021). Die Debatte um Jedwabne und die Debatte um das Zen­trum gegen Vertreibungen, die in nur geringer zeitlicher Verschiebung geführt wurden, wurde das Zentrum doch im Jahr 2000 auf Initiative des Bundes der Vertriebenen ge­gründet, sind daher gemeinsam zu betrachten. Die Teilungen innerhalb der polnischen Gesellschaft, die während der Debatte um Jedwabne aufgetreten sind, in diejenigen, die diese Debatte begrüßten, als ein Eingeständnis polnischer Schuld begriffen und sie als reinigende Katharsis empfanden, und in diejenigen, die sie als antipolnisch brandmark­ten und befürchteten, sie werde das Ansehen Polens in der Welt verschlechtern und sich verteidigen wollten, bestanden im Folgenden fort (Korzeniewski 2006). Sie bildeten einen der emotionalen Hintergründe der Ablehnung des Zentrums gegen Vertreibungen in Deutschland, das sich in der ursprünglichen Konzeption des Bundes der Vertriebenen als fast spiegelbild­liche Ergänzung des Holocaust-Mahnmals darstellte, als eine Art Alternativ- oder Ge­generzählung, die den Ort des Holocaust-Mahnmals in der symbolischen Landschaft des deutschen Gedächtnisses zweifellos verschoben hätte. Aus dem Verdacht heraus, Deutschland werde die Rolle als Täter im Zweiten Weltkrieg durch eine „Gegenrech­nung“ der eigenen Opfer verharmlosen, wurde das Projekt Zentrum gegen Vertreibungen in einer seltenen Einmütigkeit durch alle politischen Lager hindurch abgelehnt. Es ent­stand die Sorge, dass nur noch – gemäß dem globalen Trend eines Holocaustgedächtnis­ses – dem Holocaust und in Deutschland darüber hinaus der Vertreibung gedacht wer­den sollte; von einer „Holocaustisierung des Vertreibungsdiskurses“ war die Rede. Polen würde auf diese Weise nur noch als Territorium der Vernichtungslager wahrgenommen werden, so die Befürchtung, wohingegen die Deutschen ihre Schuld für die Ermordung der Juden immer deutlicher den Polen anlasten wollten – dieser Argumentationsstrang ist seit dieser Zeit nicht mehr aus der deutsch-polnischen Diskussion verschwunden.

In dieser Argumentationslinie sind deutliche Nachwirkungen der Jedwabne-Debatte zu erkennen, während derer einen zuweilen das Gefühl beschleichen konnte, in Teilen Deutschlands werde gedacht, wenn die, die ermordet wurden, selbst mordeten, dann ist auch die Schuld der Mörder nicht mehr so groß. Dass in Deutschland aber nur eine Minderheit ernsthaft daran interessiert ist, die deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg zu negieren oder eine Geschichtspolitik zu betreiben, die explizit gegen Polen gerichtet ist, geriet dabei aus dem Blickfeld. Die Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen wurde in Polen als Symptom einer radikalen Bewusstseinswandlung und eines Geschichtsrevi­sionismus betrachtet, in dem Polen als Opfer nationalsozialistischer Aggressionspolitik keine Rolle mehr spielen würden. In Deutschland hatten sie dies allerdings bis zu jenem Zeitpunkt ohnehin schon kaum getan – die unweit des Holocaust-Mahnmals in Berlin errichteten Mahnmale für Sinti und Roma und für Homosexuelle sprechen dafür, dass andere Opfergruppen im deutschen kulturellen Gedächtnis deutlich stärker verankert sind als Polen bzw. Slawen insgesamt. Dass dies in Polen als eine Ungerechtigkeit erfah­ren wurde, verdeutlichte der polnische Außenminister Stefan Meller im Jahr 2007, als er festhielt, ihm habe nach 1989 den Polen gegenüber eine Geste gefehlt, wie sie Willy Brandt mit seinem Kniefall gegenüber den Juden vollzogen habe – womit er eine klare Parallelisierung von jüdischen und nichtjüdischen polnischen Opfern vollzog und eine dementsprechende Verankerung im deutschen Gedächtnis forderte (Ein wundes Land. Noch ist die Vergangenheit in Polen nicht vergangen - Gespräch mit dem Historiker Stefan Meller, in: Neue Zürcher Zeitung vom 27.8.2007).

Auch nachdem das Partikularinteresse des Bundes der Vertriebenen zu einem nationalen gemacht worden war und der Deutsche Bundestag im Jahr 2008 die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ins Lebens rief, die an der anfangs erwähnten Dauerausstellung zum Thema Flucht und Vertreibung arbeitet, herrschte in Polen weiterhin Misstrauen gegenüber den „beunruhigenden historischen Tendenzen in der Betrachtung der deut­schen Vergangenheit“ (Piotr Semka, Widoczny znak – Mamy prawo do obaw, in: Rzeczpospolita vom 7.2.2008; Zdzisław Krasnodębski, Dano nam widocznie znak, in: Rzeczpospolita vom 12.02.2008). Es bleibt heute abzuwarten, wie sich die Spuren eines Kompromisses der deutschen Bundesregierung mit dem Bund der Vertriebenen auf die konkrete Umsetzung des Projektes auswirken werden, das sowohl in der deutschen Gesellschaft als auch bei den europäischen Nachbarn nur dann Glaubwürdigkeit erzielen kann, wenn es die Vertreibung in die deutsche Vorgeschichte des Nationalsozialismus einordnet und den legitimen Erwartungen derjenigen Länder wie Polen und Tschechien gerecht wird, die von dieser Geschichte mit betroffen waren.

In den medialen Auseinandersetzungen um Geschichte und Gedächtnis zwischen Deutschland und Polen wurde und wird in den Medien nicht selten auf eine martialische Terminologie und drastische Bildersprache zurückgegriffen. Da ist von einem „seit Jahren ausgetragenen Kampf um das Gedächtnis, in dem die Deutschen in die Offensive gegangen sind und dessen Hauptziel Polen ist“ (So Bogdan Musiał, Wysiedlenia bez wspólnego mianownika, in: Rzeczpospolita vom 15.03.2008), die Rede, von einem „Krieg“, „Schlacht“ (Zum Beispiel Piotr Jendroszczyk, Katarzyna Zuchowicz, Polska przegrywa bitwę o pamięć, in: Rzeczpospolita vom 15.12.2004; Zdzisław Krasnodębski, Samotność Polski w wojnie o pamięć, in:Rzeczpospolita vom 12.12.2006) um das Gedächtnis. Diese Terminologie verweist auf strukturell nicht ge­waltfreie Auseinandersetzungen, selbst wenn diese vor allem in Zeitungsspalten und im Internet stattfinden. Sie setzten sich auch nach der Debatte um das Zentrum gegen Ver­treibungen fort. Als das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel im Jahr 2009 einen Artikel über Die Komplizen. Hitlers europäische Helfer beim Judenmord veröffentlichte und dabei neben ukrainischen oder lettischen Polizisten auch polnische Bauern sowie den Vorfall in Jedwabne mit einbezog, wurde dieser Artikel erneut so interpretiert, als wollten sich „die Deutschen“ reinwaschen und die Verantwortung für den Holocaust wenigstens zum Teil auf die Schultern von Polen laden und ihre eigene Schuld relativie­ren.Der polnische Historiker (Siehe etwa Gerhard Gnauck, Ein neuer Anfall von Geschichtshysterie, in: Die Welt vom 23.5.2009) Antoni Dudek bezeichnete Kritik aus Deutschland am Verhalten der Polen gegenüber den Juden als „Skandal“ („Die Deutschen waschen sich rein“, in: taz vom 20.5.2009). Als Kronzeugen für ehrenhaftes Verhalten von Polen während der Okkupation ließ die Zeitung Rzeczpospolita den ehemaligen und Präsidenten der Knesset und Botschafter Israels in Polen, Szewach Weiss, zu Wort kommen, der den Holocaust überlebt hatte, weil polnische Bauern ihn versteckt hatten. Weiss kommentierte, im deutschen Volk existiere weiterhin die „Quelle des Bösen“, auf dessen Grund ein neuer deutscher Nationalismus wachsen könne und kritisierte das „für Deutsche traditionelle Überlegenheitsgefühl und die Verachtung ge­genüber den Polen“. Er rief die Deutschen dazu auf, ihre historische Verantwortung nicht zu vernachlässigen (Szewach Weiss, Znak Kaina na niemieckim czole, in: Rzeczpospolita vom 22.5.2009). Der Sprecher des polnischen Außenministeriums kündigte einen „Protestbrief“ an. Gemäßigtere Stimmen attestierten dem Spiegel aber einen gut recherchierten Artikel, und kritisierten eher, dass die Vorwürfe der „Relativierung der Geschichte“ an die Deutschen inzwischen zum Standard in Polen geworden seien. Der Autor sah diese Relativierung als nicht gegeben an, habe der Artikel doch deutlich die Verantwortung der Deutschen für den Holocaust akzentuiert (Bartosz T. Wieliński, Wina Niemców i Europy, in: Gazeta Wyborcza vom 21.5.2009).

Aber Vorwürfe dieser Art verstummten nicht. Im Jahr 2013 rief der in Deutschland produzierte, mehrteilige Film Unsere Mütter, unsere Väter über fünf Berliner Jugendli­che und ihre Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs in Polen heftige Reaktionen hervor. Der Film, der in Deutschland überwiegend positiv, wenn auch nicht kritiklos, aufgenommen wurde und wegen seiner „Ernsthaftigkeit“, „Detailtreue“ und „Kompro­misslosigkeit“ als „neue Phase der filmisch-historischen Aufarbeitung des Nationalsozi­alismus“ und letzte Chance, mit noch lebenden Zeitzeugen in ein Gespräch zu treten, gefeiert wurde, hatte ein Millionenpublikum erreicht (Frank Schirrmacher, Die Geschichte deutscher Albträume, in: FAZ vom 15.3.2013). Was den deutschen Kommen­tatoren kaum auffiel, die polnischen aber umso mehr störte: In einer Szene schließt sich der jüdische Protagonist Viktor im besetzten Polen den Partisanen von der Armia Krajo­wa, der Heimatarmee, an, und muss feststellen, dass die polnischen Untergrundkämpfer in ihrem Judenhass den Nationalsozialisten in nichts nachstehen – „Juden ertränken wir wie Katzen“, so ihr filmisches Credo. Im Anschluss herrschte in Polen eine große Empö­rung darüber, dass der Film die polnische Heimatarmee, und damit die Widerstandsbe­wegung gegen die deutsche Terrorherrschaft, pauschal als antisemitisch darstelle und sie auf diese Weise delegitimierte.

Der Film wurde als ein aggressiver Akt gegen Polen interpretiert, bei dem Polen der „Sündenbock auf dem Altar der Versöhnung der Deutschen mit Juden und Russen sei“ (Piotr Semka: Powrót podludzi, in: Do rzeczy, Nr. 22, 24.–30.6.2013). Der Film galt als antipolnisch, als unverschämt, als perfide. Die Jedwabne-Debat­te wirkte weiter fort, bejahte doch der Historiker Piotr Gontarczyk die suggestive Frage, ob „wir erneut den Preis für Gross bezahlen“, und fügte an: „Die Deutschen, die als Na­tion besser als wir organisiert sind und eine bewusste Geschichtspolitik führen, sind uns überlegen“ (Autorzy Holokaustu nie mają prawa nas rozliczać, in: Do rzeczy, Nr. 22, 24.–30.6.2013). Gegen die weitreichende Übereinstimmung, Deutsche wollten „Schuld abwälzen“ und sich erneut ihrer Verantwortung für den Holocaust entledigen, riefen aber auch Kommentatoren zu Besonnenheit und zur Kritik an den eigenen Mythen auf: Der Historiker Robert Traba etwa kritisierte, dass in der polnischen Geschichtspolitik „Aktionismus und die Tendenz, die ganze Welt wegen einer ungerechten Behandlung der Geschichte Polens anzuklagen,“ dominiere. Er rief stattdessen dazu auf, der deut­schen Gesellschaft Forschungen aus der Zeit der Okkupation zu präsentieren, die sie für das Schicksals des östlichen Nachbarn sensibilisieren könnten (Robert Traba, Zamiast rozdawać kolejne razy, spróbujemy najpierw zająć się belką we własnym oku, in: Gazeta Wyborcza vom 26.6.2013). Eine ähnliche Stim­me forderte: „Wenn wir der gefährlichen Tendenz in Deutschland, neue Mythen zu schaffen, entgegen treten wollen, müssen wir erst selbst die kindische Mythenbildung verlassen“ (Jakub Majmurek, Mity niemieckie, mity polskie, in: https://krytykapolityczna.pl/kultura/historia/majmurek-mity-niemieckie-mity-polskie/, 14.4.2021 r.).

Ein weiterer Kommentar in der Gazeta Wyborcza betonte, er habe eine „gut gemachte, anrührende Serie“ gesehen, eine universale Erzählung über die Sinnlosigkeit des Krie­ges. Diese zweifellos vorhandene narrative Anlage aber stieß auch in Deutschland auf Kritik. Der Historiker Ulrich Herbert etwa erklärte den Film deswegen als gescheitert, weil er die Protagonisten als unpolitisch darstelle und die nationalsozialistische Ideolo­gie letztlich marginalisiere: „Die fünf Protagonisten sind am Ende alle Opfer oder sie stellen sich gegen den Nazi-Staat“ – So […] können wir uns unsere Väter und Mütter ja weiter als fröhliche, lebenshungrige, unpolitische Generation vorstellen, die durch den Krieg verroht und letztlich sein Opfer wurde. Deutsche Tragik“, resümierte Herbert in der taz (Ulrich Herbert, Nazis sind immer die anderen, in: taz vom 21.3.2013). In Polen ordnete man den Film nicht selten in eine lange Kontinuitätslinie ein – Szewach Weiss sah einen langjährigen deutschen Brauch, Polen alle Sünden zuzu­schieben, die Historikerin Magdalena Gawin, die 2015 zur Vizeministerin für Kultur avancierte, sprach von einer „neuen deutschen Identität“ (Magda Gawin, Nowa niemiecka tożsamość, in: Rzeczpospolita vom 29./30.06.2013), und Paweł Lisicki nahm den Film zum Anlass, gleich die gesamten deutsch-polnischen Beziehungen einer Funda­mentalkritik zu unterziehen, sei doch die deutsch-polnische Verständigung von Schein und Wertlosigkeit gekennzeichnet (Paweł Lisicki, Wyrzucić szefa ZDF, in: Do Rzeczy Nr 22, 24.–30.6.2013).

Kulturelle Repräsentationen des Krieges und des Holocaust wurden in der Vergangenheit auch handlungsrelevant. Dies reicht von Protesten auf offizieller Staats- und Bot­schafterebene über innenpolitische Auseinandersetzungen, oder sie rufen neue Publika­tionen, neue Drehbücher und neue Museumskonzeptionen hervor. Im Fall von Unsere Mütter, unsere Väter protestierte der polnische Botschafter, und der Weltverband der Heimatarmee-Veteranen reichte eine Zivilklage gegen den Produzenten und den aus­strahlenden Fernsehsender ein, weil der Film den Soldaten der Heimatarmee eine Mit­schuld am Holocaust im besetzten Polen gebe. Die Veteranen forderten, dass die Aus­strahlung des Films nur noch mit einem Bekenntnis ausgestrahlt werden dürfe, dass die allein Schuldigen am Holocaust die Deutschen seien (Siehe Gabriele Lesser, Keine Antisemiten?, in: Jüdische Allgemeine vom 12.12.2013). Hier sollte aus Sicht der Medien zumindest Klarheit geschaffen werden: „Deutsche! Der Holocaust ist Euer Werk!“, so titelte eine polnische Boulevard-Zeitung nach der Ausstrahlung des erwähnten Mehr­teilers, eine diametral andere Position als die des Historikers Jan Grabowski, die am Anfang erwähnt wurde (NIEMCY! Holocaust to wasze dzieło!, in: Super Express vom 25.3.2014).

Ernsthafte deutsch-polnische Diskussionen darüber, was der Film für ein Geschichtsbild transportierte oder welche Defizite in Bezug auf ein differenziertes Bild der Geschichte Polens möglicherweise beim deutschen Publikum vorhanden sein könnten, wurden in dieser Debatte überwiegend versäumt. Stattdessen durfte ein renommierter Historiker wie Hans Ulrich Wehler preisgeben, wie erstaunlich wenig differenziert sein Bild der polnischen Geschichte ist: „Es war in Deutschland bisher noch nicht so bekannt, dass die polnische Partisanenbewegung in einem erstaunlichen Maße antisemitisch einge­stellt war. Dazu gehört Mut, das auch mal darzustellen“ („Wer überlebte, bekam die Gefrierfleisch-Medaille“, in: Die Welt vom 22.3.2013). Zum Teil aber wurden die polnischen Reaktionen auf den Film sehr ernst genommen – dies war in vorherigen Debatten nicht immer der Fall. Nun widmeten sich nicht nur zahlreiche Zeitungsartikel dem Thema, sondern der Produzent des Films, Nico Hofmann, gestand auch den Fehler ein, nicht den Rat polnischer HistorikerInnen gesucht zu haben – er entschuldigte sich dafür, dass ein Bild von einem weit verbreiteten Antisemitismus in der Armia Krajowa entstanden sei (Nico Hofmann, producent Nasze matki, nasi ojcowie: Zraniłem Polaków. Przykro mi, in: Polska The Times vom 02.07.2013, https://i.pl/nico-hofmann-producent-nasze-matki-nasi-ojcowie-zranilem-polakow-przykro-mi/ar/931581, 3.2.2021)

Obwohl die Debatten in Polen selten einheitlich waren, so ist doch der Gedanke, in Deutschland werde die Deutung des Zweiten Weltkriegs bewusst beeinflusst oder ver­ändert, wobei stärker „deutsches Leid“ betont und die Schuld am Holocaust zuneh­mend auf Polen verschoben werden solle, seit etwa zwanzig Jahren nicht mehr aus der polnischen Öffentlichkeit verschwunden. Mit der Vertreibungsdebatte, mit Filmen Die Flucht, Wilhelm Gustloff oder Der Untergang, mit der immer wieder auftauchenden Rede von den „polnischen Konzentrationslagern“ auf der ganzen Welt wird angenommen, historische Ahnungslosigkeit, Ignoranz und bewusste Absicht zielten auf eine Umschrei­bung der Geschichte und die Verdrängung des polnischen Opferstatus. Zur Untermauerung solcher Argumente dient regelmäßig die Behauptung der Existenz eines weltweiten und gegen Polen gerichteten „Antipolonismus“ – meist handelt es sich etwa bei der historisch falschen Bezeichnung „polnische Lager“ aber nicht um einen Bestandteil ei­ner tief verwurzelten Grundsatzideologie oder einer systematischen und gezielten Dis­kreditierung des Landes, sondern um mangelndes Wissen und mangelnde Sensibilität gegenüber der polnischen Perspektive (Katrin Steffen, „Antipolonismus“ in den polnisch-jüdischen Beziehungen. Realität oder Mythos? In: Jahrbuch 2018: Mythen, hg. vom Deutschen Polen-Institut, Darmstadt 2018, S. 119–129).

Die Präsenz des Komplexes Geschichte und Erinnerung macht sich dabei nicht nur in medialen Auseinandersetzungen bemerkbar, sondern etwa auch in der Gestaltung des öffentlichen Raumes. Dies wurde in den Diskussionen darüber deutlich, ob ein Denk­mal für die „Gerechten“ in Polen auf dem Terrain des ehemaligen Warschauer Ghettos entstehen soll, neben dem dort errichteten Museum für die Geschichte der Juden in Polen – einem hoch symbolischen Ort in Polens Hauptstadt Warschau. Dort wurde 1948 das Denkmal für die Ghettokämpfer errichtet, dort steht seit dem Jahr 2000 ein Denkmal für Willy Brandt, der dort für seinen Kniefall geehrt wird, dort sitzt seit 2013 Jan Karski auf einer Bank und nach Irena Sendlerowa wurde dort ebenfalls 2013 eine Allee benannt. Nun sollte dort ein weiteres Denkmal für die „Gerechten“ entstehen, würden sie doch an diesem Ort angemessen gewürdigt, so die Argumente der jüdischen und nichtjüdischen Befürworter des Denkmalbaus. Ihre Widersacher hingegen sind der Meinung, dieser Ort, an dem Juden im Warschauer Ghettoaufstand gekämpft hätten und gestorben seien, solle vor allem Juden als öffentlicher Gedenkraum vorbehalten sein, würde doch das Denkmal der Gerechten a priori die Bedeutung des Museums verkleinern und in einen Bezug zu den Gerechten setzen, die man so zur Regel machen würde – obwohl sie eine Ausnahme gewesen seien. Stattdessen sollte hier der Geschichte der Juden in Polen ein eigener, autonomer Raum zugestanden werden, in dem auch diejenigen eine Stimme finden würden, die statt Rettung „Erpressung, Denunziation, Ausnutzung, Rauswurf, Verfolgung, Ausraubung und Tod“ erfahren hätten (Siehe: Nie budujmy pomnika Sprawiedliwych obok Muzeum Historii Żydów Polskich. List otwarty do Komitetu Budowy Pomnika Sprawiedliwych przy Muzeum Historii Żydów Polskich, in: https://krytykapolityczna.pl/kraj/nie-budujmy-pomnika-sprawiedliwych-obok-muzeum-historii-Zydow-polskich/

Diese Debatte hat eine erinnerungspolitische deutsche Dimension: Als Władysław Bar­toszewski zu seiner Haltung in Bezug auf das geplante Denkmal gefragt wurde, antwor­tete er: „Wenn auf dem Gebiet des Ghettos Platz für ein Denkmal für den anständigen Deutschen Willy Brandt ist, warum soll dort kein Platz für anständige Polen sein?“ (Arcypolskie powstanie żydowskie, in: Gazeta Wyborcza vom 12.4.2013). Und auch Staatspräsident Bronisław Komorowski verwies auf diesen Umstand: „Man muss auch daran erinnern, dass an diesem Ort bereits der ‚deutsche‘ Obelisk steht, der an die feierliche Geste des deutschen Kanzlers Willy Brandt erinnert“ (Prezydent Komorowski: Nie szukać spisków, in: Gazeta Wyborcza vom 12.4.2013).

Daraus wird folgende Konstellation deutlich: Wenn an diesem hoch symbolischen Ort die jüdische Präsenz bereits von einem „deutschen“ Denkmal für einen „guten“ Deut­schen kommentiert wird, der die in Deutschland so hoch geschätzte Aufarbeitung der Vergangenheit repräsentiert, so könne man hier kaum gegen eine weitere Ergänzung der jüdischen Erzählung durch die „guten Polen“ argumentieren – so die Logik der polni­schen Staatsräson. In der Debatte um die extreme Verdichtung von Denkmälern und Debatten und damit von unterschiedlichen Narrativen rund um das neue Museum an dem Ort, an dem die deutschen Besatzer Juden in das Ghetto Warschau einpferchten, wurde einmal mehr deutlich, dass polnische und deutsche Erinnerungen an den Zwei­ten Weltkrieg und an den Holocaust eng aufeinander bezogen sind, sich ergänzen und komplementär sein, aber auch in eine massive Konkurrenz zueinander treten können – vor allem an einem urbanen hoch symbolischen Ort, an dem Tausende von in- und ausländischen BesucherInnen des Museums für die Geschichte der Juden in Polen den Blick auf die dortige Denkmalslandschaft richten werden.

Zusammenfassung: Viele Debatten und kein Ende?

Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust sind seit dem Wendejahr 1989 wiederkehren­de und oft strittige Themen in der deutsch-polnischen Kommunikation, die durch die unterschiedlichen Kriegserfahrungen von Deutschen und Polen strukturiert werden. In Deutschland, dem Land, das den Holocaust initiiert und im Anschluss auch mit Hilfe europäischer Helfer implementiert hat, zweifelt niemand mehr ernsthaft an dieser Urhe­berschaft, wenngleich die Anerkennung dieser Schuld seit 1945 ein mühseliger Prozess war. Heute ist der Zweite Weltkrieg im deutschen kulturellen Gedächtnis untrennbar mit dem Mord an den europäischen Juden verbunden. Andere Opfer der Nationalso­zialisten wie Sinti und Roma, Homosexuelle oder die Opfer der Euthanasie wurden allmählich ebenfalls in das Gedenken in Deutschland integriert. Im Jahr 2020 hat der Deutsche Bundestag darüber hinaus zwei Beschlüsse sowohl zu den polnischen als auch weiteren, bisher marginalisierten Opfergruppen des Zweiten Weltkriegs im östlichen Europa gefasst, die die Einrichtung von Gedenk,- Erinnerungs- und Dokumentations­orten vorsieht, so dass eine längst überfällige Einbeziehung der Opfer in Polen, im östli­chen Europa und weiteren Ländern in die deutsche Gedenklandschaft erfolgt.

In Polen hingegen ist das Erinnern an den Zweiten Weltkrieg nach wie vor vorrangig durch das Trauma der erneuten Teilung des Landes durch den Hitler-Stalin-Pakt von 1939, den Terror der Okkupation nach 1939, den äußerst verlustreichen Warschauer Aufstand von 1944 sowie die im Anschluss implementierte Ordnung Volkspolens ge­prägt. Sowohl durch die historische Forschung als auch in öffentlichen Selbstverständi­gungsdebatten und lokalen Spurensuchen unterliegt der Holocaust aber seit 1989 einer sich verändernden Bewertung – es finden Aushandlungsprozesse über das Erinnern in Polen statt, die zu einer Pluralisierung und Ausdifferenzierung des kulturellen Gedächt­nisses führen. Diese Debatten wurden, ähnlich übrigens wie in Deutschland etwa im Fall der Fernsehserie Holocaust oder der so genannten Goldhagen-Debatte über den eli­minatorischen Antisemitismus, zum Teil von „außen“ angestoßen, von Diskursen und Personen, die wie Jan Tomasz Gross zumindest teilweise in den USA oder wie im Fall Jan Grabowskis in Kanada verankert sind. Möglicherweise waren diese Einwürfe so möglich, weil die Außensicht und die Verankerung in anderen Denkkollektiven als in Polen noch mal andere Fragestellungen ermöglichen. Und möglicherweise waren und sind sie deswegen auch besonders schmerzhaft.

Diese Ausgangslage führt in fast regelmäßigen Abständen zu Verstimmungen in der deutsch-polnischen Kommunikation. Die martialische Sprache, die dabei nicht selten zur Anwendung kommt, verweist auf tiefer im Gedächtnis verwurzelte Ursachen und auf ein Potenzial für die Inszenierung von Konflikten, das jederzeit abruf- und einsetzbar ist. Unter der Oberfläche befinden sich demnach auf beiden Seiten der Oder versteckte Emotionen und Verletzungen, Wunden aus der Geschichte, aus denen Misstrauen und Angst, Stolz und Überlegenheitsgefühle resultieren können. Die dramatischen Erfah­rungen „negativer Polenpolitik“ aus den letzten beiden Jahrhunderten „haben bei Generationen von Polen die Überzeugung verfestigt, dass die Deutschen ihre Natur nicht ändern können und dass sie die Tradition des Ritterordens [→ Kreuzritter] und der preußischen Hohenzollern fortführen. Diese Erfahrungen legen es dem polnischen Volk nahe, gegenüber den Deutschen wachsam und misstrauisch zu bleiben, weil diese eine ständige Gefahr für die Integrität und die Souveränität Polens darstellen“, so fasste es die Historikerin Anna Wolff-Powęska im Jahr 2007 zusammen (Wolff-Powęska 2007, S. 236). Obwohl es zweifelhaft scheint, dass alle Polinnen und Polen heute so denken oder jemals so gedacht haben, so scheint diese Konstellation im Kampf um Auflagen, Einschaltquoten, politischen Ein­fluss oder die Diskreditierung des politischen Gegners noch immer von Nutzen zu sein. Zudem sollte man das emotionale Potenzial, das rund um die Erinnerung an den Zwei­ten Weltkrieg in vielen Familien entstanden ist und bewahrt wird, nicht unterschätzen.

Erschwerend für ein deutsch-polnisches Gespräch wirkt, dass auf beiden Seiten immer wieder davon ausgegangen wird, der Diskurs im Nachbarland sei einheitlich – man spricht von „den Deutschen“ und „den Polen“, nimmt sich selbst und die anderen als nationales Kollektiv mit einheitlichen Meinungen wahr, die es aber nicht gibt. Bei Ver­treterInnen der deutschen Seite existiert darüber hinaus eine traditionelle Neigung, „die Polen“ in vielfacher Hinsicht als defizitär zu beschreiben. Wenn dies lange Zeit über­wiegend über den inzwischen an Wirkungskraft verlierenden Code von → polnischer Wirtschaft oder „Rückständigkeit“ erfolgte, so ist es in dem sich heute als post-national oder wenigstens post-nationalistisch definierenden „Westen“ (der dabei genauso wenig differenziert wird wie ein oftmals mythisch verzerrter „Osten“) ein als archaisch, religiös bornierter und stur konzeptionalisierter Nationalismus (oder Antisemitismus), der auf der polnischen Seite ausgemacht wird. Er eignet sich in Deutschland immer wieder als Folie dafür, sich der eigenen Modernität und Demokratiefähigkeit zu versichern, die nicht zuletzt mit der erfolgreichen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangen­heit legitimiert wird. So war in der Zeitung Die Welt in der Debatte um den Gedenkort für die polnischen Opfer zu lesen, dass es noch nie einen Staat gegeben habe, der der­artig intensiv seine Vergangenheit aufgearbeitet habe wie die Bundesrepublik. Somit sei ein Denkmal, das der Autor als Zugeständnis an eine nationalistische Regierung und als „Unterwerfungsgeste“ fehlinterpretierte, kontraproduktiv (https://www.welt.de/debatte/kommentare/article189043835/Zweiter-Weltkrieg-Brauchen-wirein Denkmal-fuer-die-polnischen-Opfer.html, 7.3.2021). Hier lag eine Verkennung dessen vor, dass dieser Ort vor allem ein Ort der Selbstverständigung der deutschen Bevölkerung über ihr Verhältnis zu Polen sein sollte.

Dass es bequem ist, Veränderungen oder Entwicklungen im jeweiligen Nachbarland nicht differenziert wahrzunehmen und Ereignisse und kulturelle Repräsentationen in bereits vertraute Schubladen einzuordnen, zeigt sich aber auch in Polen: Die Behaup­tung, in Deutschland werde eine absichtsvolle Abwälzung von Schuld am Holocaust auf die Polen betrieben und von einer fundamentalen Umschreibung der Geschichte beglei­tet, wird überparteilich von vielen KommentatorInnen, JournalistInnen und Histori­kerInnen geteilt. Damit einher geht die teils bewundernd, teils ablehnend vorgebrachte Feststellung, „die Deutschen“ betrieben eine entschiedene und gezielte Geschichtspo­litik, mit der sie „den Krieg um das Gedächtnis gewinnen“, während „die Polen“ dazu nicht in der Lage seien (Mariusz Cieślik, Nasze matki, wasz Holokaust, in: Rzeczpospolita vom 7.2.2014). Dies zu verändern, hat die polnische Regierung seit 2015 mit der weiteren großzügigen Ausstattung des Instituts für Nationales Gedenken in Polen, mit der Neugründung des Pilecki-Instituts oder der Mitfinanzierung der Stiftung, die sich seit dem Jahr 2012 den Schutz des „guten Namens“ Polens in der Welt zum An­liegen gemacht hat, energisch vorangetrieben. Dem Export historischen Wissens über Polen während des Zweiten Weltkriegs, das in Deutschland weiterhin nicht sehr ver­breitet ist, dient darüber hinaus die Eröffnung einer Dependance des Pilecki-Instituts in Berlin. Diese Art von Wissensvermittlung fügt sich in die national zentrierte polnische Geschichtspolitik seit 2015 ein, die eben auch dazu dienen soll, den vermeintlich Polen schadenden Entwicklungen in Deutschland etwas entgegen zu setzen.

Zweifellos haben sich in Deutschland die Gedächtnisrahmen nach 1989 so verscho­ben, dass das Erinnerungsnarrativ der „Deutschen als Opfer“ von einem partikularen zu einem national akzeptierten Narrativ geworden und in das kulturelle Gedächtnis eingegangen ist. Dies heißt aber nicht, dass damit automatisch bestehende Normen der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, der Verantwortung für diesen Krieg und seine Opfer und der Akzeptanz von Schuld aufgegeben werden – sie existieren weiterhin und komplementär und sie erweitern sich. Das Konzept der deutschen Erinnerungskultur steht dabei heute vor einer nicht geringen Herausforderung: Einer selbstgenügsamen und zufrieden zurückblickenden Ritualisierung zu entgehen, während derer es sich selbst historisiert und das ihm zugrunde liegende Paradigma der kritischen Selbstbefra­gung, das mühsam erarbeitet wurde, aufzugeben. Zu diesem Konzept sollte es gehören, Formen der Erinnerung zu finden, die berücksichtigen, dass Deutschland seine Nach­barn traumatisiert hat. Diese Formen sollen nun seit den Bundestagsbeschlüssen von 2020 auf den Weg gebracht werden, und es ist zu begrüßen, dass hier auch Stimmen der Betroffenen einbezogen, um Interaktion statt nationaler Abschottung zu fördern. Denn auch hier gilt, dass die Außensicht zu Einsichten führen kann. Aber es ist kaum davon auszugehen, dass Filmemacher, Journalisten und Historiker in Deutschland einer „von oben“ normierten und vorgegebenen Geschichtspolitik folgen. Hier ist eher von einer zuweilen leichtfertigen Ignoranz und Unwissenheit in Bezug auf die Geschich­te Polens auszugehen – eine gezielte Schuldabwälzung ist nur in den seltensten Fällen intendiert. Zwar soll nicht bestritten werden, dass in Deutschland wie überall auf der Welt Geschichtspolitik betrieben wird, aber die Gestalt des kulturellen Gedächtnisses lässt sich nicht vollständig normieren oder steuern – dies widerspricht seinem Wesen, ist es doch plural, entwickelt sich nicht linear, sondern ist von Brüchen und Prozessen gekennzeichnet. Ebenso gehört es zum Wesen des Gedächtnisses, dass sich verschiede­ne Vergangenheitsinterpretationen aneinander reiben und kulturelle Gedächtnisformen umstritten sind und bleiben.

Daher wird auch die Einordnung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und des Ho­locaust in Polen und Deutschland weiterhin von prinzipiellen Wahrnehmungsdifferen­zen oder Ungleichzeitigkeiten gekennzeichnet bleiben: Während viele Deutsche den Überfall auf Polen ebenso wie den Feldzug gegen Frankreich als ganz „normalen“ Krieg betrachten, in Abgrenzung zum Krieg gegen die Sowjetunion, so erinnert man sich in Polen an diesen Krieg als einen Krieg voller Grausamkeiten. Zudem differieren auch die Gedächtnisse in Bezug auf die Vorgeschichte, denn während der Nationalsozialismus von vielen Deutschen als eine Art Betriebsunfall in der deutschen Geschichte gesehen wurde, zu dem die Deutschen verführt wurden (und man kann nicht umhin zu sehen, dass der hier angesprochene Film Unsere Mütter, unsere Väter von diesem Narrativ ge­prägt ist), so sehen viele Polen ihn eher als Kulminationspunkt in einer langen Geschich­te von antipolnischen Gefühlen in Deutschland.

Ebenso kann die Art von Erinnerungskultur, in der der Holocaust für große Teile vie­ler Gesellschaften im westlichen Teil Europas (aber auch nicht für alle gleich) zu einer Art „negativem Gründungmythos“ und einem normativen Referenzpunkt geworden ist, nicht einfach auf den so genannten Osten übertragen werden – der Holocaust kann für die Gesellschaft in Polen nicht die gleiche Rolle spielen wie z. B. für die deutsche. Die internationale Dimension des Holocaust-Gedächtnisses wird in Polen auch als belastend empfunden, weil man um das Ansehen Polens in der Welt fürchtet. Dies wiederum har­moniert schlecht mit einem Selbstbild in Polen, das aufgrund der historischen Entwick­lung als lange geteiltes Land und der martyrologischen Selbstrezeption als „Christus der Völker“ gelegentlich nicht frei von moralischen Überlegenheitsgefühlen gegenüber dem Rest der Welt ist (Siehe: Jerzy Jedlicki, Kompleksy i aspiracje prowincji, in: Gazeta Wyborcza vom 15.11.2010). Auf der einen Seite hat die lang währende Debatte darüber, dass auch nichtjüdische Polen an der Ermordung von Juden während des Zweiten Weltkriegs beteiligt waren, zu einer Revision vertrauter Geschichtsbilder geführt. Auf der anderen Seite mündete dies aber keineswegs in einem Konsens, sondern eher in einer scharfen Polarisierung, die auf der einen Seite fordert, Verantwortung für diese Taten zu über­nehmen, während die andere Seite diese Taten marginalisieren und andere Narrative wie die der „Judenretter“ in den Vordergrund rücken möchte.

Die Kritik an der Vergangenheit sorgte dabei auch für eine Verunsicherung der Gegen­wart. Diese Verunsicherung wird in Polen zuweilen als Zeichen von Schwäche gedeutet, als Zeichen einer zu überwindenden postkolonialen Identität, in deren Rahmen Polen einen Körper bilde, der „seiner eigenen Identität zutiefst unsicher“ sei (Mariusz Cieślik, Nasze matki, wasz Holokaust, in: Rzeczpospolita vom 7.2.2014). Verstärkt wer­den dürfte dieses Gefühl von einer Konstellation, in der Teile der Gesellschaft von For­men populärer Geschichtsdarstellung deutlich stärker Identifikation erwarten als Unter­scheidung und Kritik. In dieser Situation kann jede weitere Kritik etwa am polnischen Antisemitismus oder das nicht gänzlich unbegründete Gefühl, in Deutschland würden Urteile über die Geschichte Polens nicht auf der Grundlage von historischem Wissen gefällt, zu weiteren Verunsicherungen, aber auch Verstimmungen führen.

Die selbstkritische Hinterfragung von vertrauten Geschichtsbildern und Mythen, die in Polen sowohl in der Geschichtsschreibung und auch in der öffentlichen Debatte be­reits auf hohem Niveau betrieben und weiterhin eingefordert wird, und die in Deutsch­land ebenso notwendig bleibt, sollte aber keineswegs als Schwäche ausgelegt werden, im Gegenteil. Die in den nationalen oder heute zunehmend transnationalen Debatten über das Gedächtnis erzielten Erkenntnisse, in denen es vor allem um die Wertung und den Stellenwert von Nationalsozialismus und Holocaust geht, zielen ja weder auf einen Freispruch noch auf eine Verurteilung, sondern auf Einsicht und Verständigung. Nicht zuletzt geht es in diesen Debatten um die Übernahme von Verantwortung für ein histo­risches Erbe, unabhängig von dessen Hierarchisierung. Dass dabei über Geschichtspo­litik, über (National-)Museen, über Gedenktage, Filme oder andere Formen der Reprä­sentation von Geschichte im Gedächtnis, die zunehmend medialisiert sind, gestritten wird, ist ebenso unvermeidlich wie notwendig. Die hier beschriebenen Kontroversen sind als ein unverzichtbarer Bestandteil politischer Kultur und ein Gradmesser nicht nur für ihre Existenz, sondern auch für ihre Qualität, zu verstehen – und hier kann man festhalten, dass die deutsch-polnischen Auseinandersetzungen insgesamt an Qualität gewonnen haben. Langfristig sind sie weiterhin als eine Chance auf einen Dialog zu ver­stehen, wenn es gelingt, Inkompatibilitäten national engführender Erinnerung zu über­winden, keine Schuld aufzurechnen, keine Konkurrenz von Opfern zu betreiben, un­terschiedliche Erfahrungen sichtbar zu machen, zu reflektieren und sich so dem Prinzip der Selbstbefragung zu verschreiben. Für HistorikerInnen (und nicht nur für sie) sollte das auch und vielleicht gerade in Bezug auf die komplexen Zusammenhänge im Zweiten Weltkrieg heißen, vermeintlich feststehende historische Wahrheiten zu hinterfragen und sich gelegentlich in der Kunst zu versuchen, „sich nicht allzu sicher zu sein“ (So der Titel des Essays von Achim Landwehr 2012).

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Young, James E.: The Biography of a Memorial Icon: Nathan Rapoport´s Warsaw Ghetto Monu­ment, in: Representations 26 (Spring 1989).

Zwischen Zwangsarbeit, Holocaust und Vertreibung. Polnische, jüdische und deutsche Kindhei­ten im besetzten Polen, hg. von Krzysztof Ruchniewicz und Jürgen Zinnecker, Weinheim/ München 2007.

 

Steffen, Katrin, Prof. Dr., verfasste den Beitrag „Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust im polnischen und deutschen kollektiven Gedächtnis und in der deutsch-polnischen Kommunikation“. Sie ist DAAD-Professorin für Europäische und Jüdische Geschichte und Kultur an der University of Sussex in Brighton und arbeitet in den Bereichen Moderne Europäische Geschichte, Jüdische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte. 

 

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