Łukasz Śmigiel

Rock (Musik) in Polen, DDR und BRD 1983–1990



Einleitung

 Beim Anblick der Playlists heutiger Radio- und Fernsehsender fällt es schwer zu glauben, Pop- oder Rockmusik könnten tiefere – soziale oder politische – Botschaften transportieren. Das liegt zum Teil an den heutigen Mediennutzern, den sogenannten Generationen Y und Z. Ihre Erwartungen an Medienbotschaften sind, zumal im Fall der jüngsten, mit personalisierten Internetmedien aufgewachsenen Nutzer, andere als vor zwanzig Jahren. Die heutigen 18- bis 24-Jährigen sind stark auf sich selbst bezogen. Ihre medialen Bedürfnisse zielen auf Selbstverwirklichung, Selbstdefinition, den Ausbruch aus sozialen Stereotypen sowie auf Spaß, Unterhaltung und Spiel (Lucas Galan, Jordan Osserman, Tim Parker, Matt Taylor: How Young People Consume News and The Implications For Mainstream Media, in: Reuters Institute (Reuters Institute for the Study of Journalism | Reuters Institute for the Study of Journalism (ox.ac.uk), 10.4.2021).  Dementsprechend agiert auch die Musikindustrie. Zeitgenössische Musikstars wie Katy Perry oder Taylor Swift wirken wie eine Bestätigung der Aussage Theodor Adornos (der nicht nur ein großer Soziologe und Philosoph, sondern auch Musikkritiker war), Kulturphänomene wie die populäre Musik zementierten die bestehenden Verhältnisse, indem sie die Menschen an das von ihnen geführte Leben anpassten. Viele Jahre davor hatte Adorno bereits konstatiert, das Leben der meisten Menschen in kapitalistischen Gesellschaften sei ein unglückliches, beschränktes und armes, was sie sich freilich nur gelegentlich bewusst machten. Populäre Musik und Film würden nicht geschaffen, um dies zu unterdrücken, doch sie trügen dazu bei, dass die Menschen ihr Schicksal akzeptierten (Strinati 1998, S. 59).  Wenn diese Prämisse weiterhin aktuell wäre, dann hätten wir es mit einem Teufelskreis zu tun, in dem die Pop- und Rockmusik mit ihren Botschaften die Bedürfnisse des Publikums befriedigten, in dem sie es in der Auffassung bestätigten, diese Musik gebe ihm alles, was es brauche. In einem solchen Teufelskreis von wechselseitiger Beeinflussung und Selbstzufriedenheit wäre kein Raum für Entwicklung, geschweige denn für Rebellion und Protest. Angesichts der Tatsache, dass zahlreiche Hits der letzten Jahrzehnte (darunter die Lieder von Perry und Swift), von einem einzigen Menschen produziert wurden – einem schwedischen Musikproduzenten und Songwriter, der sich Max Martin nennt (Nick Levine, Max Martin: The secrets of the world’s best pop songwriter, in: BBC, Max Martin: The secrets of the world’s best pop songwriter (bbc.com), 10.4.2021) – könnte man mit der Medien- und Kulturwissenschaftlerin Angela McRobbie zu der Auffassung gelangen, für heutige Teenager seien Pop und Mode lediglich eine neue Erscheinungsform der Romanze und die mit ihnen befassten Medien dienten zunehmend der Reklame für die entsprechenden Bands und Künstler (Baldwin et al. 2004, S. 393).

Das Wesen der Pop- und Rockmusik ist aber ein anderes. Ob durch die Texte oder durch die Musik – die Rockmusik hilft, Grenzen zu überschreiten. Bill Wyman (Ex-Bassist der Rolling Stones und Musikproduzent) definiert Rockmusik „als populäre Musik, der es bis zu einem gewissen Grad egal ist, ob sie populär ist […]. Im Rock ist etwas, das Grenzen ablehnt, und er lebt von den Spannungen, die daraus resultieren“ (Bill Wyman, Chuck Berry Invented the Idea of Rock and Roll, in: Vulture, (Chuck Berry Invented the Idea of Rock and Roll (vulture.com), 10.4.2021). Auch die Rolle des Senders (Künstlers), der den Rezipienten dazu bringt, sich – etwa durch Tanz oder Gesang – aktiv auszudrücken, ist eine andere (Siwak 1993, S. 9).  Deshalb ist der Rock eine bestimmte Idee. Das wird klar, wenn man an die 1985 von Bob Geldof initiierte Hilfsaktion Live Aid zurückdenkt, die einerseits die Wirkmacht der Rockmusik zeigte, andererseits aber auch die Ohnmacht der Politik, der es nicht gelungen war, die Hungersnot in Äthiopien zu beenden (Michael Buerk, Korem Report, in: BBC News (BBC News 10/23/84' ☮ Michael Buerk (Highest Quality) (youtube.com), 10.4.2021).  Oder an das als russisches Woodstock bezeichnete Moscow Music Peace Festival vom 12. / 13. August 1989, das einen Kulminationspunkt der Perestrojka bildete (das jugendliche Publikum durfte erstmals während eines Konzerts stehen), (Maciej Koprowicz, Teraz Historia, in: Teraz Rock (2019), Nr. 8).  Hervorzuheben ist auch die Bedeutung des Songs Wind of Change von den Scorpions. Der Sänger der Band, Klaus Meine, schrieb das Stück unter dem Eindruck der UdSSR-Konzerte der Band 1988/89. In einem Interview mit Teraz Rock, dem ältesten polnischen Rockmagazin, sagte Meine dazu: „Uns wurde klar, dass die russische Jugend die alte Ordnung satthatte, dass diese Welt untergehen musste […]. Niemand ahnte damals, dass schon wenige Monate später die Berliner Mauer fallen würde. Auch ich nicht. Ich hoffte nur, dass sich früher oder später alles ändert“ (Wiesław Weiss, Kambek. Scorpions – Wind Of Change – The Iconic Song, in: Teraz Rock (2021), Nr. 2). Die angeführten Beispiele zeigen, dass hinter dem Rock and Roll und der populären Musik bestimmte Ideen und Werte stehen können und dass eine Funktion dieser Musik darin besteht, die Wirklichkeit zu kommentieren und Grenzen zu überschreiten.

Vor diesem Hintergrund befasse ich mich im vorliegenden Artikel vor allem mit den systemkritischen Werten der Rockmusik der 1980er und 1990er Jahre, mit verschiedenen Formen ihrer Wirkung sowie mit dem grenzüberschreitenden Potenzial der Rockmusik in psychologischer, sozialer, politischer und sogar juristischer Hinsicht. Die Rockmusik beeinflusst bis heute unsere Kultur, und ihre Vertreter – zumal die Zeitzeugen des politischen Wandels in Europa ab den 1980er Jahren – können sich immer noch über die Grenzen von Ethnien, Nationen und Generationen hinweg verständigen und Ideen und Werte vermitteln. Weil die Populärkultur ein weites Feld ist, beschränke ich meine Analyse auf einen konkreten Zeitabschnitt und auf ausgewählte Beispiele, die interessante Aufschlüsse über die hinter der Rockmusik stehenden Ideen liefern. Ich konzentriere mich auf drei Staaten, in denen der systemkritische Aspekt der Rockmusik eine besonders wichtige Rolle spielte: Polen, die DDR und die BRD. Für Polen und Deutsche war der Zweite Weltkrieg eine tragische Erfahrung, in der sie sich als Gegner gegenüberstanden. Der Wiederaufbau der gegenseitigen Beziehungen war mühsam und wurde erschwert durch die politischen Entwicklungen der Nachkriegszeit. In dieser Situation wurde die Rockmusik für das vom Rest der Welt isolierte Polen und das geteilte Deutschland zu einer spezifischen Plattform der Verständigung und des Austauschs von Informationen, Erfahrungen und Emotionen. Vor allem aber ermöglichte sie es den Hörern, mentale und physische Grenzen zu überschreiten.

Die polnische Rockmusik und die Wirklichkeit der 1980er Jahre

 Eine der wichtigsten Errungenschaften des politischen Umbruchs von 1989 war die Abschaffung der Zensur und Einführung der allgemeinen Meinungsfreiheit. „Die freie Auswahl der Informationen, der Informationsquellen, ist ein nicht zu überschätzender Wert. Das ist wie die Atemluft, die jedem zusteht“, sagte in einem Interview Kuba Sienkiewicz, der Sänger und Texter der alternativen Rockband Elektryczne Gitary (Jordan Babula, Nie mogę się powstrzymać. Rozmowa z Kubą Sienkiewiczem, in: Teraz Rock 2016), Die Freude über die neu gewonnene Meinungs- und Informationsfreiheit war deshalb so groß, weil zuvor die regierende Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, PZPR) ihr ideologisches Monopol durch eine Reihe von Institutionen und Ämtern gesichert hatte, deren Aufgabe es gewesen war, zu zensieren, zu kontrollieren und Druck auszuüben – unter anderem auch auf Künstler. Die Propaganda pries pausenlos die Überlegenheit des sozialistischen Systems (von der die Bürger im Alltag freilich wenig spürten) und kritisierte alle Manifestationen des Kapitalismus sowie die Politik kapitalistischer Staaten. Unter Edward Gierek sprach man in den 1970er Jahren von einem Wirtschaftswunder, Polen erschien in offiziellen Verlautbarungen als Industriemacht, die auch die stärksten Volkswirtschaften Europas und der Welt herausfordern könne. Die vermeintlichen Erfolge, die sich der Kohle- und Energieindustrie verdanken sollten, wurden jedoch bald von der Krise der zweiten Hälfte der 1970er Jahre überschattet. Gegen die Mangelwirtschaft oder gar Armut half der Regierung nicht einmal das Drucken von immer neuem Geld, für das es ohnehin nichts zu kaufen gab. Aus dieser verfahrenen Situation erwuchsen unter anderen die Arbeiterproteste des Jahres 1980. Doch nicht nur „die Straße“ reagierte, sondern auch Künstler und Musiker, deren Werke die Gefühle der unzufriedenen Massen thematisierten. Daran erinnert etwa Jacek Cygan, einer der wichtigsten Songwriter dieser Zeit und mehrfach ausgezeichneter Publizist. In seinem Buch Życie jest piosenką (Das Leben ist ein Lied) erklärt er unter anderem den Text des von Anna Jurksztynowicz interpretierten Schlagers Diamentowy kolczyk (Der Diamantohrring) aus dem Jahr 1985, dessen Aussage und ideelles Fundament dem Hauptamt für die Kontrolle von Presse, Publikationen und Aufführungen (Główny Urząd Kontroli Prasy, Publikacji i Widowisk) entgingen: 

Es war ein Lied über unsere Wirklichkeit. Daher die ‚sesje i cesje‘ (Sessionen und Zessionen), die Obsessionen wecken, daher der ‚ranny serwis‘ (Frühdienst), der uns in den Morgennachrichten mit falscher Stimme anspricht. Ich erklärte, die Formulierung ‚banki nie chcą, skąd ten tłok‘ (die Banken wollen nicht, woher diese Menge) beziehe sich darauf, dass in Polen die Menschen mit Dollar zwischen den Zähnen vor den Banken Schlange stünden, weil es eine Verordnung gab, dass jeder Bürger nur so viele Devisen mit ins Ausland nehmen dürfe, wie er bis zum Ende eines bestimmten Monats (April, glaube ich) auf sein Konto eingezahlt habe. Für die legal eingezahlten Dollar erhielt man dann rosa Bescheinigungen. In all dem, in dieser ganzen Paranoia, ist der ‚Diamantohrring‘ ein ‚Stückchen Freiheit‘, und wenn er uns genommen wird, machen wir uns einen neuen – Glas gibt es ja genug! (Cygan 2014, S. 73).

Die Passage des in Polen überaus populären Liedes, die Cygan eingangs anspricht, lautet wie folgt:

Przez sesje i cesje zyskują obsesje / na etat w gazetach je weź.  / Raz, dwa, trzy, pięć, ranny ‚serwis‘ budzi mnie / co za treść i jaki ton! / Świat zwariował, mam już dość! / Diamentowy kolczyk, łez kropelka słodka / Co tu kryć, nie znaczy nic, za to cieszy mnie (Cygan 2014, S. 74).

(Sessionen und Zessionen wecken Obsessionen / gib ihnen eine Stelle bei der Zeitung.  / Eins, zwei, drei, fünf, der „Frühdienst“ weckt mich, / was für Themen, was für ein Ton! / Die Welt dreht durch, mir reicht’s! / Diamantohrring, süßer Tränentropfen.  / Ich weiß, er bedeutet nichts, dafür erfreut er mich.)

Reflexionen über die Situation in Polen wurden während des Kommunismus oft in poetische Metaphern und vermeintlich oberflächliche Themen sowie in eine vom Inhalt des Textes ablenkende, wenig anspruchsvolle Musik verpackt (die Musik zu Diamentowy kolczyk stammt von Krzesimir Dębski, einem bekannten polnischen Jazzmusiker). Zu den zahlreichen Beispielen gehört auch Wypijmy za błędy (Trinken wir auf die Fehler), ein anderes bekanntes Werk Jacek Cygans, zu dem der Autor schreibt:

Die Menschen sollten in diesem Lied ein Stück der Wirklichkeit wiederfinden, die sie auf der Straße sahen, ein Stück der gequälten Wirklichkeit, die sie mit sich herumschleppten […]. Als ich es schrieb, waren Schlangen in Polen ein alltäglicher Anblick […]. In Warschau bevölkerten Rentner die Grünflächen vor den Spirituosenläden. Sie verbrachten lange Stunden dort, waren gesellig und warteten auf die nächste Wodka-Lieferung (Cygan 2014, S. 85).

 Im Polen der 1980er Jahre hatten es Pop und Poprock (diesem Genre entstammen die beiden genannten Beispiele) vergleichsweise leicht, ein Massenpublikum zu erreichen, etwa über das von der Regierung gebilligte Landesfestival des Polnischen Liedes (Krajowy Festiwal Piosenki Polskiej) in Opole – Diamentowy kolczyk war dort 1985 zu hören, Wypijmy za błędy 1989. Härtere Klänge, Punkrock und weniger metaphorische Musik präsentierte von 1980 an das Landesweite Festival der Musik der Jungen Generation (Ogólnopolski Festiwal Muzyki Młodej Generacji w Jarocinie) in Jarocin. Manche Künstler versuchten, beide Bühnen zu bespielen (u. a. Manaam, Porter Band), doch nicht immer glückte der Versuch, verschiedene Rezipientengruppen anzusprechen und gleichzeitig die Zensur zu umgehen. Das zeigte unter anderem der berühmt gewordene Auftritt der für ihre poetischen Texte bekannten Kultband Republika in Jarocin 1985, wo die Band nach einer zweijährigen Pause auftrat. Als die Musiker die Bühne betraten, begannen die 20.000 Zuschauer zu pfeifen, es flogen Eier, Tomaten und Sahnebecher. Republika begann trotzdem zu spielen. Nach einigen Minuten wurden die Pfiffe schwächer, dann verstummten sie (Piotr Milewski, Biografia, in: Republika, ( republika.art.pl, 10.4.2021 r.).  Das Publikum von Jarocin, akzeptierte schließlich auch diese weniger radikale, weniger eindeutige Form des musikalischen Protests gegen das kommunistische System. Im Fall von Republika war die kommunistische Zensur oft nicht in der Lage, die systemkritische Aussage der Liedtexte richtig zu deuten. Die Band sagte dazu in Interviews mit Blick auf ihr 1983 erschienenes Debütalbum Nowe sytuacje (Neue Situationen): 

[Bei der] Zensur arbeiteten offenbar nicht die cleversten Leute. Das Lied Biała flaga (Weiße Flagge) war ihnen suspekt, weil es dort hieß: „Co to za pan w tych kulturalnych okularach“ (Was ist das für ein Herr, mit dieser vornehmen Brille)… Sie dachten, es ginge um General Jaruzelski. Wir nahmen deshalb für das Radio eine andere Version auf: „Co to za pan tak kulturalnie opowiada“ (Was ist das für ein Herr, der da so vornehm redet)… Ein klügerer Kopf hätte sich aus ganz anderen Gründen an dem Lied gestoßen. Es handelte nicht von Jaruzelski, sondern von Konformismus, von intellektueller Prostitution. Der „Herr mit der vornehmen Brille“ war jemand, der einst für eine wichtige Sache gekämpft und sich dann verkauft hatte. Das passte nicht zum General, Gott bewahre. Die Zensur funktionierte nach diesem Prinzip: Was direkt ausgesprochen wurde, musste man streichen, aber wenn man poetisch formulierte, waren die Zensoren meist wenig clever und es ging durch (Robert Filipowski, Jeden z wzorców. Rozmowa ze Zbigniewem Krzywańskim, in: Teraz Rock 2012, Nr. 1).

 Mit Blick auf die verborgenen weltanschaulichen und systemkritischen Aussagen polnischer Lieder sagte der Sänger der britischen Punkrockband U.K. Subs, Charlie Harper, der einige Texte in englischer Übersetzung gelesen hatte, im Gespräch mit Grzegorz Ciechowski (dem Sänger und Texter von Republika): „Die Zensur zwingt euch dazu, Dichter zu sein. Ich kann frei heraus schreiben, was ich will, und niemand sagt etwas, solange ich nicht die Queen beleidige. Ein bisschen beneide ich euch.“ Ciechowski ergänzte: „Einen Dichter konnte der Zensor schwerer beim Wort nehmen. Natürlich gab es Stücke, die wir nach der Verhängung des Kriegszustandes bis zum Ende des Kommunismus bewusst nicht spielten: Lawa (Lava), Republika (Die Republik), Balon (Der Ballon), Zawroty głowy (Schwindel). Denn es war klar, dass sie nicht durchgehen würden“ (Robert Filipowski, Jeden z wzorców. Rozmowa ze Zbigniewem Krzywańskim, in: Teraz Rock 2012, Nr. 1).Die damalige Lebenswirklichkeit bot der Rockmusik – der an ein breiteres Publikum gerichteten wie der alternativen – genug Stoff für Kommentare, was immer Auseinandersetzungen mit der allgegenwärtigen Zensur implizierte. Kazik Staszewski, der Sänger der Band Kult, beschreibt in einem Interview eine typische Situation: „Einmal entschlossen wir uns zum Kampf. Es ging um Änderungen an unserem Stück Wódka. Ich weigerte mich, obwohl alle mir rieten, ich sollte nachgeben, um die Zensoren nicht zu provozieren, die sonst vielleicht alles streichen würden. Am Ende erreichten wir einen Teilerfolg. Die Herren Zensoren wünschten, wir sollten wenigstens im Titel andeuten, dass es den im Lied beschriebenen Alkoholismus nicht nur in Polen gibt, sondern in der ganzen Welt. Also änderte ich den Titel zu Na całym świecie źle się dzieje koledzy (Auf der ganzen Welt steht es schlecht, Kollegen). Der Text selbst ging dann ohne Änderungen durch. Das war ein kleiner Sieg im Kampf mit der Zensur – wenigstens empfanden wir es damals so. Live spielten wir ohnehin, was wir wollten, die Zensoren kamen nicht zu den Konzerten, es gab keine Kontrollen“ (Wiesław Weiss, Krótkie kazanie na temat jazdy na maxa, in: Teraz Rock (2007), Nr. 9).

Auch wenn ein Lied nicht von konkreten historischen Ereignissen handelte (wie das schon angesprochene, vor dem Mauerfall geschriebene Wind Of Change) konnte es, wenn seine Semantik und Metaphorik genug intellektuellen und emotionalen Spielraum ließen, von den Rezipienten zum Ausdruck von Protest oder zu einem Kommentar bestimmter Situationen und Ereignisse „umfunktioniert“ werden. Ein Beispiel dafür war Mniej niż zero (Weniger als Null) vom Debütalbum der Band Lady Pank. Das Lied stand erstmals am 21. Mai 1983 in der Hitparade des Dritten Polnischen Radios, eine Woche nachdem der junge Dichter Grzegorz Przemyk kurz nach bestandenem Abitur infolge von brutalen Misshandlungen durch die Bürgermiliz gestorben war (seine Mutter war die oppositionelle Dichterin Barbara Sadowska, die am 3. Mai 1983 ebenfalls von der Miliz misshandelt worden war). Das Lied wurde von der 2. Abteilung des Innenministeriums geprüft. In der Analyse wurde darauf hingewiesen, dass der Liedtext als Protestsong gegen die Tötung Przemyks im Mai interpretiert werden könne (hervorgehoben wurden die Stellen: „Twoje miejsce na Ziemi tłumaczy / Zaliczona matura na pięć“ (Deinen Platz auf der Erde erklärt / das mit Eins bestandene Abitur) und „Są tacy – to nie żart, / dla których jesteś wart / Mniej niż zero“ (Für manche – das ist kein Scherz/ ist dein Wert / weniger als Null)“ (Adam Halber, Mniej niż zero, in: Polonia Berlin (2013), Nr. 29). Viele Jahre später sagte der Sänger von Lady Pank, Janusz Panasewicz:

Sie [der Sicherheitsdienst – ŁŚ] hatten Grzegorz Przemyk ermordet, und wir kamen mit Mniej niż zero heraus. Das war ja ein eindeutiger Kommentar zu dem, was geschehen war. Genauso wie Du Du, Fabryka Małp (Fabrik der Affen) oder Zamki na piasku (Schlösser auf Sand). Das waren in Wirklichkeit politische Texte. Unsere Aufgabe ist es, zu kommentieren. Wenn die Menschen über etwas sprechen, dann sind die Konsequenz solche Texte (Michał Kirmuć, Irlandzki skrzat. Rozmowa z Januszem Panasewiczem, in: Teraz Rock (2007), Nr. 6).

 Mniej niż zero war kein unmittelbarer Kommentar zum Tod Grzegorz Przemyks, doch es wurde bei seinem Begräbnis gesungen. Dies wiederum hatte zur Folge, dass das Lied auf Anweisung des Sicherheitsdiensts aus der Hitparade des Dritten Polnischen Radios gestrichen wurde. Allerdings hatte die Zensur wenig Einfluss auf das Konzertrepertoire der Band. Lady Pank spielte 1983 in Polen 360 Konzerte, darunter einige vor sehr großem Publikum, etwa bei Rock Arena in Poznań oder auf dem Liedfestival in Opole.

Eine dem offiziell verbreiteten Bild sozialistischen Glücks und dem bedrückenden grauen Alltag der Volksrepublik konträre Wirklichkeit zeigte das Stück Boskie Buenos (Göttliches Buenos) der Rockband Manaam, die ähnlich wie Lady Pank damals ihre Karriere begann. Auch der Text dieses Hits enthielt – neben dem Thema weiter, exotischer Reisen (kein typisches Sujet der Gierek-Epoche) – verborgene systemkritische Motive. In einer Situation, in der es schwierig, wenn nicht unmöglich war, die Volksrepublik zu verlassen, erzählte Boskie Buenos von Reisen nach Europa und Übersee, unter anderem eben nach Buenos Aires, das unverändert Faszination und Emotionen weckt: „Chcę jeszcze raz pojechać do Europy / Lub jeszcze dalej do Buenos Aires / Więcej się można nauczyć podróżując / Podróżować, podróżować jest bosko“ (Ich möchte noch einmal nach Europa reisen / Oder noch weiter nach Buenos Aires / Auf Reisen kann man mehr lernen / Zu reisen, zu reisen ist göttlich), (Kora, Boskie Buenos, in: Teksciory Interia, ( Maanam - Boskie Buenos tekst piosenki - Teksciory.pl (interia.pl), 10.4.2021).

Bemerkenswert ist das lyrische Subjekt des Textes: eine Frau, die im Gespräch mit einem Journalisten vom Reisen schwärmt und Gladys del Carmen La Torullo Gladys Semiramis heißt –eine Anspielung auf die chilenische Politaktivistin Gladys del Carmen Marín Mille, Generalsekretärin der Kommunistischen Partei Chiles und Gegnerin der Militärdiktatur des Generals Augusto Pinochet (in den 1990er Jahren schrieben auch Musiker wie Sting oder Bono Vox Lieder gegen dieses Regime), die Pinochet wegen Verletzung der Menschenrechte vor Gericht verklagte. Boskie Buenos wurde 1980 beim Festival in Opole einem breiteren Publikum präsentiert. Das Lied wurde zum Symbol der Sehnsucht nach etwas für die allermeisten Polen damals Unerreichbares. Die Band erinnert sich wie folgt an die Ereignisse nach dem Konzert in Opole:

Eine Stunde nach unserem Auftritt, wir waren schon im Pająk (einem Café, in dem sich die Künstler aufhielten), kam Adam Galas zu uns, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und sagte: ‚Was habt ihr getan?! Jetzt ist alles aus!‘ Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand. Und tatsächlich war etwas ins Rollen gekommen. Bald fand sich in den Hitparaden nichts ‚Gierekmäßiges‘ mehr“ (Michał Kirmuć, Coś, co łączyło. Rozmowa z Markiem Jackowskim, in: Teraz Rock (2005), Nr. 8).

Die damalige Rockmusik gestaltete das Thema der Flucht aus dem grauen und tristen Alltag der Volksrepublik unterschiedlich. Die Band Kryzys (eine der ersten polnischen Punkrockgruppen) veröffentlichte auf ihrem gleichnamigen Debütalbum das Stück Wojny gwiezdne (Krieg der Sterne). Der Text bezieht sich unmittelbar auf George Lucas’ Film Star Wars von 1977, der in Volkspolen in ausgewählten Kinos gezeigt wurde. Die staatlich kontrollierten Vorführungen waren als kritische Präsentation der Filmproduktion des ‚kapitalistischen Feindes‘ gedacht, erzielten oft allerdings eine diametral entgegengesetzte Wirkung. Im Vergleich mit den seinerzeit dem jungen Publikum bekannten sozrealistischen Science-Fiction-Filmen (etwa der als polnisch-ostdeutsche Koproduktion entstandenen Stanisław-Lem-Adaption Der schweigende Stern von 1960) mussten die Vorführungen einen entsprechenden Eindruck hinterlassen. Der Autor des Liedtexts erinnert sich: „Gwiezdne wojny war ein Ausbruch unbändiger, freudiger Fantasie. Ich fügte den etwas ironischen Satz hinzu, in Sinne von: In Amerika ist es so, während wir hier unter russischer Fuchtel sitzen. Wenn ihr in den Westen geht, könnt ihr alles haben […]. Wir waren in der Volksrepublik schrecklich ausgehungert“ (Bartek Koziczyński, Follow my dream. Kryzys, in: Teraz Rock (2010), Nr. 8). Die betreffende Textstelle lautet: „Obcy nas ścigają, lecz to dla mnie nic / Obiłan Kenobi, on zawsze jest z nami/ Niechaj Moc będzie zawsze z tobą / Sprawdź, czy działa miecz / Wracamy inną drogą / Wojny gwiezdne, wszystko możesz mieć“ (Aliens verfolgen uns, doch das macht mir nichts aus / Obi Wan Kenobi, er ist immer bei uns / Möge die Macht immer mit dir sein / Teste, ob das Schwert funktioniert / Wir kehren auf anderem Weg zurück / Krieg der Sterne, du kannst alles haben), (Bartek Koziczyński, Follow my dream. Kryzys, in: Teraz Rock (2010), Nr. 8).

Noch expliziter thematisierte die alternative Rockband Bielizna aus der Dreistadt in ihrem Stück Prywatne życie kasjerki PKP (Das Privatleben einer PKP-Kassiererin) die Wirklichkeit jener Jahre. Einen Ausweg aus der grauen Realität bot auch hier das Kino. Der Autor des Lieds sagte Jahre später:

Das ganze Album war im traurigen, seltsamen Klima der 1980er Jahre gehalten, sie erzählte von einzelnen Menschen und ihrem billigen, kleinen Leben. Aus kosmischer Perspektive schien alles sinnlos […]. Das Kino war für mich damals ein Moment der Illusion, ein Fenster zur Welt, es half zu vergessen, in welch erbärmlichen Land wir lebten. Man konnte hingehen und sich eine Produktion anschauen, die einen aus der tristen Wirklichkeit herausriss (Bartek Koziczyński, Follow my dream. Bielizna, in: Teraz Rock (2007), Nr. 6). 

 Die in Liedtexten beschriebene Flucht in Filmwelten oder an exotische Orte bot einen Ausweg aus dem Alltag der Volksrepublik, der pausenlos im Fernsehen gezeigt wurde, zumal in der Nachrichtensendung Dziennik Telewizyjny, von 1958 an das wichtigste Propagandainstrument der Regierung. Eine dieser Sendungen lieferte 1981 Andrzej Sobczak den Impuls für den Text zu Przeżyj to sam (Erlebe das selbst), ein Stück der Gruppe Lombard von 1983: 

Man sah eine graue Menschenmasse – ein müdes Elend. Das erschütterte mich so, dass ich zu Papier und Stift griff […]. Einerseits also ein Appell: Bleib nicht stehen, wir müssen endlich etwas tun, aber vor allem ging es darum, die Gefühle derer auszudrücken, die das verlogene Fernsehprogramm schauen. Sie haben kein Geld, sie sehen andere arme Menschen, die gegen die Zustände demonstrieren, und der Sprecher redet ihnen ein, das seien Idioten und Wirrköpfe […]. Am meisten ärgerten mich die Worte des Sprechers. Das Lied ist die Antwort auf ihn […]. Mir ist erschreckend bewusst geworden, welche Macht er im Kontext unserer totalitären Wirklichkeit hatte. Ich halte mich nicht für einen Helden, nicht dass man mich missversteht. In der Solidarność waren Helden am Werk, die Barden sangen Kampf- und Aufstandslieder… (Bartek Koziczyński, Fallow my dream. Lombard, in: Teraz Rock (2008), Nr. 2).

Grzegorz Stróżniak, der Komponist des Liedes, das mit der Zeit zur Hymne der Solidarność wurde, fügt etwas später hinzu: „Es freut mich, dass für die Helden der Solidarność Przeżyj to sam so wichtig ist. Auch Jahre später höre ich immer wieder, dass es von Häftlingen, Internierten und Exilanten gesungen wurde“ (Bartek Koziczyński, Fallow my dream. Lombard, in: Teraz Rock (2008), Nr. 2).

Rockmusik in der DDR und der BRD in den 1980er Jahren. Oder: Grenzüberschreitende Werte

 Im Gegensatz zur Musikszene in der abgekapselten Volksrepublik Polen konnten sich westdeutscher Rock, Punkrock und Pop auf vielfältige Weise durchdringen und mit anderen Ländern und Kulturen Ideen und Werte austauschen. Das DDR-Regime indes versuchte ähnlich wie das polnische die Rezeption von Pop- und Rock zu kanalisieren, was ihm aber nie vollständig gelang. Die westdeutsche Punkrock-Band Die Toten Hosen erinnert sich an Geheimkonzerte in der DDR: 

Wir wollten die DDR aus Sicht der Menschen kennenlernen, nicht aus Sicht der Regierung. Heute können wir in Stasi-Dokumenten nachlesen, dass wir damals dort unerwünscht waren. Wir konnten nicht offiziell auftreten, und der einzige Ort, an dem wir uns sicher fühlten, waren die Kirchen […]. Für DDR-Bürger war es richtig gefährlich, sich mit uns zu treffen. Wir wären im Fall einer Verhaftung sicher nach ein paar Tagen wieder freigekommen – sie aber wären unter Umständen für lange Zeit im Gefängnis gelandet (Jordan Babula, Każdy może wszystko. Rozmowa z Andreasem Meurerem, in: Teraz Rock 2009 r.).

In der DDR bestand die Kontrolle unter anderem in der sanften Lockerung und plötzlichen Verschärfung von Restriktionen, in der Überwachung von Künstlern und in der Reglementierung des Konzertbetriebs. Auf der einen Seite schickte das Regime Spitzel zu den Konzerten, auf der anderen Seite wurden Radiosender angewiesen, der jungen Hörerschaft heimische Rockbands vorzustellen. „Das Regime erwartete (und forderte sogar) von der Rockmusik, der man sich sehr langsam und widerstrebend öffnete, einen didaktischen Beitrag: Sie sollte die Bindung ihrer Hörer an den Sozialismus stärken und sie dazu animieren, aktive und überzeugte Sozialisten zu werden“ (Littlejohn 2021, S. 46). In Polen wurden zur selben Zeit die Auflagen von Alben begrenzt und das Pressen der Tonträger an staatliche Betriebe übertragen. Der Sänger der Punkrock-Band Krzak erinnert sich: „Die Kommunisten hatten die Idee, die Auflagen zu begrenzen! […] Es war eine der Absurditäten des untergangenen Systems, dass man Vinyl-LPs von einem Chemie- und Rüstungsbetrieb (in Płonki) pressen ließ“ (Łukasz Wiewiór, Pamiętam ten dzień. Energia kipiała, in: Teraz Rock, 2012, Nr. 7.). In der DDR stand die einzige legal agierende Plattenfirma unter Kontrolle des Staates, der außerdem große Konzertveranstaltungen organisierte, mit denen man sich die Jugend gefügig machen wollte. Eine davon waren die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten im Sommer 1973 in Ostberlin. Die teilnehmenden Bands mussten Genehmigungen beantragen, um auftreten zu können. Ohnehin benötigten alle Musikgruppen eine staatliche Lizenz, die Musiker mussten staatliche Musikschulen absolvieren, um als Berufsmusiker anerkannt zu werden (Littlejohn 2021, S. 46).  Mitunter wurden Bands mit offiziellen Auszeichnungen geehrt, um sie zu diskreditieren (Günstlinge der Regierung wurden misstrauisch betrachtet). So erhielt etwa die legendäre Rockband Puhdys (die als eine der ersten DDR-Bands in der BRD auftreten durfte und auch in Polen sehr beliebt war) den Nationalpreis der DDR II. Klasse für Kunst und Literatur, was ihre Position schwächen sollte (Georg Danzer, Karat, in: Europopmusic, (http://www.europopmusic.eu/Germany_pages/Karat.html), 10.4.2021).

Wenngleich in jenen Jahren mitunter polnische Bands – u. a. Manaam – in Deutschland (DDR und BRD) auftraten und Die Toten Hosen 1985 einige geheime Konzerte in der Volksrepublik spielten (u. a. mit der polnischen Band Kobranocka), so hatte doch die deutsche Musikszene weitaus bessere Möglichkeiten zu Austausch und Dialog. Auf mehreren Ebenen existierten musikalische Kontakte zwischen der DDR und der BRD. Die Möglichkeit zum Empfang Westberliner Radiosender machte das Schaffen westdeutscher Rockmusiker umgehend in der DDR bekannt. Weitere Faktoren waren die gemeinsame Sprache sowie die gemeinsame Vergangenheit und deren Konsequenzen. Von Bedeutung war auch die freiwillige (wie im Fall von Nina Hagen, deren Lebenslauf Stationen in der DDR, der Volksrepublik und der BRD enthält) oder zwangsweise (wie im Fall des ausgebürgerten Liedermachers Wolf Biermann) Übersiedlung von Musikern aus der DDR in die BRD. In den meisten Fällen war die Ausreise in die BRD politisch motiviert, doch eine gewisse Rolle spielte sicher auch das künstlerisch inspirierende Klima Westberlins, wo Situationen wie die folgende, an die sich der Gitarrist Adrian Belew (u. a. King Crimson) aus dem Jahr 1978 erinnert, ganz ‚normal‘ waren: „Wir beschlossen, in eines der unzähligen Restaurants in Berlin zu gehen. Als wir das Lokal betraten, saßen dort Frank Zappa und einige Musiker seiner Band!“ (Buckley 2005, S. 291). Zur Offenheit Westdeutschlands sagt Andreas Meurer (Die Toten Hosen):

Für uns in der BRD war es leicht, auf die Insel zu fahren; viele Bands von dort kamen auch zu uns, und wir wurden einfach vom Punkrock infiziert – das war etwas Neues und Aufregendes. Wir hatten das Glück, dass wir in Düsseldorf wohnten, der Wiege des deutschen Punkrocks. Es gab einen echten Punkclub, in dem auch britische Bands wie Wire oder 1999 auftraten (Jordan Babula, Każdy może wszystko. Rozmowa z Andreasem Meurerem, in: Teraz Rock 2009, Nr. 7).

 Der ebenfalls aus Düsseldorf stammende Krautrock, den unter anderem die Sex Pistols als Einfluss nennen, mischte sich mit der Musik Frank Zappas oder Pink Floyds und revolutionierte nicht nur den deutschen, sondern auch den internationalen Rock und die elektronische Musik. Die 1970 gegründete Band Kraftwerk, die mit dem Stück Das Modell (1982) weltweit bekannt wurde, inspirierte zahlreiche Künstler mit ihrer expressiven, futuristischen und experimentellen Musik, die der Welt ein universelles Bild der damaligen BRD vermittelte. In Autobahn etwa beschrieben Florian Schneider und Ralf Hütter Autofahrten durch das Rheinland. Immens wichtig für die Entwicklung des Krautrocks und des New-Age-Stils war die deutsche Gruppe Tangerine Dream, deren Konzerte in Ostberlin 1980 und etwas später in Warszawa (dokumentiert auf dem Album Poland) sie in den Ostblockstaaten populär machten. Wegen der abstrakten Musik und der knappen Texte interessierte sich die Zensur nicht für das Schaffen der Band. Ihre Musik funktionierte in unterschiedlichen politischen Systemen und Kulturen und schaffte es sogar bis nach Hollywood (von Tangerine Dream stammen unter anderem die Soundtracks zu den Filmen Risky Business und Legend mit Tom Cruise).

Das geteilte Deutschland inspirierte auch polnische Künstler der alternativen Szene. Ein Beispiel ist das Stück Arahja der Gruppe Kult – ein zeitloses Werk über Spaltungen in Familie und Gesellschaft. Den unmittelbaren Impuls lieferte nicht nur die Berliner Mauer, sondern auch Kazik Staszewskis Besuche in Westberlin 1983. Der Sänger erinnert sich:

Polen konnten damals ohne Visum einreisen, es genügte eine Einladung von jemandem, der dort gemeldet war. Wenn ich endlich die Friedrichstraße verließ, wo der Zug immer ewig stand, weil die DDR-Zöllner nach Flüchtlingen suchten, und nach Westberlin weiterfuhr, sah ich vor meinem inneren Auge einen in wie mit einem Messer in der Mitte zerteilten Organismus, dessen einer Teil quasi sich selbst überlassen wurde und fast schon verweste, während man sich um den anderen Teil kümmerte. Das brachte mich auf die Körpermetapher. Fünf Finger und fünf Zehen für die eine, fünf Finger und fünf Zehen für die andere Seite. Die Zeile ‚mój dom murem podzielony‘ (mein Haus wird durch eine Mauer geteilt] wiederum verdanke ich dem Mauermuseum, wo Beispiele zu sehen waren, in denen die Mauer mitten durch Wohnungen verlief (Bartek Koziczyński, Części pierwsze. Kult – Arahja, in: Teraz Rock (2020), Nr. 9).

Die deutsche Teilung und die Aussage von Arahja veranschaulichte auch das Cover des Albums Tan (Tanz, 1989). Der Fotograf Andrzej Zawadzki erklärt: „Bei der ersten Auflage der Platte war das Cover in zwei Hälften geteilt, eine weiße und eine schwarze, die DDR-Hälfte“ (Wiesław Weiss, Kowerstory. Berecin z antenką, in: Teraz Rock (2010), Nr. 5). Einen eher ironischen, auf die polnischen Wirtschaftsmigranten – erst nach Ostberlin und dann in die kapitalistische Enklave Westberlin – gemünzten Kommentar zur Vorwendeatmosphäre lieferte die Punkrock-Band Big Cyc mit dem Stück Berlin Zachodni (Westberlin), das auf Erlebnissen und Eindrücken von einer Bahnreise in die BRD 1989 basiert:

Pilznera wypić trzema łykami / Opylić fajki, kupić salami / Gdy Polizei, to dawać chodu.  / Wrócisz do kraju, będziesz do przodu.  / A w jeden dzień zarobisz tyle / Co górnik w miesiąc w brudzie i pyle.  / Berlin Zachodni, Berlin Zachodni / tu stoi Polak co drugi chodnik (Krzysztof Skiba, Berlin Zachodni, in: Teksciory Interia, ( Big Cyc - Berlin Zachodni tekst piosenki - Teksciory.pl (interia.pl), 10.4.2021)

(Ein Pils leeren in drei Zügen / Kippen verticken, Salami kaufen / Wenn Polizei, dann Fersengeld geben.  / Wenn du nach Hause kommst, dann bist du vorne.  / In einem Tag verdienst du so viel / Wie ein Bergmann im Monat in Schmutz und Staub.  / Westberlin, Westberlin, / auf jedem zweiten Bürgersteig steht hier ein Pole.)

David Bowie entschied sich für Deutschland

 Für die in ihrem Land eingesperrten Polen waren Ost- und Westdeutschland in dieser Zeit wichtige Bezugspunkte und wichtige Beobachtungsfelder in kultureller, gesellschaftlicher und politischer Hinsicht. Nicht von ungefähr nahm David Bowie seine berühmte Trilogie Low (1977), Heroes (1977) und Lodger (1979) nicht in Polen, sondern in Berlin auf. Das Album Heroes mitsamt dem Titelstück (eine Hommage an die Krautrock-Band Neu und deren Platte Neu!75) wurde komplett in den Hansa Studios („Hansa By The Wall“) aufgenommen. Aus dem Studiofenster blickte man auf die Berliner Mauer und einen Wachturm mit MG-Stand; gelegentlich leuchteten die Grenzer mit einem Scheinwerfer ins Fenster und beobachteten durchs Fernglas die Musiker (Jordan Babula, Heroes. Teraz historia, in: Teraz Rock (2017), Nr. 10).  Heroes enthält auch das Stück V-2 Schneider, dessen Titel neben einer deutschen Weltkriegswaffe auf den Mitgründer der Gruppe Kraftwerk verweist, deren Album Autobahn Bowie stark faszinierte. „Der Krautrock-Einfluss betraf aber vor allem den Einsatz elektronischer Instrumente sowie die Annäherung an die europäische Musikalität und die Abkehr von typisch amerikanischen Akkordfolgen“ (Jordan Babula, Heroes. Teraz historia, in: Teraz Rock (2017), Nr. 10). Im Jahr 1987 richtete der durch den früheren Berlin-Aufenthalt veränderte Künstler seine vom Krautrock inspirierte Musik gegen die Mauer. Während eines Konzerts in Westberlin ließ Bowie die Lautsprecher nach Osten ausrichten und spielte seine Hymne Heroes, eine Liebesgeschichte und zugleich ein Protest gegen die Mauer (Littlejohn 2021, s. 46).  Er sang in diesem Moment nicht nur für die über 70.000 Menschen vor der Bühne. Am Ende des Konzerts verlas er eine Botschaft in deutscher Sprache, in der er alle Freunde auf der anderen Seite der Mauer grüßte. Hunderte junger Ostberliner verfolgten das Konzert. Sie sahen das Bühnenlicht, das von den von Kugeln zerlöcherten Häuserwänden reflektiert wurde. Sie hörten, wie Bowie sie grüßte und hörten seine Lieder. Ihre Lieder (MacLean 2015, s. 346).

Auch im Fall von Bowies berühmt gewordenen Berliner Konzert überwand die Musik Staatsgrenzen und gelangte auf die andere Seite der Mauer. Die von uniformierten Einheiten zurückgedrängten DDR-Bürger konnten auch die RIAS-Übertragung des Konzerts hören, und keine Macht konnte sie daran hindern (Blake Stilwell, This is how David Bowie helped bring down the Berlin Wall, in: We are the Mighty, ( This is how David Bowie helped bring down the Berlin Wall (wearethemighty.com), 10.4.2021).  Die Rockmusik führte ein Eigenleben und fand auch in sehr restriktiven politischen Verhältnissen ihren Weg zu den Hörern. Die sowohl in der DDR als auch in der BRD beliebten Puhdys trugen viele musikalische Einfälle sowie Ideen vom Osten in den Westen, ohne in offenen Konflikt mit dem Regime zu geraten. Ihre mit den Jahren wachsende Popularität verschaffte der Band eine Position, die ihr die Realisierung immer mutigerer systemkritischer Projekte ermöglichte. Das gelang nicht jedem. Die ebenfalls sehr beliebte DDR-Rockband Klaus Renft Combo wurde mit Auftrittsverboten belegt, bevor 1975 die staatlichen Organe die Band als zu radikal einstuften und ihre Auflösung verfügten. Klaus Renft erinnert sich: „Wir waren uns unserer Sache zu sicher. Wir dachten, wegen unserer Popularität könnte uns die Regierung nichts anhaben. Wir haben unsere Position überschätzt“ (Littlejohn 2021, s. 46).

Den Puhdys blieb dieses Schicksal erspart. In jenem Jahr, in dem ihr erstes Album in Westdeutschland erschien, veröffentlichten sie eine Platte, die als klar prowestliches Statement verstanden werden konnte. Rock ‘N’ Roll Music war eine Sammlung von Coverversionen amerikanischer Standards. Dass die Band ein Album mit nicht nur ausschließlich englischsprachigen, sondern überdies tief in der amerikanischen Kultur wurzelnden Stücken herauszubringen beabsichtigte, illustriert den Status, den sie damals besaß. Am Beginn ihres Schaffens wäre eine solche Veröffentlichung undenkbar gewesen (Littlejohn 2021, s. 46).  Wenig später nahmen die Puhdys in London ein Album mit englischsprachigen Versionen ihrer größten Hits auf.

Die alternative DDR-Szene versuchte ihre systemkritischen Botschaften auf anderen Wegen zu den Hörern zu bringen. Auch der Punkrock kam zunächst über die deutschdeutsche Grenze ins Land und gelangte später auch nach Polen. Die für Pop und Rock zuständige DDR-Plattenfirma Amiga veröffentlichte zwar Lizenzausgaben wie die Greatest Hits von Depeche Mode, doch Punkrock oder auch Post-Punk galten dem Regime als umstürzlerisch und gesellschaftsgefährdend. Obwohl der Punk nie offiziell verboten wurde, arbeiteten Stasi, Polizei und Politiker daran, um die Punker aus Stadtbild, Konzertsälen und Aufnahmestudios zu entfernen. Unterstützt wurden sie vom Minister für Staatssicherheit Erich Mielke, der 1983 die Zerschlagung der Punkkultur anordnete (Howes 2021, s. 65).

Die Folge waren Inhaftierungen, präventive Festnahmen, Haftstrafen und in einigen Fällen sogar Ausbürgerungen. Das führte dazu, dass in der DDR entstandene Punkmusik immer öfter in die BRD und von dort über weitere Grenzen geschmuggelt wurde. Ein Beispiel ist die Veröffentlichung DDR von unten / eNDe der Gruppen SchleimKeim und Vierte Wurzel aus Zwitschermaschine. Die Aufnahmen wurden von den originalen Mastertapes in ein mit westdeutschen Abspielgeräten kompatibles Format überspielt und von einem Mitarbeiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ostberlin in den Westen geschmuggelt (Howes 2021, s. 65).  Gelegentlich wandten die DDR-Behörden härtere Maßnahmen an, um das Schaffen von Künstler der alternativen Szene zu unterdrücken. Bernd Stracke, Sänger der Band L’Attentat, wurde 1985 festgenommen und nach einigen Monaten Haft in die BRD abgeschoben. Dort wirkte der Musiker an dem in Kooperation mit dem Label X-Mist aus der Nähe von Stuttgart produzierten Album Made in GDR mit (Howes 2021, s. 69).  Die Texte der enthaltenen Stücke zeichnen – ähnlich wie viele polnische Aufnahmen – ein düsteres Bild des von Hoffnungslosigkeit, totaler Kontrolle und allgemeiner Sinnlosigkeit geprägten sozialistischen Alltags (Howes 2021, s. 69).

Nachdem das Verbot des Empfangs von Westradio und -fernsehen aufgehoben worden war, erlaubte die DDR-Regierung in Ostberlin auch die Gründung des Jugendradios DT64. Dort gab es die Sendung Parocktikum, die ab 1986 von Lutz Schramm moderiert wurde. Punkbands schickten Schramm ihre Demotapes, und über diesen Weg gelangten die Aufnahmen in die BRD und später auch nach Polen. So gelang es dem ostdeutschen Punkrock, ein Netzwerk von Kontakten zur Rock- und Punkrockszene unter anderem der Volksrepublik Polen zu knüpfen.

Oft begannen die Bekanntschaften zwischen Punkern aus Polen und der DDR mit für das Regime scheinbar harmlosen Briefwechseln. Warschauer Punkbands antworteten gern auf Post von Ostberliner Punkern. Wegen der immer dynamischeren Entwicklung der Solidarność-Bewegung waren die Reisemöglichkeiten zwischen der DDR und Polen mitunter eingeschränkt, doch die Deutschen fanden rasch einen Weg, die Verbote zu umgehen. Der Ostberliner Punker „Herne“ (Raimon Pietzker), der Ende 1983 Konzerte in der Erlöserkirche organisierte (die Band Namenlos spielte dort das letzte Konzert vor ihrer Verhaftung), erfand die Methode des Grenzübertritts „als Cousin“. Er meldete einen Warschauer Punker als seinen Cousin, so dass beide Visa für Verwandtenbesuche erhielten. Daraufhin ließ Herne weitere DDR-Punker als Cousins polnischer Punker registrieren. Der Erfahrungsaustausch war sehr wertvoll, nicht zuletzt in organisatorischer Hinsicht – polnische Punkbands (unter anderem Dezerter) spielten in Jarocin OpenAir-Konzerte vor 200.000 Besuchern. Auch die Unverfrorenheit der polnischen Punker und die Tatsache, dass sie mit ihren systemkritischen Aktivitäten durchkamen, hatten großen Einfluss auf die neuen Freunde in Ostberlin (Mohr 2018, S. 215).  Der polnische Punkrock musste zwar gegen die Zensur, den Sicherheitsdienst und unmittelbar gegen die Bügermiliz (Milicja Obywatelska) kämpfen, aber anders als die DDR versuchte die Volksrepublik nicht, die Punkbewegung zu eliminieren oder durch ein hartes Vorgehen staatlicher Organe kleinzuhalten. Der britische Punkrock gelangte in die BRD, der polnische in die DDR. Der polnische Punkrocker Krzysztof Grabowski erinnert sich an seine erste Band Ręce Do Góry (Hände hoch):

Punk nach 1982. Das war Pogo in Jarocin, herabsinkender Staub – wer das gesehen hat, vergisst es nie. Für mich war es die Offenbarung einer ganz anderen Kultur, die in Polen telepathisch entstand – keiner wusste vom anderen, und dann zeigte sich auf einmal, dass jeder in seiner Stadt dasselbe machte. Für uns war der Punk ein großes Fuck off, ein Mittelfinger für Lehrer, Milizionäre und Apparatschiks, die nicht im Traum daran gedacht hätten, dass jemand aufstehen und ihre Vision einer besseren Zukunft anzweifeln könnte (Jordan Babula, Twoja Generacja, in: Teraz Rock (2019), Nr. 10).

Obwohl die ostdeutschen Punker mit ihrer Musik und Weltanschauung kein so breites Publikum erreichen konnten wie die polnischen Bands in Jarocin, waren sie im Widerstand gegen das Regime nicht weniger entschlossen: „Sobald du dir deine Gedanken zensieren lässt, hast du den letzten Kompromiss gemacht. Dazu darfst du es nicht kommen lassen“ (Mohr 2018, S. 216). In den Texten ostdeutscher Punkbands kommt der Protest gegen die autoritäre sozialistische Wirklichkeit deutlich zum Ausdruck. Das Stück Friedensstaat von L’Attentat etwa ist eine Antwort auf die Rhetorik des Regimes, das die Gewährleistung von Sicherheit durch zunehmende Militarisierung propagierte. Kinderkrieg wiederum ist ein bitterer Kommentar zur vorgeschriebenen vormilitärischen Ausbildung in Schulen, Universitäten und Betrieben (Mohr 2018, S. 229).  Ob in Großbritannien, Polen oder Deutschland – der Punkrock schaffte es immer, seine Werte mit einer Stimme zu artikulieren und zur Selbständigkeit und zum Widerstand gegen das jeweilige „System“ aufzurufen.

Polnisch-deutsche und deutsch-polnische Punkprojekte 1987–1988

 Ähnlich wie die westdeutschen Toten Hosen, die 1985 in Polen Konzerte gaben, konnten manchmal auch DDR-Bands ihre Musik in Polen präsentieren. Im November 1987 organisierten ostdeutsche Punker eine Polen-Tour. Im Zuge der durch die Solidarność - Bewegung verursachten Wendestimmung und im Wissen um die Freiheiten der polnischen Punkszene nutzten die Bands Namenlos /Kein Talent und Wartburgs für Walter die bewährte Methode des Grenzübertritts „als Cousin“. Die Musiker überquerten in Görlitz die Grenze nach Polen und wurden in Zgorzelec von ihren Freunden empfangen. Alles lief nach Plan – die polnischen Punker waren untereinander gut vernetzt und gut organisiert. Sie hatten größeren Handlungsspielraum, weil unter anderem der polnischen Regierung die Möglichkeit fehlte, unliebsame Personen auszuweisen – der ostdeutsche Punk-Untergrund wurde auch durch Ausbürgerungen immer wieder geschwächt (Mohr 2018, s. 276).  Die deutschen Bands trafen auf eine funktionierende Club-Infrastruktur und wurden von Studierenden tatkräftig unterstützt. Vor den Konzerten absolvierten sie ihre ersten professionellen Soundchecks, für ihre Auftritte erhielten sie eine Gage. Das polnische Publikum war begeistert von den deutschen Sängerinnen – Cabi von Namenlos / Kein Talent und Ina von Wartburgs für Walter. Die ungewöhnliche Tournee umfasste Krakau, Warschau und Białystok und oft standen die deutschen Bands mit polnischen Gruppen auf der Bühne, unter anderem mit Trybuna Brudu.

Musikalische Einflüsse, die Inspiration durch die Gegenkultur und die Idee der Rebellion wirkten auch in die umgekehrte Richtung. Wenige Monate vor dem Mauerfall reiste die informelle polnische Künstlergruppe Praffdata nach Ostberlin. Anlass war eine leicht schockierende Konzert-Performance, die unbewusst den bevorstehenden politischen Umbruch vorwegnahm. Die 1984 gegründete Gruppe um Jarek Guła war zuvor unter anderem 1986 auf dem 1. Kongress der Zynischen Jugend des Atomzeitalters (I Zlot Cynicznej Młodzieży Ery Atomowej) in Gdynia aufgetreten. Nach Berlin kam Praffdata auf Initivative von „Herne“ Pietzker, dem Erfinder der Methode des Grenzübertritts „als Cousin“. Pietzker organisierte den Auftritt der Gruppe und beschaffte die Einladungen. Ein Teil der Performance bestand in der Projektion von über die Grenze geschmuggelten Dias zur Geschichte der Berliner Mauer. Weiteres Material waren hundert Kartons, mehrere Meter weißes Papier, Farbe und Pinsel. Vor Ort entstanden Plakate mit revolutionären Parolen und Zitaten von Rousseau, Ghandi, Martin Luther King, Erich Honecker sowie aus Kults Stück Arahja (alles in deutscher Übersetzung). Die Texte wurden auf zehn jeweils ein Meter lange Banner geschrieben und im Katechesesaal der protestantischen Erlöserkirche in der Nöldnerstraße 43 (im Bezirk Rummelsburg unweit der Mauer) aufgehängt, wo das Konzert stattfand (Księżyk 2020, s. 32).  Wieder waren Künstler, Publikum und Veranstalter im Protest gegen die sie umgebende Wirklichkeit vereint. Emotionen, Aussage, Musik und alternative Kunst durchdrangen sich ungeachtet von Sprachunterschieden und Grenzen. Die Performance von Praffdata verband in Echtzeit den Lärm eines Punkkonzerts, absolute individuelle Improvisation, ein quasi stammeshaftes Ritual und plastisches Schaffen.

Als die revolutionären Parolen an den Wänden hingen, errichteten die Künstler auf der Bühne eine Mauer aus Kartons. Exakt wie die im Herzen Berlins: Zwei Wände, dazwischen eine Fläche mit Wachturm. Die Mauer trennte die Musiker vom Publikum. Dazu waren im Hintergrund Projektionen von Fotos aus der Geschichte der Berliner Mauer zu sehen […]. Irgendwann hatten wir keinen Plan mehr, wie es weitergehen sollte. Ich packte ein Stück der Mauer, stieß es weg und schleuderte es auf die Zuschauer, die vorn saßen. Sie waren entsetzt. Niemand rührte sich. Die DDR-ler waren furchtbar angespannt. Schon vor dem Konzert hatten wir gesehen, dass sie verängstigt waren, eingeschüchtert, sie huschten vorbei und verschwanden in ihren Verstecken (Księżyk 2020, s. 34).

Doch trotz ihrer Angst und trotz der so gut wie sicheren Anwesenheit von Stasi-Spitzeln kamen die Ostberliner, um die Performance der polnischen Künstler zu sehen.

Schluss

 Unabhängig von ihrer konkreten Aussage und ihrem ideellen Nährboden kann die Rockmusik dazu dienen, physische, soziale und politische Grenzen zu überwinden. Die Ideen, (auch systemkritische) Botschaften und Kontexte des Rock lassen sich dabei auf unterschiedliche Weisen nutzen. Der Soziologe Jerzy Wertenstein-Żuławski schreibt:

Wenn wir sagen, dass Rocktexte nicht nur künstlerische Produkte sind, sondern aufgrund ihres Ursprungs, der Art ihrer Rezeption und ihrer gesellschaftlichen Funktion in gewissem Sinne auch soziale Fakten, dann können wir – unter Einbezug von aus anderem soziologischem Material gewonnenen Informationen – das Weltwissen und Weltbild derjenigen rekonstruieren, deren Einstellung sie ausdrücken (Wertenstein-Żuławski 1993, s. 78).

Aus diesem Grund ist es sinnvoll, sich mit dieser Musik und ihren historischen und aktuellen Kontexten zu befassen – sei es in Wissenschaft und Publizistik, sei es als Hörer und Rezipient ihrer Aussagen. Hierzu sei noch einmal Kuba Sienkiewicz zitiert, der Sänger von Elektryczne Gitary: „Meine Hoffnung ist, dass die nur in Songs enthaltene historische Reflexion uns als Warnung dient, dass sich bestimmte Katastrophen nicht ein weiteres Mal wiederholen“ (Jordan Babula, Nie mogę się powstrzymać. Rozmowa z Kubą Sienkiewiczem, in: Teraz Rock 2016, Nr. 8). Der Text des Lieds 99 Luftballons von Nena, der sich auf die Stationierung von Pershing-II-Raketen bezieht, die Musik der Beatles, die 1964 die Vereinigten Staaten revolutionierte, oder die Gomułka-, Gierek- und Jaruzelski-Samples im Stück 45/89 von Kult (das in Polen auch nach Abschaffung der Zensur hinaus noch einige Zeit verboten war) – all das prägte die Musikrezipienten vor vielen Jahren und hat unabhängig vom Wandel der Generationen bis heute das Potenzial dazu. Polen und Deutsche können durch Rockmusik immer noch die Geschichte der BRD, der DDR und der Volksrepublik neu erfahren. Die Musik erinnert daran, dass im September 1961 die Freie Deutsche Jugend (FDJ) eine landesweite Kampagne gegen die Nutzung westlicher Radio- und Fernsehsender startete. „Die FDJ-ler kappten und zerstörten damals sogar Antennen, die zur BRD ausgerichtet waren“ (Poiger 2000, s. 209). Oder dass im April 1960 in Westberlin die Senatorin für Jugend und Sport Ella Kay an der Eröffnung des ersten TanzCafés „Jazz-Saloon“ teilnahm, um Offenheit für die Kultur des Westens und Toleranz für die Jugendbewegungen zu demonstrieren. „Die Senatorin servierte den jungen ClubBesuchern persönlich alkoholfreie Drinks und Bier“ (Poiger 2000, s. 210). Die Musik überwand Grenzen, als 1982 der Gitarrist Rudolf Schenker während der USA-Tournee der Scorpions das Wirkungspotenzial von MTV erkannte. Weil die US-Radiosender neue Strömungen beharrlich ignorierten (auch den Punkrock) und lieber Musik von traditionellen Bands wie Led Zeppelin spielten, engagierten die Scorpions unter dem Eindruck von MTV und den Videoclips von Billy Idol den Regisseur David Mallet, der das Wesen der Musik der Scorpions einfangen und dem MTV-Publikum vermitteln sollte. Schenker erinnert sich: „David sah uns auf der Bühne und beschloss, die Essenz des Stils und der Lebensweise der Scorpions in ein Video zu Rock You Like a Hurricane zu packen. Er sagte, wir sollten nicht übertrieben ernst, sondern ungezwungen und wild sein. Das Video handelt von unserer Lebenseinstellung, von Wildheit und Sex. Mit diesem Clip erreichten wir die MTV-Generation“ (Tannenbaum/Marks 2011, s. 131).

Indem sie die Wirklichkeit kommentiert, baut die Musik historische Brücken über Staatsgrenzen hinweg, wofür die Scorpions der 1980er Jahre als Beispiel dienen können. Die westdeutsche Band fand zunächst den Weg in die USA, kurz darauf spielte sie in Leningrad (auch für ein DDR-Publikum); sie trat 1990 beim berühmt gewordenen Konzert von Roger Waters in Berlin auf und kam schließlich auch nach Warschau, wo sie 1993 im Legia-Stadion ein denkwürdiges Konzert gab. „Der Wind der Veränderung kam aus Polen“ (Katarzyna Domagała-Pereira, Alexandra Jarecka, Historia najnowsza. „Wind of Change”, w: DW, ( „Wind of Change”. Wiatr zmian zaczął się w Polsce – DW – 30.08.2020, 10.4.2021, sagten Klaus Meine und Rudolf Schenker in einem Gespräch mit der Deutschen Welle und Newsweek Polska.

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann

 

Literatur:

Baldwin, Elaine et al.: Wstęp do kulturoznawstwa, Poznań 2004.

Buckley, David: Strange Fascination. David Bowie. The Definitive Story, London 2005.

Cygan, Jacek: Życie jest piosenką, Kraków 2014.

Howes, Seth: DIY, im Eigenverlag: East German Tamizdat LPs, in: Sounds German. Popular Music in Postwar Germany at the Crossroads od National and Transnational, hg. von Kirkland A. Fulk, New York 2021.

Księżyk, Rafał: Dzika Rzecz. Polska muzyka i transformacja 1989-1993, Wołowiec 2020.

Littlejohn, John: Wenn eine Band lange Zeit lebt: Puhdys, Politics and Popularity, in: Sounds German. Popular Music in Postwar Germany at the Crossroads od National and Transnational, hg. von Kirkland A. Fulk, New York 2021.

MacLean, Rory: Berlin: Imagine a City, London 2015.

Mohr, Tim: Burning down the Haus: Punk Rock, Revolution, and the Fall of the Berlin Wall, London 2018.

Poiger, Uta G.: Jazz, Rock and Rebels. Cold War, Politics and American Culture in a Divided Germany, London 2000.

Siwak, Wojciech: Estetyka rocka, Warszawa 1993.

Strinati, Dominic: Wprowadzenie do kultury popularnej, Poznań 1998.

Tannenbaum, Rob; Marks, Craig: I want my MTV. The uncensored story of the music video revolution, New York 2011.

Wertenstein-Żuławski, Jerzy: Między nadzieją a rozpaczą. Rock, młodzież, społeczeństwo, Warszawa 1993.

 

 

Śmigiel, Łukasz, Dr., verfasste den Beitrag „Rock(Musik) in Polen, DDR und BRD 1983–1990“. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Wrocław und arbeitet in den Bereichen Media Storytelling, Buchmarkt und innovative Sendeplattformen im Radiobereich. Radiojournalist, seit vielen Jahren verbunden mit u. a. dem Regionalrundfunk des Polnischen Rundfunks in Wrocław.

 

 

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