Daniel Pietrek

Horst Bieneks oberschlesische Bilder (Schlesien)



Einführende Bemerkungen

Am 30. Juli 1974 berichtete Horst Bienek in einem Brief an den (damals noch befreundeten) Heinz Piontek über die mühsame Arbeit am ersten Band der Tetralogie und beschrieb sein Vorhaben folgendermaßen:

[…] ich plage mich mit dem Buch, das im Frühjahr fertig sein soll/muss, da lass ich mich gar nicht so gern ablenken: Romanschreiben ist eine WahnsinnsArbeit! Jedenfalls für mich. Ich hoffe/ich glaube, es wird Ihnen doch gefallen (ich meine, wenn ich’s überhaupt schaffe, ich habe tiefe Verzweiflungen, freilich auch Aufschwünge, aber bin noch nicht über die Hälfte;) ich will nämlich weg von dem Oberschlesien-Bild, wonach es da nur Slums und redebrechende Säufer gegeben hat, siehe Janosch, aber auch Scholtis war nicht unschuldig dran [Herv. D.P.] … Erinnern Sie sich noch an Korfanty? - der steht bei mir wieder auf (Horst Bienek an Heinz Piontek am 30.7.1974, in: Nachlass Heinz Piontek, Sig. Ana 465. Bayerische Staatsbibliothek, Handschriftenabteilung).

Es war für den Gleiwitzer Autor von Anfang an sein Anspruch, aus seinem/n oberschlesischen Roman/en eine möglichst vielschichtige, facettenreiche „Chronik Oberschlesiens“ zu schreiben, seine Heimatstadt Gleiwitz zum Modell des Untergangs Mitteleuropas zu erheben und in einem breiten epischen Gemälde die Lebensgeschichten ihrer BewohnerInnen (aus unterschiedlichen Schichten und Milieus) hin zum Moment des Untergangs zu führen. Deswegen werden in die gesamte Tetralogie neben fiktiven Gestallten auch historische Figuren, wie beispielsweise Arthur Silbergleit oder Justizrat Kochmann, eingeführt. Wenn sich also Bienek in dem Brief an Piontek von Janosch oder Scholtis distanziert, so bedeutet dies keine generelle Ablehnung des Werkes jener Autoren(Beispielsweise pflegte Bienek stets ein sehr freundschaftliches Verhältnis zu August Scholtis. Eine wichtige Rolle spielte hier Bieneks Dankbarkeit für die Hilfe Scholtis‘ in der Potsdamer Zeit sowie nach der Rückkehr aus Workuta, z.B. die eine äußerst positive Besprechung von Bieneks Erstlingswerk, veröffentlicht in der Zeitschrift Schlesien, Scholtis 1957.Besprechung von Bieneks Erstlingswerk, veröffentlicht in der Zeitschrift Schlesien. (Scholtis 1957). Bienek hat seinerseits nach dem Tod von Scholtis 1969 für dessen „Wiederentdeckung“ sehr viel unternommen. In der FAZ etwa erschien unter Marcel Reich-Ranickis Leitung des Literaturressorts die Kolumne „Romane von gestern – heute gelesen“, für die Bienek im Oktober 1985 über Scholtis‘ Ostwind schrieb und seine Besprechung mit dem Appell schloss: „Wir können uns gar nicht leisten, einen solch originellen Autor wie Scholtis zu vergessen“. (Horst Bienek, Ein Schelm, ein Narr, ein Weiser. August Scholtis: Ostwind), in: FAZ vom 22. Oktober 1985). Parallel dazu setzte sich Bienek mit allen seinen Möglichkeiten und Verbindungen ein, um die Romane von Scholtis, die im Buchhandel nicht mehr lieferbar waren, neu zu verlegen. 1985 kam im F.A.-Herbig-Verlag eine Neuausgabe von Ostwind heraus, 1986 erschien dieser Roman mit einem Nachwort von Horst Bienek bei dtv. Ein Jahr später wurde in der Reihe „Bibliothek Suhrkamp“ eine Neuauflage von Jas, der Flieger mit einem Nachwort von Wolfgang Koeppen veröffentlicht. Und aus dem Nachlass von Scholtis erschien 1987 bei Herbig Schloß Fürstenkron, herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Horst Bienek. Geplant war schließlich sogar eine mehrbändige Scholtis-Werkausgabe im Herbig Verlag; auch Ein Herr aus Bolatitz sollte noch herauskommen. Es ist daher kein Zufall, dass in seinem Band mit literarischen Porträts Der Blinde in der Bibliothek (1986) sowohl Scholtis, wie auch Arthur Silbergleit, besprochen wurden. Nicht nur ihre regionale Abstammung war hier wichtig, sondern er zog diese Dichter heran, um „bestimmte Korrekturen vorzunehmen, in der allgemeinen Einschätzung der Autoren und in der Rezeption ihres Werkes“. Bienek 1986, S. 153), sondern von dem – durch ihr Werk – konstruiertes Oberschlesien-Bild. Für dieses Bild mussten also andere Beispiele und Vorbilder her.

Vorbilder

Entsprechend seinem Vorhaben, die „Chronik Oberschlesiens“ zu (er)schreiben, sammelte der Autor bei den Recherchen zu den Schlesien-Romanen (einem Kulturwissenschaftler oder Historiker gleich) eine breite Palette an Quellen (Zum Umgang Bieneks mit den Quellen bei der Niederschrift der Tetralogie vgl. ausführlicher: Pietrek 2012, S. 337–347): Zeugenaussagen, wissenschaftliche Publikationen und Studien sowie historische Zeitungsartikel und Notizen über Sport, Mode, Filme, Literatur und Politik. Zum Material gehörten ferner nicht nur historische Rundfunksendungen, sondern auch Filme und Werbeanzeigen. Um dokumentarisches Material zu bekommen, schrieb Bienek Hunderte von Briefen, gab Zeitungsannoncen auf (sowohl in der Zeitschrift „Schlesien“, wie auch beispielsweise in einer Zeitschrift für schlesische Juden in Israel) und besuchte zahlreiche Zeitzeugen. Bieneks Anliegen war es, mit dem recherchierten Material die historische Vergangenheit zu (re)konstruieren, dennoch wollte er aus dem Stoff ausdrücklich keine Studie, kein „historisches Handbuch“ machen. Es ging ihm von Anfang an darum, literarisch eine vergangene Welt erstehen zu lassen, letztlich mit seinen Oberschlesien-Bildern einen Mythos zu schaffen. Denn dem Autor war stets klar, dass das akribisch zusammengetragene Material zwar dokumentarisch sehr aufschlussreich und wertvoll sei, die künstlerische Prosa sich dennoch nicht mit dem bloßen Nacherzählen begnügen dürfe. Vielmehr müsse sie, die verborgenen Erlebnisschichten deutlich machen, sei dies nun auf dem Gebiet der Psychologie oder Philosophie oder eben im Geschichts- und Kulturverständnis. Deswegen gibt sich Bienek mit bloßem dokumentarischen Nacherzählen nicht zufrieden: Das Wahrheitsgebot seiner Werke wird durch die Übernahme fiktiver Muster erweitert. Trotz der Sorgfalt in Einzelheiten der Beschreibung ging es Bienek nie um die Rekonstruktion objektiver Tatsachen oder um die Beschreibung der Realität, sondern um die Schaffung seiner eigenen Wirklichkeit, eines Mythos. An die Stelle bloßen dokumentarischen Nacherzählens tritt demnach ein Authentizitätsanspruch, der mit Fiktionalisierung durchaus kompatibel ist. Dafür verwendet Bienek die Bezeichnung „poetischer Realismus“. Und um Missverständnissen vorzubeugen, erklärte er sein Verständnis dieser Kategorie anlässlich der Verleihung des Bremer Literaturpreises:

Ich glaube, daß unsere Literatur mehr mit der Wirklichkeit zu tun haben muß. Und auch mehr mit unserer eigenen Geschichte. Dabei darf sie nicht nach einer platten Ideologie zu ihrer Widerspiegelung verkommen. Was wir brauchen, ist historische Wahrheit. […] Ich komme von der Lyrik her, der man stets etwas unbestimmt Gefühlvolles nachsagt – große Lyrik, und hier kann ich Brecht ebenso wie Benn zitieren, hat es immer mit der Genauigkeit zu tun. […] Ich will das lyrische Element auch in meinem Romanprojekt nicht verleugnen, mir schwebt ein poetischer Realismus[Herv. D. P.] vor, wie er allerdings in der deutschen Literatur kaum Vorbilder hat, eher in der amerikanischen, so etwa bei Faulkner, Thomas Wolfe, Carson McCullers, dem früheren Capote (Bienek 1983, S. 10f.).

Und tatsächlich schuf Bienek in seinen schlesischen Romanen poetische Bilder Oberschlesiens nach dem Vorbild der Meister der amerikanischen Prosa der 1930er und 1940er Jahre. Dabei lässt aber der Gleiwitzer Autor in diesem Zusammenhang u. a. die deutsche Tradition des „poetischen Realismus“ aus der Zeit des „bürgerlichen Realismus“ außer Acht. Und dies obwohl Bieneks Beobachtungen – wie dies Hans-Joachim Hahn veranschaulicht – an die Ansichten Theodor Fontanes aus seinem Aufsatz Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 und die Thesen Otto Ludwigs anknüpfen, von dem die deutsche Literaturwissenschaft den Begriff „poetischer Realismus“ übernommen hat (Hahn 2012, S. 59 und 64f.). Der Bezug auf die Vorbildfunktion der amerikanischen Schriftsteller (Faulkner, Thomas Wolfe, Carson McCullers und der frühere Capote) wiederholt sich in vielen poetologischen Schriften Bieneks, so dass es sich lohnt, dieser Spur nachzugehen, weil dies für die Tetralogie tatsächlich aufschlussreich ist (Ich beschränke ich mich bei der Darstellung auf den zwei ersten Autoren. Ausführlicher zu der Rolle amerikanischer Literatur im Werk Horst Bieneks siehe: Pietrek 2021).

Wiliam Foulkner war der Schriftsteller schlechthin, auf den sich Bienek am häufigsten bezog, wobei Bieneks Faszination für Faulkner sehr deutlich über den deklaratorischen Bereich hinausgeht und sich in seiner Poetik, der Art und Weise, wie seine Werke aufgebaut sind, oder in der Art und Weise, wie die Figuren in den Werken des schlesischen Schriftstellers dargestellt werden, zeigt. So zum Beispiel bei der Konstruktion der Figuren (was ich noch ausführlicher beschreiben werde) – Bienek machte keinen Hehl daraus, dass er sich von seinem großen Vorbild inspirieren ließ:

[…] diese Begeisterung oder dieser Enthusiasmus für Faulkner hat sich gehalten und ich […] habe plötzlich entdeckt, als ich an […] die Gleiwitzer Tetralogie heranging, […] daß da gewisse Affinitäten sind, gewisse Gemeinsamkeiten, nämlich dieser besondere Menschenschlag […], die Probleme zwischen Schwarz und Weiß, die Faulkner beschreibt, waren bei uns zwischen Katholiken und Protestanten oder zwischen Deutschen und Polen, die ja dann ganz nahe beisammen gelebt haben (Interview von Marilyn Fries mit Horst Bienek am 23.5.1989, in: Ahrens 2003, S. 117–118). 

 Noch interessanter sind die Affinitäten und Verbindungen in der Art und Weise, wie die Erzählung geschrieben und aufgebaut ist: So konzentrieren sich die ersten drei Teile von Schall und Wahn (The Sound and the Fury) auf einen einzigen Tag und auf das Bewusstsein eines der drei Brüder, während der vierte Band zum auktorialen Erzähler zurückkehrt. Mit der Entscheidung, die Handlung der ersten drei Romane an einem einzigen Tag spielen zu lassen, hat sich Bienek genau an den amerikanischen Schriftsteller angelehnt. Aber auch in seinen Tagebüchern und anderen autobiographischen Texten erwähnt Bienek die Werke Faulkners als Hilfe, Vorbild und Referenz: „es ist [in der Tetralogie] wie bei William Faulkner, den ich – falls es nicht zu vermessen ist, das zu sagen – als einen meiner großen Lehrmeister betrachte. Die Snopes sind überall“ (Bienek, Horst: Einführung in die Lesung der Ersten Polka. Typoskript. Undatiert (wahrscheinlich Mitte der 80er Jahre). In: Horst-Bienek-Archiv, Biw 9).

Bienek rechtfertigte auch seine Entscheidung, sich im letzten Band der Tetralogie nicht auf einen Tag zu beschränken, indem er sie mit einem erneuten Verweis auf Faulkner legitimierte:

Freitag, 13. Oktober 1978.
Der 4. Band vielleicht ähnlich Faulkners „As I lay dying“ – alles in Personen erzählen. Da könnte ich mit gutem Grund die Einheit der Zeit (ein Tag!) und des Ortes (Gleiwitz) aufheben – dafür die Einheit der Flucht (der Reise), bis zum Schluß, bis zum Bombenhagel in Dresden. Überhaupt: von Faulkner lernen! Gleiwitz, Oberschlesien – das ist ja mein Yoknapatwpha. Im Grunde brauchte ich aus dieser Welt niemals herausgehen. Es ist ohnehin keine realistische! (Bienek, Horst: Tagebuch. In: Horst-Bienek-Archiv, Bil 131/3). 

 Dieses Zitat erklärt auch warum Bienek ein Zitat aus Faulkners Als ich im Sterben lag (When I was Dying) als Motto für den zweiten Band gewählt hat: „Wenn man sich nur in die Zeit hineinweben könnte. Es wär schön, wenn man sich einfach in die Zeit hineinweben könnte.“ Es war für den Gleiwitzer Autor nicht nur eine interessante Dekoration, sondern ein poetologischer Wegweiser, den er in leicht abgewandelter Form in seinen Münchner Poetikvorlesungen wiederholt und erklärt, dass es für ihn nichts anderes bedeute als den Versuch, die Zeit so lang auszudehnen, bis sie zerspringt (Bienek 1987, S. 101). Und tatsächlich erfüllt sich dieser im Zitat formulierte Wunsch in der Tetralogie in vollem Umfang, denn die eigenen Erinnerungen, Bilder, Traditionen, Farben und Gerüche des Schriftstellers werden zur Perspektive der Figuren, mit der sie die Welt um sich herum wahrnehmen. Es ist eine zauberhafte, beschworene Welt, und zu Recht verweist Fiałkowski darauf, Bienek hat weniger Schlesien rekonstruiert, sondern seinen eigenen Mikrokosmos menschlicher Dramen geschaffen, ein Abbild der Welt, so wie es sein Lieblingsschriftsteller Wiliam Faulkner getan hat (Tomasz Fiałkowski, Na peryferiach świata, in: Tygodnik Powszechny 1994, Nr. 38, S. 13). Es ist kein Zufall, dass Bienek, wenn er die Qualitäten der literarischen Meister der amerikanischen Moderne aufzählt, sehr oft auf Wolfes autobiografischen Debütroman Schau heimwärts, Engel (1929) verweist.

Dieser Roman war für Bienek nicht nur wegen der biographischen Affinitäten (Die Biographien beider Autoren weisen vielen Ähnlichkeiten auf. Wolf war Außenseiter, der im Alter von 37 Jahren an Tuberkulose starb, hatte in seinem Leben mit vielen Widrigkeiten zu kämpfen: Er wurde als jüngstes von acht Geschwistern in einer gewalttätigen Familie geboren, sein alkoholkranker Vater starb früh, und er erreichte alle seine Erfolge durch harte Arbeit, wobei er sich nur auf sich selbst verließ. Obwohl Wolfe zu Lebzeiten nur zwei Romane und eine Handvoll Novellen veröffentlichte, ist er eine feste Größe der Weltliteratur) wichtig, sondern auch wegen der ästhetischen Dimension des Werkes des amerikanischen Schriftstellers. Erstens sind sowohl die Komposition als auch die Sprache von Wolfes Roman heterogen, sie kombinieren viele Stile und erinnern an Techniken, die auch von den Autoren „des langen Gedichts“ (Es sollte erwähnt werden, dass der Autor von Septemberlicht in der Debatte über das so genannte „lange Gedicht“ in der deutschen Literatur eine aktive und wichtige Rolle spielte) verwendet wurden, die dann wiederum in der Tetralogie auffindbar sind. Zweitens – und das scheint der eigentliche Grund für Bieneks Faszination zu sein – war für Wolfe „Sehnsucht“ die zentrale philosophische Kategorie. Der australischen Kritikerin Jedidah Evans zufolge (Evans 2020), haben wir es bei Wolfe mit einer „Ontologie der Sehnsucht“ (ontology of longing) nach Heimat und Heimatstadt und einer „Besessenheit von Verlorenheit“ (obsession with lostness), Themen, die in seinem Werk ständig wiederkehren (Evans 2020, S. 16f.), zu tun. Das gleiche ließe sich ohne weiteres auch über die schlesischen Werke (Tetralogie und die späteren „Reiseromane“) Bieneks sagen. In einem Interview für den Bayerischen Rundfunk äußerte sich Bienek zu den literarischen Vorlagen, die den Stil der Ersten Polka maßgeblich beeinflusst haben, wie folgt:

Und da möchte ich ein Buch nennen, das mich wie kaum ein anderes erschüttert, beeinflußt, verwandelt hat, ein Buch, das ich gelesen und mit dem ich gelebt habe, über lange Zeit, von dem man gewiß auch Spuren in der „Ersten Polka“ wird entdecken können. Es ist das „Schau heimwärts Engel“ von Thomas Wolfe. Das Buch war schon 1932 in der sprachmächtigen Übersetzung von Hans Schiebelhuth erschienen […]. Es wurde damals so eine Art Poetik für mich, damit habe ich mich gegen den sozialistischen Realismus gewehrt, der uns in den Fünfziger Jahren verordnet wurde und nach dessen Regeln wir schreiben sollten. Mit diesem Buch habe ich einen andren Realismus verteidigt, den poetischen Realismus (Horst Bienek: Bücher der Kindheit. Ein Interview für den BR (Redaktion: Leonhard Reinisch). Typoskript. In: Horst Bienek Archiv, Biw 12).

Der bereits erwähnte literaturkritische Schlüsselbegriff für den Gleiwitzer Schriftsteller, der „poetische Realismus“, hat – wie schon oben ausgeführt – für Bienek amerikanische Wurzeln, und es waren amerikanische Schriftsteller, die es ihm ermöglichten, „eine umfassendere, komplexere und wohl auch vitalere Art erzählerischer Vergegenwärtigung“ (Bienek 1983, S. 10). In Der ersten Polka haben sinnliche Erfahrungen den Charakter von Metaphern, die allmählich die romanhafte Welt enthüllen: Beim Aufwachen sieht Valeska Rosen im Muster der Tapete, die unter dem Einfluss des Lichts „aus den Wänden stürzen“, und sie hört „die Stille, die in den Wänden tickte“ (Bienek 1975, S. 7). Das kreative Subjekt nimmt hier an der Erschaffung des Objekts teil, indem es durch die oben erwähnte, nostalgische „Sehnsucht“ in dieses eintaucht - eine Sehnsucht nach der körperlichen Empfindung der Welt, die aus der Kindheit erinnert wird. Diese Sehnsucht lädt die Erzählung mit einer bestimmten Orientierung auf – eine Konfiguration von Sinnesreizen, die sich im Bewusstsein des Lesers zu einem Ganzen zusammenfügt. Bei Bienek, wie auch bei Wolfe, ist das Material nicht so sehr die geschaffene literarische Fiktion, sondern das Denken über die reale Welt durch metonymische Krümel der Realität in einer Weise, die es vermeidet, Bedeutungen zu schaffen, die den bestehenden Konventionen untergeordnet sind. Und dass eben diese Herangehensweise an das oberschlesische Thema einen grundsätzlichen Charakter hat, sieht man an einem Werk, das thematisch betrachtet eine Vorstufe der Tetralogie wurde.

Hier meine ich das Gedicht Gleiwitzer Kindheit von 1966, wo der Autor jene Sehnsucht nach der körperlichen Empfindung der Welt, die aus der Kindheit erinnert wird, jene Konfiguration von Sinnesreizen, die sich im Bewusstsein des Lesers zu einem Ganzen zusammenfügt, unmittelbar und ohne Einführung von Anfang an erleben lässt:

     Die Erinnerung an einen Winterwald
     an den Räuberhauptmann Pistulka
an einen schmutzigen zäh dahintreibenden Fluß
     an eine Fronleichnamsprozession
an das Säufergeschrei aus der Nachbarwohnung der Mainkas
     einmal auch das Verstummen im Volksempfänger
         Schüsse
kurz vor dem großen Krieg

Das ist alles
      ein paar Bilder
           aus einem überbelichteten Film
manchmal ein Schatten
      vielleicht ein Gesicht
           wenn ich lange hinstarre
eine Bewegung
eine Geste
        ein Lächeln manweißnichtvonwem

Ist die Kindheit Erinnerung
Oder die Erinnerung Kindheit?
Ich lese Borges und denke an das unerbittliche Gedächtnis von
      Ireneo Funes
           Bei Sartre interessiert mich sein
Verhältnis zu Descartes
ich möchte wissen was Coriolan dachte
          als man ihn gefangennahm
 Dann aber plötzlich
das Knacken einer Mandelder Geruch eines bratenden Fischs in
Bunzlau-Porzellan
der Schrei eines Eichelhähers im Labander Wald
Verwischte Bilder zittern über
         die Netzhaut (Bienek 1966, S. 47)

 Der Wortschatz ist einfach, die Rhythmik des Gedichtes entsteht durch Wiederholung und Reihung, vor allem aber durch die versetzten Zeilen, die unaufdringlich und „unmerklich, wie Pulsschlag“ sind (Gert Kalow, Poesie als Dokument. „was war was ist“ – Neue Gedichte von Horst Bienek. In: FAZ vom 31.12.1966; dort auch das folgende Zitat). Hinzu kommen die „dichten Bilder“; bereits in den ersten Zeilen wird nicht nur der Themenkomplex des Gedichtes, sondern auch der späteren Gleiwitzer Tetralogie bestimmt: Erinnerung, Gedächtnis, Mythologisieren. Zudem werden auch die „Werkzeuge“ zur Hervorbringung dieser Themen bestimmt. Sie werden mit dem Einsatz aller Sinne erfahrbar gemacht; es sind Bilder, Gerüche, Laute, das einzigartige Kolorit eines Dialekts (des Oberschlesischen). Dazu gehört auch der Klang der Namen von Nebenflüssen der Oder, die für den Autor so selbstverständlich sind und zum „akustischen Gedächtnis“ gehören, so dass er das potentielle Unverständnis mancher Leser gerne in Kauf nimmt, weil es sich dabei nicht um Material für den Erdkundeunterricht handelt, sondern um die durch das sprachliche Material erzeugte Musik (Brief von Horst Bienek an Herrn Seitz am 26.8.1966. In: Archiv des Carls Hanser Verlags). Nach gleichem Muster wird dann die berühmte Hochzeitszene (mit den Ortsnamen, die wie Musik klingen) in der Ersten Polka aufgebaut. Bieneks Erinnerung an die Kindheit wird in Gleiwitzer Kindheit – um die von Wolfgang Frühwald hier eingesetzte Kategorie zu gebrauchen – zur Gedächtnisphotographie, bei der es „nicht um eine plane photographische Wiedergabe von Gewesenem“ geht, sondern um die „sinnliche Erfahrung entschwundener Zeit“ (Frühwald 1980, S. 20). Dies betrifft sowohl Gleiwitzer Kindheit in „was war was ist“ als auch alle späteren Gleiwitzer Romane. So reflektiert der Protagonist Georg Montag in einem der ersten Kapitel der Ersten Polka die Art und Weise der Niederschrift seiner Arbeit über Wojciech Korfanty:

Montag machte die Mappe zu. Eine Explosion von Sätzen verbarg sich hinter diesem Satz. Vielleicht hätte er das mehr in eine erzählerische Form bringen sollen, jetzt war jeder Satz eine Behauptung, scharf und spitz wie ein Messer: Atmosphäre würde die Sätze gefälliger machen (Bienek 2000, S. 38).

Schon in der Gleiwitzer Kindheit geht es darum, eine Stimmung, eine Atmosphäre festzuhalten, sie greifbar und nachfühlend zu machen und so zu fokussieren, wie es der Fotograf tut, wenn er durch sein Objektiv schaut. In der Tetralogie verhält sich dies genauso. An einer der Schlüsselstellen der Ersten Polka, dem Überfall auf den Gleiwitzer Sender (der auch in was war was ist thematisiert wird), werden die Erzählperspektive und der Standort des Erzählers folgendermaßen dargestellt:

Andreas faßte auf einmal Ulla am Arm, bückte sich und kroch in das Kanalrohr hinein, das Mädchen hinter sich herziehend. […] Das Licht brach ein von vorn, von der Mündung der Röhre, und es bot ihnen das Bild einer kreisrunden Landschaft an […] Andreas sah durch den runden Bildausschnitt hinüber […] (Bienek 2000, S. 158f.).

 Zu den Bildern kommen Gerüche, Geräusche, Laute, die so subjektiv sind, dass sie sich einer Zuschreibung und näheren Bestimmung entziehen – vor allem im Moment ihrer Einführung:

      plötzlich
in der Geometrie des Buchstabens
      im irrealen Schnittpunkt der Linien
           in der Explosion der Stille
      die nichts als Stille entläßt
      der lautlose Fall in die Kindheit
      (es gibt keinen Sturz ins Nichts)
ganz tief
      ganz unten
           wenn du achtgibst
ist immer Kindheit (Bienek 1966, S. 50).

 Bei dem Bienekschen Projekt zur „Oberschlesischen Chronik“ ging es ihm jedoch (ähnlich den amerikanischen Schriftstellern der Mitte des 20.Jhs.) nicht mehr um die künstlerischen Formspiele (wie dies in den früheren Werken der Fall war), sondern ganz im Gegenteil: Die zeitgenössische Literatur sollte mehr mit der Wirklichkeit zu tun haben und sich in der Suche nach der „historischen Wahrheit“ üben, für die die angelsächsische Tradition die besten Vorbilder bot (Bienek1983, S. 11).

Neben den wichtigsten – oben ausgeführten – Vorbildern, gibt es noch andere literarische Vorlagen, die sich inspiratorisch auf den Stil der Tetralogie ausgewirkt haben. Von einer Reihe solcher Texte soll hier nur das Werk von Horst Lange Schwarze Weide erwähnt werden. Hierzu äußerte Bienek:

Nicht Jüngers Marmorklippen, nein, der einzige Roman von Rang, der im Dritten Reich erschien, ist Horst Langes „Schwarze Weide“. Koeppen: Der Roman ist schön, sprachkräftig, sinnlich, geheimnisvoll und erregend wie je… es gehört zu den wesentlichen Zeugnissen menschlichen Werdens wie Flauberts „Education sentimentale“ und auch zu den Epen östlicher Grenzenlosigkeit wie Wladyslaw Reymonts „Polnische Bauern“. Deutsch und österreichisch lebt der Atem des Barock in den Sätzen des Romans und ist von jener Kraft, von jenem Reichtum, jener Phantasie, die Schlesiens Kirchen und Schlösser so prächtig baute, ist Geist vom Geist der suchenden und ringenden Sänger Angelus Silesius, Hoffmannswaldau, Gryphius und Johann Christian Günther.

 Wie hätte sich Horst Lange zu Lebzeiten über diese Sätze gefreut (Horst Bienek: Materialien zur Tetralogie. Typoskript, in: Horst Bienek Archiv, Biw 33. Diese Eintragung hat Bienek unverändert in Bienek 1983, S. 171f. aufgenommen). Der Einfluss dieses Werkes und die konkreten „Ähnlichkeiten“ lassen sich jedoch nicht so direkt nachzeichnen, wie dies bei den bereits dargestellten amerikanischen Autoren der Fall war. Bieneks Hinwendung und Sympathie zu diesem Text erklärt aber ein Kommentar (in einem anderen Zusammenhang), den der Gleiwitzer Autor an seinen Landsmann Heinz Piontek auf einer Postkarte schrieb: „Lieber Piontek, Dank für ihre Sätze. Was ist endogen? Ich lese im Brockhaus nach. Ich glaub‘ es Ihnen nicht! Schlesier holen ihre Kraft aus der Erde oder aus der Mystik. Kommen Sie doch einmal einen Tag allein hierher und lassen sie uns gemeinsam schweigen!“ (Horst Bienek an Heinz Piontek im Februar 1974, in: Nachlass Heinz Piontek, Sig. Ana 465. Bayerische Staatsbibliothek, Handschriftenabteilung).

Auf dem Weg zu den „schlesischen Romanen“

 Die Notwendigkeit für die „Oberschlesische Saga“ neue Vorbilder und Impulse zu suchen, ist bei dem Autor der Ersten Polka ein Resultat seiner schriftstellerischen (oder sogar künstlerischen) Werk-Biographie und den Erfahrungen, die er reichlich dabei gesammelt hat. Mit seiner literarischen Auseinandersetzung mit der Gefangenschaft in einem sowjetischen Lager hatte der Autor auch poetologische Erfahrungen gesammelt, die sich in ihren Konsequenzen auch auf die Tetralogie ausgewirkt haben.Bereits nach der Entlassung aus dem Arbeitslager – im Oktober 1955 – ging Bienek in die Bundesrepublik, wo er vom Sommer 1957 bis Ende 1961 Kulturredakteur beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt/M. und seit 1961 Cheflektor beim Deutschen Taschenbuchverlag in München war. Außerdem gab Bienek in den Jahren 1958–1961gemeinsam mit Hans Platschek die Zeitschrift blätter + bilder (blätter + bilder. Eine Zeitschrift für Dichtung, Musik und Malerei, hg. von Horst Bienek und Hans Platschek. Verlag Andreas Zettner, Würzburg/Wien) heraus. Diese Engagements und Aktivitäten waren für die Entwicklung der Tetralogie insofern wichtig, weil er dadurch fürs deutsche Publikum (aber auch für sich selbst) neue, unbekannte Autoren entdeckte und das Verständnis für verfemte, schwer zugängliche Literatur schärfte. Bienek wird so auch später darauf verweisen können, dass er sehr gute Autoren (z.B. Allen Ginsberg, Jorge Luis Borges, die Prosa von Truman Capote, Jean Genet und Stig Dagerman) entdeckt und ihnen beim Durchbruch in Deutschland geholfen hat, bevor sie sich hier endgültig etablieren konnten. Hier zeigte der Gleiwitzer Autor sein „Gespür“, sein stets reges Interesse an der zeitgenössischen auch avantgardistischen Kunst, worauf man gerne später zurückgriff, sei es im Rundfunk, im Hanser-Verlag oder im dtv bzw. später in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. 

Selbstverständlich hatte dies eine Rückwirkung auf die von dem Autor selbst verfassten Werke. Sein Traumbuch eines Gefangenen (1957), seine erste Einzelveröffentlichung zeichnete sich dadurch aus, dass sie alles andere als ein konventioneller Erfahrungsbericht über die traumatischen Erfahrungen seiner Gefangenschaft war. Bienek versuchte mit seinem Traumbuch, mit den Träumen und zahlreichen surrealistischen Elementen einen Spiegel zu schaffen, mit dem die Realität besser erkennbar wird und mit dem man schärfer auf sie schaut: Er konzentrierte die brutale Realität und seine Erlebnisse auf reine Chiffren. Diejenigen, die „literarische Berichterstattung“, „Wirklichkeitsbeschreibung“ oder „Kunde zu geben von den Erfahrungen“ (Günter Blöcker, Laßt sie ruhig wachsen, in: FAZ vom 7.12.1957) erwarteten, wurden zurecht enttäuscht, denn diese Form der Literatur, vermag es, eine vordergründige, realistische Szene durchsichtig zu machen (Karl Korn, Günter Eichs Traumspiele, in: FAZ vom 13.3.1954). Ähnlich war es in den 1959 veröffentlichten Nachtstücken: An den verschiedenen Überarbeitungen und Umgestalltungen in den Geschichten lässt sich gut erkennen, wie Bienek sich „weg von Hemingway“ (Brief von H.G. Göpfert an Horst Bienek vom 22.5.1959, in: Archiv des Carl Hanser Verlags) bewegt und seinen eigenen Stil immer konsequenter durchzusetzen versucht. Das bezieht sich zum einen auf die Handlungsführung, in der Bienek es vermied, einer Erzählung oder Shortstory ähnliche „Schlusseffekte“ zu setzen und stattdessen alles „effektlos“, gleichsam selbstverständlich ausklingen lässt. Bieneks neue Prosa sollte sich von den allgemein lesbaren Erzählungen darin unterscheiden, dass sie nicht von der „Aussage“ oder dem „monologue interieur“ dominiert ist. In einem Brief an seinen Lektor bezeichnete Bienek die Texte als „stille, leise, verhaltene, intime, isolierte“ (Brief von Horst Bienek an H.G. Göpfert vom 5. Mai 1959, in: Archiv des Carl Hanser Verlags).

Und als 1968 Horst Bienek dem Publikum sein Romandebüt – die Zelle – präsentierte, (Vgl. dazu ausführlicher: Pietrek 2012, S. 262–289. Die dort defiliert analysierten Elemente werden hier in synthetischer Form wiedergegeben) war es erneut ein kompromissloses, ein „extremes Buch“ (Marcel Reich-Ranicki, Gefängnis mit Sentiments. Ein extremes Buch: Horst Bieneks „Die Zelle“, in: Die Zeit vom 12. April 1968, S. 22–24). Mit seiner ungewöhnlichen Beschreibung beabsichtigte Bienek, dass sich die Zellenwände um den Leser Stück für Stück schließen: Sie sollten ihn einkapseln und mit jenem Ich allein lassen, in dem sich jeder Leser selbst wiedererkennt. Der Leser sollte zum Zelleninsassen werden (Korrespondenz zwischen Horst Bienek und Christoph Schlotterer von Oktober-November 1967, in: Archiv des Carl Hanser Verlags). Dafür teilte Bienek den Roman nicht in Kapitel ein, sondern in „Erzählzellen“, die aus Passagen unterschiedlicher Länge bestehen: Häufig beginnt eine neue Einheit mitten in einer Zeile, ist mit kleinen Buchstaben geschrieben und endet ohne Interpunktionszeichen; grundsätzlich werden Interpunktionszeichen sehr sparsam verwendet. Bienek hatte sogar vor, vollständig darauf zu verzichten, verwirklichte dieses Vorhaben jedoch mit Rücksicht auf die Verständlichkeit des Textes nicht (Gespräch des Verfassers mit Michael Krüger am 30.1.2011 in München). Die „Erzählzellen“ sind nicht nummeriert, sondern nur durch Absätze und Leerzeichen voneinander getrennt. Um den Fluss nicht zu unterbrechen (ähnlich einem endlosen, nie zu Ende gehenden Monoog oder Gedankenstrom), setzt das erste Wort in einer Erzähleinheit in der neuen Zeile an etwa der gleichen Stelle an, wo das letzte Wort der vorherigen Erzählzelle steht. Die Handlung entwickelt sich nach keinem Schema, eine zeitliche Ordnung des Erzählten ist nicht erkennbar – die einzige bemerkbare Veränderung ist der sich verschlechternde körperliche Zustand des Gefangenen. Genau wie in der Welt des Romans selbst stehen dem Leser auf der formalen Ebene also die gängigen Zeit- und Ordnungskategorien nicht zur Verfügung, so dass er in der gleichen Notlage wie der Gefangene ist. Dem Leser wird von Anfang an nahegelegt: In diesem Roman wird nicht nur über das Eingesperrtsein und von einer Existenz in der Zelle berichtet, die den Menschen nach und nach so prägt, dass er zum Zellenmenschen wird, sondern der Roman entwirft eine Modellexistenz, nämlich ein Modell dafür, die Welt, in der wir sitzen, als Zelle zu erfahren (Vgl. dazu u. a. Korrespondenz zwischen Christoph Schlotterer und Horst Bienek im November 1967, in: Archiv des Carl Hanser Verlags).

Deswegen gibt es kaum äußere Handlung; was in der Form des inneren Monologs und des „stream of consciousness“ beschrieben wird, sind Gedanken, Gefühle und Erinnerungen des eingesperrten Helden. Weil es keine fortgesetzte Handlungsentwicklung gibt, bleibt dem Gefangenen nur, den Verfall seines eigenen Körpers zu beobachten. Der Held versucht zwar, diesen monotonen Alltag durch die Beschäftigung mit ihn umgebenden Gegenständen zu durchbrechen (er betrachtet eine Fliege, befasst sich mit einer gefundenen Haarlocke, streichelt seine Zellenwände), aber die so erhoffte Veränderung tritt nicht ein. Dank der ungewöhnlichen Gestaltung wurde Die Zelle zu einer der besten literarischen Abhandlungen über dieses Thema und zugleich gewisse Synthese seiner Erfahrungen im Umgang mit der Kunst in den letzten Jahrzehnten, was auch eine der Rezension erkannt hat – so hat der Roman Ähnlichkeit mit einem ganz auf substanzielle Elemente abstrahierten Bild: „Die Bewegungen münden in Bewegungslosigkeit – die Vergegenwärtigung eines Zustands, der in sich beschlossen ist. Das Gefangensein ist sprachlich zum Kunstwerk – alias zum Kunstgegenstand – objektiviert“ (Heinrich Vormweg, In der Zelle, in: Merkur vom Mai 1968). Und an dieser Objektivierung lag dem Autor sehr viel, wie man vor allem an den Texten mit der poetologischen Selbstreflexion erkennen kann. So schreibt Bienek im Nachwort zur Zelle, es sei ihm sehr wichtig gewesen, vom Autobiographischen auszugehen, da er glaube, dass Literatur „da, wo sie relevant, gewichtig ist, immer etwas mit dem Biographischen zu tun hat“ (Bienek 1980, S. 94); dennoch habe er mit dem Buch keine Biographie schreiben wollen, und es solle auch nicht als solche gelesen werden. Denn wenn er auch die Grundsituation, die Einzelzelle, erlebt habe, sei „das Andere“ Erfindung. Die Zelle sei zwar ein „realistisches“ Buch, doch ihm habe ein neuer „subjektiver, ekstatischer Realismus“ mit GleichnisCharakter vorgeschwebt (Bienek 1980, S. 94).

Als sich also Bienek dem neuen, großen Thema zuwendet, dass ihn bis ans Lebensende nicht loslassen wird, wusste er, dass er nicht weiterschreiben konnte, solange er sich nicht sicher war, wie der neue Stoff, „dieser Steinbruch Erinnerung Kindheit“ (Bienek 1983, S. 10) formal zu gestalten wäre. Er habe einen neuen Stil, ein neues Erzählen für dieses Thema finden wollen, da es mit symbolischer Überhöhung (wie in Der Zelle) nicht zu meistern war; die Wirklichkeit von 1968 erforderte von ihm „eine umfassendere, komplexere und wohl auch vitalere Art erzählerischer Vergegenwärtigung“ (Bienek 1983, S. 10). Und dann hat es weitere zwei Jahre gedauert, bis er mit der Niederschrift von Die erste Polka beginnen konnte:

Dazwischen lag die Niederschrift der Bakunin-Invention, die eigene Verfilmung der Zelle, das Experiment der Vorgefundenen Gedichte und die Aufsatzsammlung über verfemte russische Literatur: Solschenizyn und andere. Alles Umwege, Ausflüchte, Ausweichmanöver? Vielleicht auch die Angst vor einem so großen, gewaltigen, alles fordernden Thema? (Bienek 1983, S. 11)

 Einerseits ist die oben formulierte Aussage – wie so oft, nicht nur bei diesem Autor – als eine Form der Selbststilisierung zu verstehen: Aus der Perspektive des großen Erfolgs der Gleiwitzer Tetralogie (Vgl. dazu ausführlicher: Pietrek 2012, S. 333–455. Die dort defiliert analysierten Elemente werden hier in synthetischer Form wiedergegeben), im Nachhinein also (re)konstruiert, konnte der erfolgreiche Schriftsteller die drei Texte beinahe schon als nebensächliche „Ausflüchte“ und „Ausweichmanöver“ betrachten. Aber die Formulierung „Umwege“ trifft den Stellenwert der Texte aus der Sicht des sich selbst stilisierenden Dichters durchaus ehrlich und genau. In Poèmes trouvés sowie Bakunin treibt Bienek seine Sprach- und Stilexperimente bis zum Äußersten, lotet die Grenzen des Machbaren aus. Und die Erfahrungen, die er dabei macht, die Lehren, die er daraus zieht, aber auch die Techniken, die er dabei entdeckt, finden sich allesamt in der Gleiwitzer Tetralogie wieder. Der proklamierte und überall verkündete neue Stil der Gleiwitzer Romane schließt sämtlich die formellen Errungenschaften der Poèmes trouvés und des Bakunin (auch der Zelle) ein – sie sind lediglich eingekleidet in eine gut lesbare und leserfreundliche Form, für die der Begriff des „poetischen Realismus“ steht (Vgl. dazu die Leitthesen des Vortrages von Jürgen Joachimsthaler Das Atmen der Sätze im WortRaum. Zu Horst Bieneks Schreibweise, gehalten zum Horst-Bienek-Symposium in Hannover 23–24. Juni 2011). Mit der Tetralogie vollzog Bienek eine Synthese nicht nur in seinem Stil (Realismus und Surrealismus), seine Autorschaft offenbart sich hier als Konsequenz früherer Entscheidungen, Umwege und Erfahrungen, zu denen wichtige künstlerische Erfolge (vor allem Nachtstücke und Zelle) ebenso zählten wie die größtenteils kommerziellen Misserfolge früherer Werke.

In dem kleinen Band Vorgefundene Gedichte nutzt Bienek jedoch – trotz Ähnlichkeit seiner Arbeiten zur „Konkreten Poesie“ – das Wort und die Sprache nicht als Material, das „abgeschlossen“, „fertig“ ist. Er interessiert sich vielmehr für das Organische und Lebendige in der Sprache, für das, was die Menschen tagtäglich umgibt und was sie nicht wahrnehmen:

VERKÜNDIGUNG DES WETTERS

Die quer durch Deutschland
verlaufende luftmassengrenze
               verlagert sich nur langsam
südwärts in Bayern stark bis wechselnd
bewölkt und vereinzelt niederschalg
               meist als regen
mittagstemperaturen
               einige grade über null […]

 In anderen Gedichten verwendet er Werbematerial aus seinem Briefkasten, zitiert eine Seite aus einem Telefonbuch, Slogans der 68er Revolte (Chöre zum Mitsingen) oder gibt im Gedicht den Inhalt des Plakats von einer Räuber-Inszenierung in München wieder. Am eindrucksvollsten zeigten sich in der Auswahl aber jene Gedichte, bei denen sich Bienek nicht nur auf bloßes Zitieren beschränkt, sondern in denen er zusammenstellt, „kunstgerecht montiert“ und „ein bisschen mogelt“ (Hans-Jürgen Schmitt, Was auf der Straße liegt. „Vorgefundene Gedichte“ von Horst Bienek, in:FAZ vom 7. Oktober 1969), (hier vor allem das Gedicht Geteilte Stadt). Dieser Gedichtband ist aus der Perspektive der oberschlesischen Bilder in seinem Werk deswegen so interessant und bedeutend, weil wir sehr viele Techniken und Elemente in der Gleiwitzer Sage wiederfinden. Auch dort gibt es telefonbuchartige Personenlisten sowie Aufzählungen von Straßen- und Platz-Namen. Es gibt Sprünge und Brüche sowie Elemente der Sprache, die gleichsam ‚auf der Straße lagen‘. Zu dieser Sprache gehören (ebenso wie in Vorgefundene Gedichte) Werbesprüche, amtliche Überschriften und dialektale Wendungen – unmittelbar aufeinander folgend, jedoch typographisch voneinander unterschieden, in ihrer Mehrfachkodierung den gleichen textuellen „Wert“ besitzend:

Valeskas Augen tasteten die Werbesprüche ab, ohne sierichtig zur Kenntnis zu nehmen:
Bewunderung ein Schuh erregt
der ständig mit Egü gepflegt…

Dazwischen in dicken schwarzen Buchstaben:
Hier wird nur deutsch gesprochen
Sie sah auf ein paar alte Frauen mit weißen Kopftüchern, mit Gesichtern, die das oberschlesische Land gefurcht und versteint hatte, die Lippen dünn und zusammengepresst, damit ihnen kein Wort entschlüpfe. Sie sahen sich manchmal an, nickten sich zu, eine von ihnen zeigte auch mal mit dem Finger nach draußen. Zu Haus sprachen sie eine Sprache, die hier verboten war. Hier waren sie Stumme. Valeska hätte sie fragen können: Jak wom idzie*? (Bienek 2000, S. 63)

In Die erste Polka werden diese Texte genutzt, um auf die schlesische Eigenart aufmerksam zu machen, schlesische Identität in Opposition zu den Deutschen aus dem Reich (hier symbolisch durch das Hochdeutsche verkörpert) zu stiften. Zugleich wird mit diesen Textzitaten auch die in der gesamten Tetralogie grundsätzlich konstruierte Opposition der Schlesier und Schlesiens zum NS-Regime und der NS-Ideologie unterstrichen. Sprachlich und stilistisch geschieht dies aber genauso wie in die Vorgefundene Gedichte, was sogar grafisch kenntlich gemacht wird, mit dem großen Unterschied jedoch, dass hier alle typographisch ausgesonderten Text-Fragmente aus dem Alltag (literarische Narration, Werbetext, amtliche Überschrift und dialektale Wendung) in eine narrative Hülle eingebettet werden. Diese integriert die Fragmente in ein Ganzes und gibt ihnen dadurch deutlich mehr Lesefreundlichkeit: Sie wirken hier weniger avantgardistisch (und somit für einen Teil des Publikums weniger abschreckend), sondern werden durch die Narration aufgefangen und eingegliedert (Joachimsthaler 2012, S. 78–91). Dadurch wurde der Effekt einer zur Schau gestellten Fremdheit vermieden und diese Herangehensweise vermied allzu aufdringliche, gewollte stilistische Brüche – all diese Verfahren, die eine scheinbare Konventionalität zur Folge hatten, bedeuteten jedoch keine Resignation vor modernistischen Schreibtechniken, sondern deren angemessene sublime Einbindung in den noch modernistischen Textkosmos. Die Tatsache, dass Bienek auch die Erzählweise (das Zusammenfügen der Fragmente) an „konventionelle“ LeserInnen angepasst hat, bedeutet nicht, dass all diese modernistischen Elemente völlig verschwunden sind. Dies ist nicht der Fall – im ersten Teil werden sie noch typologisch unterschieden, in den anderen werden sie nur verdeckt.

Auch in Bakunin wendet Bienek Techniken an, die in abgewandelter Form in Romanen über Schlesien zur Anwendung kommen – denn man muss bedenken, dass der schlesische Autor sehr viel an historischem und archivarischem Material „integrieren“ musste. In Bakunin wurden alle Möglichkeiten der Collage und der Montage von sich überschneidenden, aber semantisch divergierenden Textblöcken erprobt. Auch andere Techniken des modernen Erzählens wurden ausprobiert, wie der Wechsel der Erzählerfokussierung, die selbstreferentielle Offenlegung des Erzählprozesses als Konstruktion und „Invention“, als sprachlich selbstreflexiv produzierende Erfindung, die Aufhebung einer in sich geschlossener Handlungsabfolge oder die Vermischung von Textgattungen bis hin zur Montage von Dokumenten und „auf der Straße“ gefundenem Textmaterial (Joachimsthaler 2012, S. 83). Dass die Anwendung dieser Techniken auf die Tetralogie problematisch war, beweist der Vermerk des Lektors und Herausgebers von Bieneks Werken, Michael Krüger. Noch auf einem der Manuskripte des vierten Teils der Tetralogie (!) – Erde und Feuer, also bereits 1982, heißt es: „Das ist überhaupt nicht erzählt, sondern nur montiert!“ (Kommentare von Michael Krüger im Typoskript von Horst Bieneks Erde und Feuer. In: Horst Bienek Archiv, Biw 34, hier S. 410).

Zudem ist dieses schmale Werk Bakunin wie ein „Handbuch“ zu interpretieren, das Auskunft gibt zur Erschreibung eines Autors, zur Problematik, wie ein Autor-Leben in einem Werk zu erzählen ist. Wie der junge Mann durch den gescheiterten Versuch, Bakunins letzte Jahre zu erschreiben (oder sie in Bildern festzuhalten), auch sich selbst zu erschreiben versucht und die Anarchie als Befreiungsakt versteht, ist diese anarchische Entgrenzung (Améry1980, S. 189) gewiss auch ein Moment für den Erzähler und den Autor des Textes Horst Bienek. In der Gleiwitzer Tetralogie gibt es einen ähnlichen Dreischritt; dort wird er dadurch realisiert, dass Georg Montag, an der Biografie (und der Identitätsfrage) Korfantys arbeitend, seine eigene Identität zu ergründen und zu erschreiben, zugleich aber die Fragen des Autors Horst Bienek bezüglich der schlesischen Identität im Allgemeinen und seiner eigenen Identitätszuschreibung im Besonderen zu beantworten versucht:

Was am Anfang auch an vorzeigbaren Motiven zusammengekommen sein mag, das war ihm auf einmal nicht mehr wichtig, jetzt nicht mehr […]. Aber am Ende blieb dann doch nur seine eigene Person zurück, am Tisch sitzend, die Hände unterm Lichtkegel der Lampe, davor ein Blatt Papier, ein Federhalter, ein paar Seiten mit hingekritzelten Notizen. Und die andere Zeit. Seine Zeit (Bienek 1975, S. 43).

Der Untertitel von Bakunin – „Invention“ – wird aber auch dadurch geltend gemacht, dass es weder ein Roman, noch eine Dokumentation, noch eine Studie ist. Hier drängen sich die Fakten der Erfindung entgegen und erschließen sich so ganz: Das Konkrete erfordert Poesie, die das Faktische ausfertigt; „Zwei irrtümlich als kontrovers angesehene Kategorien versöhnen sich im Zeichen einer Wahrheit, der sie beide zu dienen, als Verbündete zu dienen bestimmt sind“ (Blöcker 1980, S. 184). Genau so wird Horst Bienek in seinen SchlesienRomanen verfahren: In fiktiven Handlungen wird Erfundenes historisch unterlegt und Historisches durch Fiktion ergänzt, so dass die ehemalige deutsche Provinz Oberschlesien gewissermaßen literarisch noch einmal „aufersteht“.

Bild(er)

 Bieneks Hauptwerk, die zwischen 1975–1982 entstandene Gleiwitzer Tetralogie, ist seiner Kindheit in Gleiwitz, der Geschichte dieser Stadt und ganz Oberschlesiens gewidmet. Die vier Romane beschreiben die Zeitspanne vom Beginn bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges in Gleiwitz. Wie schon geschrieben, konzentrieren sich die drei ersten Romane jeweils auf einen Tag. So beschreibt Die erste Polka ein Hochzeitsfest am Abend vor dem Kriegsausbruch, Septemberlicht ein Begräbnis, das sich vier Tage danach abspielt, und Zeit ohne Glocken den Karfreitag 1943. Nur im letzten Teil der Tetralogie, dem Roman mit dem Titel Erde und Feuer, geht es um einen längeren Zeitraum. Er reicht von den letzten Tagen der nationalsozialistischen Herrschaft in Oberschlesien über den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Gleiwitz bis zum Bombardement Dresdens im Februar 1945. Heinrich Böll nennt bereits in Bezug auf Die erste Polka Oberschlesien als den eigentlichen Helden und wertet Bieneks Werk als „Hymnus auf die oberschlesische Erde, auf die Menschen, die dort gelebt, gearbeitet haben“ (Heinrich Böll, Das Schmerzliche an Oberschlesien, in: Frankfurter Rundschau vom 11. Oktober 1975). Und deswegen entschied sich Bienek, die Geschichte in der dritten Person zu erzählen. Er hatte Die erste Polka in der Ich-Perspektive begonnen, gab sie aber nach zweihundert Seiten auf, weil er so „an die Beschreibung der Provinz“ nicht herankam (Bienek 1983, S. 32; dort auch das folgende Zitat). Er entschied sich für die Darstellung in der dritten Person; nur so könne er „das Ganze dieser Provinz“ beschreiben, dasjenige, was sich in den Köpfen, in den Seelen vieler Gestalten manifestiert, ein Bewusstsein, das den Augenblick in vielen Facetten und zugleich die „Versteinerung durch Geschichte“ wiedergeben kann: „Ich schreibe jetzt gewissermaßen aus den Personen heraus. Also erst einmal die Geschichte der Valeska Piontek, dann die des Josel […]. Eine Art Zwiebeltechnik. Am Schluß will ich alles zusammenführen, collagieren, komponieren“ (Bienek 1983, S. 34). Aus diesem Grund ist keine der Gestalten des vierbändigen Romans dessen Hauptheld – weder Josel noch Andreas noch Kotik und noch nicht einmal Georg Montag (Figuren, in denen sich der Autor selbst „versteckte“, wie aus den Einträgen in den „Tagebüchern“ zu schließen ist). Auch Valeska Piontek, deren Vorbild Horst Bieneks Mutter war, wird nicht zur Hauptgestalt des Romans, ebenso wenig ist es die ganze Familie Piontek. Weil jedoch alles „aus den Personen heraus“ erzählt wird, bekommen diese Personen sehr gewichtige und zentrale Rollen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie von „Grenz-Erfahrungen“ unterschiedlicher Art und Prägung gekennzeichnet sind:

Grenzsituationen. Übergänge. Ambivalenzen. In der Herkunft, im Gefühl, im Charakter, in der Sprache. Auch in der Seele. Nicht ohne Grund ist die Pubertät, die ich immer wieder beschreiben will. Erfinde mir immer neue Figuren in diesem Alter.

Der sensible Junge, der so anders als die Zehnjährigen ist, die ihn an der Klodnitz einfangen und ihn als Außenseiter, als Fremden, als „Polen“ behandeln, die ihn (freilich ungewollt) umbringen, indem sie seine Taschen mit Steinen füllen und ihn in den Kanal stoßen – das hätte ich sein können, damals, 1939. Ich werde ihn Hottek nennen (Bienek. Horst: Einführung in eine Lesung (Typoskript), in: Horst-Bienek-Archiv, Biw 31. Der zweite Abschnitt ist in fast unveränderter Form in das „Arbeitsjournal“ eingegangen. Vgl. Bienek 1983, S. 104).

 Die logische Konsequenz ist – Bieneks Oberschlesien ist eine multikulturelle Landschaft und die „Grenzsituationen“, „Bewohner der Grenze“ sind eine charakteristische Determinante der gesamten Tetralogie, die an den reflektierten Prozess der erschriebenen Identität anknüpft und teilweise als deren Folge zu verstehen ist: Bieneks Werk ist von der Grenz- und Identitätsproblematik in vielerlei Hinsicht bestimmt:

Was mich interessiert, sind die Übergänge, die Grenz-Situationen, und zwar nicht nur die politischen, sondern jene der Menschen, der Sprache, der Psychologie. In diesem Sinne ist für mich Gleiwitz nur ein Vorwand. Aber freilich, an dieser verlorenen deutschen Provinz Oberschlesien mit ihren Glaubens- und Volkstumskämpfen, die damals so etwas wie ein heutiges Nord-Irland war, läßt sich das besonders deutlich und bildhaft demonstrieren (Bienek, Horst: Einführung in eine Lesung (Typoskript), in: Horst Bienek Archiv, Biw 31) 

Manifestiert wird dies mit aller Stärke vor allem mit der Sprache an sehr markanten Stellen des Romans:

Setzen Sie sich, Herr Feldwebel, sagte der Erzpriester plötzlich mit einer Stimme, die von ungewöhnlicher Schärfe war. […] Und hören Sie mir zu! Auch Sie, meine Herren, auch Sie und Sie und Sie! Er sah sich um. Sie haben dieses Land nicht begriffen, und Sie werden’s nicht begreifen, und es wird Zeit, verzeihen Sie mir, wenn ich das sage, daß Sie dieses Land bald wieder verlassen. […]

Sie machen sich lustig, fuhr der Pfarrer fort, über ein paar Orts- und Städtenamen, weil diese über Ihre schwerfällige Zunge nur schwierig hinüberkommen. Aber, meine Herren, denken Sie daran, das hier ist eine Landschaft, die geschichtlich gewachsen ist, zwischen Germanen und Slawen, Deutschen und Polen, und jeder dieser Namen zeugt davon…Für einen, der hier aufgewachsen ist, der hier leben muß und auch gern hier lebt, Sie werden es sich vielleicht nicht vorstellen können, ist das wie Musik. […] Soll ich Ihnen sagen, wo ich überall war, o ja, hören Sie diese Wortmusik, ich war in Budtkowitz, in Jellowa, in Knurow und in Laurahütte, in Malapane, in Gogolin, Zaborze, Miechowitz und Groschowitz, in Maltschaw und in Leobschütz, in Deschowitz und in Krappitz, in Bobrek-Karf, in Potempa, in Kulisch, in Pitschen, in Bielitz… Lassen Sie mich weiter überlegen, in Straduna, Rybnik, Niewodnik, in Leschnitz, Patschkau, Peiskretscham, in Zernitz, Jasten, Korkwitz, in Ostrosnitz, Nieborowitz, Wischnitz, in Zawada… Es ist alles zufällig, wie es mir einfällt, aber hören Sie die Musik heraus… aus diesen Wörtern… Kottlischowitz und Schelitz, Collonowska und Tillowitz, Brolawitz und Poppelau, Markowitz und Tropplowitz, Schammerwitz und Steugerwitz, auch Steuberwitz, Miedar, Brynnek, Hannusek… Tworog, Piltsch, Botzanowitz … Das sind keine Namen, das schreibt man nicht mit Buchstaben, das schreibt man mit Noten, und man müßte es singen… […] Ja, singen muß man diese Sprache! (Bienek, Horst: Einführung in eine Lesung (Typoskript), in: Horst Bienek Archiv, Biw 31, S. 228f.).

 „Die Fremden“ werden bei Bienek durch drei Elemente (Surynt 1999, S. 332) als solche markiert: erstens ethnisch, indem sie von außerhalb nach Oberschlesien kommen, zweitens mental, indem sie die Eigenart dieser Region nicht verstehen und drittens aufgrund der Sprache, da sie kein Wasserpolnisch sprechen und Namen haben, die für die Oberschlesier fremd klingen.Mit der Literarisierung seines Kindheitsortes schuf Bienek letztlich ein Zeugnis für eine zum Gedächtnis- und Erinnerungsort gewordene, jedoch verlorene Heimat, die er auf diese Weise vor dem Vergessen bewahrt. Sich selbst etablierte er als Repräsentant Oberschlesiens in der Gegenwartsliteratur, also gleichsam als das regionale Pendant zu einem Nationalautor. Diese Repräsentativität verändert dann die Erinnerungskultur. Gegenüber den Funktionären der Vertriebenenverbände entwickelte Bienek so ein alternatives Erinnerungsmodell. Nicht zufällig schreibt er im „Arbeitsjournal“, er wollte sich am Schluss des Buches an junge Leser wenden: „Ja, so ist es gewesen. […] und einige Leute, die das gelesen haben, behaupten ja auch, es sei anders gewesen, aber glaubt mir, es war so, eine Wahrheit, ein Mythos und beides zusammen“ (Bienek 1983, S. 252). Dies unterließ er jedoch und hat dies – viel poetischer – durch Georg Montag artikuliert:

Es wird eine Zeit kommen, da wird eine Brücke einstürzen, die andere gesprengt werden und die dritte, die grüne aus Holz, wird abbrennen. Also wird einer kommen und eine Brücke aus Papier bauen über den Fluß Klodnitz, und jene, die an dieser Brücke zweifeln, werden, wenn der Fluß steigt, im reißenden Wasser versinken, aber jene, die an diese Brücke glauben und darüber hinweggehen, werden das andere, sichere Ufer erreichen... (Bienek1975, S. 232).

Wichtig an den von Bienek entworfenen Oberschlesien-Bilder ist auch, dass er nicht der „deutschen Heimat“ nachtrauert, sondern er trauert um die Heimat der deutschen, jüdischen und polnischen Oberschlesier (Zielińska 2011, S. 139), um einen durch die Nazis und nationalistischen Entscheidungszwang zerstörten Mythos und den daraus resultierenden Konsequenzen. Das mosaikartige Bild Oberschlesiens, das nicht nur an der Schnittstelle zwischen polnischer, deutscher und schlesischer wie auch christlicher und jüdischer Kultur liegt, ist auch bei Bienek ein paradigmatischer Erinnerungsort und ein Symbol der deutschen Kultur: zwischen Lubowitz und Auschwitz. Die Verortung wird in den Gleiwitzer Romanen stilistisch, wie Wolfgang Frühwald darlegt, auch zwischen diesen Eckpunkten angesiedelt: „zwischen der idealistischen Bildtiefe der metaphysischen Landschaften Eichendorffs und der blutigen Banalität der Protokolle des Auschwitz-Prozesses“(Frühwald 1980, S. 21).Und aufgrund dieser Konsequenzen verweist der Gleiwitzer Autor in seinem Werk auf eine „zeitlich-räumliche Ungleichzeitigkeit der kollektiven Erfahrungen“ der deutschen und polnischen Gesellschaft (Orłowski 1999, S. 212): Dauerte die Besatzung Polens (gleichbedeutend mit totalem Krieg, also ohne Unterscheidung zwischen Front und Hinterland) vom ersten bis zum letzten Kriegstag (Auch wenn diese Besatzung in unterschiedlichen Teilen Polens nicht am gleichen Tag zu Endeging, fungiert hier das Ende des 2. Weltkrieges für das gesamte kollektive Gedächtnis der Polen als symbolische Zäsur), steht dies im Gegensatz zu den Erfahrungen des überwiegenden Teiles der deutschen Bevölkerung, in denen der Krieg das Alltagsbewusstsein der allermeisten deutschen Familien erst viel später, schrittweise und mit unterschiedlicher Intensität prägte (Orłowski 1999, S. 212). Bienek versucht mit der Tetralogie beide kollektiven Gedächtnisse aneinander zu binden, um den sonst durch die zeitlich-räumliche Asymmetrie (Orłowski 1999, S. 212) versperrten Blick auf das Gedächtnis des jeweils anderen Volkes zu öffnen. So wird nicht mehr das jeweils eigene Kriegsschicksal in der Abgrenzung von den ‚Anderen‘ erzählt, sondern es wird eine Beziehung zwischen „den Gedächtnissen aller Bewohner Oberschlesiens, die die Inszenierung des ‚gemeinsamen Gedächtnisses‘ der Gleiwitzer Provinz möglich macht“ (Zielińska 2011, S. 198), hergestellt; die Verengung auf einen eindimensionalen, eigenen Erinnerungshorizont wird damit kritisch revidiert. Deswegen montiert Bienek in Zeit ohne Glocken die Nachricht des polnischen Roten Kreuzes zur Ermordung der polnischen Offiziere in Katyń und Smoleńsk ein (Bienek 1979, S. 107), ein zentrales Ereignis für das kollektive polnische Gedächtnis; dann ausführlich (weil sie in die Geschichte Oberschlesiens verwoben ist) wird auch die Geschichte von Paweł Musioł eingebaut. Diese Geschichte wird im dritten Roman der Tetralogie dort eingeführt, wo Willy Wondrak eine Zeitung liest, die über die Bestrafung der Geschwister Scholl in München berichtet:

Er mußte an Pawel Musiol denken, mit dem er zusammen in Kattowitz ins Gymnasium gegangen war. Er war im Krieg gewesen und Pawel träumte von einer polnischen Republik. Eine viereckige Mütze nach dem Vorbild der Rogatiwka hatte er sich genäht und eine rot-weiße Kokarde getragen. […] Nach einer langen Pause, in der er nichts mehr von ihm gehört hatte, fand er in Kattowitz kürzlich seinen Namen auf einem roten Plakat, das offensichtlich zur Abschreckung überall an den Mauern aufgeklebt war: Pawel Musiol hingerichtet wegen Hochverrats. Pawel hatte bald nach dem Einmarsch der Deutschen 1939 einen Geheimbund Tajna Organizacja Bojowa gegründet und war schon 1941 in Teschen verhaftet worden. Man hatte das Todesurteil jetzt vollstreckt, als Warnung und Abschreckung, weil immer mehr junge polnische Schlesier sich versteckten, um nicht in der deutschen Wehrmacht dienen zu müssen; in den Beskiden sollte es bereits richtige Sabotagegruppen geben. Und das war nicht mehr als siebzig Kilometer von Gleiwitz entfernt (Bienek 1979, S. 105f.).

In der Gleichzeitigkeit der Erfahrungen, Gedächtnisse sowie Erinnerungsorte (Gleiwitz – Lubowitz – Auschwitz und Dresden) wird der „Traum von einem deutsch-jüdischpolnischen „Wir“ nachgeträumt und so ‚literarisch ‚bewohnbar‘ [gemacht], was zuvor verwüstet worden war“ (Lamping 2001, S. 102). Zu den prägnantesten Bildern und wichtigsten Elementen seiner oberschlesischen Mosaike gehört aber zweifelsohne die Geschichte der oberschlesischen Juden und das Schicksal der Juden im 2. Weltkrieg. Auch hier erfolgt dies aus den Personen und mit den Personen, zu denen in der Tetralogie vor allem Georg Montag, Justizrat Kochmann und allen voran Arthur Silbergleit gehören. Die Einführung von Silbergleit ist nicht nur als „Ersatz“ für Georg Montag zu verstehen, der in Die erste Polka Selbstmord beging. Bienek arbeitet weiter an einer jüdischen Perspektive auf das mythische Schlesien. Mit Silbergleit wird eine historische Figur eingeführt, mit deren authentischem Namen und exemplarischer Biographie die Perspektive stärker ins Historisch-Dokumentarische verschoben wird, wenn auch erneut durch Fiktion ergänzt; dies soll beim Leser „die Illusion referentieller Authentizität“ (Horch 1995, S. 111) bewirken und verstärkt die Intention des Romans, Zeit, Bewusstsein, Geschichte und die eigene Auto(r)biographie zu verschmelzen. Arthur Silbergleit, diese am stärksten historisch fundierte Figur in der Tetralogie, ist zugleich auch am stärksten autobiographisch begründet; die historische Dokumentierbarkeit fungiert hier als das objektivierende Gegengewicht gegen das Abgleiten „ins Nur-Autobiographische und vielleicht ins Private“ (Frühwald 1980, S. 29). Der Selbstmord des Historikers Georg Montag und seine Substituierung durch den Dichter Arthur Silbergleit verstärken und unterstreichen auch eine poetologische Prämisse: „die Ablehnung des historischen Romans und der Dokumentarliteratur zugunsten eines ‚poetischen Realismus‘“ (Frühwald 1980, S. 29). Mit einer so zentralen Positionierung von Arthur Silbergleit sollte aber vor allem all der Autoren gedacht werden, deren Namen „nicht im Soergel, nicht im Lennartz und nicht im Großen Brockhaus, in keiner Literaturgeschichte“ stehen und die in Hitlers Lagern umgebracht worden waren (Bienek 1986. S. 83.) Silbergleit stehe stellvertretend – so Bienek in einem Nachwort zur Neuausgabe von Silbergleits Der ewige Tag. Gedichte – „für jene nicht so berühmten Talente, die zu Dutzenden, zu Hunderten getötet wurden und deren Namen keine Schule trägt, deren Häuser oder Wohnungen keine Bronzetafel schmückt, die nicht einmal in den einschlägigen Nachschlagewerken erwähnt werden“ (Ich zitiere hier nach Bienek 1986). Auch wenn Silbergleits Werk, bis auf wenige Ausnahmen, ziemlich konventionell und dem Zeitgeschmack verhaftet sei, sei seine Biographie exemplarisch (Bienek 1986). Durch die Einführung von Silbergleit rettet Bienek nicht nur den Autor Arthur Silbergleit vor dem Vergessen, sondern macht ihn auf der Ebene des kulturellen Gedächtnisses zu einem der Stellvertreter für den Beitrag der jüdischen Kultur zur oberschlesischen Kultur (hier derjenigen Juden, die „nicht im Großen Brockhaus“ stehen, aber zu dieser Landschaft gehören)! (Bienek, Horst: Beschreibung einer Provinz... Typoskript, in: Horst Bienek Archiv, Biw 41, S. 59) Hier u. a. realisiert er das, was er in dem Brief an Heinz Piontek schrieb (was ich am Anfang dieses Aufsatzes zitierte): „ich will nämlich weg von dem OberschlesienBild, wonach es da nur Slums und redebrechende Säufer gegeben hat“ (Horst Bienek an Heinz Piontek am 30.7.1974, in: Nachlass Heinz Piontek, Sig. Ana 465. Bayerische Staatsbibliothek, Handschriftenabteilung). Wichtig für den letzten Teil der oberschlesischen Saga ist schließlich die Thematisierung der Flucht der deutschen Bevölkerung vor der anrückenden Front, die Angst vor den russischen Truppen und der Einmarsch der sowjetischen Armee in Gleiwitz und die Bombardierung Dresdens. Und die Darstellungsweise des wiederum „deutschen Leidens“ brachte große gestalterische Schwierigkeiten mit sich, die Bienek größtenteils durch Anwendung von Ironie löst. Noch am Anfang der Tetralogie hatte er sich geweigert, dieses Stilprinzip durchgängig zu verwenden und damit – ähnlich wie Thomas Mann – der Darstellung der brüchigen, untergehenden Welt beizukommen. Er wollte zwar Distanz haben, also Ironie, aber keine „zerfetzende“ (Vgl. die Antworten Horst Bieneks im Melchingen-Interview vom 6.8.1983 mit dem Titel „Horst Bienek liest aus ‚Gleiwitzer Kindheit“. Typoskript des Interviews. In: Horst Bienek Archiv, Biw 17. S. 15. Interview mit Horst Bienek während einer Tagung von Deutschlehrern aus Württemberg (die sich einmal im Jahr einen Autor zur Befragung einluden) vom 6–8.5.1983 mit dem Titel „Horst Bienek liest aus ‚Gleiwitzer Kindheit‘“. Melchingen, 6.–8.5.1983).  Doch letzthin habe er Ironie dann immer häufiger verwendet, wenngleich nicht als Prinzip: „Ich kann die Welt, die ich lieb[e]voll wiedererstehen lasse, nicht lächerlich machen“ (Antworten Horst Bieneks im Melchingen-Interview vom 6.8. 1983 mit dem Titel „Horst Bienek liest aus ‚Gleiwitzer Kindheit“. S. 15) Zudem wollte er seine Figuren nicht „denunzieren“.

Im letzten Roman, vor allem in der Verbindung mit den oben erwähnten Themen, wird die Ironie häufig gebraucht, Tragisches kippt ins Komische. So am Ende des Kapitels 37 von Erde und Feuer, wenn Annas Ehemann abgeholt wird:

Als Anna ihn [den sowjetischen Soldaten] sah, wußte sie sofort, was das zu bedeuten hatte. Du Faschist! Mitkommen! hatte der Mann im grauen Mantel gesagt und auf ihren Franz gezeigt; es war das einzige, was Anna aus seinem Mund hörte. […]Und Anna rätselte noch eine ganze Weile an dem Wort herum, das der Mann im grauen Mantel gesagt hatte: Faschist. Dabei war ihr Franzek niemals in Italien gewesen (Bienek 1982, S. 296f.).

 Seiner Auffassung nach, man müsse bei schrecklichen Ereignissen diese auch etwas „mimen“, stehen Tragödie und Banalität sehr oft sehr nah beieinander: „[…] bestimmte Sachen kann ich nicht schreiben weil sich die Sprache verweigert, es wird banal. Ich muss eine andere Perspektive suchen oder durch so einen entlarvenden Satz (die Russen kommen, jemand verliert sein Gebiß, sucht es) das Pathos wegnehmen“ (Antworten Horst Bieneks im Melchingen Interview vom 6.8.1983 mit dem Titel „Horst Bienek liest aus ‚Gleiwitzer Kindheit“. S. 15). Als Schlesier sei er, so Bienek, schnell sentimental, und im Unterschied zu einem Trivialautor wisse er, welche formalen Mittel er zur Verfügung habe. Dass diese Einstellung, eben nicht pathetisch, sondern ironisch und distanziert über die Flucht und die Grausamkeiten der Sowjets zu berichten, von den Vertretern der Vertriebenenorganisationen abgelehnt werden würde, war vorprogrammiert. Die Ablehnung ist jedoch unbegründet: Bei Bienek kommen die Dimension des Tragischen und die dokumentarische Darstellung (auch als Ansammlung von Stoff), (Wie bereits mehrfach gezeigt, suchte und verwendete Bienek sehr reichhaltiges dokumentarisches Material, so z.B. die 1946 entstandene Abschrift der „Aufzeichnungen der Mittelschulrektorin Maria Labryga aus Gleiwitz, Schröter Strasse 15, verstorben am 18.7.1946 [...]“, in: Horst Bienek Archiv, Biw 35) voll zur Geltung. In der Darstellung des „deutschen Leides“ geht es dem Autor nicht darum, die Verbrechen der Deutschen an den Juden gegen das Verbrechen der Vernichtung Dresdens samt EinwohnerInnen und Flüchtlingen (die symbolisch für die Opfer des „Bomben-Krieges“ stehen) aufzurechnen (Vgl. dazu auch: Frühwald 1980, S. 29). Ihm gelingt es vielmehr, „in Bild und Gegenbild die je eigene Würde von Leiden und Tod zu bewahren, die schuldhafte und doch schuldlose, tragische Verflechtung von Judenmord und Flüchtlingsmord zu dokumentieren“ (Frühwald 1980, S. 29).

Mit der Darstellung des Bombardements Dresdens lässt der Autor die ganze oberschlesische Saga im Höllenfeuer von Dresden abschließen und somit Oberschlesien ins Mythische erhöhen. Deshalb sind so viele seiner Hauptfiguren gerade in dieser fatalen Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 ausgerechnet in Dresden. Markiert Die Erste Polka mit dem Angriff auf den Gleiwitzer Sender den Beginn vom Untergang Oberschlesiens, bricht mit der Dresdner Apokalypse letztlich die gesamte alte Welt zusammen. Diesen „Untergang Mitteleuropas, für den ihm Schlesien das epische Modell“ gibt (Schmitz 2005, S. 258), veranschaulicht Bienek mit dem Verweis auf die Korrektur des Schöpfungsberichtes: „Fünf Tage lang ging die Sonne über Dresden nicht auf und nicht unter. Das Feuer war heller als die Sonne“ (Bienek 1982, S. 315). Am Ende der alten Welt ist die alte (göttliche) Ordnung aufgehoben, und die Zeit bleibt stehen. So verwundert es auch nicht, dass es Gerhart Hauptmann ist, der Zeuge der Zerstörung seines geliebten Dresden, dem Symbolort deutscher Kunstpflege, wird – ein Dichter, der größtenteils nur zuschaute, als diese Sprache und Kultur durch die Nationalsozialisten mit Pathos, Emphase, politischer Vereinnahmung und propagandistischem Überschwang zerstört wurde. Und ihn lässt Bienek ermahnen, dass es Denkmäler der Kultur gäbe, die man nicht zerstören dürfe, auch nicht in einem Krieg. Dies sei ein Verbrechen, denn die Kultur überdauere den Menschen, die Kriege, die Zeit (Bienek 1982, S. 263). „Die ‚überdauernde Kultur‘“ allerdings ist „aus der Wirklichkeit ins ‚Reich des Traums‘, einer Dichtung ohne Dichter, verrückt worden; nur eine entrückende Literatur, die sich an der Grenze zum Wahnsinn der Geschichte bewegt, deren Gehalt in den Raum des Mythos und der ‚Schrift ohne Autor‘ führt, ist noch möglich – nach der Zerstörung Dresdens, nach dem Untergang Oberschlesiens, nach dem Tod der schlesischen Schriftsteller. Den ‚neuen Mythos der schlesischen Erde‘ bildet Bieneks Tetralogie einer ortlosen ‚Erinnerungslandschaft‘“ (Schmitz 2005, S. 259. Vgl. dazu auch Pietrek 2012, S. 405–411).

Fazit

Mit seiner Darstellung der „Oberschlesischen Chronik“ avancierte Horst Bienek zweifelsohne zu den zentralen Figuren in der literarischen Auseinandersetzung, welche die Bemühungen um eine deutsch-polnische Verständigung begleitet. Mit der Gleiwitz-Tetralogie bietet er eine alternative Lesart der Vertreibung sowie ein alternatives Model (der Vertriebenenverbände gegenüber) der Erinnerung an Oberschlesien. Den Stellenwert des Autors und die Bedeutung seiner Literatur für das kulturelle Erbe Oberschlesiens sieht man u. a. am Sieg Bieneks bei einer Umfrage der Zeitschrift Fabryka Silesia 2012, die mit einem „erdrückenden Erfolg Horst Bieneks“ endete und den Hauptredakteur zur Aussage verleitete: „Aber konnte irgendjemand vor Jahren voraussagen, dass Bienek mit der Gleiwitzer Tetralogie der wichtigste Klassiker des polnischen Oberschlesiens am Anfang des 21.Jh. sein wird?“ (Lewandowski 2012, S. 16, Übersetzung durch den Autor). Dieses Bild steht jedoch – leider – in einem Kontrast zum Bienekschen Rezeptionsbild in Deutschland, wo die primäre Aufgabe darin besteht, den Autor neu zu entdecken und ihn aus der Vergessenheit herauszuholen. Man kann nur hoffen, dass die sich in der Vorbereitung befindende Herausgabe seiner Tagebücher das Interesse am Autor erneut weckt. Seine Literatur – allem voran die Tetralogie – hätte dies verdient.

 

Literatur:

Ahrens, Thomas, B.: Heimat in Horst Bieneks Gleiwitzer Tetralogie. Erinnerungsdiskurs und Erzählverfahren, New York 2003.

Améry, Jean: Ausbruch aus der Zelle, in: Krüger, Michael: Bienek lesen, München 1980, S. 185–190.

Bienek, Horst: Beschreibung einer Provinz. Aufzeichnungen. Materialien. Dokumente, München 1983.

Bienek, Horst: Das allmähliche Ersticken von Schreien. Sprache und Exil heute, Münchener Poetikvorlesungen. München 1987.

Bienek, Horst: Der Blinde in der Bibliothek. Literarische Portraits, München 1986.

Bienek, Horst: Die erste Polka, München 1975.

Bienek, Horst: Erde und Feuer, München 1982.

Bienek, Horst: Gleiwitz. Eine oberschlesische Chronik in vier Romanen, München 2000.

Bienek, Horst: Porträtskizze eines Vergessenen. Arthur Silbergleit, in: Bienek, Horst: Der Blinde in der Bibliothek. Literarische Porträts. München 1986.

Bienek, Horst: Über „Die Zelle“, in: Bienek Lesen, hg. von Michael Krüger, München 1980.

Bienek, Horst: was war was ist. München 1966.

Bienek, Horst: Zeit ohne Glocken. München 1979.

Blöcker, Günter: Das eigentliche Leben des Michail Bakunin, in: Bienek lesen, hg. von Michael Krüger, München 1980.

Evans, Jedidah: Look abroad, Angel. Thomas Wolfe and the geographies of longing, Athens 2020.

Frühwald, Wolfgang: Grenzgänger der Erinnerung. Zum poetischen Verfahren in Horst Bieneks Gleiwitzer-Roman-Tetralogie, in: Bienek lesen, hg. von Michael Krüger, München 1980.

Hahn, Hans-Joachim: Wahrheit, Wirklichkeit und Geschichte – Aspekte von Horst Bieneks „poetischem Realismus“, in: Horst Bienek – Ein Schriftsteller in den Extremen des 20. Jahrhunderts, hg. von Reinhard Laube und Verena Nolte, Göttingen 2012, S. 57–72.

Horch, Hans Otto: Gleiwitz, Lubowitz, Auschwitz. Die Dimension der Schoah in den Gleiwitz-Romanen Horst Bieneks, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 114 (1995), S. 85–113.

Joachimsthaler, Jürgen: Das Atmen der Sätze in der Enge des Wort-Raums. Zu Horst Bieneks Schreibweise, in: Horst Bienek – Ein Schriftsteller in den Extremen des 20. Jahrhunderts, hg. von Reinhard Laube und Verena Nolte, Göttingen 2012, S. 78–91.

Krüger, Michael (Hg.): Bienek Lesen, München 1980.

Lamping, Dieter: Die Wiederentdeckung der Grenze in der Nachkriegsliteratur. Horst Bienek und Alfred Andersch, in: Über die Grenzen. Eine literarische Topographie, hg. von Dieter Lamping, Göttingen 2001.

Laube, Reinhard und Nolte, Verena (Hg.): Horst Bienek – Ein Schriftsteller in den Extremen des 20. Jahrhunderts. Göttingen 2012.

Lewandowski, Jan F.: Czterdziestu wybiera kanon’, in: Fabryka Silesia 1 (2012), 15–17.

Orłowski, Hubert: Et in Arcadia ego? Heimatverlust in der deutschen und polnischen Literatur, in: Erlebte Nachbarschaft. Aspekte der deutsch-polnischen Beziehungen im 20. Jahrhundert, hg. von Jan-Pieter Barbian und Marek Zybura, Wiesbaden 1999.

Pietrek, Daniel: Ich erschreibe mich selbst. (Autor)Biografisches Schreiben bei Horst Bienek, Dresden 2012.

Pietrek, Daniel: O amerykańskiej tożsamości literackiej Horsta Bienka, in: Studia Filologiczne 8 (2021), S. 73–83.

Schmitz, Walter (Hg.): Die Zerstörung Dresdens. Antworten der Künste. Dresden 2005.

Schmitz, Walter: ‚Auslöschung‘. Das Gedenken der Literatur an die Zerstörung Dresdens, in: Die Zerstörung Dresdens. Antworten der Künste, hg. von Walter Schmitz, Dresden 2005.

Scholtis, August: Einleitung zu Horst Bieneks „Traumbuch eines Gefangenen“. In: Schlesien. Eine Vierteljahresschrift für Kunst Wissen und Volkstum. Organ des Kulturwerks Schlesien e.V. und seiner Freunde, Band 2, Nr. 4 (1957), S. 209–210.

Silbergleit, Arthur: Der ewige Tag. Gedichte, hg. von Horst Bienek, Berlin 1978

Surynt, Izabela: Assimilation, Abgrenzung und Austausch als kategoriale Formen der Interkulturalität in der Namensgebung bei Bienek, in: Assimilation – Abgrenzung – Austausch. Interkulturalität in Sprache und Literatur, hg. von Maria Katarzyna Lasatowicz und Jürgen Joachimsthaler, Frankfurt am Main 1999. S. 327–343.

Zielińska, Mirosława: Narrative Bewältigung von Schuld und Trauma in der deutschsprachigen Autobiographik vor 1989/1990, Wrocław 2011.

 

Pietrek, Daniel, Dr. habil., verfasste den Beitrag „Horst Bieneks oberschlesische Bilder (Schlesien)“. Er ist Professor an der Oppelner Universität und stellv. Institutsdirektor am Institut für Literaturwissenschaft. Er arbeitet in den Bereichen regionale Literatur (Schlesien), Vergleichende Literaturwissenschaft und Deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft.

 

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