Michael Fleischer, Annette Siemes

Heimat, Vaterland – zwei Konzepte und Kollektivsymbole



Das Problem

Heimat und Vaterland, zwei Kommunikationskonzepte, die ebenso häufig unbedacht wie diskurstaktisch benutzt werden, stellen (wie alle übrigen Konzepte) Elemente der Kommunikation dar, die keine Realität besitzen, das heißt kein direktes und eindeutiges Pendant in selbiger aufweisen und daher mit der Funktion operativer Fiktionen in Aussagen angewandt werden können, so dass sie imstande sind, Wirklichkeit zu produzieren. Da auch sie in Form von Wörtern auftreten, besitzen sie naturgemäß eine sozusagen sprachliche Oberfläche. Nimmt man aber zwei Wörter wie Aschenbecher und Vaterland, so wird ein Unterschied, eine Differenz sichtbar. Mit dem ersten Wort lässt sich in Kommunikationen wenig anstellen. Aschenbecher eben. Mit Vaterland oder eben Heimat hingegen lässt sich so manches, nicht selten gar Unerfreuliches, in Gang setzen – siehe Geschichte der sozialen Systeme. Auf diese Art wird nun (unter anderem) Wirklichkeit generiert. Im Folgenden wollen wir, ausgehend von einer konstruktivistischen Kommunikationstheorie (Fleischer 2006), die Semantik und die axiologische Dimension dieser beiden Konzepte untersuchen. Es wird uns interessieren, was diese Wörter bedeuten, wie sie bewertet werden und wie sich diese beiden Aspekte in der Zeit entwickeln. Davor, versteht sich, ein kurzer theoretischer Teil.

Im Rahmen der allgemeinen Kommunikationstheorie unterscheiden wir innerhalb der Kommunikationskonzepte auch Entitäten, die wir (im Anschluss an Jürgen Link, jedoch mit abweichender Definition) Kollektivsymbole nennen und zu denen die hier besprochenen Konzepte gehören. Worum geht es dabei?

Der theoretische Hintergrund

 Es ist nicht schwer zu beobachten, dass bei verbalen Kommunikationen Wörter benutzt werden, aus denen Sätze und Äußerungen gebaut werden. Das ist reichlich trivial und nicht der Rede wert. Nicht alle Wörter jedoch sind nur Wörter. Geht man von einer konstruktivistischen Konzeptualisierung der Kommunikation aus und versteht die Kommunikation als einen Prozess des Aushandelns von Bedeutungszuschreibungen, in dem neben dem Sprechen, auf einer zweiten Schiene sozusagen, auch die Semantik der Wörter eruiert und bei einer geglaubten Nicht-Entsprechung (für einen selbst oder für die Kommunikation) ausgehandelt wird, so fällt es nicht schwer festzustellen, dass Wörter zwar die Grundlage, die materielle Basis für diesen Prozess darstellen, sie aber auch – von Fall zu Fall – einen zusätzlichen Status erlangen können. Grundsätzlich werden sie zunächst einmal zu semantischen Konstrukten, zu konstruierten Entitäten, die nicht sie alleine/selbst (sie bleiben akustische oder visuelle Größen) betreffen, sondern das, was aus ihnen an Bedeutungen ableitbar ist. Diese weiter gefassten Entitäten werden von Kommunikation zu Kommunikation semantisch modifiziert oder auch in ihrer Semantik bestätigt (was ebenfalls eine Art Operation darstellt), um schließlich einen (immer vorläufig) individuell geglaubten Konsens zu ergeben und damit in eine Position zu gelangen, in der sich die jeweiligen KommunikationsteilnehmerInnen mit ihrer (geglaubten) Semantik zufrieden geben. Dies ist der konstruktive Charakter der Wörter. Darüber hinaus besitzen sie noch eine zusätzliche, dritte Dimension – ein Teil von ihnen fungiert als Konzepte, die den Charakter eines Ermöglichungsgrunds erlangen. Konzepte wollen wir hier somit als jene Bestandteile der natürlichen Sprache und anderer Zeichensysteme postulieren, die eine Art Voraussetzungssystem einerseits für die Konstrukte und andererseits für die Kommunikationen bilden. Die Idee resultiert aus der Antwort auf die Frage: Was ermöglicht bestimmte Kommunikationen auf der Ebene der Zeichensysteme und bleibt dabei weiterhin Bestandteil der Zeichensysteme? Oder trivialer: Warum reden Menschen überhaupt? Außersprachlich ist es z.B. das Aufeinandertreffen zweier Individuen, welches verursacht, dass diese nun, sich gegenüberstehend, reden müssen, um weiterzukommen, oder das Eintreffen an einem Ort, an dem andere Menschen sind und reden, oder das Betreten eines Ortes, an dem zu reden ist usf. Dies braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Was nun die zweite Frage betrifft, ist die Antwort ebenso trivial wie die Frage selbst – wir reden, weil wir damit das soziale System generieren und daraufhin stabilisieren bzw. in Gang halten. Wenn nicht geredet wird, gibt es keine Gesellschaft.

Die Sprache verfügt jedoch auch über Dinge, die eine Kommunikation überhaupt erst so und nicht anders zu initiieren erlauben und ablaufen lassen, eine Art Folie, vor der erst so und nicht anders kommuniziert werden kann – mit Hilfe von Konstrukten, die uns im Hinblick auf die jeweils geltende Semantik instruieren und also erlauben, uns dazugehörig zu fühlen oder als nicht-dazugehörig zu positionieren, und andererseits mit Hilfe von Wörtern, welche das relativ unspezifische Material dafür bilden. Man kann schließlich zwar in einem Gespräch jegliche Wörter gebrauchen, nichts hindert einen daran, welches Wort auch immer zu benutzen, alle Wörter sind sozusagen gleichberechtigt: aber – nicht konsequenzlos zu gebrauchen. Nun benutzen wir daher jeweils bestimmte Wörter und Konstrukte, und zwar jene, die aufgrund der Kommunikationsszenarien und der Kommunikationssituation eine in diese Szenarien und Situationen hineinpassende Semantik besitzen.

Wohlgemerkt – man kann in einer Situation X über alles reden, letztlich allerdings jeweils nur auf eine bestimmte Art und Weise, auf eine solche, die von der Semantik der Konstrukte bereitgestellt und von den Szenarien und der Situation verlangt wird. Dann benutzen wir eben jene Konstrukte und aktualisieren und/oder verhandeln jene Semantiken, die in solchen Situationen, wie wir es jeweils annehmen, von allen KommunikationsteilnehmerInnen als angebracht angesehen werden. Was lenkt aber die Konstrukte und mittelbar die Wörter, wenn sie benutzt werden oder wenn ihre Semantik verhandelt wird, was richtet sie aus und verleiht ihnen schließlich die jeweils gegebene Semantik und ihre Benutzungsregeln? Es gibt etwas, das dies vermag und imstande ist, eine solche Funktion auszuüben. Wir schlagen vor, diese Größen ‚Konzepte‘ zu nennen. Deren Träger können als Wörter oder Konstrukte in den Kommunikationen ebenfalls auftreten; werden jedoch in der Funktion als Konzepte nicht zwingend sprachlich manifestiert. Wir sehen oder hören sozusagen immer nur Wörter, von denen die KonstruktivistInnen wissen (weil sie es annehmen), dass es Konstrukte sind. Unsichtbar bleiben aber die Konzepte, welche das, was gehört oder gesehen wird, so wie es der Fall ist, möglich machen. Dies mag im ersten Moment schwer nachvollziehbar sein, es ist jedoch im Grunde ein relativ einfacher Sachverhalt. Denn es geht nicht um die sprachliche Manifestierung dieser Dinge (als Wörter), sondern um ihre Funktion. So kann das Wort ‚Fortschritt‘, das ja auf der Ebene der Sprache lediglich ein Wort wie viele andere auch ist, auf der Ebene der Kommunikation ein Konstrukt sein, das in einem gegebenen Kommunikationsraum in seiner Semantik ausgehandelt oder durch Anwendung in einer gegebenen Semantik bestätigt werden soll. Das heißt, wir reden darüber, wie der Fortschritt aussehen, mit Hilfe welcher Mittel er – unserer Ideologie nach – erreicht werden sollte und warum er mit anderen Mitteln (anderer Ideologien) nicht erreicht werden kann/darf/ soll, wir stellen gar den Fortschritt in Frage, wir lehnen ihn ab und ziehen in eine Berghütte. All dies jedoch tun wir, und darum geht es uns hier, indem wir zugleich das Konzept ‚Fortschritt‘ in Kommunikationen voraussetzen. Wir reden darüber, wie Fortschritt zu erreichen ist oder wie er aussehen sollte, und dadurch, dass wir darüber reden, wird das Konzept ‚Fortschritt‘ unsichtbar, in dem Sinne, dass es die Grundlage des Redens bildet, die, entzöge man sie dem Gespräch, das Reden unsinnig machte; folglich muss das Konzept selbst unsichtbar bleiben (denn wir reden ja nur über den Fortschritt mit seiner Hilfe), um das, was es ermöglicht und was aus ihm folgt, sichtbar werden zu lassen. All die Diskussionen, In-Frage-Stellungen und Berghütten sind ohne das Konzept nicht möglich, auch wenn es selbst in dieser Funktion nicht in Erscheinung tritt. Wir hören Wörter, handeln die Semantik gemäß unseren Ideologien, Überzeugungen, Meinungen usf. aus und bauen damit das Konstrukt in Kommunikationen auf. Das Konzept selbst stellen wir aber nicht in Frage, weil wir es gar nicht sehen, es ist lediglich der unsichtbare Ermöglichungsgrund dieser, es benutzenden Kommunikation. Wir reden ja nur darüber, wie der Fortschritt aussehen sollte (oder z.B. wie wir ‚weiterkommen‘, uns ‚entwickeln‘ wollen etc.), was Fortschritt ist, und das, worüber man redet, kann ja nicht in Frage gestellt werden, denn dann bräche die Kommunikation zusammen. Anders gesagt: Wenn wir auf Grundlage des Konzepts von Fortschritt reden (ob dieser nun wörtlich auftaucht oder nicht), wird nicht nur die Frage, ob wir Fortschritt überhaupt brauchen/wollen/etc. obsolet, sondern alles, was nicht auf Fortschritt ausgerichtet ist (am Konzept Fortschritt orientiert), bedeutet die Verneinung der Grundlage unseres Redens. Es ist also noch kurioser, als es auf den ersten Blick erscheinen mag – wir stellen das Konzept auch dann nicht in Frage, wenn wir es in Kommunikationen tatsächlich in Frage stellen. Denn stellen wir es in Frage, dann benutzen wir es (um es in Frage stellen zu können) und es ist der Ermöglichungsgrund für das In-Frage-Stellen. Folglich steuert es auch seine eigene In-Frage-Stellung und ist somit ‚unkaputtbar‘. Versuchen Sie bitte ‚bubu‘ in Frage zu stellen, es wird Ihnen nicht gelingen, weil es kein Konzept ist, es ist nur ein (unsinniges) Wort. Diese Steuerungsfunktion der Konzepte in Kommunikationen macht ihre Kraft und ihre Stabilität aus, und ihre funktionelle Logik und Wirksamkeit entfaltet sich also unabhängig davon, ob das Konzept selbst (nun aber als Wort) in den Kommunikationen auftaucht oder nicht.

Konzepte ermöglichen aber auch zahlreiche andere Funktionen, sie ermöglichen sogar vermittels der Kommunikationen die Stabilisierung bestimmter Funktionssysteme des sozialen Systems und halten den Kommunikationsmechanismus am Laufen. Und dabei brauchen sie selbst gar nicht thematisiert oder akustisch zu werden. Man mag das Konzept ‚Fortschritt‘ gar nicht zu hören bekommen, es organisiert dennoch eine gegebene Kommunikation, richtet sie aus, erlaubt, bestimmte Standpunkte zu manifestieren und Diskussionen oder Auseinandersetzungen zu führen (Es reicht, wenn man sich die aktuellen Debatten über die künstliche Intelligenz (übrigens ein Oxymoron, wie Kunstleder oder Brennholzverleih) anschaut, welche ausschließlich im Rahmen des Fortschritts-Konzepts geführt werden; diese (Intelligenz) mag nützlich sein oder nicht, dass sie aber einen Fortschritt darstellt, steht in diesen Debatten außer Zweifel; ebenso Elektro- oder selbstfahrende Autos; die sind unsinnig, aber fortschrittlich). Es ist in der Lage, aus dem Hintergrund heraus steuernd zu wirken, Konstrukte auszurichten, Semantiken zu bestimmen, Äußerungen zu produzieren, Kommunikationssituationen zu unterstützen u.dgl.m. Konzepte mögen, wie gesagt, auf der Oberfläche erscheinen, sie müssen es jedoch nicht, und in den seltensten Fällen tun sie dies auch.

Zugegebenermaßen handelt es sich hier um ein relativ schillerndes Objekt, das in der oben skizzierten Funktion nicht auf Anhieb und ohne weiteres als solches erkennbar und plausibel ist. Es muss aber gefragt werden: Was ermöglicht z.B. eine Fernsehsendung wie Anne Will im Hinblick auf das in ihr Gesprochene? Alle TeilnehmerInnen reden dabei über ein jeweils ‚aktuelles Thema‘, heute über X. Was verursacht aber, dass sie so reden, wie sie reden (Nicht – dass sie überhaupt reden, das tun sie, weil sie eingeladen worden sind und die Kommunikationssituation sie dazu zwingt), und dass sie dies, wie sie reden, nicht merken (sollen/dürfen/ können/wollen)? Merkten sie es nämlich, löste sich die Runde augenblicklich auf und die TeilnehmerInnen ergriffen die Flucht; auf jeden Fall könnten sie gar nicht mehr weiterreden, ohne grotesk oder auch nur lächerlich zu erscheinen. Wir behaupten, es sind Konzepte, die uns nicht lächerlich erscheinen lassen und verursachen, dass wir weiterreden, und die uns glauben lassen, dies wäre sinnvoll oder gar wichtig. Konzepte machten dies unmöglich und sie zerstörten uns dieses Spiel, würden sie (als Konzepte, nicht als Wörter) offengelegt. Bleiben sie hingegen invisibilisiert, dann richten sie die Kommunikationen aus, situieren sich selbst jedoch im Hintergrund, es kann aber die Kommunikation fortgesetzt werden; nicht über sie, über die Konzepte, sondern – mit ihrer Hilfe. Erklärten wir Ihnen nämlich (oder Sie uns), wie das Fortschritts-Konzept (oder ein beliebiges anderes) funktioniere, wie es zustande komme und wozu es gut sei, käme kein Gespräch mehr (mit dessen Hilfe) zustande und wir müssten auseinander gehen oder zumindest (mit Hilfe anderer Konzepte) über andere Dinge reden. Erklären wir Ihnen (oder umgekehrt) dagegen ein Konstrukt (oder ein Wort) – das heißt, wie wir es sehen, verstehen usf. –, können Sie nachfolgend Ihre Sichtweise einbringen, uns widersprechen oder nicht, auf jeden Fall können wir, und zwar lange, weiterreden, über das Konstrukt eben. Denn stellen wir uns vor, ein Politiker sagte bei Anne Will den Satz: ‚Ich stelle den Fortschritt in Frage‘; wir sehen, dass alles in Ordnung wäre und man weiter reden könnte. Sagte er hingegen den Satz: ‚Ich stelle Aschenbecher/Milch/Zürich in Frage‘, hätten wir augenblicklich relativ klare Vermutungen über seinen Geisteszustand. Sagte er womöglich: ‚Ich stelle Teilchenbeschleuniger in Frage‘, wäre wieder alles in Ordnung, weil er mit den Konzepten ‚Fortschritt‘ und ‚Wissen‘ arbeitete (ohne beide zu erwähnen) und im Kommunikationsprogramm Politik über einen Bestandteil des Kommunikationsprogramms Wissenschaft redete (Eine Auflistung der Kommunikationsprogramme ist in Fleischer 2006, S. 208–237 nachzuschlagen).

Nun gelangen wir zu einem Drei-Ebenen-Problem. Wörter sind Wörter, sie besitzen keine Äquivalente. Sie sind Erstheiten (im Peirceschen Sinne), die so sind, wie sie sind, ohne Rückgriff auf etwas anderes. Konstrukte hingegen sind in dieser Sichtweise als Zweitheiten zu konzeptualisieren. Sie basieren auf Wörtern (Sätzen usf.), benutzen also sprachliche Einheiten, werden aber bereits im Hinblick auf Kommunikationen funktionalisiert und angewandt, und dabei ist es meist unerheblich, welches konkrete Wort welcher konkreten Sprache es sein mag, in welcher konkreten Gruppe des sozialen Systems es wie und wodurch ausgedrückt wird, Hauptsache es dient den gleichen kommunikativen Zwecken, nimmt an den gleichen Operationen teil. Sofern Wörter eindeutig bzw. – mehr oder weniger – mehrdeutig sind, sind Konstrukte gar-nicht-deutig; Konstrukte sollen lediglich bestimmte Operationen ermöglichen. Was sie in welcher Sprache bedeuten mögen, ist irrelevant oder Verhandlungssache und also Kommunikationsanlass. Konstrukte besitzen zwar ebenfalls eine Semantik, nur ist es keine sozusagen natursprachliche, sondern eine kommunikative oder funktionale Semantik.

Konzepte schließlich sind in dieser Reihung als Drittheiten zu sehen, welche zwar einerseits auf Wörtern basieren und andererseits kommunikative Konstrukte operationalisieren, also deren Anwendung ermöglichen, aber darüber hinaus bzw. auf diese Weise mit Hilfe oder durch Vermittlung von Kommunikationen soziale Aktionen erst ermöglichen, ausrichten und ablaufen lassen. Konzepte sind somit Wörter, die kommunikativ (d.h. als Konstrukte) eingesetzt werden, um das soziale System – vermittels der Kommunikation – aufrechtzuerhalten und zu stabilisieren.

Ist ein Wort also im Hinblick auf seinen Kasus, Numerus, seine Deklination/Konjugation usf. von Interesse, so ist es ein Wort, eine linguistische Einheit. Ist ein Wort als Kommunikationseinheit von Interesse, dient es in konkreten Kommunikationen zur Realisierung eines Kommunikationsprogramms zwecks Erhaltung eines sozialen Funktionssystems, so ist es ein Konstrukt. Ist ein Wort hingegen in dieser letzteren Funktion zusätzlich als Ermöglichungsgrund für die konkreten Kommunikationen aktiv, liefert es also eine Art Folie, vor der sich eine Kommunikation perpetuiert, so ist es ein Konzept. Das Wort selbst bleibt ein Wort, nur erfüllt es verschiedene Funktionen und wird damit zu drei Objekten (Es gibt naturgemäß auch ikonische und indexikalische Konzepte und Konstrukte; dies sparen wir hier aus).

Damit haben wir den hier interessierenden Zusammenhang, vor dessen Hintergrund unsere Untersuchung sich positioniert, grob umrissen. Gehen wir nun auf den zur Debatte stehenden Kernbereich der Kollektivsymbole ein, welche einen Bestandteil der Konzepte bilden, und zwar einen zentralen und für den kommunikationsmäßig gewährleisteten Zusammenhalt des sozialen Systems fundamentalen.

Kollektivsymbole

 Kollektiv- bzw. Diskurssymbole wie auch ihre differenzierende Eigenschaft – die kommunikative Bedeutung – sind, neben diversen Semantisierungsstrategien und Prozeduren anderer Art, die wesentlichsten Elemente des Interdiskurses bzw. der Diskurse. Im Folgenden definieren wir diese Objekte und besprechen sie näher, um im nächsten Abschnitt auf deren empirische Untersuchung einzugehen. Die systemische Eigenschaft der Kollektivsymbole bildet die kommunikative Bedeutung. Diese gilt jeweils nur für eine bestimmte soziale Formation und deren Kommunikationen, sie macht die Bedeutung und Funktion eines Zeichen (oder eines Zeichenkomplexes) für diese konkrete Formation aus und weicht von der allgemeinsprachlichen (cum grano salis – lexikalischen) Bedeutung in dieser oder jener, allerdings einer für die gegebene Formation spezifischen Hinsicht ab. Für eine andere soziale Formation kann das gleiche Zeichen-Mittel eine andere kommunikative Bedeutung aufweisen, aber z.B. die gleiche lexikalische besitzen. Was den auf Ch. S. Peirce zurückgehenden Begriff ‚Interpretant‘ und die von mir eingeführten Begriffe ‚Zeichen‘- und ‚Bedeutungs-Interpretant‘ betrifft, so kann der Zusammenhang wie folgt skizziert werden: Im Zeichen-Interpretanten werden die Bedeutungen eines Zeichens durch Zuordnungen zu anderen Zeichen hergestellt, das heißt durch eine Systemisierung des gegebenen Zeichens vor dem Hintergrund anderer, es mit semantisierender Zeichen situiert. Der Bedeutungs-Interpretant wiederum umfasst – vereinfachend gesagt – die lexikalischen, so und nicht anders kodierten, im Sprachsystem vorhandenen allgemeinsprachlichen Bedeutungen, jene, die sich auf die einschränkende Relation des Zeichen-Mittels zum Zeichen-Objekt beziehen und ein im Zeichen-Objekt prinzipiell gegebenes Möglichkeitsfeld einengen.

‚Kollektivsymbole‘ sind Zeichen (Der Terminus ‚Kollektivsymbol‘ selbst stammt von Jürgen Link. Link meint allerdings unter ‚Symbol‘ die literaturwissenschaftliche Bedeutung des Wortes, hier gilt seine semiotische Bedeutung. Dieser Unterschied hat weitgehende theoretische Konsequenzen. Ich übernehme diesen Terminus dennoch, um damit die Vorreiterposition von Link zu würdigen, auch wenn meine Konzeptionnun eine andere Richtung eingeschlagen hat. Vgl. dazu Link 1982), die einen derart und dermaßen ausgeprägten Interpretanten besitzen, dass sie eine vom gegebenen Interdiskurs bedingte kommunikative Bedeutung und eine stark ausgeprägte positive oder negative und damit differenzierende Färbung (Wertung) aufweisen, die für das gesamte soziale System (innerhalb des Interdiskurses) gelten und bei denen der Interpret auf besondere Kenntnisse bezüglich des Bedeutungs- und hauptsächlich des Zeichen-Interpretanten angewiesen ist. Diese besonderen Kenntnisse werden im Sozialisationsprozess wie auch während des kommunikativen Agierens erworben und erlauben damit dem Interpreten das adäquate Kommunizieren im Rahmen seines Interdiskurses. Dabei weicht die kommunikative Bedeutung von der ‚normalsprachlichen‘ (lexikalischen) in den meisten Fällen stark ab. Kollektivsymbole sind die wichtigsten Elemente des Interdiskurses.

Dazu einige Erläuterungen: Was die besonderen Kenntnisse hinsichtlich der kommunikativen Bedeutung betrifft, so ist diese Eigenschaft am einfachsten beim Erwerb einer Fremdsprache zu beobachten. Man lernt zwar die lexikalischen Bedeutungen, bei bestimmten Wörtern jedoch reicht dies nicht aus, man muss auch sozusagen den Sound, die Spezifik und die semantischen Besonderheiten wie auch die spezifischen sprachbedingten Benutzungsregeln des gegebenen Wortes kennen, und diese lassen sich bei einer Fremdsprache erst in interaktiver Alltagskommunikation erlernen. Wenn jemand, der gerade eine Fremdsprache lernt, über die Existenz von ‚Jarosław Kaczyński‘ erfährt, dann – sagt ihm das nichts, ein Name eben, und wenn er erfährt, dass es der Chef einer politischen Partei ist, dann weiß er etwas mehr, aber… noch nicht alles. Für ihn hat also ‚Jarosław Kaczyński‘ eben diese, im vorigen Satz eingegrenzte, lexikalische Bedeutung. Für Menschen in Polen hingegen (oder die, die es wissen) ist dieser Name noch mit vielen zusätzlichen Bedeutungen, sagen wir mal, belastet, mit einem ganzen Netz semantischer Rückschlüsse, deren Kenntnis notwendig ist, um im Rahmen dortiger Kommunikationen adäquat zu funktionieren; darüber hinaus besitzt die Gestalt dieses Netzes von Bedeutungen noch eine starke axiologische Markiertheit, in Abhängigkeit von der politischen Einstellung – sowohl eine positive als auch negative. Dieser semantische Überschuss, den wir als KommunikationsteilnehmerInnen außerhalb der reinen Lexik im Kommunikationsprozess (er)lernen und verhandeln, generiert eben das, was wir hier als Kollektivsymbole bezeichnen.

Darüber hinaus ist es entscheidend, zwischen ‚Bedeutungen‘ einerseits und ‚Assoziationen‘ oder ‚Konnotationen‘ andererseits zu unterscheiden. Gemeint sind in der vorliegenden Konzeptualisierung ausschließlich ‚Bedeutungen‘. Dass Assoziationen oder Konnotationen ebenfalls einen bestimmten Einfluss auf die genannten Objekte und Eigenschaften ausüben, ist selbstverständlich; ihnen kann jedoch der Charakter kollektiver Geltung, bei deren Nicht-Beachtung man kommunikative, mitunter auch soziale Restriktionen und Sanktionen auf sich zieht, nicht zugesprochen werden. Mit anderen Worten: Wenn in eine gegebene Äußerung oder eine Kommunikationssituation Assoziationen oder Konnotationen mit eingebracht werden, haben sie, unabhängig davon, wie stark oder umfangreich sie ausfallen, keinerlei Einfluss auf die kommunikative Semantisierung der gegebenen Äußerung; und dies ist wiederum unabhängig davon, ob sie in dieser Kommunikation akzeptiert oder abgelehnt werden. Wenn jedoch in einer gegebenen Kommunikation eine bestimmte kommunikative Bedeutung nicht eingehalten wird, zieht das Sanktionen nach sich, man wird als GesprächspartnerIn abgelehnt, als Fremde/r, Sonderling, ProvokateurIn usf. eingestuft, was selbstverständlich auch die Absicht des/der Sprechers/in sein kann. Ungeachtet dessen jedoch, ob dies eine Absicht ist oder nicht, wird man ‚aus dem Rahmen fallen‘ und Restriktionen auf sich ziehen, und genau der ‚Rahmen‘, aus dem man dabei fällt, ist hier mit ‚komunikativer Bedeutung‘ gemeint. Aus diesen Gründen sollen ‚Assoziationen‘ und ‚Konnotationen‘ aus der Theorie ausgespart bleiben, sie haben keinen systemischen Status, sondern zumeist individuellen Charakter und sind nicht von einem gegebenen Diskurs oder Interdiskurs bedingt. Darüber hinaus entstehen Konnotationen und Assoziationen sozusagen im Hinblick auf Bedeutungen bzw. aus ihnen heraus – zunächst müssen ja Bedeutungen vorhanden sein, damit etwas mit etwas konnotiert werden kann, und in diesem Sinne sind sie sekundär; Bedeutungen hingegen sind primär und entstehen aus Operationen an Elementen triadischer Zeichen.

Was die Zeichenbeschaffenheit der Kollektivsymbole betrifft, so wird davon ausgegangen, dass sie ein stabiles und festes Zeichen-Mittel aufweisen (‚an dem nicht gerüttelt werden darf‘, man kann nicht konsequenzlos statt ‚Demokratie‘ ‚das Diktat der Mehrheit‘ sagen) sowie ein klar ausgeprägtes Zeichen-Objekt (‚jeder weiß doch, was mit x gemeint ist‘, ‚das ist doch selbstverständlich‘ usf.), demgegenüber aber einen umso breiteren Interpretanten, so dass auf der Ebene der Bedeutung (Bedeutungs-Interpretant) und der Ebene der Verknüpfung mit anderen Zeichen (Zeichen-Interpretant) diverse Operationen möglich sind. Diese lassen den systemgenerierenden kommunikativen Mechanismus ablaufen, erlauben es, dass Umfunktionierungen stattfinden sowie (z.B. sozial bedingte) Schwankungen des Interdiskurses abzufangen, können Veränderungen in Gang bringen und also die Entwicklungsdisposition gewährleisten (im Hinblick auf Irritationen seitens des Systems oder des Interdiskurses). Was die Zeichenarten angeht, so kann beobachtet werden, dass Objekte mit kollektiv- bzw. diskurssymbolischen Funktionen oft auch in Form indexikalischer oder ikonischer Zeichen auftreten (siehe z.B. diverse Aufkleber, generell – Viskurse); naturgemäß muss dann von Kollektivindizes bzw. -ikons gesprochen werden. Daneben treten auch verschiedene Mischformen auf. Der ikonische und indexikalische Bereich wird aus den weiteren Überlegungen ausgeklammert.

Das Phänomen der kommunikativen Bedeutung

 Die ‚kommunikative Bedeutung‘ stellt, obwohl sie an sich leicht nachvollziehbar ist, eine sowohl definitorisch als auch analytisch äußerst schwierig zu bestimmende Größe dar. Das Phänomen an sich ist sehr stabil; starken Veränderungen unterliegen jedoch die konkreten Ausprägungen und nur diese sind für eine empirisch fundierte Analyse greifbar. Dies geht wiederum auf die zahlreichen und auch sehr unterschiedlichen Funktionen zurück, die von Kollektiv- bzw. Diskurssymbolen erfüllt werden (Über entsprechende Versuche, die kulturelle Bedeutung aus textuellen Manifestationen heraus zu bestimmen, siehe in der Bibliografie: Fleischer 1996 und 1997; über die Methode ihrer empirischen Erhebung siehe z.B. Fleischer 1995.). Generell werden im Rahmen der Konzeption der Dritten Wirklichkeit zwei semantische Bereiche postuliert. Zum einen etwas, das – mangels einer besseren Bezeichnung – die allgemeinsprachliche oder lexikalische Bedeutung genannt wird, die mit linguistischen Mitteln ausreichend beschrieben ist. Zum anderen weisen aber bestimmte kommunikative Objekte einen Bedeutungsüberschuss, ein Mehr-an-Bedeutung auf, der/das nicht restlos auf das Lexikon zurückzuführen ist und keinen zufälligen, sondern einen systemischen, kollektiven und bindenden Charakter aufweist (Über die Schwierigkeiten, diesen Bereich auch im Hinblick auf alte und systemisch bebürdete Wörter zu bestimmen – siehe Michael Fleischer 1997b, S. 117–163). Dieser Bedeutungsüberschuss ist vom jeweiligen sozialen System abhängig. Deutlich wird das Phänomen, wenn man versucht in einem Wörterbuch die Bedeutung von z.B. Ereigniskonstrukten des Typs „die Bosnien-Frage“ (Klaus Kinkel in Tagesschau, ARD, vom 12.7.1997) oder von Objekten des Typs ‚unsere Soldaten‘, ‚unser Volk‘, „Bau des Hauses Europa“ (Helmut Kohl in seiner Neujahrsansprache 1996/97, Ansprache des Bundeskanzlers zum Jahreswechsel 1996/1997 (bundesregierung.de), 13.4.2021) ‚Ausländerflut‘, ‚Asylantenwelle‘ usf. zu finden. Diese – nennen wir sie ruhig – Komplexitätsreduktionssynekdochen besitzen fast ausschließlich kommunikative Bedeutungen. Das gleiche wird auch bei intersystemischen Vergleichen sichtbar, wenn man sich vor Augen führt, dass ein und dasselbe Wort in verschiedenen Sprachen (z.B. ‚Papst‘ in der deutschen und polnischen) oder auch Subkulturen unterschiedliche, mitunter stark voneinander abweichende Bedeutungen aufweist, gleichzeitig aber in allen Fällen auch ein gemeinsames semantisches Feld festzustellen ist (aber nicht festzustellen sein muss). Das Phänomen soll an einem Beispiel verdeutlicht werden. Durch die Untersuchungen der Forschungsgruppe Tüschau 16 (1998) und die Ermittlung der deutschen und polnischen Kollektivsymbolik (Fleischer 1995; Fleischer 1996) konnte gezeigt werden, dass die Bedeutungen u. a. der Wörter ‚Freiheit‘ und ‚Kirche‘ im deutschen Punk-Diskurs und in beiden Interdiskursen mit Hilfe folgender, voneinander stark abweichender Umschreibungen charakterisiert werden:

Freiheit / wolność
 deutsche Punks Anarchie, wichtig, muß (sein), Spaß, Leben, gibt’s nicht, keine Arbeit, schön
 deutscher Interdiskurs Reisen, Urlaub, Auto, Unabhängigkeit, Demokratie, Selbständigkeit, Geld, Meinungsfreiheit, Frieden, Wahl, Glück
 polnischer Interdiskurs niezależność, swoboda, demokracja, radość, równość, niepodległość, pokój, miłość, samodzielność

 

Kirche / kościół
 deutsche Punks Lügen, Papst – nein, Unterdrückung, Geld, Intoleranz, langweilig, Kommerz, unnötig, Verdummung
 deutscher Interdiskurs Glaube, Papst, Religion, Steuer, Gott, Tradition, Institution
 polnischer Interdiskurs wiara, instytucja, Bóg, ksiądz/kler, religia, wspólnota, budynek (świątynia, Dom Boży), miłość

 Dabei wird ‚Freiheit‘ (auf einer Skala von +100 bis −100) von den Punks sehr positiv bewertet (+95), im deutschen und polnischen Interdiskurs (entsprechend) +88 und +92. ‚Kirche‘ hingegen wird von den Punks viel negativer eingestuft (−72) als in den beiden Interdiskursen (entsprechend im deutschen und polnischen): −12 und +22). Es ist nicht anzunehmen, dass die Punks, die ja gleichzeitig auch Teilnehmer der Gesamtgesellschaft sind und also im Interdiskurs adäquat agieren können, weder die lexikalische noch die interdiskurshafte Bedeutung von ‚Freiheit‘ oder ‚Kirche‘ kennen. Dennoch semantisieren sie die Wörter anders als der Interdiskurs. Diese Unterschiede sind (u. a.) gemeint, wenn von einem Bedeutungsüberschuss die Rede ist. Die daraus resultierende semantische Komponente wird in der vorgeschlagenen Theorie ‚kommunikative Bedeutung‘ genannt. Ihr systemischer Sinn und Vorteil ist, dass sie teilweise weniger bebürdet und damit manipulierbarer bzw. modifizierbarer ist als die lexikalische Bedeutung. So kann sie für diskursstrategische Zwecke wirkungsvoller eingesetzt werden, als es die lexikalische Bedeutung aufgrund ihrer starken Verankerung im System und ihrer damit einhergehenden hohen Bürde vermag. Die kommunikative Bedeutung ist somit ein Systembestandteil, der vom System für spezifisch diskursorientierte Belange entwickelt wurde. Diese haben dynamischen Charakter – sie bedürfen einer gewissen Elastizität, welche die Integrität des Systems sichern und es letztlich also stabilisieren kann, indem sie gerade durch Veränderbarkeit bzw. das Zulassen von Unterschiedlichkeit seinen Fortbestand sichert (An dieser Stelle ist die kommunikative Bedeutung bzw. deren ständige Aushandlung in Kommunikationen, die sich für den jeweils zugrunde gelegten Normalitätsbereich als (mehr oder weniger) anschlussfähig erweisen, verbunden mit Normalisierungsprozeduren (vgl. Siemes 2014 und Siemes 2015) sowie dem – durch J. Link eingehend beschriebenen – flexiblen Normalismus moderner, mediatisierter Gesellschaften). Im oben angeführten Beispiel lässt sich dazu u. a. (zusätzlich zum allgemeinen Vergleich der beiden gewählten Wörter) beachten, dass/wie sowohl im Punk- als auch im Interdiskurs zur Charakterisierung von ‚Kirche‘ (Fleischer 1997, Tüschau 16 1998) die semantische Komponente ‚Papst‘ angewandt wird – es handelt sich zwar um das gleiche Wort, man sieht jedoch (auch an den sonstigen jeweils angeführten Begriffen), dass dieses in beiden Diskursen sehr unterschiedliche Bedeutungen aufweist.

Auch wenn das Beispiel die thematisierte Eigenschaft deutlich vor Augen führt, sollte auf einen Punkt unbedingt hingewiesen werden: Die kommunikative Bedeutung stellt nur einen relativ geringen Bestandteil der Semantik dar und bezieht sich auf einige (im Vergleich mit dem Sprachsystem) wenige Wörter und Ausdrücke. Der überwiegende Teil der Wortsemantik ist mit Hilfe linguistischer Mittel ausreichend und präzise erklärt.

Die lexikalischen Bedeutungen erlauben aufgrund ihrer stark ausgeprägten Bürde und des hohen Fixierungsgrades nur relativ wenige und unkomplexe strategische, taktische oder sonstige (individuelle, subkulturelle, medienspezifische) Manipulationen bzw. Modifikationen an Äußerungen. Anders verhält es sich im Fall der kommunikativen Semantisierungen, die aufgrund ihrer geringeren Bürde und des geringeren Fixierungsgrades und also eines höheren Freiheitsgrades die hier angesprochenen Funktionen ausüben können. Es sind (u. a.) jene Semantisierungen, die beispielsweise (wie oben schon erwähnt) besonders deutlich bei Übersetzungen in eine andere Sprache sichtbar werden. Dann also, wenn ein Wort oder ein Ausdruck zwar wörtlich problemlos zu übersetzen wäre, diese (wörtliche) Übersetzung jedoch die eigentliche Rolle und die diskursspezifische Bedeutung des Wortes im Zielsystem nicht wiedergibt; oder aber es sind Wörter, bei denen eine Übersetzung kaum möglich ist, das heißt die ‚eigentliche‘ Bedeutung des Wortes nicht anhand eines Wortes in der anderen Sprache/im Zielsystem wiedergegeben werden kann. Man versuche z.B., die Wörter ‚basisdemokratisch‘ oder ‚Leistung‘ mit allen ihren spezifisch deutschen kommunikativen Bedeutungskomponenten ins Polnische oder Russische zu übersetzen, und umgekehrt das polnische Wort ‚chamstwo‘ ins Deutsche. Dies heißt aber nicht unbedingt, dass im Zielsystem das entsprechende (z.B. soziale) Phänomen selbst (falls es sich um ein solches handelt) nicht vorhanden sei, es kann zwar dies heißen, es kann aber auch zur Bezeichnung des Phänomens ein anderes Wort mit einer möglicherweise abweichenden kommunikativen Bedeutung zur Verfügung stehen. Entscheidend für das beschriebene Problem ist der markante, die kommunikative Semantisierung ausmachende Bedeutungsüberschuss. Und dieser Überschuss wird im Normalitätsbereich genutzt. Er betrifft allerdings nur jenen Teil der Semantik, in dem Maßstäbe zur Geltung kommen (können), die dazu dienen, andere Bestandteile der Äußerung auf diese Maßstäbe hin zu semantisieren. Diese Maßstäbe brauchen selbst nicht in Erscheinung zu treten und tun dies nur in den seltensten Fällen. Wie dies bei Konzepten ja üblich ist, deren Bestandteil Kollektivsymbole ja sind.

Die Erhebungen

 Im Folgenden stellen wir am Beispiel von ‚Heimat‘ und ‚Vaterland‘ die Ergebnisse mehrerer empirischer Untersuchungen dar, mit deren Hilfe versucht worden ist, die Semantik und die Wertung von Kollektivsymbolen in Erfahrung zu bringen. Da auf Grundlage der zu verschiedenen Zeitpunkten erhobenen Daten ein reichhaltiges Vergleichsmaterial zur Verfügung steht, kann man auch Aussagen über die Stabilität und/oder die Entwicklung der Semantik wagen. Die Modalitäten der Untersuchungen werden hier nur kurz dargestellt, damit das Zustandekommen der ermittelten Daten nachvollzogen werden kann (Fleischer/Siemes/Grech 2021).

Es handelt sich dabei um sechs Umfragen zum gleichen Thema, die in einem Zeitraum von 27 Jahren durchgeführt worden sind. Im Jahr 1993 erfolgte die erste polnische Untersuchung, die zweite im Jahr 2000 und die dritte 2020; in Deutschland wurde die Kollektivsymbolik zwei Mal untersucht – 1994 und 2020 (Die Anzahl der Vpn betrug in den Umfragen (entsprechend für die jeweiligen Schritte): Polen 1993 –372, 348, 208; 2000 – 435, 150; 2020 – jeweils 1000; Deutschland 1994: 183, 104, 100; 2020 – je-weils 1000. Im Jahr 1996 ist die gleiche Umfrage auch in Russland durchgeführt worden (108 und 65 Vpn), auf diese gehen wir hier nur punktuell ein, um einen zusätzlichen Vergleich zu ermöglichen). Generell bestanden die Umfragen aus drei immer gleichen Schritten: Zunächst wurden Wörter ermittelt, die „für die Menschen in Deutschland/Polen wichtig sind“, daraus ergaben sich Häufigkeitslisten, aus denen wiederum die jeweils am häufigsten angegebenen Wörter ausgewählt worden sind (ergänzt durch solche, die aus theoretischer Hinsicht für die Fragestellung von Interesse waren) und Versuchspersonen (Vpn) in zwei nachfolgenden Schritten vorgelegt wurden. Aus Gründen der Durchführbarkeit konnten selbstverständlich nur relativ wenige Wörter berücksichtigt werden – zwischen 50 und 27. Im zweiten Schritt wurde die Wertung dieser Wörter eruiert und im dritten schließlich nach der Bedeutung der Wörter gefragt. In allen Fällen lauteten die Aufforderungen an die Vpn gleich:

Schritt (1): Schreiben Sie bitte unten positiv und negativ markierte Worte oder Ausdrücke auf, die Ihrer Meinung nach für die Menschen in Deutschland wichtig sind. Geben Sie spontan möglichst viele Wörter oder Ausdrücke an, auch wenn Sie sich nicht ganz sicher sind. [Polnische Version: Proszę napisać poniżej pozytywnie i negatywnie nacechowane słowa istotne Pana/Pani zdaniem dla ludzi w Polsce. Proszę podać spontanicznie możliwie dużo słów lub wyrażeń, nawet jeśli nie ma Pan/Pani zupełnej pewności, czy są one istotne.]
Schritt (2): Bewerten Sie die nachfolgenden Wörter und Ausdrücke auf einer Skala von +100 (sehr positives Wort) bis −100 (sehr negatives Wort). Bewerten Sie bitte spontan, auch wenn Sie sich nicht ganz sicher sind. [Polnische Version: Proszę ocenić podane niżej słowa na skali od +100 (bardzo pozytywne słowo) do 100 (bardzo negatywne słowo). Proszę oceniać spontanicznie, nawet jeśli nie ma Pan/ Pani co do oceny zupełnej pewności.]
Schritt (3): Was bedeuten Ihrer Meinung nach die folgenden Wörter für die Menschen in Deutschland? Nennen Sie bitte ein paar Wörter oder Begriffe, die die Bedeutung der angegebenen Wörter charakterisieren. Urteilen Sie bitte spontan, auch wenn Sie sich nicht ganz sicher sind. [Polnische Version: Co znaczą Pana/Pani zdaniem następujące słowa dla ludzi w Polsce? Proszę podać kilka słów lub wyrażeń charakteryzujących znaczenie podanych słów. Proszę pisać spontanicznie, nawet jeśli nie ma Pan/Pani zupełnej pewności.]

Die relativ umständliche Formulierung „für die Menschen in Deutschland/Polen“ (statt – für Deutsche/Polen) ist nicht ohne Grund gewählt worden, sondern zum einen, um etwaige ‚nationalistische‘ Konnotationen und also ebensolche Antworten zu vermeiden, zum anderen, um eine breite, ‚niemand und nichts‘ ausschließende Perspektivierung zu erreichen, aber dennoch eine Beschränkung auf Deutschland/Polen (Land und Leute) zu kennzeichnen, da es eben nicht um sozusagen ‚allgemeinmenschliche‘, sondern um spezifisch deutsche/polnische Aspekte gehen sollte (Über die übrigen Einschränkungen und allgemeinen Erläuterungen – siehe Fleischer/Siemes/Grech 2021, vgl. auch Fleischer 1995 und Fleischer 1996).

  Die Ergebnisse

 Gehen wir nun auf die ermittelten Daten für die hier zur Debatte stehenden Kollektivsymbole Schritt für Schritt ein. Um den Rahmen eines Artikels nicht zu sprengen, berücksichtigen wir hier nur die wichtigsten Aspekte; Details und breite Ausführungen sind in unserer Buchpublikation zu diesem Thema zu finden (Fleischer/Siemes/Grech 2021).

Im ersten Schritt der Untersuchungen, der lediglich dazu diente, das Material für die weitere Analyse zu ermitteln, aber auch dazu, die interdiskurshaft wichtigen Wörter von den Kommunikationsteilnehmern selbst zu erfahren, und nicht auf die Kompetenz der Forscher zu rekurrieren, was ohnehin nur den Charakter von Vermutungen haben kann, wurden die beiden hier besprochenen deutschen Kollektivsymbole interessanterweise kaum genannt: ‚Vaterland‘ ist 1994 sieben Mal und 2020 ein Mal genannt worden; ‚Heimat‘ hingegen öfter: 1994 von 2,7 % und 2020 von 2,1 % der Vpn. In Polen wurde ‚ojczyzna‘ [Vaterland] 1993 von 14 %, 2000 von 5,5 % und 2020 von 1,3 % der Vpn als ‚für die Menschen in Polen‘ wichtiges Wort angegeben; ‚mała ojczyzna‘ [Heimat, wörtlich – ‚kleines Vaterland‘] tauchte überhaupt nicht auf, da der Ausdruck erst kürzlich in dieser Funktion gebildet wurde und aber auch kaum benutzt wird. In beiden Systemen scheinen unsere Kollektivsymbole, was ihre aktive wörtliche Manifestierung betrifft, aus dieser empirischen Sicht keine Bedeutung zu haben. Dies ist insofern nicht verwunderlich, da in der Untersuchung ja nach der Einschätzung der Vpn gefragt wurde, nach dem, was aus ihrer Perspektive heraus für andere (und sie selbst) in ihrer kognitiven Welt wichtig ist. Etwas anderes hingegen sind das Vorkommen und Funktionieren dieser Wörter in konkreten Kommunikationen und ihre Bedeutung selbst. Es reicht ein kurzer Blick in eine beliebige Zeitung bzw., breiter gefasst, auf medial vermittelte Kommunikationen, um die Wörter ‚Vaterland‘ und ‚Heimat‘ zahlreich vorzufinden; es sind also durchaus funktionierende diskurshafte Objekte, auch wenn sie auf der sozusagen privaten Ebene der Kommunikationsteilnehmer selten auftreten. Aus diesem Grund fügten wir die beiden Symbole (obwohl sie im ersten Schritt kaum vorkamen) der Liste der übrigen untersuchten Wörter hinzu.

Die Bewertung von ‚Heimat‘ und ‚Vaterland‘

Im zweiten Schritt, der über die Wertung – die axiologische Dimension also – Auskunft geben sollte, konnten folgende Verhältnisse aufgezeigt werden.

Tabelle 1. Vergleich der hierarchischen Position der Wörter allgemein (arithmetisches Mittel aus den Bewertungen auf einer Skala von -100 bis +100) sowie im Hinblick auf das Geschlecht der Vpn und die Region

Umfrage2020D/PL2000PL1994D/1993PL
Wort allg. F M W O allg. F M allg. F M W O
Heimat 72 76 67 72 70       37 30 42 26 60
Vaterland 40 42 39 41 38       12 1 20 −4 47
ojczyzna (Vaterland) 73 77 69     66 72 55 66 66 65    

F = Frauen, M = Männer, W = Westdeutschland, O = Ostdeutschland

Wie leicht ersichtlich, werden die Kollektivsymbole, obwohl sie von den Vpn selbst nicht als wichtige Wörter genannt worden sind, wertungsmäßig im Jahr 2020 sehr hoch eingestuft. Dabei ist ‚Heimat‘ allgemein ein viel positiveres Symbol (+72) als ‚Vaterland‘ (+40), was darauf hindeuten könnte, dass bei ‚Vaterland‘ eine nationalistische oder national orientierte Komponente mit im Spiel ist, die von den Vpn nicht unbedingt getragen wird; wohingegen ‚Heimat‘ diese Komponente kaum aufzuweisen scheint, wofür ihre höhere Bewertung spräche. Wir prüfen diese Differenz weiter unten, wenn über die Semantik die Rede sein wird. Im Hinblick auf das Geschlecht zeigt sich im Fall beider Wörter bei Frauen eine positivere Einstellung als bei Männern; es ist allerdings nur eine geringe Abweichung; das gleiche betrifft die Ost-/West-Teilung. Man kann also davon ausgehen, dass im Hinblick auf West- und Ostdeutschland sowohl ‚Heimat‘ als auch ‚Vaterland‘ heute in etwa gleich bewertet werden. Dies war jedoch, wie die Daten aus dem Jahr 1994 zeigen, nicht immer so. ‚Heimat‘ wurde damals zwar ebenfalls positiver als ‚Vaterland‘ eingestuft, damals jedoch von Männern stärker als von Frauen; bei ‚Vaterland‘ tritt bzw. trat dieser Trend noch deutlicher hervor.

Im Vergleich zu den vorigen Untersuchungen sehen wir somit heute (2020) einen starken Anstieg der axiologischen Dimension beider Symbole. 1994 wurden die Wörter eher im neutralen Bereich der (zweihundert Punkte umfassenden) Skala positioniert, heute sind sie stark in den positiven Bereich aufgerückt – ‚Heimat‘ und ‚Vaterland‘ erscheinen danach viel wichtiger (möglicherweise auch – bedeutsamer, siehe Analyse der Semantik), als sie es in den 1990er Jahren waren. Im sozialen System scheint sich in dieser Hinsicht etwas verändert zu haben, hin zu einem Anstieg konservativer Einstellungen oder Perspektivierungen und deren Verhandlung im Interdiskurs (Für ‚Vaterland‘ zeigt die Standardabweichung von 51 Punkten zugleich erhebliche Differenzen der Bewertungen, was auf sich stark unterscheidende, widersprüchliche Ansichten im Hinblick auf dieses Symbol hinweist (welche dann auch in der Semantik sichtbar werden – s. u.). Im Hinblick auf ‚Heimat‘ herrscht im Vergleich größere Einigkeit – hier liegt die Standardabweichung bei nur34 Punkten. Für beide Wörter zeigt zusätzlich der Median-Wert – +82 für ‚Heimat‘ bzw. +49 für ‚Vaterland‘ –, dass diese für viele Befragte noch deutlicher positiv markiert sind, als es im arithmetischen Mittel sichtbar wird). Noch deutlicher wird dieser Trend, wenn wir die Ost-/West-Differenzierung betrachten. In Westdeutschland wurde 1994 ‚Heimat‘ bei +26 eingestuft und heute werten die Vpn mit +72; im Osten mit + 60 (zu +70 heute); in beiden Fällen steigt der Wert also an, einmal jedoch äußerst deutlich. ‚Vaterland‘ hingegen wurde 1994 im Westen sogar (leicht) negativ bewertet (−4), im Osten dagegen deutlich positiver als heute (+ 47 zu +38). Die Wertigkeit beider Wörter entwickelt sich also dort gegenläufig: Die der Heimat steigt an, jene des Vaterlandes sinkt ab.

Insgesamt legen die Ergebnisse den Schluss nahe, dass die ostdeutsche Axiologie beider Symbole hier deutlich auf die westlichen Einstellungen abgefärbt hat. Der Westen scheint (in dieser Hinsicht) östlicher geworden zu sein, als er es in den 1990er Jahren war. Allgemeiner gesprochen sieht man, dass (und wie) die Wertung von Kollektivsymbolen schwankt und sich – in Abhängigkeit von Veränderungen im sozialen System und seinen Kommunikationen – entwickelt; es ist also von einem dynamischen System auszugehen, dessen Eigendynamik sich bei diesen beiden Symbolen besonders deutlich zeigt. Ganz anders ist die Lage im Hinblick auf das polnische Pendant von ‚Vaterland‘ – ‚ojczyzna‘. Hier beobachten wir in den letzten 27 Jahren eine weitgehende Stabilität der Wertungen. In Bezug auf das Geschlecht der Vpn zeichnet sich zwar der gleiche Trend ab wie in Deutschland (Frauen bewerten das Wort – im Zeitverlauf aufsteigend – positiver als Männer), in allen drei Untersuchungen bleibt die Wertung jedoch annähernd auf dem gleichen, nur leicht schwankendem Niveau. Daraus kann man schließen, dass ‚ojczyzna‘ in Polen eine stabile Funktion aufweist, die sich ohne größere Abweichungen in den Kommunikationen manifestiert. ‚Ojczyzna‘ bildet somit eine Art Anker, dessen stabiler Wertigkeit in der Kommunikation man sich sicher sein kann.

Die Semantik

 So weit so gut. Wir wissen nun, welche Bewertung ‚Heimat‘ und ‚Vaterland‘ aufweisen, welchen Schwankungen diese unterliegt, dass ‚Heimat‘ höher eingestuft wird als ‚Vaterland‘ und dass im Hinblick auf letzteres größere Dynamiken aufteten. Schauen wir uns jetzt die Semantik näher an und finden heraus, was denn die beiden Kollektivsymbole konkret bedeuten. Die hierarchische Position gibt lediglich Auskunft darüber, ob ein Wort wichtig und wie wichtig es ist. Was heißt es aber für die Kommunikationsteilnehmer, wenn es konkret benutzt wird?

Im dritten Schritt der Umfragen haben wir ebendiese Semantik abgefragt, wobei uns nicht die lexikalische Dimension interessierte, diese ist im Duden nachzuschauen, sondern die kommunikative Bedeutung, also die Antwort auf die Frage: Wie beschreiben konkrete Kommunikationsteilnehmer die Bedeutung der beiden Kollektivsymbole und wie entwickelt sie sich im Laufe der Jahre? Um die Lesbarkeit der Tabellen und Daten etwas zu erleichtern, präsentieren wir hier zunächst die im dritten Schritt am häufigsten genannten und das Symbol in dieser lexikalischen Form also charakterisierenden Wörter, ohne auf die Breite der Antworten einzugehen und die jeweils anderen (vielfach mehr oder weniger synonymen) Versprachlichungen zu berücksichtigen. Danach zeigen wir – als Kern unserer Untersuchung – die vereinfachten semantischen Profile der Kollektivsymbole, in denen wir die Grundwörter für die Profilbestandteile angeben bzw. die typologischen Klassen, die für Wort- und/oder Objektfelder gebildet wurden (im weiteren Dimensionen genannt). Vollständige semantische Profile, in denen alle von den Vpn genannten Wörter gezeigt werden, welche eine semantisch zusammenhängende Dimension zu bilden erlaub(t)en, finden sich in der Buchpublikation (Fleischer/Siemes/Grech 2021). Gehen wir also zur Präsentation und (kurzer) Analyse über (Wir geben in einigen Tabellen (zu den häufigsten Antworten in der Umfrage aus dem Jahr 2020) die absoluten Zahlen an; da an ihr 1000 Vpn teilnahmen, reicht es aus, das Komma um eine Stelle nach links zu verschieben, um Angaben zum prozentualen Anteil der Befragten, die dieses Wortnannten, zu erhalten).

Heimat

Tabelle 2. Die häufigsten Antworten (bis N = 50) im Hinblick auf ‚Heimat‘ (2020)

Heimat (N, 2020)
Familie 327 Tradition 79
Zuhause 255 Deutschland 78
Geborgenheit 150 Liebe 75
Freunde 129 Verbundenheit 74
Sicherheit 106 Glück 65
wohlfühlen 85 schön 48

 Auf dem Niveau der reinen Häufigkeiten wird ‚Heimat‘ überwiegend mit dem semantischen Wortfeld ‚Familie, Zuhause, Freunde, Liebe‘ und darüber hinaus mit dem Eigenschaftsfeld ‚Geborgenheit, Sicherheit, wohlfühlen, Verbundenheit‘ umschrieben. Auf nationale oder auf das Land bezogene semantische Komponenten beziehen sich beim Blick auf die häufigsten Antworten nur 7,8 % der Vpn. ‚Heimat‘ rekurriert also auf die (kognitive) Umwelt und auf den Bereich geteilter Werte.

Geht man nun über die reinen Häufigkeiten hinaus und bildet aus den Antworten breitere semantisch zusammenhängende typologische Dimensionen, gelangen wir zum (vereinfachten) semantischen Profil von ‚Heimat‘. Wir stellen die Daten aus dem Jahr 1994 den aktuellen gegenüber, um auch die Entwicklung (respektive Stabilität) sichtbar werden zu lassen (Da im weiteren die Semantik (und nicht etwa die Meinung der Befragten) Gegenstand der Analyseist, betreffen die Prozentangaben ab hier den prozentualen Anteil an der Anzahl N der Antworten. Dieser zeugt (über die entstehende Rangliste hinaus) von der Bedeutung der jeweiligen Dimension vor dem Hintergrund der Gesamtheit der zur Beschreibung des Wortes herangezogenen Elemente).

Tabelle 3. Die (vereinfachten) semantischen Profile von ‚Heimat‘ (2020 und 1994)

Heimat 
2020 (N 4250), H +72%1994 (N 275), H +37%
Familie, Kinder, Eltern, Mutter 9,8 Familie, Eltern, Kindheit, Mutter 9,1
Ort/Herkunft: (76) wo: (man sich wohlfühlt, man wohnt), (44) da wo man, (33) da wo, (33) Wurzeln, (32) Ort, (16) da (fühle ich mich wohl, komm ich her), (29) Herkunft, (11) hier 9,6 Geborgenheit 4,4
Zuhause 6,5 Deutschland 4,4
Verbundenheit, Gemeinschaft, Zusammenhalt, Dazugehörigkeit, Zugehörigkeit 4,6 Vaterland 3,6
Geborgenheit, Zuflucht 4,2 Land 4, Landschaft 4, Landstrich 3,3
Freunde 3,3 Nation 3,3
Sicherheit, Schutz 3,1 Zuhause 3,3
wohlfühlen 3,1 Geburtsort 2,9
Tradition, Kultur 2,8 Kultur 2,9
Wohnort, Haus 2,3 Herkunft 2,5
Deutschland, Europa 2,1 Freunde 2,2
Vertrautheit, bekannt 2,0 Haus 1,8
Liebe 1,9 Sprache 1,8
Glück 1,8    
Natur 1,8    
Geburtsort 1,5    
wichtig 1,4    
Land, Region 1,3    
Frieden 1,1    
Heimat, Heimatland 0,9    
Freiheit 0,8    
Vaterland 0,7    

H = die Position in der Bewertungs-Hierarchie

 In dieser Anordnung sehen wir, dass ‚Heimat‘ durch elf andere Kollektivsymbole (fett gesetzt) mit dem System der Kollektivsymbole verbunden ist. Die oben festgestellte Veränderung der Wertungen wird dabei auch in der Semantik sichtbar. In der früheren Untersuchung war das Profil relativ schmal (13 Dimensionen) und beschränkte sich auf Aspekte, die, allgemein gesprochen, die ‚Familie‘ betrafen (Eltern, Kinder, Mutter), das heißt überwiegend den Bereich der Privatheit (Geborgenheit, Zuhause, Freunde, Haus) abdeckten. Der zweite semantische Komplex (gegliedert in einige Dimensionen) betraf nationale Aspekte (Deutschland, Vaterland, Land, Nation). Stellt man beide Bereiche gegenüber, können wir feststellen, dass sich der private in 20,8 % und der nationale in 22,2 % der Antworten manifestiert; wir finden also ein relativ ausgewogenes Verhältnis. 

Das Symbol kann somit gleichermaßen viele verschiedene Kommunikationsfelder und -themen bedienen. Heute (2020) ist das Profil breiter (22 Dimensionen), weist aber die gleichen globalen Bereiche wie 1994 auf. An erster Stelle erscheint, wie bereits früher, die Dimension ‚Familie‘, die zugleich ein eigenes, in der Zeit äußerst stabiles Kollektivsymbol darstellt (Untersuchungen zum Kollektivsymbol ‚Familie‘ sowie weiteren Bestandteilen der hier besprochenen Profile, deren kommunikativer Bedeutung und begrifflicher Vernetzung im polnischen Interdiskurs vgl. Siemes 2013a, Siemes 2013b sowie Siemes 2016).  Fast gleich stark und also eher der Ranglistenbildung halber an zweiter Stelle steht aktuell (2020) eine sehr interessante formale Dimension ‚Ort/Herkunft‘ (Als ‚formale Dimension‘ bezeichnen wir eine solche, die nicht anhand semantischer Ähnlichkeiten der Antworten gebildet wird, sondern unter Berücksichtigung lexikalischer oder syntaktischer Merkmale (wie z.B.: Negationen, phraseologische Einheiten u. dgl.). Solche Dimensionen sind in den Tabellen kursiv gesetzt), welche mit Hilfe einiger spezifischer phraseologischer oder syntaktischer Strukturen gebildet wird (in Klammern die Häufigkeiten): ‚wo…‘ (man sich wohlfühlt, man wohnt, 76), ‚da wo man…‘ (44), alternativ ‚da wo…‘ (33), ‚Wurzeln sind…‘ (33), Ortsangaben (32), da (fühle ich mich wohl, komm ich her, 16) usf.; allgemein gesehen also mit Hilfe einer lokalisierenden Perspektivierung vom Typ ‚hier/dort wo…‘, im Sinne der Maxime – ‚Es gibt einen solchen Ort‘. Die privaten (auf das Ich ausgerichteten) Dimensionen machen heute insgesamt 49,9 % der im Profil berücksichtigten Antworten aus und die nationalen lediglich 15,7 %. Die Semantik von ‚Heimat‘ verschiebt sich, so gesehen, in Richtung jener Aspekte, die das Individuum betreffen und dessen familiäre gesellschaftliche Relationen abbilden; wohingegen Aspekte, welche das breit verstandene ‚Vaterland‘ betreffen, praktisch verschwinden. ‚Vaterland/Deutschland‘ erschienen im Jahr 1994 in 8 % und heute (zusammen mit Europa) in 2,8 % der Antworten. Das in der Analyse des Profils entstehende klare Gesamtbild wie auch die Verknüpfungen mit weiteren Kollektivsymbolen sprechen dafür, dass hier von einem wesentlichen Kollektivsymbol des deutschen Interdiskurses ausgegangen werden kann, welches, wie gleich zu sehen sein wird, nicht selten die Funktion eines – positiveren (siehe die Wertung), weil vermutlich als unbelasteter eingestuften – Synonyms für ‚Vaterland‘ übernimmt.

Vaterland

Tabelle 4. Die häufigsten Antworten (bis N = 50) im Hinblick auf ‚Vaterland‘ (2020)

Vaterland   
Heimat 415 Zuhause 63
Deutschland 249 Sicherheit 59
Tradition 144 Geburtsland 55
Stolz 108 Zugehörigkeit 52
Nation 107 Herkunft 48
Familie 95 Liebe 48

 Die Verknüpfung der beiden Symbole wird hier deutlich ersichtlich – ‚Vaterland‘ wird (auf dem Niveau der reinen Häufigkeiten) an erster Stelle durch ‚Heimat‘ definiert. Erst an zweiter erscheint (fast nur halb so oft) ‚Deutschland‘. Die häufigsten Antworten (bis N = 50) oszillieren generell in zwei Richtungen: Zum einen haben wir einen Bereich, der eher mit individualistischen Eigenschaften konnotiert wird (Heimat sowie: Familie, Zuhause, Sicherheit, Zugehörigkeit, Liebe), zum anderen einen nationalen Bereich (Deutschland, Nation, Stolz, Geburtsland, Herkunft); ein ähnliches Verhältnis also, wie wir es auch bei ‚Heimat‘ aufgedeckt haben. Interessant ist darüber hinaus, dass bei den (nicht typologisierten) Antworten praktisch nur drei Wörter deutlicher ins Gewicht fallen (Heimat, Deutschland, Tradition), der überwiegende Teil der übrigen scheint (bei über 4.000 Antworten) eher akzidentellen Charakter aufzuweisen. Typologisiert man die Daten und bildet umfangreichere semantische Dimensionen, erweitert sich das Bild, und es verändern sich einige Aspekte. Zunächst stellen wir auch hier die Ergebnisse der beiden deutschen Umfragen dar und vergleichen sie später mit den polnischen und russischen Daten.

Tabelle 5. Die (vereinfachten) semantischen Profile von ‚Vaterland‘ (2020 und 1994)

Vaterland   
 2020 (N 4034), H +40%1994 (N 237), H +12 %%
Heimat 11,2 Heimat, Heimatgefühl 15,6
negative Perspektive 8,1 Deutschland 8,0
Deutschland 7,2 Patriotismus 6,3
Nation, Nationalismus 4,3 Nation, Nationalismus 5,5
Gemeinschaft, Zusammenhalt, Zugehörigkeit, Einheit 4,2 Mutterland 3,0
Tradition 3,9 Tradition 3,0
Familie 3,5 Sprache 2,5
Geburtsland, Geburtsort 2,8 Krieg 2,5
Stolz 2,7 Geburtsland, Geburtsort 2,1
Zuhause 2,1
Herkunft, Abstammung, Identität 2,0
Sicherheit 1,7
Krieg, 2. Weltkrieg, AfD, 3. Reich 1,5
Land 1,5
Kultur, Geschichte 1,3
Liebe 1,3
Sprache, Muttersprache 1,1

H = die Position in der Bewertungs-Hierarchie

Die Dimension ‚Mutterland‘ umfasst 2020 N=19 / 0,5 % der Antworten: Mutterland, wo ist das Mutterland, wieso nicht Mutterland, Mutterland-gender?, und Mutterland, auch Mutterland

Negative Perspektive (325): alt 14, altbacken 2, altbackener Begriff 2, alte Erinnerungen, alte Lieder, alter Begriff 3, alter Slogan, altertümlich 3, altes Wort 2, altmodisch 13, Altvordere, Anachronismus 3, antiquiert 4, archaischer Begriff, Begriff aus den Kriegen, Begriff bereitet mir Unbehagen, Begriff ist in sich leer, Begriff wird oft missbraucht, Begriff wirkt etwas belustigend, auch durch seine übertriebene Pathetik, Begriff, der heute sehr politisch rechts verwendet wird, begriffliche Quelle von Nationalismus, bei alten Menschen noch aktiv, benötigt niemand, bescheuert, blöd, braucht keiner, Chauvinismus, das war einmal, die Zeiten sind vorbei, doof, dumm, Dummheit, eklig, engstirnig, erinnert an Kriege 2, erinnert mich an die Zeit mit Hitler, existiert net, extrem negatives Wort, fader Beigeschmack, falsch interpretiert, falsche Denkweise, falsche Emotionen, falsche Freunde, falsche Hilfe, falscher Stolz 2, falscher Stolz auf seine Herkunft, fanatisch, Fanatismus, Faschismus 2, Floskel, fraglich, fragwürdig 2, frühere Zeiten, Gefahr der Überschätzung, Gefahr für den Frieden, Gefahrenpotential, gefährlich, gestrig, heute peinlich, Hitler 8, hitlergeprägt, Idioten, Idiotie, inakzeptabel, Irrglaube, Kaiser 2, Kaiser Wilhelm, kann auch ein zwang sein, kann ich nichts mit anfangen, kann man streichen, Kartoffelbrei, Käse, kleinkariert, klingt nationalsozialistisch, klingt nicht gut, komisches Wort, Lügen, mag das Wort nicht, mag ich nicht, mies, mieses Image, mir egal, Nazis 15, Nazi 3, Nazibegriff 2, Nazi Wort, Nazis und krankhafte übertriebene Vaterlandsliebe, negativ 10, negativ besetzt 5, negativ besetzter Begriff, negativ besetztes Wort, negative Auslegung: AfD, negativer Begriff, negativer Beigeschmack, negativer Charakter das Wort, negatives Wort, Heimat klingt verbundener, nein 2, Nein danke, nicht für heute, nicht gendergerecht, nicht mehr zeitgemäß 2, nicht notwendig, nicht schon wieder, nicht sinnvoll, nicht wichtig 2, Nonsens, nur ein Wort 2, nutze das Wort nicht, pathetisch, prikärer Begriff, Propaganda 2, Quatsch, Rammstein, Rassismus 5, Rassisten, Scham, Scham (wegen der Vergangenheit), Scheiß, schlecht 3, schlechte Politik, Schmutz, schrecklich, Schwachsinn, Sexistisch, sinnlos 2, sinnloses Wort, Sinnlosigkeit, SS, Starrsinn, Tod 4, überbewertet 11, überflüssig 3, überhöhter Begriff, überholt 9, überholter Begriff 2, überholter Sprachbegriff, überkommener Wert, überschätzt 3, Übertreibung, übertriebener Chauvinismus, überzogener Begriff für Heimatland, unaktuell, unangenehm 2, unbedeutend 2, unmodern 4, unnötig 8, Unsinn 2, unsympathisch, unwichtig 5, unzeitgemäß, uralt 2, veraltet 23, veraltet, von Reaktionären für etwas verwendet, das es so nicht mehr gibt, veralteter Begriff 2, verbinde damit nichts Wichtiges, verpönt, verstaubt 3, verstehe ich nicht, von gestern, von rechts benutzes Wort, war einmal 2, war gestern, war vorhin, was soll dies sein.

‚Vaterland‘ zählt, wie hier deutlich sichtbar wird, zu den polarisierenden Kollektivsymbolen und gewinnt in den Daten von 2020 an Wertigkeit – dies in beide Richtungen, also im Sinne des Hinzukommens von positiven wie auch negativen Dimensionen und darüber hinaus im Sinne der Einbindung ins System (mit dem System der Kollektivsymbole ist es durch 7 andere Symbole verbunden). Das Profil von ‚Vaterland‘ war in den 1990er Jahren eindeutig national orientiert; an erster Stelle wurde zwar auch damals ‚Heimat‘ genannt, an weiteren aber: Deutschland, Patriotismus, Nation, Nationalismus. Marginal hingegen war und ist die Position von ‚Sprache‘, welche ja für gewöhnlich als ein wesentliches Merkmal der Vaterlands-Zugehörigkeit angesehen wird; hier zeigt es sich, dass Sprache bereits in den 1990er Jahren keine wesentliche Funktion in der Semantik des Wortes aufwies (2,5 %), im Jahr 2020 erscheint diese Antwort noch seltener (1,1 %). Im aktuellen Profil kommt es zu kleinen, dafür aber wesentlichen Verschiebungen. An erster Stelle rangiert weiterhin die Dimension ‚Heimat‘, allerdings ist der Anteil dieser Komponente heute etwas geringer als früher. Die Dimensionen ‚Deutschland‘ und ‚Nation‘ sind weiterhin vorhanden (in ähnlicher Häufigkeit), es verschwindet aber gänzlich der ‚Patriotismus‘ (am Rande bemerkt – als semantische Komponente erscheint dieses Wort bei den übrigen im Jahr 2020 untersuchten 27 Wörtern nur einmal – als Bestandteil des semantischen Profils von ‚Nation‘). Heute kommen aber neue, bisher nicht vorhandene Dimensionen hinzu, hauptsächlich und deutlich oben in der Rangliste ‚Gemeinschaft, Zusammenhalt‘ und ‚Familie‘, wie auch ‚Zuhause, Sicherheit, Liebe, Kultur‘. Wie man sieht, verschiebt sich die Semantik des Wortes auch in diesem Fall in Richtung einer individualistischen, nicht auf soziale Gruppen orientierten Perspektive; im Jahr 1994 kam diese Dimensionen-Gruppe kaum vor. Man kann auch beobachten, dass sich die Bedeutung des Symbols ‚Vaterland‘ deutlich in Richtung des Profils von ‚Heimat‘ verschiebt. Beide Symbole scheinen also nicht nur Kommunikationssynonyme zu sein, sondern ‚Heimat‘ scheint auf ‚Vaterland‘ abzufärben, indem sie dessen Semantik ihrem eigenen Profil gemäß verändert. Erwähnenswert ist auch die Veränderung im Hinblick auf die Dimension ‚Mutterland‘. 1994 tauchte sie – vermutlich vor dem Hintergrund von political correctness-Regeln und feministischer Bewegungen – immerhin in 3 % der Antworten auf. Heute erscheint dieses Wort lediglich 19 Mal (0,5 %), was auf eine ensprechende Verschiebung im Interdiskurs hindeuten kann (welche dann im Kontrast zu den aktuell in den Medien und öffentlich verwendeter Sprache beobachtbaren Tendenzen stünde, nach denen entsprechende Fragen verstärkte Aufmerksamkeit finden).

Die interessanteste ist aber die zweite im Profil des Wortes auftauchende (formale) Dimension, die eine negative Perspektive abbildet, mit deren Hilfe ‚Vaterland‘ umschrieben wird (Wir zeigen sie hier außerhalb der Tabelle, um die Lesbarkeit nicht zu erschweren). Sie umfasst 325 Antworten (8,1 %), die durch unterschiedliche Versprachlichungen ‚Vaterland‘ mit – nicht selten – sehr negativ markierten Wörtern charakterisieren, was die oben bereits erwähnte polarisierende Rolle dieses Symbols verdeutlicht. Hier erweist sich auch das Problem der Versprachlichung des Semantikbereichs als wichtig. Die negative Herangehensweise an die Semantik des Kollektivsymbols ‚Vaterland‘ ist nämlich, wie die Ergebnisse zeigen, weder phraseologisiert, noch beschränkt sie sich auf einige wenige standardisierte Formulierungen. Stattdessen verteilt sie sich auf zahlreiche (168) Lexeme (types). Während sich die meisten semantischen Dimensionen der Kollektivsymbole auf ein paar basale Wörter beschränken, welche eine semantische Facette charakterisieren, entdecken wir hier ein entgegengesetztes Phänomen – die lexikalische Verschwommenheit einer Eigenschaft, die von den Vpn jedoch oder dennoch als genügend wichtig angesehen wird, um trotz des Fehlens fertiger Sprachvorlagen mit deutlich sichtbarer Häufigkeit aktualisiert zu werden. Aus theoretischer Sicht beobachten wir also auch noch, dass reine Häufigkeitslisten von Einzelantworten für Aussagen über die Semantik von Wörtern, deren Beschreibung und Verständnis, nicht ausreichen. Ebenso wichtig ist, wie hier klar ersichtlich wird, die Profilierung von Bedeutungen und die Aufdeckung komplexerer Korrelationen (auf Grundlage der Häufigkeiten versteht sich, aber darüber hinaus durch eine Gruppierung und Analyse des Materials unter dem hier gezeigten Gesichtspunkt).

Ein Vergleich

Stellen wir nun alle ermittelten Daten zusammen, und schauen uns an, wie ‚Vaterland‘ in Deutschland, Polen und Russland semantisiert wird, so ergibt sich folgendes Bild (Anzahl N der Antworten für die Untersuchungen in Polen 2020: 4274, 2000: 326, 1993: 733 sowie Russland).

Tabelle 6. Zusammenstellung der polnischen und deutschen Profile von ‚Vaterland‘

Ojczyzna/Vaterland 
PLDE
2020, H +73%2000, H +66%1993, H +66%2020, H +40%1994, H +12%
naród, narodowość, nacja 10,4 Polska 12,0 kraj 11,6 Heimat 11,2 Heimat 15,6
kraj (urodzenia, ojczysty, pochodzenia) 9,6 kraj 8,6 Polska 8,5 negative Perspektive 8,1 Deutschland 8,0
Polska, Polacy, rodacy 8,0 patriotyzm 8,3 naród 7,2 Deutschland 7,2 Patriotismus 6,3
państwo, terytorium, obywatele 5,0 państwo 8,0 dom 6,8 Nation, Nationalismus 4,3 Nation 5,5
dom 4,6 naród 6,1 państwo 5,0 Gemeinschaft, Zusammenhalt, Zugehörigkeit, Einheit 4,2 Mutterland 3,0
honor 3,9 dom 5,2 patriotyzm 5,0 Tradition 3,9 Tradition 3,0
tradycja, historia, kultura 3,4 ziemia 2,8 miejsce 2,3 Familie 3,5 Sprache 2,5
flaga, godło, hymn, orzeł, sztandar 3,3 honor 2,4 miłość 2,3 Geburtsland, Geburtsort 2,8 Krieg 2,5
miejsce urodzenia, pochodzenia, zamieszkania 3,3 rodzina 2,4 rodzina 2,2 Stolz 2,7 Geburtsland 2,1
ludzie, lud, ludność, ludzkość 3,1 miejsce urodzenia 2,2 wspólnota 2,2 Zuhause 2,1
wspólnota, wspólne x (dobro, współistnienie…) 2,6 tradycja 1,8 ziemia 2,0 Herkunft, Abstammung, Identität 2,0
miłość 2,5 wspólnota 1,8 język 1,4 Sicherheit 1,7
patriotyzm, patriota 2,3 miłość 1,5     Krieg, 2. Weltkrieg, AfD, 3. Reich 1,5
rodzina, rodzice 2,2 ziemia i groby, z. ojców 1,5     Land 1,5
Bóg, wiara 1,8 historia 1,2     Kultur, Geschichte 1,3
ziemia (ojców, rodzinna, ojczysta) 1,7 kultura 1,2     Liebe 1,3
walka, obrona, wojna, wojsko 1,4 matka 1,2     Sprache, Muttersprache 1,1
macierz, ojcowizna, ojczyzna, mała ojczyzna 1,4
mój kraj, moje (miejsce, dom, ziemia) 1,3
duma 1,2
społeczeństwo 0,9
język 0,8
instytucje/osoby: prezydent, Sejm, Jarosław Kaczyński, Józef Piłsudski, Lech Kaczyński, Radio Maryja 0,7

 Tabelle 7. Das semantische Profil von ‚rodina/родина‘ (Vaterland)

rodina   
1996, H +74%1996, H +74%
Rossija / Russland 9,0 narod / Nation 2,6
dom / Haus 6,9 strana / Land 2,4
roditeli/rodnoj.. / Eltern 5,8 gordost’ / Stolz 1,8
ljubov’ / Liebe 5,5 priroda / Natur 1,8
patriotizm / Patriotismus 4,0 nostal’gija 1,6
mesto roždenija / Geburtsort 3,4 otečestvo / Vaterland 1,3
druz’ja / Freunde 2,9 SSSR / UdSSR 1,3
mat’ / Mutter 2,9 svoboda / Freiheit 1,3
sem’ja / Familie 2,9    

 Vaterland‘ ist eines der zentralen und sehr ähnlich semantisierten Kollektivsymbole im polnischen und russischen Interdiskurs, dessen Wertung in Polen mit der Zeit anwächst; in Deutschland ebenfalls, jedoch liegt der Ausgangspunkt dort deutlich niedriger (+12). Die Semantik hingegen ist sehr unterschiedlich. In Polen wird ‚Vaterland‘ durch ‚Nation, Land, Polen, Patriotismus‘, in Russland durch ‚Russland, Haus, Eltern/elterliches x, Liebe‘ und in Deutschland durch ‚Heimat, Deutschland‘ sowie (in 2020) eine breit ausgebaute negative Dimension definiert. Die Andersartigkeit und Unterschiedlichkeit der hier besprochenen Bezugsgrößen und ihrer Rolle(n) im System wird auch sichtbar, wenn man die Position von ‚Nation‘ in allen Profilen betrachtet: In Russland macht sie 2,6 % der Antworten aus, in Deutschland 5,5 % und in Polen 10,4 %. Im Hinblick auf ‚Haus‘ dagegen sehen wir wieder eine deutliche Ähnlichkeit zwischen dem polnischen und russischen Interdiskurs, im deutschen Profil taucht das Wort nicht auf (außer in der Form ‚Zuhause‘), der – möglicherweise haupt(ur)sächliche – Grund dafür ist in diesem Fall jedoch selbstverständlich die hier aufscheinende unterschiedliche Ausrichtung der Semantik von ‚Haus‘ (Wohnung, Gebäude) im Deutschen sowie ‚dom‘ (→ Dom; Haus, jedoch auch – Zuhause) im Polnischen, was auch im Profil deutlich sichtbar wird. Die Funktion des, nennen wir das, polnischen und russischen ‚Hauses‘ scheint in der Semantik des deutschen Profils weitgehend das Wort ‚Heimat‘ zu übernehmen. Interessant ist auch die Ausprägung der Dimension ‚Sprache‘ als definierendes Element von ‚Vaterland‘: in Polen 1,4 % im Jahr 1993 und 0,8 % im Jahr 2020; in Deutschland – 2,5 % sowie heute 1,1 % der Antworten. In Russland dagegen ist ‚Sprache‘ überhaupt kein Bestandteil von ‚Vaterland‘, was in einem Vielvölkerstaat selbstverständlich selbstverständlich ist. Wir sehen auch, dass die Bedeutung von ‚Sprache‘ tendenziell zurückgeht.

Wollten wir die Ergebnisse zu den beiden hier analysierten Kollektivsymbolen in ein paar Sätzen zusammenfassen, könnte man sagen, dass – von der Kommunikationsebene aus betrachtet – ‚Heimat‘ und ‚Vaterland‘ Synonyme darstellen, zwar möglicherweise keine lexikalischen oder linguistischen, jedoch kommunikative, das heißt solche, die – je nach Kommunikationssituation und -teilnehmer – diskurstaktisch entsprechende Operationen ermöglichen. Der Unterschied zwischen beiden Symbolen besteht (auf dieser Ebene) in der nationalen oder national orientierten Dimension von ‚Vaterland‘. Befindet man sich also in einem Kommunikationsumfeld, in dem es eher kontraproduktiv ist, sich als Nationalist zu geben, reicht es aus, das Symbol ‚Heimat‘ (statt ‚Vaterland‘) zu benutzen, um, sozusagen, nicht aufzufallen. Und umgekehrt – ist man unter die ReichsbürgerInnen geraten, ist ‚Vaterland‘ angesagt.

Ebenso interessant ist die sich abzeichnende Diskrepanz zwischen der lexikalischen Definition oder auch medial vermittelten Auffassungen über die Semantik beider Kollektivsymbole und dem, was man durch die Befragung der KommunikationsteilnehmerInnen selbst in Erfahrung bringen kann. Das Lexikon und die Medien dienen der Aushandlung und Stabilisierung von Semantiken, das, was wir hier aufdecken konnten, ist das Resultat dieser Operationen wie auch potentieller Ausgangspunkt für ihr weiteres Ablaufen.

 

Literatur:

Fleischer, Michael: ‚Svoboda‘, ‚Wolność‘, ‚Freiheit‘. Die kulturelle Bedeutung von Kollektivsymbolen (ein inter- und subkultureller Vergleich), in: Weltbildgesteuerte Wirklichkeitskonstruktion, Bd. 2 (Beiträge zum Phänomen Weltbild), hg. Michael Fleischer, München 1997b.

Fleischer, Michael: Allgemeine Kommunikationstheorie, Oberhausen 2006.

Fleischer, Michael: Das System der deutschen Kollektivsymbolik, Bochum 1996.

Fleischer, Michael: Das System der polnischen Kollektivsymbolik, München 1995.

Fleischer, Michael: Das System der russischen Kollektivsymbolik, München 1997.

Fleischer, Michael; Siemes, Annette; Grech Michał: Stabilność polskiej i niemieckiej symboliki kolektywnej, Kraków 2021 [dt.: Die Stabilität der deutschen und polnischen Kollektivsymbolik. München 2021].

Język, wartości, polityka. Zmiany rozumienia nazw wartości w okresie transformacji ustrojowej w Polsce. Raport z badań empirycznych, hg. von Jerzy Bartmiński, Lublin 2006.

Link, Jürgen: kollektivsymbolik und mediendiskurse, in: kultuRRevolution (1982), Nr. 1.

Link, Jürgen: Versuch eines „Konvertibilitäts“-Schemas zur Terminologie von Michael Fleischer, in: kultuRRevolution (1999), Nr. 38/39, S. 106–107.

Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1996.

Siemes, Annette: Dom i urlop – dwa współzależne koncepty?, in: badanie i projektowanie komunikacji 2, hg. von Michał Grech, Annette Siemes, Wrocław/Kraków 2013b, S. 211–225.

Siemes, Annette: Kategoria normalności w komunikacji – na przykładzie konstruktu rodziny, in: Teorie komunikacji i mediów 6, hg. von Marek Graszewicz, Wrocław 2013a, S. 153–162.

Siemes, Annette: Miłość, dom, bezpieczeństwo. Mama, tata, dziecko. Raz – dwa – trzy – gotowe. Co?, in: Strategie twórcze w działaniu, hg. von Grażyna Habrajska & Joanna Ślósarska, Łódź 2016, S. 24–63.

Siemes, Annette: Normalność z perspektywy obserwatora – diagnoza, Łódź 2015.

Siemes, Annette: Voll normal. Die Untersuchung (der Aushandlung) von Normalitätsbereichen in der Kommunikation, in: Symbolic Communication Strategies, hg. von Grażyna Habrajska, Łódź 2014, S. 38–64.

Tüschau 16: Die subkulturellen Symbole der Punks. Eine empirische Untersuchung, Oberhausen 1998.

 

Fleischer, Michael, em. Prof. Dr. habil., verfasste zusammen mit Annette Siemes den Beitrag „Heimat, Vaterland – zwei Konzepte und Kollektivsymbole“. Er ist Professor an der Universität Wrocław und arbeitet in den Bereichen Kommunikationswissenschaft, Communication Design und Systemtheorie.

Siemes, Annette, Dr. habil., verfasste den Beitrag „Umweltschutz/ochrona środowiska – eine Kategorie in der deutsch-polnischen Kommunikation“ und zusammen mit Michael Fleischer den Beitrag „Heimat, Vaterland – zwei Konzepte und Kollektivsymbole“. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Wrocław und arbeitet in den Bereichen Kommunikationsforschung, Normalität und Normalisierungsprozeduren in der Kommunikation sowie Transformation Design.

 

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