Lars Jockheck

Flucht und Vertreibung in deutschen Kino - und Fernsehspielfilmen



In einer Zeit, in der erneut Millionen Menschen vor einem Krieg im Osten Europas nach Westen, besonders nach Polen und Deutschland, fliehen müssen, liegt es auf der Hand, dass das Thema „Flucht und → Vertreibung , die Zwangsmigration Millionen Deutscher am Ende und in Folge des Zweiten Weltkrieges (Das Begriffspaar „Flucht und Vertreibung“ hat sich als Bezeichnung für die Zwangsmigration von mehr als 12 Millionen Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges und in den ersten Nachkriegsjahren etabliert, obschon bei genauerer Betrachtung die meisten dieser Menschen ihre Heimat nicht durch Flucht oder Vertreibung, sondern durch Massenausweisungen verloren haben, zu der Debatte um das Begriffspaar vgl. Stephan Scholz, Flucht und Vertreibung – Interpretationen, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2020 (omelexikon.uni-oldenburg.de/p49725, Stand 07.12.2020),nach wie vor aktuell ist. Es verwundert nicht, dass das Thema „Flucht und Vertreibung“ auch im Film und hier be­sonders im fiktionalen Film noch immer präsent ist und auf anhaltendes Interesse trifft (Tiews 2016, S. 92). Aber auch darüber hinaus gilt: „Erinnerung hat Konjunktur – auch und gerade im Film“. Fiktionale Kino- und Fernsehspielfilme sind seit dem Zweiten Weltkrieg zu den „Leitmedien“ der deutschen Erinnerungskulturen aufgestiegen, und die deutsche Ge­schichte im Umfeld des Zweiten Weltkrieges ist für sie „ein privilegierter Gegenstand“ (Erll, Wodianka 2008, S. 1ff). 

Die erinnerungskulturelle Funktion dieser Kino- und Fernsehspielfilme besteht vor allem darin, die populärste, weil leicht zugängliche Quelle historischer Informationen für ein breites Publikum darzustellen. Für die Forschung repräsentieren diese Filme jedoch das Geschichtsbild ihrer jeweiligen Entstehungszeit (Röger 2015, S. 126). Denn eines darf nie aus den Augen ver­loren werden: „Der Erinnerungsfilm ist ein dem Hier und Jetzt verpflichtetes Medium“ (Erll, Wodianka 2008, S. 4).

Die Erinnerung an „Flucht und Vertreibung“ war dabei im deutschen Kino und Fern­sehen trotz gegenteiliger Behauptungen zwar nie ein Tabuthema (Tiews 2017, S. 13f. Allerdings wurde die Behauptung, es habe sich lange Zeit um ein Tabuthema gehandelt, so kaum je in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung aufgestellt; es handelt sich vielmehr um eine publizistische These), aber auch wenn viele Filme dieses Thema berühren, so ist die Zahl der Filme überschaubar, in denen es den Dreh- und Angelpunkt der Handlung bildet. Stellt man in Rechnung, dass jahrzehnte­lang Millionen Menschen in beiden deutschen Staaten vom Thema „Flucht und Vertrei­bung“ direkt betroffen waren(So weist Sowade 2005, S. 129, darauf hin, dass 1950 Geflüchtete und Vertriebene etwa 16 % der westdeutschen Bevölkerung ausmachten), so kann man sogar behaupten, das Thema sei im deut­schen Spielfilm eher schwach vertreten (Gwóźdź 2021, S. 260). In den meisten Filmen, die das Thema „Flucht und Vertreibung“ behandeln, wird es allenfalls angerissen, betrifft Nebenfiguren oder bleibt Episode, steht jedenfalls nicht im Zentrum der Filmhandlung.

Heimatverlust als Schicksal: Westliche Besatzungszonen und frühe Bundesrepublik

Das Thema „Flucht und Vertreibung“ war unmittelbar nach dem Krieg allgegenwärtig; ungefähr die Hälfte der damals meistgesehenen westdeutschen „Trümmerfilme“ zeig­ten Flüchtlinge, allerdings nur in Nebenrollen (Röger 2015, S. 128). Als Hauptproblem der Geflüchteten erschienen die fehlende Anteilnahme und der mangelnde Respekt von Seiten der einhei­mischen Bevölkerung, oder wie es ein ehemaliger Breslauer Bürger im Film ohne Titel (1948) vorwurfsvoll formuliert: „Flüchtlinge sind Menschen zweiter Klasse“ (Gwóźdź 2021, S. 265ff., Zitat S. 267). Es ging somit zunächst und vordringlich um die „alltägliche Realität der Diskriminierung“ (Sowade 2005, S. 126).

Weitaus populärer und prägender als das problemorientierte Flüchtlingsbild der „Trüm­merfilme“ wurde in der jungen Bundesrepublik Anfang der 1950er Jahre das Bild, das die Heimatfilme vom Ankommen der geflüchteten Menschen in ihrer neuen Umgebung zeichneten. Hier stand die alle Probleme und Hindernisse überwindende Integration in der neuen Heimat im Vordergrund, während der Verlust der alten Heimat nur an­gedeutet wurde. Bilder von der eigentlichen Flucht oder gar Vertreibung blieben sogar weitestgehend ausgespart (Röger 2011b, S. 78). Als Genrefilme funktionieren die Heimatfilme nach einem immer gleichen Muster: Ein Liebespaar findet nach diversen Komplikationen und Missverständnissen in einem Happy End zusammen, wobei die Paare nicht selten aus einem einheimischen Mann und einer geflüchteten Frau bestehen (Tiews 2016, S. 94).

Auch im erfolgreichsten Vertreter dieses Genres überhaupt, Grün ist die Heide (1951), symbolisiert am Ende eine solche Heirat die Aufnahme der Flüchtlinge in ihrer neuen sozialen und räumlichen Umgebung, was besonders dank der jungen Generation ge­lingt (Röger 2015, S. 128). Der Vater der Braut, ein ehemaliger Gutsbesitzer aus Schlesien, hält hier als Vertreter der mit mehr Problemen behafteten älteren Generation eine bemerkenswerte Rede, bei der er mit Blick auf die Flüchtlinge sagt: „Ich weiß, wir sind ja manchmal auch nicht so gewesen, wie wir hätten sein sollen. Aber wir sind am härtesten gestraft“. So wurden Fragen nach den Ursachen von Flucht und Vertreibung verdrängt und gleich­zeitig ein besonderer Opferstatus der Geflüchteten behauptet (Sowade 2005, S. 127f). Flucht und Vertreibung erschienen als ein plötzlicher, unerwarteter und unverdienter Schicksalsschlag, der un­schuldige Opfer traf (Feistauer 2017, S. 410ff.; Steffen 2009, S. 160).

Eine „realitätsnahe Beschreibung“ der Erfahrung von Flucht und Vertreibung fehlte hier ebenso wie eine offene Ursachenforschung zu ihrer Vorgeschichte (Ast 2015, S. 291). Vielmehr er­folgte eine Entkonkretisierung der belastenden und potentiell konfliktreichen histori­schen Erfahrung (Röger 2011b, S, 77).

Wurden solche Konflikte im Heimatfilm überhaupt gezeigt, kamen die Filme weniger gut beim Publikum an. So hatte der Regisseur Wolfgang Schleif mit seinen Filmen Ännchen von Tharau (1954), und Preis der Nationen/Das Mädchen Marion (1956), in denen einige Szenen die feindselige Aufnahme der Flüchtlinge respektive die Flucht als solche zeigten, weniger Erfolg als mit seinem Kassenschlager Die Mädchen vom Immen­hof (1955), in dem die Fluchtgeschichte der Hauptfiguren nur kurz erwähnt, aber nicht gezeigt wurde (Röger 2015, S. 128; 135f).

Es ist deshalb kaum übertrieben, wenn Peter Stettner bilanziert: „Die beim Massenpu­blikum erfolgreichsten Flüchtlingsbilder waren jene, die am weitesten von der realen Situation entfernt waren“ (Stettner 2001, S. 168 f).

Allerdings konnten solche bloßen Andeutungen und Leerstellen in den Filmen durch das Publikum durchaus mit Inhalten aus eigenem Vorwissen gefüllt werden, waren doch in der jungen Bundesrepublik acht bis neun Millionen Flüchtlinge und Vertriebene präsent (Tiews 2016, S. 95. Vgl. Steffen 2009, S. 161).

Indem die Heimatfilme offensichtlich Schönfärberei betrieben, die sozialen, materiellen und emotionalen Probleme der Geflüchteten herunterspielten, entsprachen sie durchaus den Erwartungen des Publikums. Schließlich waren im Krieg auch viele Lebensläufe von Menschen zerstört worden, die nicht direkt vom Thema „Flucht und Vertreibung“ betroffen waren. Die Filme trafen einen Nerv, wenn sie Bilder von heilen Welten pro­duzierten und ein „eskapistisches Bedürfnis nach Unterhaltung“ bedienten (Tiews 2016, S. 97. Vgl. Steffen 2009, S. 165). Aber auch wenn sie Traumata verdeckten, waren die Heimatfilme im Grunde weniger eskapistisch als utopistisch, denn sie nahmen die erst noch zu leistende, in den Filmen aber bereits erfolgte Integration der Flüchtlinge vorweg, und sie prägten zugleich den Opferdiskurs sowie eine „passive Sentimentalität“ in Bezug auf die „alte Heimat“, die unwiederbring­lich verloren erschien und allenfalls in Form von Liedern und Trachten oder in überlie­ferten Handwerkstechniken weiterlebte (Feistauer 2017, S. 412). 

Laut Michaela Ast gelang dem Heimatfilm damit sogar „der filmisch-narrative Trans­fer der ‚alten Heimat‘ […] an einen neuen Ort“ und „der vollständige visuelle Ersatz der Flucht- und Vertreibungsregionen durch die Ankunftsregionen“ (Ast 2015, S. 293). Die durchgän­gige Idealisierung der neuen Heimat in diesen Filmen implizierte somit die Aufgabe einer Rückkehroption in die alte Heimat, obschon die Vorstellung einer möglichen Heimkehr der Geflüchteten in der bundesrepublikanischen Politik noch jahrzehnte­lang präsent sein sollte.

Eine wesentlich konfliktträchtigere, aber auch stärker der Realität angenäherte Darstel­lung des Themas „Flucht und Vertreibung“ bot Anfang der 1950er Jahren in der Bun­desrepublik nur der Dokumentarfilm Kreuzweg der Freiheit (1951), der dokumentarische Aufnahmen mit nachgespielten Szenen mischte, um damit, anknüpfend an die NS-Pro­paganda, eine antikommunistische Botschaft zu verfolgen. Die drastischste solcher nach­gestellten Szenen war die Vergewaltigung einer Mutter vor den Augen ihres Kindes (Röger 2015, S. 128).

Das Kriegs-Melodram Nacht fiel über Gotenhafen (1959) war der erste und lange Zeit einzige populäre westdeutsche Kinospielfilm, bei dem die Flucht 15 Jahre nach dem historischen Geschehen im Mittelpunkt stand (Gwóźdź 2021, S. 262). Der Regisseur Frank Wisbar, ein Remigrant mit einer ganz anderen Fluchterfahrung, obschon er selbst in Ostpreußen geboren war, legte in diesem Film, der auf journalistisch aufbereiteten Zeitzeugenbe­richten basierte, Originalaufnahmen einband und wie eine Dokumentation von einem sachlichen Off-Kommentar begleitet wurde, viel Wert auf eine realistische Darstellung des Fluchtgeschehens (Ennis 2011, S. 215). Die Bilder eines Flüchtlingstrecks verstärkte Wisbar durch die Verwendung originaler NS-Wochenschau-Aufnahmen, die ursprünglich der Durchhal­tepropaganda des Regimes gedient hatten (Tiews 2017, S. 150f. Vgl. Paul 2009, S. 668f).

Damit gelang es Wisbar, den Flüchtlingstreck und vor allem die Katastrophe des Un­tergangs der Wilhelm Gustloff mit tausenden Opfern unter den Flüchtlingen an Bord als Symbol für „Flucht und Vertreibung“ zu etablieren, „und zwar in einem solchen Ausmaß, dass die inszenierten Bilder der Katastrophe in den Rang ikonischer Zeitdo­kumente aufgestiegen sind, weite Teile der Katastrophen-Ikonographie besiedeln und zu einem Element des medialen Gedächtnisses wurden“. Zugleich zeigte Nacht fiel über Go­tenhafen das Kriegsende mit dem Geschehen von „Flucht und Vertreibung“ als „Stunde der Frauen“, wie es im Off-Kommentar des Filmes heißt. Die Frauen (und ihre Kinder) dominieren die Filmerzählung und Bilder. Sie sind ausschließlich als Opfer, nicht als Stützen der Heimatfront des verbrecherischen NS-Regimes präsent, sondern nur als die wahren Heldinnen am Ende des Krieges (Gwóźdź 2021, S. 280f. Zur Vorbildfunktion des Films vgl. Tuch, Tacke 2010, S. 229ff). Währenddessen erscheinen die beteiligten Männer zwielichtiger; ihre Beteiligung an Verbrechen wird zumindest angedeutet (Die passive Beteiligung von Offizieren der Kriegsmarine an der Verfolgung (nicht aber Ermordung) der Juden wird in einer Szene deutlich, und die Verwüstung Ostpreußens wird aus dem Off als „Quittung“ für die NS-Kriegsgräuel benannt; Ennis 2011, S. 218f).

„Umsiedlung“ als Chance zum Neubeginn: Sowjetische Besatzungszone und DDR

In der sowjetischen Besatzungszone und der DDR waren die Film- und Fernsehproduk­tion zwar von vornherein staatlich gelenkt und einseitig ideologisch geprägt, aber Filme als audiovisuelle Erzählungen blieben dennoch so vieldeutig, dass es sowohl einer Vor-, als auch einer Nachzensur bedurfte (Niven 2015, S. 140).

So konnte die zweite, teils dokumentarische Spielfilmproduktion in der sowjetischen Besatzungszone Freies Land (1946), die die Integration von Geflüchteten in einem bran­denburgischen Dorf behandelt, noch in einer langen Sequenz einen Flüchtlingstreck aus Ostpreußen zeigen, wobei Regisseur Milo Harbich neben inszenierten Szenen die glei­chen paradigmatischen NS-Wochenschau-Aufnahmen verwendete, wie später sein west­deutscher Kollege Frank Wisbar und viele andere westdeutsche Filmschaffende nach ihm (Niven 2015, S. 141ff). Doch eine vergleichbar empathische und realitätsnahe Form der Darstellung des Fluchtgeschehens kam nie wieder im Kino oder Fernsehen der sowjetischen Besatzungs­zone oder der DDR vor (Gwóźdź 2021, S. 269). Wobei betont werden muss, dass in der sowjetischen Besat­zungszone und der DDR ohnehin nicht von „Flucht und Vertreibung“, sondern bereits seit Herbst 1945 nur noch von „Umsiedlung“ die Rede war, da die Begriffe „Flucht“ (Vor wem?) und „Vertreibung“ (Durch wen?) die Gefahr bargen, ein schlechtes Licht auf die Sowjetunion und ihre Verbündeten zu werfen(Uta Bretschneider, Umsiedler (SBZ/DDR), in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2013 (ome-lexikon.uni-oldenburg.de/p32669, Stand 09.08.2021). Daher blieb in den Filmen meist unklar, auf welchem Wege die „Umsiedlung“ in die sowjetische Besatzungszone oder die DDR erfolgt war (Niven 2015, S. 142).

Schon drei Jahre nach Freies Land durfte Regisseur Arthur Pohl im „Trümmerfilm“ Die Brücke (1949) nicht mehr zeigen, wie Deutsche per Güterbahntransport, vermutlich aus Schlesien, nach Mitteldeutschland ausgesiedelt wurden, obschon dies im Drehbuch noch vorgesehen gewesen war ( Tiews 2017, S. 74ff). Im Film ist der Komplex von „Flucht und Vertreibung“ dennoch „die einzige und wichtigste Triebkraft des dramaturgischen Konflikts“, was ihn zu einem Solitär in der deutschen Kinematografie macht. Einzigartig ist etwa die Darstellung eines „Umsiedlungslagers“, in dem die Flüchtlinge wie Gefangene gehalten werden (und das zuvor, so wird angedeutet, tatsächlich ein Lager für Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen war). Die Konflikte zwischen den Einheimi­schen und den „UmsiedlerInnen“ bestimmen in einer ebenfalls einmaligen Dramatik und Intensität die weitere Handlung, die auf die Botschaft hinausläuft, dass die Neu­ankömmlinge und Einheimischen jetzt nach vorn schauen müssen, nicht zurück (Gwóźdź 2021, S. 270). Mit dieser Botschaft, nicht aber mit ihrer Bildsprache, gaben Die Brücke wie auch Freies Land als „Aufbau- und Integrationsfilme“ die Richtung für die weiteren DDR-Kino-und Fernsehspielfilmproduktionen zum Thema „Umsiedlung“ vor (Niven 2015, S. 141).

Ein öfter behandelter Aspekt dieses Themas war die Integration von durch den Verlust der Heimat entwurzelten Jugendlichen. In der Komödie Vergeßt mir meine Traudel nicht (1957) geht es etwa um eine Heranwachsende, die aus einem Erziehungsheim geflo­hen ist, in das sie als Waisenkind aus Niederschlesien gelangt war. Bei der Klärung ihrer Herkunft wird sogar der deutsche Name ihrer Geburtsstadt, Neusalz an der Oder (Nowa Sól), erwähnt, eine ziemlich einmalige Szene für die DDR, wo die Verwendung deutscher Bezeichnungen für Orte in den neuen polnischen Gebieten als eine Form von Revanchismus galt. Eher negativ gezeichnete Flüchtlinge aus Schlesien klären die Herkunft der jungen Frau, aus der sich antifaschistisch und antiwestlich lesbare An­knüpfungspunkte ergeben: Ihre Eltern wurden wegen einer verbotenen Beziehung – er Zwangsarbeiter, sie Deutsche – im KZ ermordet und das Mädchen selbst ging beim Bombardement Dresdens durch Briten und Amerikaner auf der Flucht verloren. Zum Happy End kann Traudel nun guten Gewissens von einem Volkspolizisten auf den rech­ten Pfad (und in die Ehe) geführt werden (Gwóźdź 2021, S. 282. Weitere Beispiele von DDR-Spielfilmen aus den 1970er und 1980er Jahren, in denen geflüchtete, rebellierende Kinder von den Staats- und Parteiorganen zur Einsicht gebracht werden, nennt Niven 2015, S. 147f).

Diese Botschaft von der Flucht oder „Umsiedlung“ als einer „nur scheinbar negativen Erfahrung, die sich dann doch ins Positive kehrt,“ fand sich nicht nur in den Jugendfil­men, sondern in fast allen einschlägigen DDR-Filmproduktionen (Niven 2015, S. 143). Besonders promi­nent und wirkungsmächtig zeigte sie sich in Fernsehserien, vor allem in Wege übers Land (1968), einer Serie mit einer Einschaltquote von über 50 %, das heißt etwa fünf Milli­onen Menschen in der DDR schauten bereits bei der Erstausstrahlung zu (Tiews 2014, S. 62). Im dritten Teil der Serie dehnte sich eine Fluchtsequenz mehr als 20 Minuten lang aus, was damals „ohne Parallele im ost- und westdeutschen Fernsehen“ war. (Niven 2015, S. 142). Allerdings finden sich auch hier wieder bemerkenswerte Kunstgriffe, die das gezeigte historische Geschehen zwar untypisch, aber für erwünschte Deutungen anschlussfähig erscheinen lassen. Hier ist eine Mutter mit zwei Kindern auf einer lebensgefährlichen Flucht durch eine winterliche Landschaft, aber sie stammt gar nicht aus dem damaligen Ostdeutschland, sondern aus Mecklenburg, und ist erst während des Krieges auf einen Hof im annektierten „Warthe­gau“ gezogen, von dem die polnischen Besitzer verschleppt wurden. Ihre Flucht ist also in Wirklichkeit eine Heimkehr, was nicht den Erfahrungen der allermeisten deutschen Flüchtlinge aus dem Osten entsprach, die ins Ungewisse zogen (Gwóźdź 2021, S. 265). Die Flüchtende be­greift: „Ich bin nicht gut gewesen!“ So soll dem Publikum vermittelt werden, dass der Verlust der ostdeutschen Heimat die Folge der deutschen Kriegsverbrechen ist. Zugleich aber wird die Flucht als eine existenzielle Erfahrung durchaus einfühlsam gezeigt. Und dank ihres Lernprozesses kann sich im weiteren Verlauf der Handlung die Heimkeh­rerin in eine „sozialistische Musterbäuerin“ verwandeln (Niven 2015, S. 148ff. Ähnlich Tiews 2014, S. 75ff). Die Serie Wege übers Land entwickelte sich in der Folgezeit zu einem regelrechten Klassiker des DDR-Fernsehens mit mehrfachen Wiederholungen sowie zwei Quasi-Fortsetzungen, den Serien Daniel Druskat (1976) und Märkische Chronik (1983), mit ähnlicher Handlung, Tendenz und ebenfalls großem Publikumserfolg (Vgl. Tiews 2017, S. 184ff. (Wege übers Land); S. 211ff. (Daniel Druskat); S. 297ff. (MärkischeChronik).

Die „UmsiedlerInnen“ wurden somit in den typischen DDR-Kino- wie Fernsehspiel­filmen als „eine aufbau- und integrationswillige Menschengruppe“ dargestellt (Röger 2011b, S. 73). Die „umgesiedelten“ Filmcharaktere waren hauptsächlich kleine Leute mit landwirtschaftli­chen oder handwerklichen Berufen oder entwurzelte Jugendliche, während in typischen bundesrepublikanischen Filmproduktionen auffällig viele der dargestellten Opfer von „Flucht und Vertreibung“ einen großagrarischen oder gar adeligen Hintergrund hatten und einen sozialen Abstieg erfuhren(Feistauer 2017, S. 405; Steffen 2009, S. 160). Dagegen bemühten sich die dargestellten „Um­siedlerInnen“ um ihren sozialen Aufstieg, für den, so stellten es die DDR-Produktionen dar, die Neuordnung von Staat und Gesellschaft die besten Voraussetzungen bot. Und damit konnten sich, wie Katrin Steffen treffend bemerkt, „am Ende alle Integrationspro­bleme im sozialistischen Wohlgefallen auflösen“ (Steffen 2009, S. 157).

„Flucht und Vertreibung“ als traumatische Erfahrung: West- und gesamtdeutsche Historien- und Erinnerungsfilme seit Ende der 1970er Jahre

In der Bundesrepublik nahmen sich das fiktionale Kino und Fernsehen erst im Laufe der 1970er Jahre vor dem Hintergrund der „Neuen Ostpolitik“ und der Annäherung an die DDR und die VR Polen wieder verstärkt des Themas „Flucht und Vertreibung“ an, dass sich nunmehr „in das Feld der Filme über Zeitgeschichte, das Feld der Historienfilme“ verschoben hatte. Als besonders erfolgreich erwiesen sich Fernseh-Mehrteiler, die Zeit­geschichte in Form der Erinnerung betroffener Familien erzählte, wobei sie populäre literarische Vorlagen aufgriffen (Tiews 2017, S. 232ff). Wie es für Historienfilme typisch ist, inszenierten sie Bilder der Vergangenheit mit Kostümen und Requisiten in einer als zeittypisch emp­fundene Weise, im Rückgriff auf bereits in das deutsche Bildgedächtnis eingeschriebene Ikonen, wie die Bilder von Frauen und Kindern auf winterlichen Fluchtwegen – ein nicht nur in Filmen über „Flucht und Vertreibung“ sehr präsentes Symbol für Flüchten­de als unschuldige Opfer (Röger 2011a, S. 275ff. Vgl. Scholz 2010, S. 165ff. mit Beispielen für bildende Kunst und Fotografie; Fendl 2010, S. 45ff. mit weiteren Beispielen, u. a. für Briefmarken. Vgl. zu diesem Beitrag auch Abbildung 1).

Die bekanntesten Beispiele hierfür sind die ARD-Vorabendserien Jauche und Levkojen und Nirgendwo ist Poenichen (1978/79) nach einer Romanreihe von Christine Brückner sowie der im Abendprogramm ausgestrahlte ZDF-Dreiteiler Jokehnen – oder wie lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland? (1987), die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Arno Surminski. Beide Serien beziehen sich auf fiktive Orte in Hinterpom­mern (Poenichen) respektive Ostpreußen (Jokehnen) und sind aus der Sicht von Personen erzählt, die „Flucht und Vertreibung“ als junge Mutter bzw. Jugendlicher erleben. Sie waren große Erfolge, die bei der Erstausstrahlung ein Viertel bis knapp ein Drittel des bundesdeutschen Fernsehpublikums erreichten (Die Sehbeteiligung bei Poenichen erreichte im Vormittagsprogramm 14 bis 23 % und bei Jokehnenca. 30 % im Abendprogramm; Tiews 20015, S. 99).

Die erste Staffel der Poenichen-Serie endet mit „Flucht und Vertreibung“ als Genre-typischem dramatischen Cliffhanger; die Hauptfigur flieht als junge Mutter mit ihren Kindern und einem Handwagen aus Hinterpommern. Gegen Ende der zweiten Staf­fel, deren Handlung bis in die Gegenwart der 1970er Jahre reicht, werden diese iko­nischen Flucht-Bilder noch einmal als Rückblenden gezeigt, um deutlich zu machen, wie einschneidend das Erlebnis war und wie sehr es den unsteten weiteren Lebensweg der Hauptfigur bestimmt hat (Tiews 2017, S. 255f). Dennoch werden die Ursachen von „Flucht und Ver­treibung“ in der Poenichen-Serie nur angedeutet. Erst in der allerletzten Folge der Serie reist die Hauptfigur, inzwischen eine reife Frau, in ihre frühere Heimat, trifft auf dort lebende Menschen, die ihrerseits aus dem früheren Ostpolen „vertrieben“ wurden ( Dabei werden die Unterschiede zwischen deutscher und polnischer Zwangsmigration zugunsten einer „Versöhnungsbotschaft“ ausgeblendet, ein Verfahren, dass in deutschen Spiel- und Doku-mentarfilmen später noch öfter auftaucht, vgl. Ast 2015, S. 300ff), und wird, als sie sich unwissend zeigt, schließlich von einem Polen ihres Alters mit den deutschen Verbrechen konfrontiert: „Hitler hat uns sechs Millionen Menschen gekostet. Sechs Millionen tote Polen“ (Tiews 2017, S. 240ff).

Die Serie endet so als die Geschichte einer vergeblichen Suche nach der verlorenen Heimat, die für die Hauptfigur vor allem in Flashbacks ihrer traumatischen Erleb­nisse noch immer präsent ist. Erst am Ende muss sie (und mit ihr das Publikum) einsehen, dass ihre erinnerte deutsche Heimat durch eigene Schuld unwiederbringlich und zurecht einer gegenwärtigen polnischen Heimat Platz machen musste. Über die Gesamterzählung der Serie hinweg überwiegt dennoch ganz entschieden das typische deutsche Opfernarrativ (Tiews 2017, S. 235ff).

Ähnlich verhält es sich in der Serie Jokehnen, auch wenn hier die erzählte Geschichte einer ostpreußischen Familie mit dem dramatischen Höhepunkt von „Flucht und Ver­treibung“ im dritten und letzten Teil endet. Unmittelbar bevor seine Familie sich dem Flüchtlingstreck anschließt, betritt der Vater (und Bürgermeister) ein letztes Mal sein Amtszimmer und betrachtet die dort hängenden Porträts von Hindenburg und Hitler. Dem Hindenburg-Bild prostet er zu und sagt: „Generalfeldmarschall, dich bräuchten wir jetzt!“ Für das Hitler-Bild hat er dagegen nur verächtliche Worte übrig: „Und du, Adolf, du hast mich angeschissen. Die ganze Zeit über angeschissen!“ (Jokehnen, Teil 3, Min. 21f., Erstausstrahlung: ZDF 23.06.1987). Die Dorfbe­völkerung mit dem Bürgermeister an der Spitze erscheint also auch hier letztendlich wieder als Opfer, da sie in ihrer politischen Naivität darauf vertraut hat, Hitler werde als Nachfolger Hindenburgs, vermeintlicher „Retter Ostpreußens“ im Ersten Weltkrieg, ihre Heimat beschützen (Vgl. Andreas Kossert, Ostpreußens Untergang, in: Die Zeit, 28.02.2008).

In der Serie Jokehnen gibt es im Übrigen eine der wenigen filmischen Darstellungen der Aussiedlung von Deutschen aus den neuen polnischen Gebieten. Nachdem die Bewoh­ner des Dorfes ihre Flucht abbrechen mussten, weil die vorrückende Rote Armee ihren Treck gestoppt hatte, und ins Dorf zurückgekehrt sind, wird etwa 40 Minuten lang die sowjetische Okkupationsherrschaft über den Ort geschildert (Jokehnen, Teil 3, Min. 30ff., Erstausstrahlung: ZDF 23.06.1987). Einerseits wird die Verschleppung von Männern und Frauen in die Sowjetunion thematisiert, andererseits die sich anbahnende Freundschaft zwischen der jugendlichen Hauptfigur und einem nur wenig älteren sowjetischen Soldaten gezeigt. Das Verdecken des bereits russifizierten Dorfnamens auf der Ortstafel durch eine polonisierte Version symbolisiert schließlich den Übergang zur polnischen Herrschaft. In einer nur wenige Minuten langen Sequenz verliest ein älterer polnischer Offizier zunächst auf Polnisch den Befehl zur Aussiedlung der verbliebenen deutschen Familien. Als einige Frauen gegen den Befehl protestieren, lässt der Offizier den ihn begleitenden sowjetischen Soldaten eine Salve Warnschüsse abgeben, um dann in klarem, hartem Deutsch unmissverständlich klar zu machen: „Ich wiederhole! In zwei Stunden haben alle Deutschen Jokehnen zu verlassen. In Drengfurt steht ein Zug bereit. Nur soviel Gepäck ist erlaubt, wie jeder tragen kann“. Während die Dorfleute in ihrer Rolle als hilflose Opfer wenigstens bei ein paar der sowjetischen Soldaten auf menschliches Verständnis stoßen und sogar die Möglichkeit einer Freund­schaft anklingt, erscheint dies bei dem kurz angebundenen Polen nicht möglich (Jokehnen, Teil 3, Min. 76ff., Erstausstrahlung: ZDF 23.06.1987).

Die Gewalt im Zuge von „Flucht und Vertreibung“ wird in der Serie Jokehnen aller­dings nur in einer vergleichsweise entschärften Form angedeutet. Anders als noch weni­ge Jahre zuvor in Poenichen, wo die Hauptfigur auf der Flucht von einem sowjetischen Soldaten vergewaltigt wird, greift in Jokehnen in einer ähnlichen Szene ein Offizier ein und verhindert das Verbrechen – weil „man dem Osten nicht zu nahe treten wollte“, wie der Autor der literarischen Vorlage argwöhnte (Sascha Borck, „Ich hatte nur das, was ich auf dem Leibe trug.“ Im Gespräch mit Arno Surminski oder Eine Reise nach Osten, in: VdK-Zeitung, hg. vom Sozialverband VdK Hamburg, 2019 ( VdK-Zeitung - Die VdK-Zeitung erscheint zehn Mal im Jahr kostenlos für alle VdK-Mitglieder., Stand 29.05.2023). Unmittelbar vor dem Abspann erzählt dann doch noch eine Stimme aus dem Off, wer von den Filmcharakteren in sowjetischen Lagern starb, erschossen oder „zu Tode vergewaltigt“ wurde. Ohne wei­tere Erklärung und wie selbstverständlich wird dabei die Filmfigur des „in Ausschwitz vergast[en]“ jüdischen Stoffhändlers unter die deutschen Opfer eingereiht (Jokehnen, Teil 3, Min. 87ff., Erstausstrahlung: ZDF 23.06.1987. Vgl. Tiews 2016, S. 99f.).

„Mit voller Wucht“ entfaltete sich das Thema „Flucht und Vertreibung“ im deutschen Fernsehen ohnehin erst nach Wiedervereinigung und Jahrtausendwende (Gwóźdź 2021, S. 261). In den 1990er und frühen 2000er Jahren hatten aufwändige Fernseh-Dokumentationen hier­für den Weg bereitet und einen regelrechten „Erinnerungsboom“ ausgelöst (Röger 2011a, S. 79ff. Vgl Ebbrecht 2004, S. 3ff.).

Zwei quotenstarke Großproduktionen griffen schließlich Zeitzeugenberichte zum The­ma „Flucht und Vertreibung“ auf, um sie zur Grundlage fiktionaler Fernsehspielfilme zu machen. Die Zweiteiler Die Flucht (ARD, 2007) und Die Gustloff (ZDF, 2008) mar­kieren den vorläufigen Höhepunkt der Erinnerung an „Flucht und Vertreibung“, in­dem sie das Fluchtgeschehen ganz und gar in den Mittelpunkt der Handlung stellten. Dazu wählten sie die neue Form des sogenannten „Dokudramas“. Dieses „Hybridfor­mat“ beansprucht einerseits Authentizität, andererseits soll das Fernsehpublikum auch spannend unterhalten werden, um die Werke erfolgreich auf einem umkämpften Markt platzieren zu können (Tiews 2016, S. 101f.).

Kennzeichen beider „Dokudramen“ ist die detailverliebte Re-Inszenierung der aus früheren Filmen bereits bekannten Schlüsselbilder der Flucht im Treck respektive im Schiff über die Ostsee, was dank Millionenbudgets mithilfe der damals modernsten filmtechnischen Mittel auch gelang. Die hohen Einschaltquoten und das starke Me­dienecho taten ein übriges, um diese zentralen Motive von „Flucht und Vertreibung“ zu re-etablieren (Röger 2011a, S. 261ff. (Die Flucht). Vgl. ebd, S. 248ff. (Die Gustloff ). Ein neues Motiv war hier allenfalls die Liebesgeschichte der deutschen Hauptfigur mit einem französischen Kriegsgefangenen in Die Flucht, wodurch die deut­schen Opfer nun „sogar in eine internationale Opfergemeinschaft der Kriegsgegner ein­gereiht“ wurden (Röger 2015, S. 135). Und da in Die Flucht in einer quasi-religiösen Argumentation auch noch behauptet wurde, die deutsche Schuld sei „im Osten bezahlt“ worden, stand einem Happy End mit erfolgreichem persönlichem und nationalem Neuanfang im Westen nichts mehr Wege (Heuer 2012, S. 265ff. Ähnlich bereits Tuch, Tacke 2010, S. 237ff.).

Dass ein solcher Neuanfang nicht reibungslos verlaufen, Narben hinterlassen und sogar neue Opfer fordern konnte, zeigte Altes Land (2020), die jüngste, ebenfalls recht er­folgreiche einschlägige Großproduktion des ZDF (Der Film erreichte am 15.11.2020 mit der ersten von zwei Folgen einen Marktanteil von knapp 15 % und damit ein Publikum von mehr als fünf Millionen, verlor aber das „Quotenrennen“ gegen eine gleichzeitig in der ARD ausgestrahlte neue Tatort-Folge; Alexander Krei, Guter Auftakt für Altes Land, aber kaum jüngere Zuschauer, in: DWDL.de vom 16.11.2020 (Guter Auftakt für "Altes Land", aber kaum jüngere Zuschauer - DWDL.de), 29.05.2023). In der zweiteiligen Verfilmung des gleichnamigen Romans von Dörte Hansen ist das Thema „Flucht und Vertreibung“ im Hintergrund stets präsent. Es spielt besonders im ersten Teil eine entscheidende Rolle für die hauptsächlich Anfang der 2000er Jahre angesiedelte Erzählung. Hier trifft im Alten Land bei Hamburg das ehemalige ostpreußische Flüchtlingskind Vera, inzwi­schen eine verbitterte alte Frau, auf ihre Halbnichte Anne, die aus der Großstadt vor ihren gescheiterten Lebensträumen davongelaufen ist. Die verzweifelte Anne hofft mit ihrem kleinen Sohn bei der allein auf einem großen Hof lebenden Tante unterkom­men zu können, wird von dieser aber zunächst schroff abgewiesen. Immer wieder in die Erzählung eingestreute Rückblenden scheinen zunächst in ihrer Klischeehaftigkeit Filmen der 1950er Jahre entsprungen zu sein: Vera ist als Fünfjährige mit ihrer adeligen Mutter zu Fuß aus Ostpreußen geflohen, die beiden Flüchtlinge werden dem Hof im Alten Land zugewiesen, wo die Mutter den Hoferben heiratet. Doch anders als in den Heimatfilmen endet die Fluchtgeschichte nicht mit einer geglückten Integration. Die Schwiegermutter lehnt die neue Frau auf dem Hof ab und nimmt sich das Leben; Veras Mutter brennt später mit einer besseren Partie durch. Vera dagegen klammert sich an ihren kriegstraumatisierten Stiefvater und an den Hof, allein kümmert sie sich um alles. Dabei legt sie sich eine raue Schale zu, bleibt ehe- und kinderlos, auch weil sie sich an ihren auf der Flucht von der Mutter am Straßenrand zurückgelassenen kleinen Bruder erinnern muss.

Auf den ersten Blick mag die Inszenierung der Flucht wie „das typische angekitschte ZDF-Vertriebenendrama“ erscheinen, [Wolfgang Tischer, TV-Verfilmung von Altes Land: Abgewürgt im Feldwegmonolog, in: Literaturcafe.de vom 16.11.2020, ( Seite nicht vorhanden – literaturcafe.de ), 29.05.2023] zumal ihre Bildsprache das für die Darstellung von „Flucht und Vertreibung“ ikonische Mutter-Kind-Motiv aufnimmt (Siehe die Abb. zu diesem Beitrag. Zur Bedeutung dieses Motivs s. o. Anm. 50). Doch die un­mittelbaren Wechsel von Vergangenheit und filmischer Gegenwart, die ständigen Zeit­sprünge zwischen historischen und familiären Traumata, sind ein neues Element und lassen die Frauenfiguren des Films nicht länger als sympathische, hilflose und unschul­dige Flucht-Opfer erscheinen. Verglichen mit dem wenige Jahre zuvor vom gleichen Sender produzierten Historiendrama Die Flucht ist Altes Land jedenfalls auch inhaltlich „modernes Fernsehen“ und weist vielleicht den Weg zu einem stärker reflektierten fil­mischen Umgang mit dem nach wie vor aktuellen Thema „Flucht und Vertreibung“ [Katharina Riehl, Die sind nicht lieb, in: Sueddeutsche.de vom 13.11.2020 ( Aktuelle Nachrichten und Kommentare - SZ.de (sueddeutsche.de) )1.5114366), 29.05.2023].

Literatur:

Ast, Michaela S.: Darstellung von Flucht und Vertreibung im bundesdeutschen Spielfilm der 1950er Jahre und heute. Eine Kontextualisierung verschiedener Charakteristika unter Beach­tung des deutsch-polnischen Verhältnisses, in: Unterwegs zum Nachbarn. Deutsch-polnische Filmbegegnungen, hg. von Brigitte Braun, Andrzej Dębski und Andrzej Gwóźdź, Trier 2015.

Ebbrecht, Tobias: „Wir hatten eine Heimat, und die Heimat starb“. Johannes Häußler und die Kontinuitäten im politischen Dokumentarfilm vor und nach 1945, in: Filmblatt (2007), Nr. 34.

Ebbrecht, Tobias: Die große Zerstreuung. Heimat-TV im deutschen Geschichtsfernsehen. Eini­ge kritische Anmerkungen zur Darstellung von „Flucht und Vertreibung“ in deutschen und österreichischen Film- und Fernsehproduktionen, in: DTN. Deutsch-Tschechische Nachrich­ten, Dossier (2004), Nr. 5.

Ennis, Michael: Opfer und Täter in den Gustloff-Filmen von Frank Wisbar, in: Die Wilhelm Gustloff. Geschichte und Erinnerung eines Untergangs, hg. von Bill Niven, Halle (Saale) 2011.

Erll, Astrid; Wodianka, Stephanie: Einleitung. Phänomenologie und Methodologie des „Erinne­rungsfilms“, in: Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen, hg. von Astrid Erll und Stephanie Wodianka, Berlin 2008.

Feistauer, Verena: Eine neue Heimat im Kino. Die Integration von Flüchtlingen und Vertriebe­nen im Heimatfilm der Nachkriegszeit, Essen 2017.

Fendl, Elisabeth: In Szene gesetzt. Populäre Darstellungen von Flucht und Vertreibung, in: Zur Ästhetik des Verlusts. Bilder von Heimat, Flucht und Vertreibung, hg. von ders., Münster 2010.

Gwóźdź, Andrzej: Unterwegs nach Hause. Gedächtniskulturen der Zwangsmigration Deutscher nach 1945 im Kino zweier deutscher Staaten, in: Grenzerfahrungen und Globalisierung im Wandel der Zeit, hg. von Ewa Wojno-Owczarska und Monika Wolting, Göttingen 2021.

Heuer, Caren: Die Flucht oder: Was die Nation mit Ostpreußen zu tun hat, in: Das Imaginäre der Nation. Zur Persistenz einer politischen Kategorie in Literatur und Film, hg. von Katharina Grabbe, Sigrid G. Köhler und Martina Wagner-Egelhaaf, Bielefeld 2012.

Niven, Bill: Film und Fernsehen in der DDR, in: Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung, hg. von Stephan Scholz, Maren Röger und Bill Niven, Paderborn 2015.

Paul, Gerhard: Der Flüchtlingstreck. Bilder von Flucht und Vertreibung als europäische lieux de memoires, in: Das Jahrhundert der Bilder, hg. von Gerhard Paul, Bd 1: 1900 bis 1949, Göttingen 2009.

Röger, Maren: Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. Mediale Erinnerungen und Debatten in Deutschland und Polen seit 1989, Marburg 2011a.

Röger, Maren: Flucht, Vertreibung und Heimatverlust der Deutschen in Film und Fernsehen Polens und Deutschlands 1945–2010, in: Deutschland und Polen. Filmische Grenzen und Nachbarschaften, hg. von Konrad Klejsa, Schamma Schahadat unter Mitarbeit von Christian Nastal, Marburg 2011b.

Röger, Maren: Film und Fernsehen in der Bundesrepublik, in: Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung, hg. von Stephan Scholz, Maren Röger und Bill Niven, Paderborn 2015.

Scholz, Stephan: Schmerzens-Mutter-Liebe. Das Motiv der Mutter im bundesdeutschen Bildgedächtnis zu Flucht und Vertreibung, in: Zur Ästhetik des Verlusts. Bilder von Heimat, Flucht und Vertreibung, hg. von Elisabeth Fendl, Münster 2010.

Sowade, Hanno: Das Thema im westdeutschen Nachkriegsfilm, in: Flucht, Vertreibung, Integrati­on, hg. von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2005.

Steffen, Katrin: Die Funktionalisierung des Verlusts. Der deutsche Nachkriegsfilm als Ort einer Diasporakultur für Flüchtlinge und Vertriebene? In: Praktiken der Differenz. Diasporakultu­ren in der Zeitgeschichte, hg. von Miriam Rürüp, Göttingen 2009.

Stettner, Peter: „Sind Sie denn überhaupt Deutsche?“ Stereotype, Sehnsüchte und Ängste im Flüchtlingsbild des deutschen Nachkriegsfilms, in: Zwischen Heimat und Zuhause. Deutsche Flüchtlinge und Vertriebene in (West-)Deutschland 1945–2000, hg. von Rainer Schulze zu­sammen mit Reinhard Rohde und Rainer Voss, Osnabrück 2001.

Tiews, Alina Laura: „Wie lange fahren wir noch?“ – „Bis wir zu Hause sind“. Die Inszenierung von Flucht und Vertreibung als Heimkehr im DDR-Fernsehfilm Wege übers Land, in: Der lange Weg nach Hause. Konstruktionen von Heimat im europäischen Spielfilm, hg. von Lars Karl, Dietmar Müller und Katharina Seibert, Berlin 2014.

Tiews, Alina Laura: Vom Heimatfilm zum Dokudrama. Filme über Flucht und Vertreibung der Deutschen und was man aus ihnen lernen kann, in: Vertrieben, geflohen – angekommen? Das Thema Flucht und Vertreibung im Geschichts- und Politikunterricht, hg. von Manfred Quentmeier, Martin Stupperich und Rolf Wernstedt, Schwalbach 2016.

Tiews, Alina Laura: Fluchtpunkt Film. Integrationen von Flüchtlingen und Vertriebenen durch den deutschen Nachkriegsfilm 1945–1990, Berlin 2017.

Tuch, Geesa; Tacke, Alexandra: Frauen auf der Flucht. Nacht fiel über Gotenhafen (1959), Die Flucht (2007) und Die Gustloff (2008) im Vergleich, in: Heimkehr. Eine zentrale Kategorie der Nachkriegszeit. Geschichte, Literatur und Medien, hg. von Elena Agazzi und Erhard Schütz, Berlin 2010.

 

Jockheck, Lars, Dr., verfasste den Beitrag „Flucht und Vertreibung in deutschen Kino- und Fernsehspielfilmen“. Er ist selbständiger Historiker. Er arbeitet in den Bereichen Filmgeschichte, Pressegeschichte und deutsch-polnische Beziehungsgeschichte.

 

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